Living a Lie von woaini (Taito) ================================================================================ Kapitel 5: Nicht mehr. ---------------------- Kapitel 5 Nicht mehr. ~~Yamatos Pov~~ Der Morgen beginnt schon fürchterlich. Alle meine Glieder Schmerzen, da ich unbequem am Schreibtisch eingeschlafen bin. Mit offener Hose, benutzte Taschentücher in meinem Schoß. Der Kopf fast auf dem blanken Schreibtisch, nur mein Song als Unterlage, beinahe von mir vollgesabbert. Mein Rücken und Nacken tun so weh, dass ich bezweifle gerade gehen zu können. Und ich habe tierischen Hunger. Doch, wie so oft, es kommt noch schlimmer. Müde und schwerfällig ziehe ich mich um, will mein Zimmer verlassen. Es ist bereits Mittag, ich bin ein Langschläfer wie eh und je und möchte endlich etwas essen. Tai entdecke ich auf dem Sofa, aus dem Fenster dem Regen zuschauend. Aber so friedlich dieses Bild auch ist, Tai schafft es genau jenes Bild empfindlich zu stören. Nicht mal ‚Guten Morgen’ sagend, starre ich ihn an. Bin geschockt und gleichzeitig fasziniert. Ich muss zusehen, wie der liebe Tai eine Banane genüsslich verschlingt, mit dem Mund liebkost und Stückchen für Stückchen abbeißt. Gewisse Fantasien brüten in meinem Kopf und ehe ich wage, rot anzulaufen, renne ich auch schon hektisch ins Bad, knalle die Tür zu und brülle mehr als rufe, dass ich nun ungestört Duschen will. Ein schönes, langes Bad ist jetzt genau das, was ich brauche… ~~Taichis Pov~~ Bei dem plötzlichen Krach verschlucke ich mich fast an meiner kleinen Zwischenmahlzeit und kann nur bedröppelt in Richtung Yama blicken. Kein Yama mehr. Wie kann man am frühen Morgen nur schon so schlecht drauf sein? Meine Laune ist auf dem Höhepunkt, schon seit dem Aufstehen. Geweckt wurde ich von den ersten zärtlichen Sonnenstrahlen, die sich hinter den Bergen hervorwagten und mir direkt ins Gesicht schienen. Erst verwundert darüber, wo ich war, dann glücklich und den Luxus genießend wälzte ich mich ein bisschen in dem weichen Bett. Kindisch? Ich doch nicht! Es ist nun mal herrlich in einem warmen, trockenen, gut riechenden Bett aufzuwachen, mit einer herrlichen weichen Decke, nur für mich allein, nicht so wie sonst, auf einem wild zusammengesuchten Haufen Stofffetzen, der stinkt und kratzt. Es ist schön, morgens mal nicht mit einem Tritt geweckt zu werden, weil man so faul war und bis Sonnenaufgang geschlafen hatte, na ja, weniger geschlafen, eher geruht hatte. Tief und fest zu schlafen, sich wohl zu fühlen, sich fallen zu lassen und im Schlaf bestimmt vor sich hin zu grinsen ist etwas ganz neues für mich. Aber dieser herrliche Morgen ging weiter. Kaum schwang ich zufrieden meine Glieder aus dem Bett, fiel mein Blick auf mein Spiegelbild, das mir von dem Schrank, dem Bett gegenüber, entgegenblickte. Ein Junge mit ordentlicher Kleidung, gesund aussehend, na ja gesund, nicht schmutzig oder ausgemergelt. Anständige Sachen, sogar einen Pyjama habe ich getragen, den hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr! Und es war mir kein bisschen kalt! Es war einfach toll! In keinem Loch aufwachen, sich zu fragen, wie man diese Nacht überstanden hat. Da war das Grinsen in meinem Gesicht gleich noch eine Spur größer! Und ich habe fast vor Freude geweint, oder gejubelt, laut aufgeschrieen, als ich den vollen Kühlschrank sah. Mit lauter Köstlichkeiten, die frisch und fein säuberlich mir entgegenleuchteten. Was soll ich sagen? Ich hab den Kühlschrank geknuddelt!! Mehrere Minuten lang!! War das ein schönes Gefühl. Und dann das leckere Müsli, mit Früchten aus der Küche, gut zwei Trauben waren schon etwas eingeschrumpelt, aber längst besser als das, was ich sonst essen muss! Und wie köstlich es geschmeckt hat! Morgens Milch trinken! Von sauberem Geschirr zu essen! Überhaupt Geschirr zu sehen! Was hab ich es vermisst. Hab ganz vergessen, wie schön das ist. Blondy hab ich schlafen lassen, meine Art, Danke zu sagen. Der Tag ist einfach toll. Da vermiest mir Yama auch nicht mit seiner Laune! Ich genieße das hier, solange ich es noch kann. Zufrieden seufzend kuschle ich mich in die weichen Wohnzimmerkissen, finde es sehr entspannend, einfach nur nach draußen zu sehen, dem Regen zu beobachten. Ich muss mich später bei Yama irgendwie erkenntlich zeigen. Grinsend werfe ich meine Banane weg, ich weiß gar nicht, was Blondy gerade hatte, aber das stört mich nicht. Freundlich wie ich bin, decke ich dem Miesepeter den ‚Frühstücks- eigentlich Mittagstisch’ und gebe mir besonders viel Mühe beim Serviettenfalten. Leider bin ich gehandicapt und so wird kein schönes Kunstwerk aus dem Stück Papier. Servietten habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen! Ach, nichts kann meine Laune heute trüben! Grinsend, breiter als sonst, werfe ich ein Auge auf die Mikrowelle. So ein Ding habe ich noch nie benutz und hatte noch nie eins, aber es sieht sehr interessant aus! Überhaupt ist die Küche ein magischer Ort für mich! All dieses Essen, die Töpfe, die Gerätschaften, die Getränke, die Schränke, deren Inhalt! Ich weiß gar nicht, wer das alles essen soll! Ich bin im Himmel! Das Telefon tutet, schreckt mich aus meinem Schwärmen. Etwas gereizt wird mir entgegen gebrüllt, dass ich an das verdammte Telefon gehen soll. Kichernd und mit den Schultern zuckend nehme ich den Hörer ab, bemerke aber zwei Sekunden später, dass ich gar nicht telefonieren kann! Ich kann ja schlecht einen Zettel durch die Leitung zwängen. „Hallo? Ist da jemand? Hier ist Inspektor Hidekashi! Ist da jemand?“, frag Ryo immer wieder und mir fällt nichts Besseres ein, als in den Hörer zu pusten. „Ah, ist da Tai? Ok, einmal Klopfen heißt Ja, zweimal Nein, verstanden?“ Ach, ich mag Ryo. Grinsend klopfe ich mit einem Bleistift einmal gegen den Hörer und bin gespannt, was ich erfahren werde, verdränge negative Gedanken an Omeda völlig und möchte nur genießen. Wie oft kann ich schon mal mit jemandem telefonieren? Der Schwarzhaarige am anderen Ende der Leitung seufzt erleichtert auf, kichert leise ins Telefon. „Man, das ist seltsam, Tai! Klopfzeichenleitung, aber na gut! Also, erstmal: ich komme heute Abend noch mal bei euch vorbei, ich hab noch einige Fragen an dich, sei so gut und sei da, ok?“ Wieder klopfe ich einmal brav gegen die Muschel und warte gespannt auf das, was Ryo mir noch verheimlicht. Schon klingt die Stimme meines Gesprächspartners ernster, als er von Neuem beginnt. „Gut, also hör zu, Tai. Omeda ist in Untersuchungshaft. Es werden Nachforschungen angestellt und es wurden ein paar nicht registrierte Waffen in seinem Wagen gefunden, schon allein deshalb bleibt er eine Weile hinter gesiebter Luft. Allerdings, die Sachen mit der kriminellen Bande, ich brauche deine genaue Aussage aus der Bande und ich muss auch deine Geschichte kennen.“ Sofort tippe ich zweimal gegen den Hörer. Ich will nicht von meiner Vergangenheit erzählen! Was soll das?! Das geht die nichts an! Keine Bullen müssen über mein Privatleben Bescheid wissen! „Tai, wir brauchen aber ganz dringend deine Aussage! Wir müssen deine Angaben überprüfen und wissen, inwiefern du in der Sache mit drin steckst!“ Gleich vier Mal hintereinander klopfe ich gegen dieses blöde Telefon. Nein, nein, und nochmals NEIN! Damals hat mir keiner geholfen, jetzt will ich eure Hilfe auch nicht mehr! „Aber Tai, wir müssen es wissen, sonst können wir doch deiner Schwester keine Hoffnungen machen!“ Mir fällt das Telefon aus der Hand. Schwester? Hektisch lese ich den Hörer wieder auf, weiß nicht, wie ich mich verständigen soll. Eine Lüge! Ich habe keine Schwester mehr! Das hat man mir gesagt! Ich hatte 10 Jahre lang keine Schwester, woher wollen sie denn plötzlich eine hernehmen?! „Ok, ich muss Schluss machen, Tai. Aber du solltest dir das wirklich überlegen! Hikari weiß noch nicht, dass wir dich gefunden haben, und wir können es ihr erst sagen, wenn wir wissen, ob du eine Gefahr für sie bist! Sei vernünftig, Tai! Bis heut Abend!“ Es tutet regelmäßig. Aufgelegt. Ich starre die Wand an. Hikari, so hieß meine Schwester wirklich. Doch vor 10 Jahren sagte man mir, dass ich auf ihrer Beerdigung war, also dürfte sie nicht mehr leben. Wieso sagt Ryo nur so was? Wieso tut er mir das an? Nur, damit ich von meiner Vergangenheit spreche? Was ist das denn? ~~Yamatos Pov~~ Wesentlich erleichterter öffne ich die Tür, trockne mir die Haare mit dem Tuch und seufze. Wer hat denn da nun schon wieder angerufen? Verwundert sehe ich zu dem Brünetten, der, wie zur Salzsäule erstarrt, den Hörer an sein Ohr presst. Sanft berühre ich ihn am Arm, spüre, wie er unglaublich schreckhaft zusammenzuckt und sofort Abstand zu mir nimmt, mich mit großen, verschreckten Augen ansieht und total verstört aussieht. Schnell halte ich mir das Telefon an das Ohr, doch höre ich nur das Tuten. Neben mir steht Tai, der sich den Arm hält, verstört, unruhig wirkt und mir Sorgen bereitet. Abwesend starrt er mit dunklen Augen zu Boden, hält seinen Arm, als würde er jede Sekunde abfallen. Es fehlt nur noch, dass er sich selbst umarmt und sich hin und her wiegt. Jeder Versuch, ihm näher zu kommen, treibt ihn mehr und mehr in den Wahnsinn. Lässt ihn noch mehr aus der Wirklichkeit verschwinden. Treibt ihn in seine eigene kleine Welt. Immer fester wird sein Griff um seinen Arm. Ich sehe das Weiße seiner Knöchel. Dutzende Male spreche ich ihn an, doch er reagiert nicht. Was ist nur geschehen?? Was ist nur mit ihm passiert?? Sein Atem geht stoßweise und schwer. Besorgt komme ich ihm doch näher, lege sanft meine Hand auf seine völlig verkrampfte. Große, leere, braune Augen sehen durch mich hindurch, jagen mir einen Schrecken ein, doch er ist doch mein Tai! Ich weiß nicht, was ich tun soll. Schwer schluckend lege ich vorsichtig meine Hand an seine Wange, drehe sein Gesicht sanft in meine Richtung, suche in seinen Augen den Jungen, der den ganzen Tag mit mir zusammen war und finde ihn nur bruchstückhaft. „Was ist los, Tai?“, frage ich zum zigsten mal. Wieder ernte ich ein Schweigen. Dann ganz, ganz langsam fließt eine Träne aus seinem Auge. Fremd und verletzlich wirkt er. Reagiert nicht mehr, belässt es bei dieser einen Träne. Ich ziehe ihm zum Sofa, schubse ihn regelrecht in das weiche Kissen und verstehe immer noch nicht. „Was ist denn mit dir, Tai? Warum weinst du? Sag doch endlich, was mit dir los ist!“, flehe ich ihn an und setzte mich ernsthaft auf seinen Schoß. Nicht, weil ich ihn anbaggern will, sondern weil ich ihm so besser in die Augen schauen kann, meine, ihn besser trösten zu können. Sanft wische ich ihm die Träne hinfort. Nicht weinen, Tai! Im nächsten Moment krallt sich Tai so fest an meinem Pullover fest, dass es fast wehtut, gleichzeitig versteckt er sein Gesicht vor mir und drückt sich an mich. Er sucht Nähe. Meine Nähe. Glücklich schlägt mein Herz einen Takt schneller, ich bin froh, dass er meine Nähe nun akzeptiert. Sanft kraule ich seinen Nacken, gebe ihm etwas Trost. Kein Geräusch kommt über seine Lippen, doch spüre ich, wie es in seinem Inneren tobt. Irgendetwas ist eben gerade passiert und es hat Tai schwer zu schaffen gemacht. „Es wird schon alles gut werden, Tai! Du brauchst keine Angst zu haben… Ich bin ja da.“ Wir sitzen ziemlich lange so. Ich auf seinen Schoß, er in meinen Armen. Es ist ein seltsames Gefühl, das sich in mir ausbreitet. Ich habe nie jemanden trösten wollen. Ich wollte nie jemanden in den Arm nehmen, wenn es ihm schlecht ging. Doch bei Tai ist es ganz anders. Er wirkt immer so stark und fröhlich, da ist es verwunderlich, dass er auch so zerbrechlich ist. Dass er manchmal auch einfach nicht mehr kann. Dass er an seiner inneren Last manchmal droht zusammenzubrechen. Woraus besteht deine Last Tai? Lass mich dir doch helfen! Immer noch zärtlich kraule ich ihm durch die weichen, dichten, braunen Haare, lasse ihn gewähren, stelle keine Forderung, keine Ansprüche, bin einfach nur für ihn da. Erst nach 20 Minuten fällt mir auf, dass mein Brünetter eingeschlafen ist, sich dennoch an mir festhält, als wäre ich sein letzter Halt. Schmunzelnd löse ich seine immer noch verkrampften Hände aus meinem Oberteil und lege ihn behutsam auf die Couch. Schnell habe ich mich neben ihm gesetzt, streiche durch sein blasses Gesicht. Du bist nicht alleine, Tai. Seufzend betrachte ich den Regen. Wie es scheint, wird es wieder ein Gewitter geben. Hilflos wie ich bin, bleibe ich neben dem Brünetten sitzen, warte, bis er aufwacht. Vielleicht hat er sich dann ja wieder gefangen. Vielleicht kann er mir dann sagen, was mit ihm los war. Wie war mein Leben nur ohne dich? »I wake up Thoughts of you Tattooed to my mind As I wonder What to wear What to eat Who to be Will I see you again« Was wird passieren, wenn du aufwachst, Tai? Wirst du dich mir anvertrauen? Oder wirst du dein Geheimnis wieder in dir vergraben? Wie wird unsere Zukunft aussehen? Wie wird der Abend zu Ende gehen? Bleibst du bei mir? Verschwindest du? Bist du noch in Gefahr? Werde ich je deine Stimme hören? Alle meine Gedanken drehen sich um den Brünetten. Fasziniert umrunde ich ihn, wie die Planeten die Sonne, nur, dass Tai noch viel heller als die Sonne strahlt, mich fast verglüht. » And as my car breaks down I shake my head and say What a day« Wie war mein Leben nur früher? Wie konnte ich nur Leben? Was war der Inhalt meines Lebens? Woran habe ich gedacht? Was habe ich mir gewünscht? Was habe ich erreicht? Ich war ein Rockstar, mit einer Karriere, die langsam drohte den Bach hinunter zu gehen. Einsam, in mich gezogen und vor allem allein. Was hatte ich schon? Ich will Tai. Ich habe mir schon lange nicht mehr etwas so sehr gewünscht. » If you only knew What I went through just to get to you I'm hanging from you And I'll hold on if you want me to« Ich würde alles tun, damit er bei mir bleibt. Dass er bei mir ein sicheres Leben führen kann. Ich werde kein Rockstar mehr sein. Keine großen Touren, keine Auslandskonzerte, nicht mal Konzerte außerhalb dieser Stadt. Ich werde Lieder schreiben, gelegentlich den einen oder anderen Song auch selber singen. Ich ziehe mich aus dem Showbusiness etwas zurück. Ich brauche die ganze Aufmerksamkeit nicht. Ich liebe die Musik. Das Singen, Gitarre spielen, meine Gedanken zu Noten formen. Die Band verliert ihre Wichtigkeit in meinem Leben. Ich will ein Leben haben. Privatsphäre, eine Familie! Zum aller ersten Mal will ich Freunde um mich haben. Tai will ich um mich haben. Will mit ihm sprechen, lachen, Spaß haben, möchte mit ihm über Vergangenes reden, traurige Sachen, ernste Themen. Ich möchte ihn noch mehr kennen lernen. Sanft streichle ich seine Wange. Warm und weich, so wie seine Haut überall ist. » Every bus, every train, Every cab, every lane is JAMMED So I looked to the sky And I reached for the planes with my hands If all my days go wrong I'll think about last night It went right« Wenn der liebe Tai wüsste, an was ich gestern gedacht habe. Was ich getan habe. Was ich empfunden habe. Vielleicht sollte ich mich schämen, aber irgendwie kann ich es nicht. Dazu fühle ich mich viel zu sehr zu ihm hingezogen. Er ist liebenswert, auf seine Art und Weise intelligent, stark, gelenk, mutig, selbstbeherrscht, nicht zu vergessen gut aussehend und absolut charmant. Ich möchte Tai zur Seite stehen. Auch wenn ich dafür noch einiges tun muss. » If you only knew What I went through just to get to you I'm hanging from you And I'll hold on if you want me to« Langsam streiche ich ihm die wilden Haarsträhnen hinter die Ohren. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich ihn sehr mag. Vielleicht sollte ich ihm anbieten, mit mir zusammen zu wohnen. Vielleicht sollte ich ihm ein neues Leben ermöglichen. Es klingelt an der Haustüre. Nur schwer kann ich mich von dem süßen Anblick meines Brünetten trennen, stehe auf und öffne Ryo verwundert die Tür. » If you only knew What I went through just to get to you I'm hanging from you And I'll hold on if you want me to« ~~Taichis Pov~ Nach wirren Träumen wache ich auf. Mir ist schlecht und ich habe Kopfschmerzen. Obwohl ich Stimmen höre, lasse ich meine Augen geschlossen. Lausche nicht, bin zu sehr mit mir beschäftigt. Was ist Lüge? Was ist die Wahrheit? Vor 10 Jahren. Vor fast 11 Jahren mittlerweile. Verdammt beschissene Jahre. Ich habe mich in diesen Jahren an mein jetziges Leben gewöhnt. Musste es ertragen. War darin gefangen, weil ich glaubte allein zu sein. Hikari, meine süße, kleine Schwester. 4 Jahre jünger als ich und so lieb. Wie sehr ich sie doch geliebt habe. Wie sehr ich sie doch behüten wollte. Nie haben wir gestritten. Nie war sie mir zu nervig. Wenn sie weinte, tröstete ich sie. Wenn sie quengelte, spielte ich mit ihr. Und wenn sie lächelte, dann lachte ich auch mit. Ich wollte der große, starke Bruder sein, der seiner Schwester ein Vorbild ist und sie behütet und beschützt. Doch ich dachte, dass ich sie verloren hätte. Vor etwas mehr als 10 Jahren. An dem Abend, an dem ich alles verloren habe. Es regnete in Strömen. Es hagelte. Es war pechschwarze Nacht. Ich trug einen Anzug, einen schwarzen. Meine Eltern waren auch fein angezogen. Es geschah alles so schnell. So plötzlich. Ich war verwirrt und am Boden zerstört. Ich glaubte, was man mir erzählte. Wollte, dass sie mich in Ruhe lassen. Wollte weg von ihnen, aber sie ließen mich nicht gehen. Nie. Sie nahmen mich mit. Nahmen meinen kleinen Anzug mit der scheußlichen, roten Fliege und den Blutspritzern, verbrannten ihn und sperrten mich fast ein Jahr lang ein. Solange, bis ich aufhörte sie zu beißen, zu treten, zu kratzen. Sie nahmen mir meine Freiheit. Dann nahmen sie mir meine Erinnerungen. Zwängten mich in ihre Welt. Hass, Gewalt, Alkohol und schließlich kriminelle Taten. In der Reihenfolge. Ich hasste sie. Ich hasste sie für das, was sie mir antaten, was sie mir genommen hatten. Sie schlugen mich, wenn ich Widerworte gab. Sie traten nach mir, wenn ich nicht das tat, was sie mir beigebracht hatten. Sie prügelten auf mich ein, wenn ich weinte. Den Alkohol lernte ich schon mit 10 kennen. Es war ein so kalter Winter, dass ich auf der Straße fast erfroren bin. Ein Obdachloser hatte Erbarmen mit mir Würmchen und gab mir etwas Schnaps, der mich wunderbar von Innen wärmte. Mich am Leben hielt, in dieser eisigen Nacht. Und dann wurde ich auch noch kriminell mit 12. Ich musste mir mein Essen stehlen. Oder auch Geld klauen, damit sie mich nicht von Neuem verprügelten. Alle gegen einen. Gegen mich. Ich lief davon, wenn sie mich zu ihren kleinen ‚Aufträgen’ mitnehmen wollten. Ich wollte niemanden töten. Niemanden so schlimm verprügeln, wie sie mich verprügelt hatten. Ich lebte in dem Glauben, nichts zu haben. Nichts mehr suchen zu können. Sie sagten mir, dass meine Schwester tot wäre, dass ich alleine auf der Welt wäre. Ich wurde nicht gefunden, auch nicht Jahre danach, also glaubte ich ihnen. Ich war allein. Keine Familie, die mich hätte finden und retten können. Ich war einsam und verlassen. Auf mich gestellt in den Straßen, egal zu welcher Jahreszeit, völlig egal, welches Wetter. Alles war besser als jener Ort. Egal ob ich fror, schwitze, mich erkältete oder litt, ich wollte nicht zurück. Ich hatte keine Vergangenheit mehr, weil der behütete Junge von damals irgendwo in der Einsamkeit gestorben war. Ich musste allein klar kommen. Ich durfte nicht meckern, das gab jedes Mal Schläge. Ich durfte nicht hoffen, denn niemals veränderte sich irgendetwas. Mein Leben war beschissen. Warum ich nicht längst versucht habe mich umzubringen? Mein erster und letzter Versuch war mit 15 und ich wurde, bevor ich auch nur springen konnte, von ihnen gefunden. Bekam eine so derbe Abreibung, dass ich 4 Monate später noch Sternchen sah und nur liegen konnte. Nicht mal über meinen Tod konnte ich entscheiden. Sie hatten die totale Kontrolle über mich. Ich war der Dreck, auf den sie liebten zu treten. Und nun erfahre ich, dass ich nicht allein bin. Dass meine geliebte, kleine Schwester noch lebt. 10 Jahre lang habe ich sie nicht gesehen. Ich habe das Recht, verloren ihr großer Bruder zu sein. Ich war nicht da. Ich ließ sie alleine. Ich verpasste, wie sie langsam groß wurde. Sie dürfte nun etwa 14 oder 15 Jahre alt sein. Schon viel zu groß. Sie dürfte enttäuscht über ihren großen Bruder sein. Stumm. Ohne Schule. Kriminell. Verprügelt wie ein Hund. Geschunden. Nicht stark und nicht liebevoll. Erbärmlich. Ich habe aufgegeben. Ich habe aufgegeben, mich gegen sie zu wehren. Sie sind so viele, große, starke und ich bin klein und schwach und ihr Lieblingsspielzeug. Taichi. Ich hasse es, Taichi genannt zu werden. So nennen sie mich, klingen dabei arrogant und gleichzeitig amüsiert, als wenn es ihnen noch mehr Spaß bereiten würde, meinen Namen mir zu wider zu machen. Es muss eine Lüge sein. Ich bin alleine. Ich war alleine. Mich braucht niemand. Am allerwenigsten meine kleine Schwester. Wie sollte ich ihr auch erklären, wo ich die letzten Jahre war?! Ich habe Mühe, meine heißen Tränen zurück zu halten. Es schmerzt. Der Gedanke, dass ich getrauert habe, aber meine Trauer ein Witz war. Mein Kopf droht zu zerspringen, so sehr quälen mich diese Gedanken. Wenn sie lebt: Will ich sie sehen? Natürlich. Natürlich will ich zu Kari. Natürlich will ich alles vergessen. Möchte frei von ihnen sein. Möchte ein normales Leben führen. Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Nicht nur mit 15 habe ich meine Lektion gelernt, ich lernte sie dutzende Male: Aus mir wird nichts, kann nichts Anständiges werden, weil ich anders bin, weil ich verhunzt bin. Stumm, weil ich mich weigere zu sprechen. Keine Schulausbildung; das, was ich kann, hat mir ein Penner beigebracht. Er starb 2 Jahre später, gefoltert und schließlich verblutet und ich stand daneben und musste den Hammer halten. Sie haben die Kontrolle über mein Leben. Über mein Umfeld. Sie bestimmen, welchen Menschen ich ein ‚Guten Tag!’ zuraune. Wie kann Kari so einen Bruder haben wollen? Die Stimmen um mich herum verstummen und ein paar Sekunden später spüre ich, wie eine Hand über meine Stirn streicht. „Ich glaube, Tai wacht auf!“, sagt der Blonde fast schon erleichtert. Mir wäre es lieber, wenn Tai nicht aufwachen würde, aber den lieben Tai fragt ja niemand! Genervt öffne ich erst ein Auge, dann das nächste. Vor mir knien Ryo und Blondy fast schon besorgt und warten wahrscheinlich, dass ich etwas Intelligentes sage, aber ersten: kommt es anders und zweitens: als man denkt! Finster sehe ich Ryo an, der mich in dieses Gefühlschaos geschmissen hat, bitterböse, so wie man es mir beigebracht hat. Es zeigt natürlich seine Wirkung, Blondy neben mir schluckt ängstlich und verschwindet mit der Ausrede ein Glas Wasser zu holen und Ryo setzt sich irritiert in den Sessel mir gegenüber. Ich kann seine Unsicherheit auf 10 Meter gegen den Wind riechen und weiß jetzt schon, dass meine Kopfschmerzen noch stärker werden. Sehr viel stärker. „Hi Tai! Du hast lange geschlafen! Tut mir Leid, wenn dich unser Telefonat aufgeregt hat, aber ich muss dich leider schon wieder damit behelligen: Tai, ich brauche ganz, ganz dringend deine Zeugenaussage. Das beinhaltet das, was hier in der Zeit mit Matt und Omeda passiert ist, aber auch das, was du in den 10 Jahren gemacht hast! Deine Vermisstenanzeige ist fast 11 Jahre alt. Ich muss wissen, was in der ganzen Zeit mit dir passiert ist! Kari, deine Schwester, hat all die Jahre auf dich gewartet! Sie glaubt immer noch, dass du lebst, egal was wir Großen ihr sagten. Aber damit du zu ihr kannst, muss ich wissen, wie gefährlich oder ungefährlich du bist!“ Sagte ich vor geraumer Zeit, dass ich Ryo mag? Hat sich geändert. Wütend werfe ich die wärmende Decke von mir, zerknülle sie und lege sie dann achtlos einfach zur Seite. Der Schwarzhaarige schiebt mir in froher Erwartung den Block und einen Stift zu, lächelt schief und glaubt tatsächlich, dass ich brav alles aufschreibe. Für was hält der mich? Als wenn ich für ihn einen Seelenstrip hinlege. Nicht mit mir, Bulle! Wo warst du denn, als ich dich gebraucht hätte? Da hast du dir den Hintern platt gesessen und ach ja, nun soll ich mich natürlich vertrauensvoll an die Bullen wenden, wo ich doch schon so früh erfahren habe, wie leicht es ist, die Bullen zu bestechen, zu killen, und ach ja, zu erpressen. Wütend schnaube ich, verschränke die Arme und überlege, ob ich noch schnell abhauen kann, doch Blondy-, ich sollte ihn Yama nennen, aber ich bin gerade wütend auf ihn-, setzt sich schon neben mich und drückt mir einen Tee in die Hand. Klasse, jetzt ist auch noch er gegen mich! Meine zusammengezogenen Augenbrauen tun mittlerweile weh, aber ich übe dennoch meinen Todesblick an den beiden aus. Ich ernte verdutze, wartende Gesichter. Ja, der liebe Taichi zickt wieder rum! Aus mir bekommt ihr kein Wort heraus, ihr Schweine! Der Henkel meiner Teetasse bricht ab und der heiße Tee verschüttet sich über den halben Boden und meinen armen Fuß. Normalerweise würde ich spätestens jetzt weglaufen und einen spitzen Aufschrei unterdrücken, aber ich bleibe sitzen, beiße mir meine Unterlippe blutig und versuche, nicht vor Schmerz zu zittern. Der Blonde neben mir ist bereits aufgesprungen, holt einen Lappen und etwas Eis für meinen Fuß und der Bulle sammelt die Scherben auf. Ich konnte die Tasse nicht mehr festhalten. Nun hab ich 2 Tassen zerbrochen. Gibt das nicht Pech? Um mich herum herrscht Verlegenheit und Hektik, als die beiden den Boden sauber wischen, nur ich sitze wie zu Stein erstarrt. Das musste ich auch lernen. Keinen Schmerz zeigen. Keinen Schmerz empfinden. Wieder dreht sich alles um mich. Kann die Welt nicht mal still stehen? Weniger wackeln? Dann würde ich dieses Übelkeitsgefühl loswerden und vielleicht ginge es mir dann etwas besser. Aber nein, schwanke ruhig noch ein bisschen. ~~Yamatos Pov~~ Mein Blick wandert besorgt zu meinem Brünetten, der da völlig versteinert sitzt. Schmerzt sein Fuß denn nicht? Genau betrachte ich ihn. Tai wird plötzlich ganz grün. Er schielt sogar ein bisschen. Er wird doch nicht…. Ups, schon passiert. Armer Tai. Wenigstens hat er es auf die Toilette geschafft. Ziemlich schnell ist er über die Couch gesprungen, hat die Klotür zugeschmissen und dann ertönte das unverkennbare Geräusch von Erbrechen. Ryo und ich sehen uns an. „Hat er sich erkältet?“, fragt der Schwarzhaarige leise und ich kann nur hilflos mit den Schultern zucken. „Ich weiß nicht, was mit ihm los ist…. Ich glaube, ich weiß gar nichts mehr…“, seufze und ich und sehe mal nach Tai. Ich betrete das Badezimmer und finde ihn zusammengesunken neben dem Klo, muss mit ansehen, wie er sich selbst umarmt und sich immer wieder hin und her wiegt. Vollständig erstarrt betrachte ich dieses seltsame Szenario, bin unfähig mich zu bewegen. Ich höre Tai leise wimmern, spüre seine Verzweiflung wieder und weiß gar nicht, womit mein Brünetter dies alles verdient hat. Was immer es auch ist. Leise schließe ich die Badezimmertüre hinter mir ab. Der Schwarzhaarige sollte meinen Tai nicht so sehen. Bestimmt will Tai nicht so gesehen werden. Ich schleiche mich zu ihm, setzte mich einfach neben ihn, berühre ihn nicht, sage nichts. Manchmal muss es reichen, wenn man die bloße Anwesenheit von jemandem spürt. Tatsächlich hört Tai nach einer Weile auf sich hin und herzuschaukeln, bleibt einfach nur zusammengekaut sitzen und verkrampft seine Hände in der neuen Hose. Sein Wimmern hat auch nachgelassen, doch er vergräbt seinen Kopf tief in seinen Armen. Ich seufze leise, lege den Kopf in den Nacken und starre die Decke an. Es fällt mir schwer nichts zu sagen, ihn nicht in den Arm zu nehmen, aber ich glaube, es ist besser so für ihn. Auch als ich seine Bewegungen neben mir sehe und ganz zart spüre, ich starre weiter nach oben und verharre. Ich schließe meine Augen und versuche mir das Bild des kleinen Taichis in Erinnerung zu rufen, wie er freudestrahlend in die Kamera gelächelt hatte, mit leuchtenden Augen und einer kleinen Zahnlücke. Ein leises Kichern entfährt mir. Ich war als Kind immer etwas zurückhaltender. Ich spielte lieber für mich alleine und hab auf wenigen Fotos richtig gelächelt. Das Geräusch der Badezimmertür reißt mich aus meinen Gedanken. Verwundert sehe ich neben mich, finde einen leeren Platz vor. Tai ist verschwunden, gegangen. Auf den Boden hat er etwas geschrieben. Rote Buchstaben. „Das ist so ungerecht! Ich kann…“, steht da in blutiger Schrift auf den hellblauen Kacheln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)