Wenn ich morgen sterbe von AudreyBlanche ================================================================================ Wenn ... ich ... morgen ... sterbe ... -------------------------------------- Wenn... Wenn das Leben ein Traum ist, sterben wir dann immer wieder, wenn wir erneut aus einem aufwachen? Behutsam streiche ich über die Zeile, fahre darüber in dem Versuch, herauszufinden, ob sie auch wirklich echt ist. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er das geschrieben hat. Es, es passt einfach nicht. Irgendwie. Und dann doch wieder - auf eine seltsame Art und Weise. Immer und immer wieder tasten meine Augen über jedes Wort, jeden Buchstaben. Ich will den Sinn dahinter verstehen, es muss einfach einen geben. Hat er einen Sinn dahinter gesehen? Vielleicht, wahrscheinlich... Aber möglicherweise auch nicht. Ich weiß nicht, ich verstehe ihn nicht. Diese Erkenntnis ist seltsam, sich einzugestehen, dass man ihn nicht genau genug kennt, um seine Gründe zu nennen. Ich bin neugierig, ich bin enttäuscht, aber ich frage mich auch, ob ich diese andere Person, die er zu sein scheint, kennen möchte. Das ist mitunter das Erschreckendste. Es ist fast, als habe ich Angst. Angst vor dem, was ich nicht von ihm weiß. Was ich wissen sollte. Angst davor, zu erfahren, wie viel ich lernen müsste, um ihm das zu sein, was ich lange Zeit vorgab zu sein: Seine Freundin. Mit diesen Worten auf einem so unscheinbaren Papier steigen auf einmal Fragen auf, die ich mir niemals gestellt hatte. Bezeichnet er mich in seinen Gedanken denn auch als seine Freundin? Warum hat er mir so vieles nicht erzählt? Was war ich all die Jahre für ihn? Hätte ich vielleicht einfach fragen sollen? Mich neben ihn setzen und fragen, an was denkst du gerade? Woran er dachte, als wir nachts auf der Wiese lagen und in den Sternenhimmel blickten. Was er sich überlegte, während er in der Schule aus dem Fenster starrte. Welche Gedanken durch seinen Kopf trieben, wenn wir stundenlang telephonierten und er doch kaum zwei Worte sagte. Ist es jetzt zu spät, um zu fragen? Ich suche die Antwort bei ihm, doch ich kann sie nicht finden. Er hat so viel geschrieben, so viel gesagt, doch nichts davon antwortet mir, nichts erklärt mir, wie ich jetzt weiter machen soll, was ich davon halten soll. Ich frage mich auch, warum es mich überhaupt stört. Die ganzen Jahre habe ich gewusst, dass er mir nicht alles erzählt hat, aber es war mir doch recht gleichgültig gewesen. Denn ich habe das Gefühl gehabt, dass ich zumindest das Wichtigste mit Sicherheit über ihn weiß. Er hatte mir vieles von sich erzählt, von seiner Vergangenheit ohne mich, von seinen Wünschen, seinen Träumen. Warum weiß ich dann aber nicht, dass sein Lieblingsort der höchste Platz unseres kleinen Städtchens war, eine Ruine, in der man abgeschirmt ist von all dem Lärm und der Hektik hier unten? Er hat mich kein einziges Mal mit hinauf genommen. Warum habe ich nicht bemerkt, dass er auch andere Mädchen gesehen hat, außer mir? Mein Blick auf seine Augen fixiert, war es mir doch nie in den Sinn gekommen, dass das möglich wäre. Warum habe ich nie gesehen, wie er mich ansah, wie sein Blick über meinen Körper glitt? Ich wollte es mir nicht eingestehen, weil ich noch nicht so weit war, dachte, wenn ich es ignoriere, dann wird auch nichts passieren. Ist das eine Entschuldigung oder eine Ausrede? Wenn ich... Wenn ich dich ansehe, was sehe ich dann? Ruckartig stehe ich auf, lasse das Büchlein zufallen. Mit seiner leeren Rückseite mir zugewandt, sieht es so unglaublich unscheinbar aus. Ich wage nicht, es noch einmal aufzuschlagen, verlasse mein Zimmer in dem Versuch, mir einzureden, es existiere nicht, solange ich es nicht sehen kann. Ich trete auf die Straße, habe mich nicht lange mit Anziehen aufgehalten, es ist Sommer. Und es ist nicht so ruhig in den Gassen, wie ich es mir vielleicht erhofft hatte. Menschen laufen an mir vorbei, viele Menschen, manchmal hektisch, manchmal träumerisch, einige sehr direkt, andere fast so als tanzten sie über die Wege. Warum fällt mir das heute auf? Ich habe noch nie darauf geachtet, es hat mich nie großartig interessiert. ...weil es ihm aufgefallen war? Ein Mädchen geht an mir vorbei, mit lockigem, rotem Haar. Ich kenne sie gut, wir haben viel miteinander geredet. Man könnte uns als Freunde bezeichnen. Sie grüßt mich, hebt die Hand, schaut mich an, ein Lächeln auf ihren Lippen wie immer. Ich laufe an ihr vorbei, sehe sie, nehme sie wahr, kann aber nicht antworten, kann nicht lächeln. Als wäre ich eingefroren. Nur mein Blick folgt ihr, wie sie an mir vorbeigeht. Ihre Augen haben einen seltsamen Ausdruck angenommen, als ich mich abwende und wieder geradeaus schaue. Ich konnte sie noch nie so richtig gut leiden, sie war so ...eindringlich, wollte alles von dir wissen und dir alles von sich erzählen. Sie tratschte nicht, davon hatte ich nichts gehört, aber wer mag es schon, ausgefragt zu werden? Was isst du am liebsten? Warum trägst du diese Haarfarbe und keine andere? Hast du dir schon überlegt, wie es wäre, ein Junge zu sein? Wohin würdest du fliegen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest? Wenn du das letzte Mädchen auf Erden wärst, würdest du dich trotzdem für Jill entscheiden? Manchmal habe ich ihr halbherzig geantwortet, manchmal gesagt, es ginge sie nichts an, doch ich bemühte mich, dass sie nicht merkte, wie sehr sie mir damit auf die Nerven ging. Ich mag es nicht, wenn Leute mitbekommen, dass ich sie nicht leiden kann, denn es ist ein angenehmes Gefühl, wenn du merkst, dass jeder dich mag. Die Leute sehen mich an, sobald ich an ihnen vorbei gehe und sei es auch nur einen Augenblick lang. Sie wenden den Kopf leicht in meine Richtung, kneifen die Augen zusammen, da ich die Sonne im Rücken habe. Ich fühle ihre Blicke auf meiner Haut, spüre sie, weil ich weiß, dass sie da sind. Seine Augen sind blau. Nicht dieses Tiefblau eines Meeres, auch nicht so hellblau wie der Himmel, es war ein anderes Blau. Es war sein Blau. Wenn die Sonne in sie hinein schien, glaubte man einen Stich Grün zu erkennen und wenn er müde war, wirkten sie beinahe grau. In einer verrückten Minute hatte ich einmal gedacht, er würde die Augenfarbe je nach Gefühlszustand verändern. Doch ich habe den Gedanken wieder aufgegeben, als ich merkte, dass ich seine Stimmungen trotzdem nicht deuten konnte. Ich überquere unseren Marktplatz, der heute zwar voll von durchlaufenden Menschen ist, doch keine Stände sind zu sehen. Markttag war gestern. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, ich weiß es einfach. Ich weiß auch, dass er nicht mehr hier ist. Während ich all diese Menschen mustere, fällt mir auf, dass ich in ihren Gesichtern nichts von ihm finden werde, egal, wie lange ich suche. Es wird nicht rein zufällig zu einem Zusammenstoß kommen, sobald ich um eine Ecke laufe. Ich könnte niemandem erklären, woher ich das weiß, aber als ich sein Tagebuch fand und aufschlug, war mir plötzlich klar, dass er nicht wieder zurückkehren würde. Nicht zu mir. Ich hatte verloren ohne zu erfahren, dass man in diesem Spiel auch gewinnen kann. Ein Mann rempelt mich an, bringt mich aus meinem Lauftakt. Überrascht blicke ich ihm hinterher, wie er mich nicht einmal wahrgenommen hat. Und ich frage mich, warum ich nicht ausgewichen bin. Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn bemerkt, aber seine Existenz ist nicht bei mir angekommen. Ihn sehen, ohne zu sehen. Würde ich Jill jetzt sehen, wenn ich ihn anblickte? Jetzt, nachdem ich weiß, oder eher glaube zu wissen, was er denkt? Die Leute um mich herum werden weniger, das Zentrum habe ich schon lange verlassen. Vor mir ragt einer der Berge, die unser Städtchen einkesseln, herauf. Eine Treppe wird sichtbar, je näher ich dem Fuß des Berges komme. Meine Richtung ist unbewusst und doch die einzig richtige in diesem Moment. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich sowieso hierher, nachdem ich das Tagebuch gelesen hatte. Ich wollte es, war mir dessen nicht bewusst und tue es jetzt doch. Würde man wahnsinnig werden, wenn man zu lange über Derartiges nachdenkt? Die erste Stufe stolpere ich schließlich mehr hinauf, denn dass ich sie hinauf steige. Mein Gefühl sagt mir, ich sei gegen eine Wand gelaufen und meine Augen antworten, ich spinne. Hat sich eigentlich schon einmal jemand überlegt, ob unsere Körperteile nicht vielleicht doch hin und wieder miteinander kommunizieren, während wir selber davon nur nichts mitbekommen. In diesem Moment glaube ich es, in der Gewissheit, dass es nicht sein kann. Wenn ich morgen... Wenn ich morgen ein Haus baute, wollte ich dann übermorgen noch darin wohnen? Ich habe die Treppe hinter mir gelassen und spaziere nun auf unebenen Waldwegen. Mein Glück, dass es seit Tagen nicht geregnet hatte. Das Licht der Sonne fällt nur noch vereinzelt durch das dichte Blätterdach, und ich habe das Gefühl, die Strahlen zu schneiden, als ich durch sie hindurch gehe. Mir ist nie aufgefallen, dass Natur so schön sein kann. Das Rascheln unter meinen Schuhen und leises Vogelgezwitscher vereinen sich in mir mit all den Eindrücken, mit der Ruhe, die dieser Wald ausstrahlt, mit der Sanftheit, in der die Sonne auf mich herab scheint, mit der Leichtigkeit, die mich diesen Berg ersteigen lässt, und füllen mich auf eine sonderbare Weise aus, die ich vorher nicht gekannt habe. Wenn ich mit Jill sprach, so hat sich manchmal ein ähnliches Gefühl eingestellt. Ich hatte mich voll gefühlt, vollständig. Doch es war nichts gewesen im Vergleich zu dem Gefühl, das in diesem Moment von mir Besitz ergriff. Natur. Jetzt verstehe ich auch endlich, von was die anderen immer so schwärmten, wenn sie von dieser Besonderheit 'Natur' sprachen. Von was Jill geschwärmt hatte. Wenn er dieses Gefühl der Vollkommenheit jedes Mal spürte, wenn er sich hier draußen befand, dann verstehe ich endlich, was ihn hier hinauf zog. Nicht die Aussicht, nicht die 'frischere' Luft, sondern Natur. Natur als Gefühl, Natur gefühlt. Das Licht offenbart meinen auf den Boden gerichteten Augen tausend verschiedene Brauntöne, die mit jedem Schritt und mit jedem Blatt variieren. Schon nach Kurzem finde ich keine Wörter mehr, denn es geht weit über die Vielfalt hinaus, die wir gelernt hatten zu benennen. Da ist nicht einfach ein Hellbraun, sondern vielmehr ein Hellbraun mit einem grünen Stich und kleinsten Punkten, die es fast ein wenig dunkler wirken lassen. Auch das Dreckbraun wirkt nicht annähernd so schmutzig wie gewohnt. Trockener Boden war mir immer gleichmäßig braun vorgekommen, doch obwohl die meisten Blätter vom Dreck verschmiert sind, so erkennt man doch den Unterschied, wenn man sich darauf einlässt. Dann mischt sich wie zufällig noch ein Rot unter die Brauntöne und bringt weitere Variationen in das Spiel hinein. Sah Jill diese Dinge, wenn er hier hochstieg? Es wundert mich ein wenig, dass ich, versunken wie ich war, an keinen Baum gelaufen bin oder zumindest ein Ast mir das Gesicht zerkratzt hat. Es wird flacher, das ist der einzige Grund, warum ich aufgesehen habe, dabei bin ich noch gar nicht so lange unterwegs. In einiger Entfernung sehe ich die Spitzen der Ruine zwischen den Bäumen hindurch schimmern. Ja, sie schimmert, denn irgendwie gibt es diese 'normalen' Farben, mit denen man die Dinge benennt, nicht mehr. Die Ruine ist nicht grau, nicht braun und nicht rot, sie schimmert. Unbeschreiblich. Jill hätte sich kein Haus gebaut, wird mir da plötzlich bewusst. Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann würde er eine Ruine, wie sie hier oben steht, wählen. Eine, aus deren Mitte man den Himmel sieht. Eine, in der man die Natur rauschen, zwitschern, rascheln, erzählen hört. Eine, in der man sich frei fühlt, weil einen keine Wände einschränken, die man nicht überklettern könnte, keine Decke einen daran hindert, bis zum Himmel zu fliegen. Je näher ich der Ruine und somit auch Jill komme, desto lauter scheinen mir meine Schritte und das raschelnde Laub unter meinen Sohlen zu sein. Ich habe nie beabsichtigt, mich an ihn heranzuschleichen, aber es ist mir unangenehm, wenn er mich bemerkt. Plötzlich weiß ich nicht mehr, warum ich hier hergekommen bin. Ich hatte sein Tagebuch gelesen, ohne über die Konsequenz dieser Handlung nachzudenken, ich bin hier heraufgestiegen, weil ich nicht nachgedacht hatte. Jetzt stehe ich ein paar Meter von der Ruine entfernt und frage mich das erste Mal, was ich hier will. Es ist nichts passiert und ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, wenn er weiß, dass ich seine Gedanken jetzt kenne. Und das wird er wissen, sobald er mich vor sich stehen sieht. Woher hätte ich sonst von diesem Ort erfahren sollen? Da zweifele ich aber auch plötzlich daran, ob er hier ist. Es gibt sicher noch andere geheime Lieblingsorte von ihm, von denen ich noch nichts weiß, da ich das Buch noch nicht beendet habe. Unschlüssig bleibe ich stehen, kaum einen Meter von der eingebrochenen Mauer entfernt. Es ist unheimlich, mich in diesem Moment atmen zu hören. Umgeben von dieser lauschenden Stille scheint mein Gehör verstärkt zu sein, sodass ich über allem anderen leise mich selbst höre. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Wenn ich morgen sterbe... Wenn ich morgen sterbe, gab es mich dann im Heute überhaupt? Ich klettere über die Eingangstür, denn die ist bereits so zugeschüttet, dass man sie wahrscheinlich nie mehr wird öffnen können. Keine schnelle Flucht möglich. Aber es ist nicht hoch, sodass auch ich nur wenig Probleme habe hinüber zu kommen. Ich kratze mir mein rechtes Knie auf, als ich mich hinaufziehe, und es brennt. Leise fluche ich, meine Unsicherheit wächst. Auf der anderen Seite springe ich herab. Es sind kaum zwei, drei Meter, doch früher hätte ich das nie getan. Ich entdecke ihn auf der heruntergestürzten Decke, die sich noch in leichtem Winkel über dem Boden hält. Seine Arme sind hinter seinem Kopf verschränkt und er blickt nicht auf, so als ob er überhaupt nicht gehört hat, dass ich gekommen bin. Ich kann von hier unten nicht erkennen, ob er die Augen geschlossen hält oder in den Himmel starrt. Merkwürdigerweise wird mir in diesem Moment klar, dass ich erwartet habe, ihn genauso hier vorzufinden. Bin ich zu kleinkariert? Seine Haare haben sich über dem Stein verteilt, jedenfalls das, was er so an Haaren hat. Ich frage mich, ob der Stein wohl kalt ist. Die Sonne scheint, auch auf den Stein, aber sein Oberkörper und sein Gesicht liegen im Schatten. Ich habe gehört, dass Steine sich nur langsam erwärmen, aber auch nur langsam abkühlen, wenn sie einmal warm sind. Nicht wie wir Menschen. Wie lange er wohl schon hier ist? Plötzlich fegt eine leichte Brise um die Steine herum, bringt meine Kleider dazu, sich leicht an meinen Körper zu schmiegen. Die Brise ist kalt. Eine Gänsehaut löst meine Starre und ich setze mich in seine Richtung in Bewegung, als habe ich nie angehalten. Um einen Aufstieg zu finden, muss ich meine Augen von ihm lösen. Ich höre mich, spüre den Stein unter meinen Fingern. Oben auf atme ich tief ein, schließe meine Augen und wende mein Gesicht der Sonne zu. Als ich zu Jill hinüber sehe, bemerke ich, dass er mich beobachtet. Sein Kopf ist leicht in meine Richtung geneigt, während sich seine Haltung nicht verändert hat. Sein Gesichtsausdruck ist neutral, er ist weder überrascht, mich zu sehen, noch wütend, dass ich gekommen bin. Als stehe er über den Dingen. Langsam krabbele ich auf ihn zu, aufzustehen hätte zu viel Distanz zwischen uns gebracht. Dann lege ich meine Hand neben seine auf den Stein, berühre ihn jedoch nicht. Das ist auch nicht nötig. „Warm.“ Er lächelt und ich lächele auch, dann gleite ich neben ihn, immer noch ohne jeglichen Kontakt. Die Sonne wärmt meinen Körper, während ich in den Himmel starre, der heute von einem zarten, beständigen Blau gemalt ist. Es ist das, was die Leute 'Himmelblau' nennen. Und auch die Wolken sind für mich das erste Mal weiß. Rein weiß. „Ein Traum“, flüstere ich, ohne wirklich etwas damit zu meinen. Mein gesamtes Blickfeld ist von hellem Blau eingenommen und ich spüre trotzdem, wie sich Jill neben mir bewegt. Wahrscheinlich höre ich es hauptsächlich. Es ist ein angenehmes Gefühl. Denn es gibt nichts, das mich diesem Moment entreißen kann. Mir ist bewusst, dass auch er mich nicht berühren wird; keiner von uns will jetzt schon aufwachen. Mein Körper wird immer schwerer, je länger ich dort liege. Ob ich wohl nicht mehr aufstehen kann, wenn ich noch länger liegen bleibe? Das Vogelgezwitscher klingt dumpf inmitten dieser Wände, scheint nicht durchdringen zu können. Auch der Wind hat seinen Klang verloren. Das Rascheln der Blätter ist zu einem angenehmen Rauschen geworden. Diese ganze Veränderung gibt mir das Gefühl, als würde ein federleichtes Tuch über mich gelegt, dass mich schützt, mich abschirmt, aber mir trotzdem nicht ganz den Zugang zur Natur versperrt. Die Natur ist zu mir gekommen - oder vielmehr ich zu ihr. Mit Jills Hilfe. Mein Kopf ist frei, ich grübele nicht mehr, weder über Jill noch über sein Tagebuch noch über alles andere. Beinahe so, als habe ich das alles mit jedem weiteren Schritt auf dem Weg hier herauf abgelegt und es lauert jetzt am Boden, von dem es beim Herabsteigen wieder auf mich aufspringen wird. Ich habe mich bisher nie schwer gefühlt, auch nie überbelastet, aber jetzt fühle ich mich unbeschreiblich leicht und frei. Es ist alles so anders geworden. Ein Lächeln hat sich in meinen Mundwinkel festgesetzt, das ich erst bemerke, als mir plötzlich etwas die Welt vor meinen Augen noch ein wenig mehr verdunkelt und ich das Gesicht verziehe. Meine Augen flattern auf, von denen ich auch nicht mitbekommen habe, wie sie geschlossen wurden. Jills Gesicht schwebt ein paar Zentimeter von meinem entfernt in der Luft. Er stützt seinen Körper mit den Armen neben meinem ab, aber er hält sich auf Abstand. Seine Augen blicken in meine, als er sich herab beugt und für einen Augenblick scheint der Himmel in seinen Augen gefangen zu sein, wobei ich wie vorhin nur Blau sehe. Reines, klares, unverfälschtes Blau. Doch schon im nächsten Moment ist diese Illusion verschwunden, denn seine Augen haben sich verdunkelt. Es wirkt auf mich schwerfällig, wie er sich wieder neben mich legt. Dann starren wir weiter in den Himmel, der nichts von seiner Farbgewalt verloren hat. Seine Berührung hat den Traum nicht zerstört. „Wir werden heute nicht sterben, weil ich bei dir bin.“ Ich weiß nicht, was ich ihm damit sagen will, aber es erscheint mir richtig. Mehr noch, es scheint mir notwendig. Und als ich sein Lachen höre, kribbelt es unter meiner Haut. Ich spüre dasselbe Lachen aus meiner Kehle perlen und plötzlich wirkt mein Körper nicht einmal mehr halb so schwer. Das Lachen nimmt das Tuch von mir, bewegt meinen Körper und bringt mich so in Einklang mit ihm. Es ist so natürlich. Ich setze mich auf und er auch. Wir sehen uns an und kichern. Dann strecke ich die Hand aus und berühre seine Wange. Sein Lächeln schwindet nicht. Es ist wirklich möglich. Da scheint meine Hand nicht mehr still halten zu können. Ich lasse sie über seine Wangenknochen nach vorne über seine Lippen wandern, von da aus zum Kinn und die Kehle hinab bis zum Schlüsselbein, um über den Nacken zur Schulter zu gelangen. Meine andere Hand setzt parallel zu der Ersten an und beide gleiten die Oberarme herab, nur um bei den Unterarmen zu stoppen. Ich hebe mit der linken Hand seinen Arm an und drehe ihn, sodass ich innen über die Handfläche und die Finger streichen kann. Dann hebe ich die Hand plötzlich an mein Gesicht heran, küsse einen seiner Finger und platziere dann noch einen in die Mitte der Handfläche. Von hier aus bewegt sich nun seine Hand selbstständig, streicht über meine Wange und schiebt mir eine Strähne aus dem Gesicht. Sie streichelt meine Haare, gleitet meinen Rücken herab und wandert schließlich nach vorne zu meinem Bauch. Seine Augen, die bisher seiner Hand gefolgt sind, wenden sich jetzt wieder meinem Gesicht zu, wodurch sein Körper einzufrieren scheint. Da hebe ich mein rechte Hand und halte sie auf Gesichtshöhe etwas seitlich von uns, sodass wir unseren Blickkontakt nicht verlieren. Etwas zaghaft bewegt er seine freie Hand auf meine zu, als habe er Angst vor etwas. Dann legt er sie sanft an meine heran und ich fühle mich mit ihm verbunden. Die Finger krümmen sich und schließen sich zwischen meinen Fingern um meine Hand. Ich mache ihm nach, während er mit einem Mal wieder zu lachen anfängt. Er lacht so kräftig, dass er nach hinten kippt, aufgrund unserer verbunden Hände mich mit sich zieht und ich so schließlich auf ihm zum Liegen komme. Sein Lachen erhellt seine gesamten Züge, lässt ihn strahlen. „Sie ist weg!“, lacht er mir entgegen. „Sie ist nicht mehr da!“ Seine Freude greift auf mich über, und aus einem Impuls heraus platziere ich nun meine Lippen auf seinen. Da ist keine Distanz mehr zwischen uns, keine Barriere mehr. Wir sind frei. Frei, einander zu lieben. Lächelnd lege ich meinen Kopf auf seine Schulter, kuschele mich an seinen Hals. Durch unsere leichte Kleidung hindurch spüre ich ihn, fühle seinen Atem an meinem Busen und meinem Bauch und das Vibrieren, wenn er wieder leise lacht. Das hier ist Vollkommenheit. Leise flüstert er mir ins Ohr. „Ich habe so lange darauf gewartet, dass du verstehst.“ Wenn die Sonne bereits untergegangen wäre, wären wir in meinem Zimmer angekommen. Ich hätte Licht gemacht, obwohl wir es nicht bräuchten um uns zu sehen. Wir wären verbunden durch diese Hände, die wir nicht gelöst hatten. Ich würde ihn auf das Bett drücken und meine Hand aus seiner Umklammerung ziehen. Erwartungsvoll würde er mich ansehen, hielte mich aber nicht zurück. Ich nähme das Buch von meinem Tisch, reichte es ihm, beobachtete ihn. Behutsam würde er es an sich nehmen, mit der Hand über den Einband streichen. Ein liebevolles Lächeln würde mir zeigen, dass dieses Tagebuch lange Zeit ein guter Begleiter gewesen ist. Plötzlich sähe er auf und seine Hände sänken mit dem Tagebuch in seinen Schoss. „Wenn du nicht verstanden hättest, nachdem du es gelesen hast, hätte ich aufgegeben.“ Dann legte er es plötzlich zur Seite, streckte seinen Arm nach mir aus, zieht mich an sich, sobald ich seine Hand ergriffen habe. „Wie endet das Buch?“, würde ich leise an seinem Ohr fragen. Seine ruckartige Bewegung brächte wieder Abstand zwischen uns. Er sähe überrascht aus. „Du hast es nicht bis zum Ende gelesen?“ Dabei würde seine Stimme so schockiert klingen, als hätte ich etwas falsches getan. Ich verstehe nicht, warum er so irritiert wäre. Ist das Buch so angelegt, dass ich erst verstehe, wenn es zu Ende ist? Gäbe es immer noch etwas, das ich nicht von ihm weiß? Da hat er mich aber schon abrupt von sich geschoben und sich mir im Schneidersitz gegenüber gesetzt, das Buch wieder in der Hand. Er schlüge völlig versunken die letzte Seite auf, dann blickte er mir wieder in die Augen, er drehte mir die Innenseite des Buches zu, sodass ich sie lesen kann, beobachtete dabei aufs Genaueste meine Reaktion. Groß und in schöner, runder Schrift stünde dort die Antwort auf so viele meiner Fragen. Wenn ich morgen sterbe, wollte ich dich heute wenigstens noch einmal küssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)