Des Feuervogels Glut II von Lilienkind (Fortsetzung des ersten Teils) ================================================================================ Kapitel 6: Willkommen in der Todeszone -------------------------------------- Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember "Wie...weit...ist es noch?" "Bitte? Wir sind erst vor 30 Minuten losgelaufen. Komm, lass mal jemand anderes den Schlitten ziehen wenn du jetzt schon so am jammern bist." "Du spinnst wohl! Auf keinen Fall!" Allgemeines Kopfschütteln und Augenrollen. Es war offensichtlich, dass Brian weder mit der Kälte noch mit der trockenen Luft halbwegs zurecht kam. Trotzdem kam auf keinen Fall in Frage, das Seil auch nur eine Minute abzugeben. Dazu war er einfach zu stur, und so schleppte sich seine Sturheit höchstpersönlich den Berg hinauf, Millimeter für Millimeter, denn von viel mehr als das war ohnehin nicht zu sprechen. Und während sich sein Stolz gegen die Schwerkraft durchzusetzen versuchte, trat ihm sein Ego buchstöblich auf die Füße; durch Brians unermüdliches Meckern gab es zu verstehen, dass die Führung nicht der Sturheit allein gehörte. Dezent genervt musterte er kurz den tollpatschigen bis jämmerlichen Anblick, den der Neunzehnjährige abgab. So lange diese lästige Aufgabe ihm selbst erspart blieb, durfte der Philippine den Schlitten gerne bis ins Himalaya ziehen, aber ging das nicht auch ein bisschen leiser?! Prüfend warf er einen Blick nach oben, wo nach einem steilen Weg queerfeldein der verschneite, alte Bergpass auf sie warten würde. Noch befanden sie sich am flachen Fuß des Berges. Sie hatten die seichteste Flanke gewählt, um den Schlitten überhaupt mitnehmen zu können. Der eigentliche Zugang zum Pass war vor langer Zeit von einer Lavine unpassierbar gemacht worden. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob dies nicht noch an anderer Stelle passiert war. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass sie den Gipfel gar nicht erst erreichten, und dafür gab es mehr als nur einen Grund. Niemand konnte genau sagen, was auf sie lauerte, wo die schwarzen Wolken den schroffen Berggipfel verschluckten. Ihr Überleben würde an einem seidenen Faden hängen, der an ihr mitgeführtes Equipment geknüpft war. Sollte etwas schief gehen, wären sie komplett auf sich gestellt. Dennoch sein wirklicher Grund zur Sorge. Sie waren bestens auf das hier vorbereitet und sollten höchstens darauf achten, unterwegs nichts Wichtiges zu verlieren. Doch sollte Brian sich weiterhin so ungeschickt anstellen... Wie überhaupt war es bitte möglich, sich trotz bester Schneeschuhe so langsam zu bewegen?! Zweifelsohne war Brian das beste Beispiel für den Fall, dass die Dinger komplett versagten. Und das lag garantiert nicht an den Schuhen. Bei allen anderen funktionierten sie tadellos! Nur bei dem Rothaarigen musste man bei jedem Schritt fürchten, dass er über seine eigenen Füße stolperte! Der Halbrusse stieß ein kaum hörbares, genervtes Schnauben aus und sah dem ausgespieenen Kondenzwölkchen nach bis es vollständig verschwunden war. Vor ihnen breitete sich der Berg aus, lag da wie ein unter der schneeweißen Bettdecke Sibiriens schlummernder Riese. Zu beiden seiten erstreckte sich dumpfe Unendlichkeit, die in der Ferne mit dem Horizont verschmolz. Über ihnen spannte sich der trübe Himmel wie ein graues Leichentuch. Raue, klare Winterluft. Die Sicht war klar, trotz der toten Wolkenfetzen über ihnen. Kein Wind. Die Ruhe vor dem Sturm? "Todesberg...", dachte er und behielt den Blick noch einen Moment lang auf die unnatürlich dunklen Wolkenmassen gerichtet, die sich um den furchigen Berggipfel ringten. "Ein bescheuerter Name. Und noch dazu ein bescheuerter Ort, um die Grangerbrüder hier her zu bringen." Bescheuert. Dieses Wort traf es einfach am besten. Nur etwas irritierte ihn: Wieso hatte er noch nie von diesem Berg gehört? Trotz der enormen Größe kannte Sibirien mehr als ausgesprochen gut. Und wenn nicht von Expeditionen, dann doch zumindest aus Karten und Atlanten sowie - er erinnerte sich nur ungern daran - durch die "Erzählungen" seines Großvaters. Alles, was ihm und den anderen kurz Antritt der Reise mitgeteilt wurde, war, dass dieses Gelände seit etwa 20 Jahren als Sperrgebiet gekennzeichnet war. Flugzeuge und Forschungsteams, die seitdem diesen Ort passiert hatten, waren spurlos verschwunden. Rund um diese Ereignisse rankten sich alle möglichen und unmöglichen Spekulationen. Sogar von einem riesigen Wurmloch oder einem zweiten Bermudadreieck sei die Rede gewesen, doch Kais Meinung nach waren das alles nur Spinnerein von Leuten, die zu viele Filme gesehen hatten. Schwachsinn, nichts weiter. Hatte Dickenson nicht davon berichtet, dass man erst vor kurzem den Kontakt zu mehreren Bergungsteams verloren hatte? Zugegeben, etwas merkwürdig fand der Halbrusse das schon... !!!Wie hirnrissig mussten sie sein, diesem undurchsichtigen Auftrag nachzugehen? Wenn schon Hunderte Menschen hier verschwunden und ihnen die Begleitung weiteren Personals strikt untersagt waren - sie also vollkommen auf sich gestellt und ohne die nötige Erfahrung oder einen Reiseführer hier rauf stiegen...die Sache roch so faul, dass man sie noch aus dem Weltall hätte wahrnehmen können! (Und da gab es ja noch nicht mal Luft...) Von diesem Standpunkt aus betrachtet war es blanker Wahnsinn, überhaupt noch einen einzigen Schritt weiter zu gehen! "Was ist denn jetzt los?" Alex' verwunderter Ausruf riss Kai aus seinen Gedanken, und als sei das nicht genug, zog er sofort die Aufmerksamkeit der gesamten Meute auf sich. Völlig irritiert betrachtete der Amerikaner den kleinen Gegenstand in seiner Faust. Mina, die vor dem Blondschopf gelaufen war, erreichte ihn als erstes und versetze beiläufig Kai durch seine Sicherungsleine einen kräftigen Ruck. Widerwillig folgte er ihrer Anordnung und tapste ihr teilnahmslos hinterher; gerade so weit, dass sie den Amerikaner erreichen konnte. Wer war auf die glorreiche Idee gekommen, sie alle an einander fest zuketten? Außer Brian würde unterwegs schon niemand umfallen, und mal abgesehen davon schränkte es ihre Bewegungsfreiheit massiv ein und erforderte ein hohes Maß an Koordination und Zusammenarbeit. Wie sehr er beides hasste, wollte er gar nicht erst zu beschreiben versuchen. Ohne Kai überhaupt eines Blickes gewürdigt zu haben, erreichte sie Alex und beugte sich über das kleine Ding in seiner Hand. Kurz darauf trat sie ein Stück zur Seite. Für einen kurzen Moment war für Kai sichtbar, wie sie bei dem Anblick ihr Gesicht verzog. Jetzt schaffte die Neugierde es doch, den Siebzehnjährigen zu kitzeln. Zögernd trat er näher, um sich selbst ein Urteil zu verschaffen. Bei der Apparatur in Alex' Faust handelte es sich um einen simplen Kompass. Als Kai ihn schließlich erreicht hatte, warf er einen genaueren Blick auf die Apparatur und geriet zu seiner Verärgerung an einen Punkt, den er ganz besonders hasste: Den Punkt, an dem er für etwas beim besten Willen keine Erklärung fand. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er es wahrscheinlich nicht geglaubt, sondern vielmehr Alex und Brian beschuldigt, mal wieder zu viele Science-Fiction-Filme gesehen und/oder zu viel gesoffen zu haben. Doch so blieb ihm nichts Anderes übrig, als in seinem Schrecken darauf zu hoffen, dass sich bald eine glaubwürdige Erklärung finden würde. ...aber mal abgesehen davon verstand er jetzt wenigstens, was der Grund für die ganze Unruhe war. Völlig wirr und ziellos drehte sich die Kompassnadel nach allen Richtungen, schwankte, drehte sich dann wieder ziellos umher und zeigte einfach überall hin, nur nicht dorthin, wo sie sollte. "Na toll.", stellte Mina fest, "Und was macht das Navigationssystem?" "Das hat schon vor einer ganzen Weile den Geist aufgegeben....und meine digitale Uhr ist auch stehen geblieben. Einfach so, obwohl sie kälteresistent bis - 75° sein soll. Ich hatte sie noch ganz neu" Kai verschränkte die Arme und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Situation verunsicherte. Stattdessen beobachtete er aus den Augenwinkeln Mina, die einen provokanten Blick in Richtung Berggipfel warf und so etwas Ähnliches wie "Dead-Zone" nuschelte. "Wat für'n Ding?" Frustriert ließ Brian das Zugseil des Schlittens los und hüpfte unbeholfen mit den Schneeschuhen heran. Dabei sah er weniger aus wie ein Sprinter, sondern viel mehr wie Barney bei einer seiner Tanzeinlagen. Kai spekulierte, dass der Rothaarige sogar besser vorangekommen wäre, hätte er sie einfach ausgezogen. (Im Übrigen verdankten sie es dem unwahrscheinlichen Glück, dass die Kufen des Schlittens mit einer Robbefell-ähnlichen Spezialschicht überzogen waren und nur deshalb nicht dank Brians "Umsichtigkeit" rückwärts den Abhang runterrutschte. "Ach so, richtig. Ihr habt vorhin mal wieder nicht zugehört, wie?", interpretierte die Rumänin die sie umgebenden ratlosen Gesichter. "Um was geht's denn überhaupt?!", schnaubte Brian, als er endlich die drei anderen erreichte. Energisch grabschte er Alex den Kompass aus der Hand - starrte ihn an als wäre er nicht fähig gewesen, einen defekten von einem funktionstüchtigen zu unterscheiden - und schüttelte ihn heftig. "Wir sind hier in einer so genannten Todeszone, oder Dead-Zone.", begann Mina ein in widerlicher Akademikersprache ausformuliertes Kurzreferat. Kai hörte ihr halbherzig zu. Was blieb ihm auch anderes übrig, wollte er nicht so unwissend bleiben, wie er es im Augenblick war. "Ihr dürftet mitbekommen haben, dass man den Kontakt zu all den hier her gesandten Bergungsteams und Flugzeugen verloren hat. Als sie den Berg überflogen haben, ist vermutlich erst der Funk ausgefallen, und anschließend die Bordelektronik. Den Rest könnt ihr euch denken." "Jetz’ versteh’ ich zumindest", kommentierte Alex, "wieso wir so weit außerhalb gelandet sind. Aber was - " "Und das heißt?", fiel Brian den beiden ungeduldig ins Wort, "Was ist denn jetzt diese T...Toblerone und wieso spinnt dieses Ding?" "Todeszone. Jetzt hör endlich auf, den Kompass zu malträtieren. Davon geht er höchstens noch ganz kaputt.", sie räusperte sich, "Als Todeszone bezeichnet man Gebiete, in denen es ungewöhnlich starke elektromagnetische Aktivitäten gibt. Die sind wiederum Ursache für plötzlichen Defekt oder Fehlfunktionen von allen Geräten, die mittels Magnetismus oder komplizierteren Schaltkreise funktionieren. Zum Beispiel der Kompass in deiner Hand oder eben der Computer an Bord eines Flugzeuges oder Helikopters." "W...was? Igitt! Weg! Weg! Weg! Angewidert schleuderte der Rothaarige den Kompass in Richtung Alex und taumelte ein paar Schritte zurück. "Nimm bloß das Ding weg von mir!" Sein Gegenüber rollte mit den Augen, ließ die unglaubliche Dummheit und die daraus folgende Unwissenheit des Philippinen auf sich beruhen und kümmerte sich erstmal um seine eigenen Fragen. "Todesberg...Todeszone...So was gibt’s wirklich? Oder hast du zu viel Science-Fiction-Romane gelesen und willst und verarschen?" "Also wenn dir der Elektroschrott an deinem Handgelenk, das kaputte Navi und dieser verwirrte Kompass noch nicht Beweis genug sind: Du bist gerade mitten in einer drin.", reflektierte Mina sein geschmackloses Feixen. "Und wie orientieren wir uns jetzt?" "Wir müssen uns, Wohl oder Übel, am Stand der Sonne und an den Sternen orientieren.", schaltete sich Kai mit übertriebener Arroganz ein zog seinerseits an der Führungsleine; er wollte den Weg endlich fortsetzen. "Na wunderbar, Kai! Jetzt brauchen wir nur noch jemanden, der das kann!", zischte Brian, den Kais Verhalten mal wieder binnen Sekunden zur Weißglut trieb, "Und wenn wir noch jemanden zur Todesberg-Party mitnehmen, werden wir unterwegs weggesprengt!" Unbeeindruckt von dem plötzlichen Wutausbruch, zog der Halbrusse eine Augenbraue hoch und grinste. "Pah! Als ob du so was könntest! Dann macht Kai jetzt eben den Anführer und Navigator. Aber den Schlitten behalte ICH!", Brian rechnete nicht wirklich mit einer Antwort. Kai nickte abfällig und machte seine Hoffnungen zunichte. "So was lernt man eben, außer man ist zu blöd dazu. Sei lieber froh, dass wenigstens einer von uns die Orientierung behält.", setzte der Halbrusse noch einen nach. Mina hingegen schwieg und hoffte, die beiden würden es damit auf sich beruhen lassen. Dieses ganze sinnlose Hickhack war pure Energieverschwendung und ging sie obendrein nichts an. Im Notfall würde sie sich auch ohne Kai zurecht finden, doch das brauchte er nicht notwendig zu erfahren. Es reichte, wenn sie ihn im Auge behielt und seine Entscheidungen gegebenenfalls korrigierte. "Okay. Haben wir sonst noch nutzlosen Elektroschrott, den wir hier lassen können?", fragte Brian und warf dem überladenen Schlitten einen verächtlichen Blick zu. "Um ehrlich zu sein, nein.", bedauerte ihn die Rumänin, "Das Team hat darauf geachtet, "Todeszonen-sicheres" Material einzupacken. Zum Beispiel haben wir gasbetriebene Campingkocher und einen kleinen Wasserboiler. Wir haben simple Taschenlampen und Batterien, aber nichts mit richtig aufwändiger Elektronik." "Und woher weißt du das so genau?", meinte der Rothaarige flapsig. "Na woher wohl?", ging der Amerikaner auf seine Frage ein, "sie hat wahrscheinlich die ganze Zeit daneben gestanden und auf einer Liste angekreuzt, was alles eingepackt wird und was nicht. Apropos: Habt ihr eigentlich eure Beyblades mitgenommen?" Ohne es zu wissen, traf der Achtzehnjährige damit genau ins Schwarze. "Ist doch logisch! Wieso sollten wir die bitte nicht mitnehmen?", prahlte Brian und begann eifrig in einer seiner Taschen zu kramen. "Ich hab meinen auch dabei. Sonst hätte ich gar nicht erst gefragt. Ich wollte ihn nicht zuhause lassen. Besonders für den fall, dass..." er sprach nicht weiter. Mina sprach aus, was den anderen auf der Zunge lag. "Falls wir nicht zurückkommen. Ich bin nicht sonderlich scharf drauf, aber für den Fall der Fälle würde ich Black Dranzer auch bei mir haben wollen." "Hast du ihn nur deswegen mitgenommen?" Einen kurzen Augenblick lang hatte die sonst so ausgeglichene Stimme des Amerikaners etwas Trauriges an sich. "Pah! Hört auf mit dem Mist.", durchbrach Kai das drückende Schweigen und zerrte noch einmal am Sicherungsseil, so dass Mina beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und ihrerseits erbost einen kräftigen Ruck durch die Schnur gehen lies. Kai, der nicht damit rechnete, verlor der Halt. Das Gewicht des Equipments auf seinen Schultern erledigte das Übrige. "Hast du Dranzer etwa zu Hause gelassen?", empört und versuchte vergebens aus dem zu pulvrigen Schnee eine Granate zu formen, um dem Siebzehnjährigen sein vorlautes Mundwerk zu stopfen. "Was soll ich noch damit? Ich bin kein Blader mehr.", faselte der Halbrusse, richtete sich wieder auf und setzte sich trotzig in Bewegung. Widerwillig folgten ihm die anderen. Sie hatten schon genug Zeit verloren, und es würde nur wenige Stunden hell sein. "Alte Kackbratze...", maulte der Philippine und zerrte den widerspenstigen Schlitten hinter sich her Von jetzt an setzten die Gefährten ihren Weg fort, ohne ein einziges Wort zu verlieren. Unangenehm kaltes Schweigen legte sich über ihre Häupter und haftete selbst dann noch an ihnen, als die Sonne allmählich in der Ferne versank und die schroffe Bergflanke in goldrotes Licht hüllte. Für einen kurzen Moment verwandelten sich die leblosen Wolkenfetzen am Firmament in lodernde Flammen, unter denen die unendlich weite Schneedecke in allen Farben zu glitzern begann. Nach allem endlich ein erster Moment der Rest, der sie für die ganzen Strapazen zu entschädigen schien. Schweigsam saßen sie in der Felsnische, in der sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Vor ihnen lag ein unwirklich schönes Gemälde, das mit seiner warmen Farbenpracht über die klirrende Kälte dieses Ortes hinwegtäuschte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)