Des Feuervogels Glut II von Lilienkind (Fortsetzung des ersten Teils) ================================================================================ Kapitel 9: Pechsträne, die zweite --------------------------------- Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember Er musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass weder er bewusstlos werden, noch der Schmerz nachlassen würde. Und was er selbst nicht für möglich gehalten hatte, trat nach ihm geradezu endlos erscheinender Zeit doch noch ein: Es wurde beinahe erträglich. Zumindest glaubte er das, als er allmählich seinen Orientierungssinn zurückerlangte. Er verdrehte die Augen so weit, dass er sehen konnte, wie Alex und Brian an ihm vorbeistürmten. Sie schienen zu flüchten...oder verfolgten sie etwas? Sie hatten doch nicht vor, ihn hier einfach liegen zu lassen?! Einer der beiden rief etwas. Seine Stimme hallte in seinem Kopf wieder; er konnte beim besten Willen kein Wort verstehen. Obwohl er mehr oder weniger bei Bewusstsein war schien außer dem Orientierungssinn alles andere zu streiken. Wieso konnte nicht auch sein Schmerzempfinden dazu gehören? Und wo zur Hölle war Mina? Ehe er den Gedanken wirklich zu Ende denken konnte, spürte er, wie jemand auf seinen ohnehin mürben Rücken sprang. Der dadurch verursachte Schmerz übertraf den des vorangegangenen Einschlags noch einmal um Längen - und der hatte die ihm bis dahin bekannte Grenze des Ertragbaren schon völlig neu definiert. Diesmal tat es so entsetzlich, dass es einen fürchterlich klingenden Schrei aus ihm herauspresste. "Sei still...", hauchte ihm eine gut bekannte Stimme ins Ohr. Zu seiner Überraschung konnte er sie klar und deutlich verstehen, jedoch nicht sofort zuordnen. "Bleib ganz ruhig liegen. Du hast einen Pfeil in der Schulter." ...war das etwa Mina, die auf ihm kniete?! War sie jetzt völlig verrückt geworden?!!! Er konnte förmlich spüren, wie die Bruchteile seiner Knochen unter ihrem Gewicht in alle Richtungen verschoben wurden und sich in seine inneren Organe bohrten. Als er schließlich das Knirschen in seinem Rücken hörte, war das einfach zu viel. "...sofort... runter, verdammt!", presste er mit fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrter Stimme hervor und versuchte reflexartig mit dem weitestgehend unbeeinträchtigten Arm nach ihr zu greifen. Er bereute es sofort, als ihn Mina brutal niederschmetterte und mit einem ihrer Knie fixierte. "Ich hab gesagt, nicht bewegen! Du machst es nur noch schlimmer." Schlimmer? Sie war doch diejenige, die ihn gerade zu Tode quälte! Moment…was hatte sie da von einem Pfeil erzählt? "Halt jetz’ still. Ich muss ihn rausziehen." ...rausziehen?!!!! Sie musste den Verstand verloren haben...oder Mordgelüste. Oder das zweite führte zum ersten. Glücklicherweise wartete sie nicht auf Kais Einverständnis sondern nutzte den Moment der völligen Überraschung, sodass der Halbrusse nicht auf die Idee kam, sich dagegen zu wehren und sich unter Umständen noch schwerer zu verletzen. Trotzdem war die Prozedur alles andere als angenehm. Auf sein Entsetzen folgte ein weiterer, unglaublich schmerzintensiver Ruck, ausgehend von seiner Schulter. Der Impuls zog sich bis in Fingerspitzen und Zehen. Es war ihm, als würde ihm mit einem Male der gesamte Brustkorb inklusive Wirbelsäule herausgerissen. Zwar wusste er jetzt, dass sein rechter Arm noch da war wo er hingehörte. Doch das war eher ein Fluch als ein Segen. Denn der tat von allen Extremitäten nun zweifellos am meisten weh. Tränenflüssigkeit schoss ihm in die zusammengekniffenen Augen. Ein markerschütternder Schrei folgte. "Jetzt beruhige dich! Sonst kommen die wieder und jagen dir noch mehr Pfeile in den Körper. Willst du als Nadelkissen enden?" Das Schreien blieb ihm in der Kehle stecken. Pfeile? Ach ja richtig, er hatte einen Pfeil in der Schulter! Saurer Magensaft quoll ihm hoch. Bevor er dazu kam, sich zu übergeben, jagte noch ein dritter Schmerzimpuls durch seinen Körper. Diesmal konnte er deutlich spüren, wie der Fremdkörper entfernt wurde. "Was soll das?!", hustete er, "Hättest du mir nicht sagen können, dass du zwei von den Dingern rausziehen musst?!" "Reg dich ab. Das war noch mal derselbe. Er war nur so tief drin, dass ich ihn nicht gleich rausbekommen -" "Na toll....hey, was machst du denn jetzt? Bist du wahnsinnig?!" Er fühlte, wie sie hektisch die Rückennaht seines Overalls und des darunter liegenden Isolationsanzugs auftrennte. Trotz der eisigen Witterung wurde es um die Wunde herum angenehm warm. "Kai! Halt still", hörte er plötzlich Alex' Stimme hinter sich. Seine Schritte näherten sich rasch. "Das versuche ich ihm auch klar zu machen", rief Mina ihm entgegen, "aber auf mich hört er nicht". "Drück was auf die Wunde. Ich bin gleich wieder da." Der Amerikaner rannte gleich weiter zum Schlitten, den Brian in der Eile zurückgelassen hatte. Hatte er Mina gerade die Anweisung gegeben, auf die Wunde zu-?! "Ahhhrg! Bist du des Wahnsinns?!" "Hör endlich auf zu...zicken..." Ihre Stimme änderte sich mitten im Satz. Von einer Sekunde auf die nächste klang sie völlig geistesabwesend. Irgendetwas musste sie verunsichert haben. "Der Pfeil ist wahrscheinlich infiziert"; teilte sie ihm trocken mit, drückte ihn dann aber erneut zu Boden und rutschte etwas weiter abwärts. Was faselte sie da für wirres Zeug? Wurde sie gerade ohnmächtig? Was sollte denn das jetzt wieder?! Zwar konnte noch immer nicht sehen, was sie da auf seinem Rücken trieb (schließlich lag er immer noch unbeweglich auf dem Bauch - mit einem Loch in der Schulter), aber wenn sie jetzt schon nicht bei der Sache war, sollte sie wenigstens bei Bewusstsein bleiben. Schließlich spielte sie sich hier mal wieder als die große Heldin auf. Und überhaupt - Was zum... Das waren doch eindeutig ihre Lippen, die sich da auf seine Wunde pressten und...kräftig saugten! Schlagartig erinnerte er sich zurück an die Meisterschaft, genauer gesagt an die Situation, als er den Geschmack von Minas Faust hatte kennen lernen müssen. Urplötzlich hatten ihre Augen dieses diabolische Funkeln...und die Länge ihrer Eckzähne hatte sich nahezu verdoppelt! Eigentlich glaubte er nicht an solchen Schwachsinn, und er weigerte sich vehement, überhaupt daran zu denken, sie mit so etwas Groteskem zu assoziieren. Doch wirkte die Tatsache, dieses äußerst fragwürdige Weib in dieser noch fragwürdigeren Situation auf seinem Rücken zu wissen, äußerst beunruhigend. Besonders der merkwürdige Zufall, dass sie sich gerade wie eine Zecke mit seinem Blut voll sog, machte ihn irgendwie nervös... Ehe er dazu kam, sie mit wildesten Beschimpfungen zu verjagen, ließ die Transsylvanierin wieder von ihm ab. Sie spie eine beträchtliche Menge seines Lebenssaftes direkt neben sein Gesicht in den Schnee. Erstmals konnte Kai das Resultat seines übermäßigen Tablettenkonsums sehen: Es hatte aufgrund der Verunreinigungen eine beängstigend dunkle Farbe. Scheinbar hatte auch sie gemerkt, dass es alles andere als genießbar war...und es womöglich deshalb wieder ausgespuckt? "Verdammt...!", schnaubte sie und sog noch ein weiteres Mal an der Wunde. Diesmal noch kräftiger. Wo blieb Alex? Er sollte endlich dieses blutdurstige Gruftmonster von ihm runterzerren, bevor es ihn noch ganz auffraß! Eine weitere Blutlache landete neben ihm im Schnee. "Wie fühlst du dich?", fragte sie beunruhigt. "Bitte? Willst du mich verarschen? Das ist ja wohl die blödeste Fangfrage, die ich -" "Fühlst du dich irgendwie verändert?" "Na ja, du hast mir grade einen Pfeil aus dem Rücken gezogen und mich anschließend ausgesaugt wie eine überreife Mango. Wie soll ich mich bitte fühlen?" "Was machst du denn mit Kai?!" Alex’ Stimme klang wie der Gesang eines Engels. (Ausnahmsweise war ihm der schwuchtelige rosa Beigeschmack seiner Metapher egal) "Sieh mal" Mina schien ihm irgendetwas zu zeigen, worauf sich Kais Hoffnungen, die Alex in ihm geweckt hatten, sofort wieder in Luft auflösten. "Leute, kann mir mal endlich jemand sagen, was hier los ist?!", beschwerte sich der Halbrusse, "Und geh du gefälligst von mir runter!" Unbeeindruckt von Kais Brüllerei ließ sich die junge Frau gemächlich von ihm herunterrutschen und begann in den Taschen ihres Overalls herumzukramen. "Erinnerst du dich noch an das biomechanische Virus, das wir in Voltaires Labor gefunden haben? Jetzt wissen wir, wofür er es entwickelt hat. Ich habe versucht, einen Teil durch die Wunde auszusaugen, aber ich fürchte, das hat nicht funktioniert. Der Pfeil ist zu tief eingedrungen." "Moment, Moment", unterbrach sie der Amerikaner, "soll das heißen, du glaubst, dieser Pfeil sollte Kai damit infizieren? Wie kommst du überhaupt darauf?!" "Sieh dir das Symbol auf der Spitze an. Und dann das hier...es sieht aus wie eine Viole, die vorhin beim Aufschlag zerbrochen ist" "Und jetzt?" Die Stimme des Amerikaners barg eine große Ratlosigkeit, die Kai nur noch mehr aufbrachte. Biomechanisches Virus? Voltaires Labor? Und Alex schien nicht nur zu wissen, wovon Mina da eigentlich redete - er glaubte es ihr sogar noch! Voltaire...steckte er hinter der Entführung? Und hinter dem Attentat? Attentat...man hatte ein Attentat auf ihn verübt, und möglicherweise steckte sein eigener Großvater dahinter... Wieder flimmerten die Bilder seines Alptraums auf. Zusammen mit der schmerzenden Wunde in seinem Rücken war die Grenze seiner Belastbarkeit eindeutig überschritten. Die Stimmen der anderen entfernten sich. Um ihn herum wurde es dunkel. "Jetzt mach bloß nicht schlapp!" "Du musst das hier unbedingt schlucken. Das ist ein Medikament dagegen. Na los!" "Wie bist du denn da dran gekommen?" "Erzähl ich dir später. Hilf mir erstmal, damit Kai das Zeug auch schluckt. Sonst war’s das mit ihm." "Hast du gehört, Kai? Los doch!" Unermüdlich redeten beide auf ihn ein, bis er sich schließlich außer Stande fühlte, sich ihren Anweisungen weiter zu widersetzen. Man öffnete gewaltsam seinen Mund und stopfte zwei oder drei kleine Pillen hinein. Mit letzter Kraft würgte er sie hinunter. Dann klinkte sich sein Bewusstsein endgültig aus. ___________ Nur langsam kehrten seine Sinne wieder zurück. Er lag auf der Seite, und es war kalt. Kälter als sonst. Er fror. Seine Haltung war unbequem. Vorsichtig streckte er seine Beine aus. Das sofortige Meckern seiner Schulter erinnerte ihn an die Verletzung in seinem Rücken. "Du bist endlich aufgewacht..." Mina? Wieso ausgerechnet sie? Die anderen hatten ihn doch hoffentlich nicht mit ihr alleine gelassen...oder doch? "Ruh dich aus. Du hast viel Blut verloren." "Das kommt davon, wenn man mich aussaugt...", flüsterte er benommen. "Immer noch zum Scherzen aufgelegt? ...versuch aber möglichst bald was zu essen, damit zu wieder zu Kräften kommst. Wir können dich nicht den ganzen Berg rauf und runter tragen." "Wie spät ist es?" "Nachts. Du liegst im Zelt...in meinem Overall. Deinen flicke ich gerade wieder zusammen." Na toll. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihm dieses Wissen vorenthalten. Sie hatten ihn ausgezogen und dann ausgerechnet in Minas Overall gesteckt. Ging es nicht gleich noch demütigender? Hoffentlich hatte sich die Transsylvanierin in dem zerschnittenen Ding eine ordentliche Blasenentzündung oder wenigstens eine Erkältung eingefangen. "Eigentlich wollte Alex ja mit dir tauschen, aber deiner hat ihm beim besten Willen nicht gepasst. Du bist so zierlich, dass uns nichts anderes übrig blieb." "Zierlich?! Du spinnst ja." "Pssst. Nicht so laut. Du weckst noch die anderen." Sie lachte dabei. Sie fand das ganze auch noch belustigend...elendes Miststück. Hoffentlich hatte sie ihn nicht auf noch den ganzen Tag durch die Gegend geschleppt, sondern das Alex oder Brian überlassen. "Versuch zu schlafen. Morgen reisen wir weiter. Oder willst du umkehren?" "Sagt die richtige. Du schläfst ja selbst nicht. Und mein Overall ist längst fertig...lass uns bloß wieder tauschen." Gerade noch rechtzeitig unterdrückte der den Impuls, sich aufzurichten und danach zu greifen. Seine Schulter tat auch jetzt schon weh genug. "Ich bin nicht giftig. Wir haben nur die Overalls getauscht und nicht die Iso-Suits.", schnaubte sie beleidigt, "Und außerdem wasche ich mich trotz der Kälte noch regelmäßig, im Gegensatz zu dir." Iso-Suit? Wer hatte sich denn diesen beschissenen Namen ausgedacht? Kai verzog belustigt das Gesicht und ignorierte ihre Anspielung auf das morgendliche Ereignis, kurz nachdem er von seinem Alptraum wach geworden war. "Wenn du schon wach bist", sagte er stattdessen, "kannst du mir bei der Gelegenheit auch gleich erzählen, was es mit diesem Pfeil auf sich hatte." Sie sah ihn verwundert an, legte dann den reparierten Overall zur Seite und kroch etwas näher auf ihn zu. Hinter ihr kam nun ihr Schlafsack zum Vorschein. Hatte sie etwa vor, die ganze Nacht über bei ihm zu bleiben? So viel also zum Thema Privatsphäre... "Zieh den Overall runter und dreh dich auf den Bauch", sagte sie, "ich muss noch die Rückennaht deines Iso-Suit schließen. Von mir aus beantworte ich dir dabei auch die eine oder andere Frage..." Widerwillig drehte sich der Halbrusse auf den Rücken. Den heftigen Schmerz in seinem rechten Arm versuchte er so gut es ging zu verbergen. "Sei bloß vorsichtig. Wenn du mich piekst,..." "Dann was?", fragte die junge Frau aufmüpfig. So ein Mist. Ausgerechnet jetzt gingen ihm die Drohungen aus... Schweigend lauschte er ihren Erzählungen. Teils missmutig, teils erregt, fand er mehr und mehr Gefallen daran, wenn ihre geschickten Hände wie zufällig seine nackte Rückenfalte berührte, wo sie die Naht noch nicht geschlossen hatte. Der hauchzarte Kontakt ihrer Haut jagte wieder den kribbeligen Schauer von Gänsehaut durch seine Glieder; das Gefühl ihres ruhigen Atems in seinem Nacken brachte sein Herz zum rasen. Ohne das er so recht begriff, was das eigentlich zu bedeuten hatte. Er mochte sie ja nicht mal wirklich. Sicher nur eine Laune seines verwirrten Unterbewusstseins. Und dennoch irgendwie schön... Mit der Zeit wurde er ruhig und entspannt und ließ sich fallen. Er war ohnehin viel zu müde, um weiter über alles Mögliche nachzudenken. Stattdessen lauschte er den klaren, kühlen Worten, die ihm die Bedeutung jenes Pfeils vermittelten. Nach und nach setzte sich das Puzzle zusammen. In der Nacht, in der die vier in Voltaires Labor eingebrochen und wichtige Daten, dessen genauere Bedeutung er selbst längst wieder vergessen hatte, entwendet hatten, hatte Mina zufällig noch etwas anderes entdeckt. Eben jenes biomechanische Virus, von dem sie vorhin sprach. Sie erzählte ihm nun von den wenigen Informationen, die sie neben dem "Bauplan" hatte bergen können. Sie berichtete von dem großen Rätselraten, zu dem sich die ganze Sache entwickelte. Von Alex' beachtlichem medizinischen Fachwissen. Und von dem Moment, als klar wurde, dass Menschenleben auf dem Spiel standen. Und nachdem Kai die Welt um sich herum ein kleines bisschen besser zu verstehen begann, blieben ihm an diesem Abend nur noch zwei Fragen unbeantwortet: Wie Mina zu dem Medikament kam und ob es wirklich Zufall war, dass sie ihm immer wieder das Leben rettete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)