Es tevi mīlu von Stiffy ================================================================================ Kapitel 1: Jūtasi ----------------- ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Genre: Shounen Ai / Yaoi Fandom: Original / Eigene Serie Kapitel: Part 1-11, Epilog Disclaimer: Die Charaktere und alles Sonstige gehört mir ^__^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Zur Entstehung: Als ich "Der Steinkreis des Chamälions" angefangen habe, bekam ich Lust, mal wieder eine Geschichte zu schreiben... fragt mich nicht wieso, die Story hat überhaupt keine Ähnlichkeiten mit dem Buch... Also habe ich mich für einige Zeit sehr ausgiebig damit beschäftigt, diese Geschichte zu schreiben. Am Anfang hatte ich noch keine Ahnung, wie die Geschichte verlaufen oder enden sollte... Die Ideen kamen dann aber sehr schnell während des Schreibens, wobei die Geschichte dann auch viel länger wurde, als sie eigentlich geplant war. Zum Titel: Der Titel der Geschichte ist lettisch und bedeutet "Ich liebe dich". Den Grund für einen lettischen Titel will ich hier nun aber noch nicht verraten ;) Übrigens werden alle Kapiteltitel in lettisch gehalten sein, weshalb es auf der Hauptseite der Story unter "Die Charaktere" die Übersetzungen der einzelnen Titel (und der in der Story vorkommenden Wörter) zu finden sein wird. Zu Kommentaren: Ich würde mich sehr freuen, wenn die Leute, die diese Story lesen, mir auch ab und zu einen Kommentar dazu hinterlassen. Ich verlange auch gar nicht, dass es ein positiver Kommentar wird... meinetwegen dürft ihr gerne kritisieren, solang es konstruktiv ist XD... Wie dem auch sei, wüsste ich wirklich gerne eure Meinung ^^ Jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!!! ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ES TEVI MĪLU KAPITEL 1 - JŪTASI „Wann willst du es ihm sagen?“ Eine sanfte Hand streicht meine Schultern entlang zu meinem Nacken, beginnt mich zu kraulen, während ich meinen Kopf auf dem Kissen bette. Ich zucke mit den Achseln. „Nervt dich die Frage?“ Ich nicke. „Du solltest sie aber mal beantworten...“ „Ich weiß...“, seufze ich, als ich mich auf den Rücken drehe, zulasse, dass seine Finger auf meine Brust wandern. Ich starre gegen die Decke und sehe die himmelblauen Augen meines Geliebten vor mir. Die Finger streichen meine Brust und meinen Hals hinauf zu meinen Lippen. Dunkle Augen beugen sich über mich und küssen mich. Ich seufze in das Gefühl hinein. „Ich muss los“, sagt er dann und steht auf. „Morgen früh habe ich Quantenoptik und da sollte ich endlich mal erscheinen...“ Ich drehe mich auf die Seite und schaue ihm beim Anziehen zu. „Ich hab Angst“, gestehe ich nach einer Weile, wie schon etliche Male zuvor. „Er wird dir nicht die Freundschaft kündigen...“ „Ja... aber was wenn-“ Ein Kuss unterbricht mich. „Du wiederholst dich.“ Er sinkt vor mir auf die Knie und grinst mich an. „Hör auf den cleveren Andris, er weiß schon, was er sagt.“ Er wuschelt mir durch die Haare, woraufhin ich mir die rostbraunen Wellen aus dem Gesicht pusten muss, um wieder etwas sehen zu können. Durch die nun offene Schlafzimmertür sehe ich, wie er in die Schuhe schlüpft. „Du solltest es ihm wirklich langsam mal sagen“, meint er dann, als er zurück zum Türrahmen kommt. „Du wiederholt dich“, grinse nun ich. „Verschwinde endlich.“ „Aie aie Captain!“ Die Tür fällt ins Schloss und ich sinke wieder vollkommen zurück in die Kissen, starre erneut der Decke entgegen. Wann ich es ihm sagen will... wann... wann... ich weiß es nicht... ~ * ~ Verschlafen schaffe ich es, mein Bett viel zu spät zu verlassen. Hektisch sprinte ich vom Bad zum Schrank und wieder zurück, die Zahnbürste zwischen den Zähnen. Irgendwo dabei verschluckt, stehe ich danach prustend am Waschbecken. „Mist!“, fluche ich meine Wanduhr in der Küche an und stopfe mir ein trockenes Brötchen in den Mund, im Kopf und mit den Augen meine Tasche suchend. Im Auto!, fällt es mir ein. Aber wieso? Kopfschüttelnd schließe ich die Tür ab, falle die Treppe beinahe hinunter und komme schließlich keuchend am Auto an, in dem wenigstens wirklich meine Tasche auf mich wartet. Fast eine rote Ampel und ein Fahrrad mit einem fluchenden Fahrer mitgenommen, komme ich keine zehn Minuten später auf dem Uniparkplatz an. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass das Praktikum schon seit zehn Minuten begonnen hat. Herr Dietber mag es gar nicht, wenn jemand zu spät kommt... Ich renne die Treppen in den zweiten Stock hinauf, dem Fahrstuhl und seiner Geschwindigkeit nicht vertrauend, und stoppe dann abrupt vor Raum T208. Atmen, spreche ich mir selbst zu, vollführe drei tiefe Atemzüge und greife dann zur Türklinke. Schon mit Worten der Entschuldigung auf den Lippen reiße ich die Tür auf und starre in... einen vollkommen leeren Raum. Einen Schritt zurück sehe ich das Schild an. T208 – sie haben ihn nicht verschoben. Aber wieso... Den Flur hinauf und hinunter gesehen, kann ich niemanden erblicken. Zögernd trete ich wieder etwas vor und lasse meine Tasche von meiner Schulter rutschen. Erst als ich im Blickfeld der Tafel stehe, verstehe ich. 25.10 - Praktikum Technische Programmierung fällt heute aus „Ne, oder?“, entfleucht es mir und meine Tasche fällt zu Boden. „Das ist doch nicht wahr...“ Innerlich fluchend schleife ich die Tasche mit mir, lasse mich auf einem Stuhl nieder vor den schweigenden PCs. Und wieso hab ich mich jetzt so abgehetzt?, schreie ich innerlich den imaginären Dietber an, der eigentlich jetzt hier mich anschreien sollte... Ich sinke weiter in meinen Stuhl hinein, erst jetzt meine noch immer schnelle Atmung registrierend – ich sollte wieder mehr Sport treiben. Gerade als ich meine Tasche zu mir heraufziehen will, um mein Handy herauszunehmen, bemerke ich unterdrücktes Gekicher – war das nicht grad auch schon da? Ich lehne mich an meiner Stuhllehne vorbei zurück und erkenne, was ich erwarte. „Ihr könnt rauskommen“, stöhne ich gespielt genervt, woraufhin zwei rote Gesichter auftauchen, die sofort in schallendes Gelächter ausbrechen. „Sehr witzig“, murre ich, kann mir aber ebenfalls ein Grinsen nicht verkneifen, als mich die himmelblauen Augen treffen. „Doch, war es wirklich!“, lacht er noch immer und kommt nun ganz hinterm Tisch hervor. „Nina hat dich über den Parkplatz rennen gesehen und wir konnten einfach nicht anders...“ „Sorry“, lacht auch Nina mich an. „Verzeih mir...“ Mit fünf hüpfenden Schritten ist sie bei mir, schwingt sich auf den Tisch und schlingt die Arme um meinen Hals. „Dein abgehetztes Gesicht war es echt wert!“ „Pff!“, mache ich gespielt beleidigt, sehe von ihr zurück zu Florian. Er zieht sich einen Stuhl heran, grinst mich dann aus gleicher Höhe weiter an. „Wie schaffst du es bloß, immer wieder zu verschlafen? Und dann auch noch ausgerechnet mittwochs.“ „Ist auch eine Kunst!“, grinse ich nun. „Soll ich sie dir beibringen?“ „Ich glaube, das wäre nicht so gut... aber reizvoll ist es schon.“ Er zwinkert mir zu und lässt mich dann wieder in seinen himmelblauen Augen versinken. Einen Moment lang ist es still. Ich wollte grad noch was sagen, doch dann ist es mir entfallen. „Aber du scheinst es heute echt eilig gehabt zu haben“, unterbricht Florian die Stille, streckt die Hand nach mir aus. Zarte Finger lassen mich erschaudern. „Stimmt, normalerweise findest du wenigstens Zeit dich zu rasieren...“, kommentiert Nina neben mir und ich kann nur nicken. Der Daumen fährt über meine Wange, während Florians Augen über mein Gesicht wandern. Er grinst noch immer... oder ist es ein Lächeln?... Mir ist heiß. „Vielleicht solltest du dir nen Bart wachsen lassen“, meint er dann, als er die Hand zurückzieht, sich ans eigene Kinn fasst. „Mir würde das nicht stehen, aber dir bestimmt.“ „Ich denke, du würdest-“ Der plötzlich verschwindende Druck an meiner Schulter lässt mich zusammenfahren. Nina springt auf und ich folge ihr kurz mit meinem Blick. Kaum die Augen von Florian genommen, wird mir klar, was ich gerade im Stande war zu sagen. Wahrscheinlich laufe ich sofort rot an. „Hm? Was?“ Ich drehe mich dem nun fragend schauenden Florian wieder zu. „Ich meine, ich glaube nicht, dass mir das stehen würde“, sage ich, schaffe es nun aber nicht mehr, ihm in die Augen zu sehen. Mein Herz spielt Dauerlauf, während die Zahnräder in meinem Kopf ein anderes Thema zu finden versuchen. „Wisst ihr, wieso Dietber nicht da ist?“, fällt mir die rettende Frage ein. Gleichzeitig drehe ich mich zu einem der PCs um und schalte ihn an. „Nö... Tim hat zwar ein paar Gerüchte vernommen, aber ob es stimmt...“ Nina verschwindet wieder hinter dem Tisch, hinter dem sie sich zuvor versteckt haben. Mit ihrer Tasche bewaffnet kommt sie zurück, lässt sich am PC neben mir nieder. Ich logge mich über meinen Account ein und frage nicht weiter – interessiert es mich doch eigentlich auch nicht wirklich. Gerade als ich die Adresse zu meinem eMail-Server auswählen will, lässt mich eine Berührung stocken. Brennend legt sie sich in meinen Nacken, streift meine Haare hinauf. „Ich glaub, ich geh mal zum Lübke. Eigentlich wollt ich da erst nachher hin, aber da wir jetzt eh Zeit haben...“, spricht Florian hinter mir. „Wegen der Aufgabe in SuS?“, fragt Nina und tippt irgendwas ein. Meine Finger sind noch immer wie festgefroren, meine Gedanken an die mich berührende Hand geheftet. „Jup... seid ihr nachher noch hier?“ „Ich denke schon... Lukas?“ „Hm?“, fahre ich auf, sehe Nina an, die eine Augenbraue hebt. „Oh... ja, ja... sind wir...“ „Gut, bis dann!“, lässt er meine Haarsträhnen durch seine Finger rinnen, dreht sich um, um seine Tasche zu holen, und ist dann mit einem Handgruß verschwunden. Die Tür fällt laut ins Schloss und lässt mich zusammenzucken. Ich spüre Ninas Blick auf mir, entgehe ihm, als ich mich nach meiner Tasche greife, um den USB-Stick herauszuholen. Als ich wieder oben bin, sind ihre Augen wieder dem Bildschirm gewidmet. „Wie hast du... die Aufgabe gelöst?“, versuche ich etwas zu sagen, da mir peinlich bewusst ist, wie blöd ich mich zuvor benommen habe. „Die für heute?“ Ich bejahe und rücke an sie heran, als ich sie das Programm öffnen sehe. „Ich hatte da irgendwie Probleme mit. Musste mich ewig durchs Netz suchen...“ Erleichtert darüber, dass sie nichts bemerkt hat, versuche ich nun, mich auf die Aufgabe zu konzentrieren – obwohl mir noch immer unglaublich heiß ist. Nach dem nicht stattgefundenen Praktikum, begeben wir uns mit dem Umweg Bäcker zum Vorlesungssaal. „Hab keine Lust!“, stöhnt Nina, an ihrem Croissant kauend und den einen Arm bei mir eingehakt. „Ich hab das Gefühl, der wird von Vorlesung zu Vorlesung langweiliger...“, stimme ich zu. „Du hörst nur jedes Mal weniger zu“, grinst Florian mich von meiner anderen Seite an, reicht mir ein Stück seines Muffins, das ich sofort im Mund verschwinden lasse, um mir eine Erwiderung ersparen zu können. Was glaubst du wohl, woran das liegt? „Das liegt aber nur daran, dass er so langweilig ist!“, sage ich dann schließlich, nachdem ich fertig gekaut habe. „Ich find Mircocomputertechnik interessant!“, reicht er mir noch ein Stück, bevor er sich den Rest in den Mund steckt. „Da bist du aber auch der einzige!“, lacht Nina. Sie zieht mich die Stufen mit hinauf und ich lasse den Blick über die Reihen wandern. Je weiter oben, desto mehr sind sie besetzt – woran das wohl liegen mag. „Lasst uns wenigstens hinten sitzen“, bettle ich. „Damit du den Schlaf aufholen kannst, der dir heute morgen gefehlt hat? Nichts da!“ Ich werde in die sechste Reihe gezogen – viel zu weit vorne! „Das ist unfair!“ „Nein, es ist schlau. Da hinten versteht man ihn nicht, seit sein Mikro den Geist aufgegeben hat.“ „Deswegen wollt ich ja hinten sitzen!“ Missmutig sinke ich auf meinen Platz. „Beruhig dich!“, wird mir ein Arm um die Schulter geschlungen und mit ein paar Zetteln vor meinem Kopf herumgewedelt. „Darum hab ich dir was mitgebracht!“ Ich greife nach den Zetteln. „Sudoku? Du weiß, dass ich das nicht mag!“ „Nein“, grinst er, klopft mir auf die Schulter und zieht den Arm zurück, wobei er meinen Nacken mit den Fingern streift. Ein Schauer durchläuft meinen Körper. „Ich weiß, dass du es nie probieren wolltest, weil du von so Trendzeug nichts hältst.“ „Genau!“, schiebe ich die Zettel zurück, während über meinen Arm hinweg einer davon in Richtung Nina gezogen wird. „Überleg dir einfach, ob du lieber mit dem Trend gehst oder Neumann lauschst.“ Ich knirsche mir den Zähnen, funkle ihn an und ziehe die Zettel wieder zu mir zurück. „Aber nur heute!“ „Ja ja“, kommt es sarkastisch, doch ich erspare es mir, darauf zu antworten, sondern reiße mich von seinen Augen los und beuge mich dem Kästchen mit den Zahlen entgegen. Nach den super langweiligen eineinhalb Stunden, welche ich auch mit Sudoku nicht wirklich angenehmer gestalten konnte, wartet ein miserables Mittagessen in der Mensa auf uns. Hier treffen wir auf Corinna, eine Freundin von Nina, und zwei ihrer Mitstudenten, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann. Wir lassen uns bei ihnen nieder und Nina beginnt sofort, in ihrem Gemüsedingsda rumzustochern und das Gesicht zu verziehen. Grinsend wende ich mich ab und lasse den Blick suchend durch die Mensa schweifen. In der oberen Etage entdecke ich Andris und lächle. Unser Blick trifft sich und er nickt mir grinsend zu, mit einem Seitenblick auf Florian, der neben mir sitzt. Ich verzieh das Gesicht zu einer Grimasse, bevor ich den Blick wieder abwende und nun meinerseits mein Essen begutachte. „Das Fleisch ist essbar“, kommt es neben mir und ich sehe Florian an. „Nur etwas zäh.“ Er steckt sich ein Stück in den Mund und kaut demonstrativ darauf herum. „Ich habe nichts anderes erwartet“, kommentiere ich und klaue mir ein Stück viel zu weich gekochten Brokkoli von seinem Teller. „Hey!“, protestiert er, woraufhin ich eine Unschuldsmiene aufsetze. „Die hat mir Rosenkohl gegeben“, klimpere ich mit den Augen. „Und du hattest natürlich keine Möglichkeit, dich dagegen zu wehren...“, kommt es augenrollend, während er unsere Teller austauscht. „Nun glücklich?“, tätschelt er meinen Arm. „Jup!“ „Na siehst du!“ Er steckt seine Gabel in mein ehemaliges Fleisch und beginnt zu schneiden. „Ha! Wenigstens ist das nicht ganz so zäh!“ „Im ernst?!“ Ein Nicken gepaart mit einem fiesen Grinsen bestätigt die Aussage, woraufhin ich es nicht schaffe, ernst zu bleiben. Schnell wende ich mich meinem neuen Teller zu und beginne nun zu essen. Darin vertieft, höre ich nebenbei Nina zu, die mit Corinna über BWL redet. Laaaangweilig... Ich starre aus den Augenwinkeln auf Florians Hände, die das Besteck vom Mund zum Teller und wieder zurückführen. Für einen Moment verliere ich mich darin, doch dann habe ich das Gefühl, einen Blick auf mir zu spüren. Ich sehe hinauf zu Andris, der noch immer zu mir sieht. Ich werde rot. Nach dem Mittagessen verabschiedet sich Florian von uns. So gerne ich jeden Kurs gemeinsam mit ihm besucht hätte, konnten mich doch keine zehn Pferde dazu bringen, Spanisch zu belegen. Außer Englisch schafft es keine Fremdsprache an mich heran - naja, eine vielleicht irgendwie so ein bisschen, grinse ich in Gedanken an meine ersten Kontakte damit... „Wollen wir uns schon mal an die nächste Aufgabe für Proggen begeben?“, hakt Nina sich bei mir ein und reißt mich damit aus meinen Gedanken. „Klar, ich hab heut eh nichts Besseres vor...“ „Das hab ich mir gedacht!“, zwinkert sie und zieht mich mit sich. Im Computerraum angekommen, treffen wir auf ein paar Kommilitonen. Einer davon verwickelt Nina in ein Gespräch, während ich mich in eine der hinteren Reihen begebe, um schon mal die Computer zu starten. Dies getan und bei mir das Programmierprogramm geöffnet, beobachte ich Nina im Gespräch mit Jan, während meine Gedanken schon wieder abzugleiten versuchen... Ich lasse es zu, indem ich mein Kinn auf meine Hand sinken lasse und aus dem Fenster in den trüben Himmel starre. Ich sollte Florian fragen, ob er Lust hat, am Samstag mal wieder zu mir zu kommen. In letzter Zeit hatten wir so wenig Zeit, uns zu treffen... Abgesehen von der Zeit in der FH, verbringe ich schon fast mehr Zeit mit Andris - nicht dass es mich stören würde, Ich schließe die Augen und blende die Geräusche um mich herum aus. Aber was sollen wir machen? Filme schauen? Mal wieder ein wenig zocken? Ich weiß nicht so recht... „Wann willst du es ihm sagen?“ Ich zucke zusammen, reiße die Augen wieder auf, während es mir kalt in den Magen fährt. Wann immer ich daran denke, wird mir schlecht, wobei ich doch eigentlich sicher bin, es tun zu wollen... „Was schaust du schon wieder so betrübt drein?“, ereilt mich sofort der nächste Schreck. Nina lässt sich auf den Stuhl neben mir nieder. Ich schüttle unwissend den Kopf. „Tu ich nicht.“ „Na?“, blickt sie forschend und schiebt den Kopf vor. Als sie mir nach einer halben Ewigkeit noch immer in die Augen sieht, wende ich den Kopf ab. „Lukas?“ „Hm?“ „Ich denke, wir sollten reden?“ „Okay...“, kommt es skeptisch meinerseits, „Und worüber?“ Statt einer Antwort greift sie nach der Maus und fährt meinen Computer herunter. „Nicht hier“, meint sie dann und zieht mich vom Stuhl. „Lass uns Eisessen gehen!“ „Eisessen? Jetzt? Aber es ist Okto-“ „Na und? Schmeckt dann doch nur doppelt so gut!“ Sie reißt ihre Tasche vom Tisch und flitzt mit schnellen Schritten Richtung Tür. „Wir sind wieder weg!“, ruft sie den anderen zu und ich kann ihr nur verdattert folgen. „Lass uns dein Auto nehmen“, meint sie am Parkplatz angekommen. „Meins steht Zuhause.“ „Na, dann bleibt uns nicht viel Auswahl“, lache ich und krame meinen Schlüssel hervor. „Wohin würden Sie denn gerne?“ „Zum Natarle, da gibt’s das beste Stracciatella!“ „Wie Sie wünschen...“ „Das wollte ich hören!“ Zwinkernd steigt sie ein, während ich mich noch frage, über was sie bloß mit mir reden will. Ich starte den Motor und beschließe, nicht zu fragen. Sie rückt noch früh genug damit heraus und ich habe das ungute Gefühl, dass mir das Thema nicht gefallen wird. In der Eisdiele angekommen, in der wir zu dieser Jahreszeit verständlicherweise die einzigen Gäste sind, lässt Nina sich in der hintersten Ecke nieder. Mit strahlenden Augen bestellt sie sich einen Eisbecher, während ich mich für einen Milchkaffee entscheide. Bis die Kellnerin uns die Bestellung bringt, erzählt Nina mir, was Jan von ihr wollte, doch ebenso halbherzig wie sie erzählt, höre ich ihr auch zu. Worüber will sie nur sprechen?, jagt die Frage noch immer durch meinen Verstand. „Vielen Dank!“, lächelnd Nina der Kellnerin zu und greift nach ihrem Löffel. Sie schiebt ihn sich drei Mal samt Eis in den Mund, bevor sie schließlich einige Sekunden lang genießerisch die Augen schließt. „Das war ne gute Idee!“, grinst sie, die Augen wieder öffnend. Ich erwidere nichts darauf, warte nur, was nun wohl kommen mag - und tatsächlich enttäuscht sie mich nicht, mit meiner Vermutung, dass sie nun loslegen wird. „Ich will mit dir über Florian reden.“ Ich verschlucke mich an meinem brühendheißen Kaffee und halte mich nur schwer davon ab, ihn über den halben Tisch zu prusten. Ein verständnisvolles Lächeln liegt auf ihren Lippen, während ich am liebsten ganz schnell das Weite suchen würde. „Okay...“, sage ich schließlich über meine taube Zunge hinweg. „Was gibt es über ihn zu reden?“ „Weißt du das nicht?“ „Ich... nein?!“, versuche ich auf Unschuld zu tun. Oh bitte, bitte, bitte nicht! „Ich weiß, was du für ihn empfindest.“ Hätte ich Kaffee im Mund, hätte ich mich wahrscheinlich direkt wieder verschluckt – so aber kann ich nur scharf die Luft einziehen und sie anstarren. „Du meinst-“ „Du liebst ihn.“ Raus ist es... und ich fühle mich nackt. Muss das ausgerechnet heute sein? Obwohl... wann wäre es besser gewesen? „Wie-?“ „Ein Blinder mit Krückstock könnte es sehen!“, kommt es ernst. „Wirklich?“ Erschrockenheit macht sich in mir breit. „Nein. Aber ich erkenne so was... und du bist besonders leicht durchschaubar... Obwohl...“ Sie macht eine grinsende Pause, leckt ihren Löffel genießerisch ab. „Obwohl ich gedacht habe, dass du wenigstens versuchst, es abzustreiten.“ Peinlich bewusst wird mir, dass ich das tatsächlich nicht eine Sekunde lang getan habe. Ich lasse den Kopf sinken. Über den Tisch hinweg berührt ihre Hand sanft meinen Arm. „Keine Sorge, er weiß es nicht.“ „Nicht?“, fährt mein Kopf sofort wieder in die Höhe. Erleichterung? Ich weiß es nicht recht... „Nein. Aber ich denke das liegt daran, dass du dich schon immer so verhalten hast, hab ich recht?“ „Wie... verhalten?“ „So himmelnd... nervös... ihn anschmach-“ „Genug!“ Ich explodiere gleich vor Peinlichkeit. „Wahr... wahrscheinlich hast du recht.“ „Ich weiß.“ Ich blicke in meinen Kaffee und rühre darin herum. „Dass du mit dem Photoniker schläfst, weiß ich übrigens auch.“ Ich stöhne. „Kann man dir denn nichts verheimlichen?“ „Nö“, grinst sie. „Man merkt es daran, wie er dich berührt oder auch an deinen Blicken. Bedeutet er dir was?“ „Er ist ein guter Freund“, sage ich nur, sinke ich noch tiefer in mir zusammen. Sie nickt. „Ach, und keine Sorge, auch das weiß Florian nicht...“ „Gut...“ „Seit wann... bist du in Florian verliebt?“ Ich zucke mit den Schultern. „Drei Jahre? Vielleicht etwas länger...“ „Hast du je daran gedacht, es ihm zu sagen?“ „Daran denke ich ständig.“ Ich traue mich, den Blick langsam wieder zu heben, Nina anzusehen. „Aber ich habe Angst vor seiner Reaktion... Er weiß ja nicht mal, dass ich schwul bin...“ „Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Meinst du er ist au-“ Abwehrend hebt sie die Hände. „Das kann ich nicht beurteilen, sorry. Florian ist diesbezüglich ein verschlossenes Buch.“ „Oh. Schade...“ „Mach dir nichts draus. Das heißt nichts Negatives...“ „Hm“, mache ich, schlürfe an meinem noch immer heißen Kaffee. „Wirklich nicht! Er hat doch keine Freundin, oder?“ „Nein. Die letzte hatte er kurz vor Beginn des Studiums...“ „Hast du mal mit ihm über Schwulsein geredet?“ Ich schüttle den Kopf. „Wie hätte ich das denn tun sollen? Ein normaler Mann interessiert sich nicht für so was...“ „Das ist doch Quatsch!“ „Nein, eben nicht.“ Ich drehe die Tasse in meinen Händen. „Daher hab ich auch keine Ahnung, wie er darüber denkt.“ „Soll ich ihn mal fragen?“ „Nein!“, starre ich Nina erschrocken an, unterdrücke das Bedürfnis, mit den Armen zu fuchteln. „Bist du verrückt? Sei bloß still!“ „Ist ja schon gut, beruhige dich!“ „Bitte Nina, wirklich, sag ihm nichts, okay?“ „Ja, okay, ich halte dicht.“ „Danke...“ Ich schenke ihr ein zaghaftes Lächeln. „Ist doch logisch!“, wendet sie sich nun endlich wieder mit vollerer Aufmerksamkeit ihrem Eisbecher zu. Ich spüre weiterhin die warme Tasse an meinen Handflächen, starre sie aber nur an. Mein Herz ist mal wieder in Dauerlaufstimmung und nur langsam kommt es zur Ruhe. Oh man, so hatte ich mir meinen Tag wirklich nicht vorgestellt! Dem Eisessen folgt eine Shoppingtour. „Du musst mich beraten, ich brauch neue Schuhe!“, werde ich mit in den ersten Schuhladen geschliffen und auf einen Stuhl gedrückt. In der folgenden Stunde darf ich mir gut zwei Duzend Schuhe ansehen, versuche aber, mir meine Langeweile nicht anmerken zu lassen. Als sie sich schließlich für ein Paar Stiefel entschieden hat, hakt sie sich bei mir unter und zieht mich zur Kasse. „Danke Schatz, für deine Geduld!“, lächelt sie mich an, kurz bevor wir dran sind, und zusammen mit dem Kuss, den sie mir auf die Wange drückt, scheint es für alle Umstehenden ganz klar zu sein, was wir sind. „Oh, nein, nein, er ist schwul!“, lacht Nina dann, als sie bezahlt hat, und die Kassiererin uns zwinkernd noch einen schönen Abend wünscht. „Nina!“, fauche ich und zerre sie mit mir, Blicke auf mir spürend. Vor dem Schuhgeschäft befreie ich mich von ihrem Arm. „Hätt ich das nicht sagen sollen?“ „Natürlich nicht!“ „Schämst du dich dafür?“ „Nein! Meinetwegen kann es jeder wissen!“ „Was ist dann das Problem?“ „Florian!“, knirsche ich. „Wenn dir so was bei ihm rausrutscht, habe ich nicht nur das Problem, schwul zu sein, sondern auch das, es ihm nicht selbst gesagt zu haben.“ „Aber es wird mir nicht rausrutschen.“ „Geh bitte lieber auf Nummer sicher und sage so was trotzdem nie in der Öffentlichkeit, okay?“ „Okay, versprochen.“ Damit schlingt sie wieder ihren Arm um meinen. „Kommst du noch mit mir dahin?“, deutet sie auf den nächsten Laden. „Ne neue Hose wäre auch was Tolles... und man sagt doch, Schwule haben einen so guten Geschmack...“ „Nina...“, seufze ich resignierend. „Sorry, wollte dich nur ärgern. Ich hör jetzt auf. Also?“ Schultern zuckend gebe ich nach. Nachdem ich Nina und ihre drei Einkaufstüten nach Hause gefahren habe, nehme ich selbst einen Umweg und steige vor einer kleinen Bar mit der Leuchtschrift „Meddiz“ aus. Da Andris donnerstags erst um 10 Uhr ne Vorlesung hat, arbeitet er mittwochs immer... Wärme schlägt mir entgegen, als ich die Tür aufziehe und hindurch trete. Mich nach weiteren bekannten Gesichtern umsehend, gehe ich Richtung Tresen. Zum Glück scheint niemand hier zu sein, den ich näher kenne. „Hallo“, begrüßt mich die Kellnerin und nimmt meine Bestellung entgegen. Ich sehe mich weiter um und erblicke den Gesuchten dann hinter einer Ecke hervorkommend. Ich lächle ihm zu, als er mich entdeckt hat. Schnell gibt er mir ein Zeichen mit den Fingern, was mich veranlasst, aufzustehen und an die andere Ecke des langen Tresens zu wechseln. „Sveika!“, tönt Andris gutgelaunt über die Musik hinweg und ich erwidere die Begrüßung. „Ich hab nicht gedacht, dass du heute vorbeikommst.“ „Hatte ich auch nicht geplant, aber nach meinem Tag heute brauch ich was zu trinken.“ „Was willst du?“ „Hab schon bestellt“, deute ich in Richtung der Kellnerin, strecke dann meine Hände über den Tresen hinweg aus, beuge mich vor, um Andris besser bei der Arbeit zusehen zu können. Sekunden später wird mir von der anderen Seite ein Glas vor die Nase gestellt. „Danke“, lächle ich die junge Frau an. „Ich übernehme ihn“, deutet Andris ihr an, bevor sie nickend wieder verschwindet. „Bin gleich wieder bei dir!“ „Kein Stress!“, lächle ich und sehe ihm kurz nach, wie er mit dem Tablett verschwindet, bevor ich meine Aufmerksamkeit auf mein Bier lenke. „Nun sag schon, was dir auf dem Herzen liegt!“, kommt es kurz darauf von der Seite, als Andris das leere Tablett auf dem Tresen abgelegt hat und sich auf den Barhocker neben mich setzt. Neugier steht in seinem Gesicht. „Hast du’s ihm gesagt?“ Ich verdrehe die Augen bei der bekannten Frage. „Nein.“ „Schade...“ Er grinst, greift nach meinem Bier und nippt daran. „Hey!“, funkle ich ihn lachend an. „Hm!“, grinst er nur noch schelmischer, zeigt von seinem Mund zu meinem und blickt fragend. „Dazu bin ich nicht betrunken genug!“ Ich nehme ihm das Glas ab und trinke selbst einen Schluck. „Was ja nicht ist, kann ja noch werden“, lacht er, wieder mit freiem Mund. „Heute nicht. Ich muss noch fahren...“ „Also keine Sauforgie?“ „Ich muss dich enttäuschen. Aber nach Hause bringen darfst du mich trotzdem.“ „Na das ist ja schon mal was.“ Ein Zwinkern, bevor er vom Hocker hinunter springt und mit dem Tablett wieder verschwindet. Kaum einen Gedanken gefasst, ist er auch schon wieder da, beginnt die Bestellungen auszuführen. „Irgendwie weiß ich aber immer noch nicht, weshalb es dich hierher verschlägt...“ „Sehnsucht?“, ziehe ich eine Grimasse. „Da ich heute meine Florianmaske nicht trage, glaube ich das weniger.“ Das Grinsen scheint sein Gesicht mal wieder nicht verlassen zu wollen. „Also?“ „Nina weiß, dass ich schwul bin.“ „Hat sie das gesagt?“ „Ja. Und sie weiß auch das mit Florian. Sie sagt, ich schmachte ihn immerzu an...“ „Okay, jetzt versteh ich dein Bedürfnis, hier zu sein.“ „Siehst du!“ „Obwohl... es kränkt mein Ego, dass nicht nur ich das mit meinen geübten Augen erkannt habe.“ „Idiot!“, lache ich und leere mein Bier, sehe zu, wie er die Bestellung wegbringt und halte ihm dann mein leeres Glas hin. „Bekomme ich noch eins?“ „Du musst noch fahren“, erinnert er mich. „Also? Cola?“ „Sprite.“ „Wird gemacht!“ Er beugt sich zum Kühlschrank hinunter und holt die Flasche hervor. „Was hat Nina noch dazu gesagt?“, fragt er, als er wieder aufgetaucht ist. „Nicht viel. Sie meinte aber auch, dass ich keine Angst haben brauche.“ „Sag ich doch!“, wird mir das Glas vor die Nase gestellt. Kurz blickt er sich in der Bar um, bevor er wieder um den Tresen herum kommt, sich neben mich setzt. Kurz streifen seine Finger meinen Rücken und lassen mich erschaudern. „Hat es denn geholfen, mit ihr zu sprechen?“ „Inwiefern?“ „Willst du es ihm jetzt endlich sagen?“ „Ich... weiß nicht“, habe ich eigentlich gar keine Lust, jetzt über Florian nachzudenken. Er klopft mir auf die Schulter. „Irgendwann bekomm ich dich noch da hin. Ich will doch endlich sehen, wie du deine große Liebe anstrahlen kannst!“ Irgendwas in seinen Augen stört mich bei dieser Bemerkung. „Wenn das mal so einfach wäre!“ „Du machst es so schwer.“ Ich zucke mit den Schultern, lege den Kopf etwas schief und sehe tiefer in das warme braun seiner Augen. „Wann hast du frei?“ „Geschickt vom Thema ablenken, was? Aber okay, ich lass es mir gefallen... Leider erst um eins.“ „Uii... dann sollte ich mir das mit dem nach Hause bringen wohl noch mal überlegen, was?“ „Sieht wohl so aus... Aber weißt du was?“ das Grinsen auf seinem Gesicht wird breiter. „Du kannst heute mit zu mir kommen. Die schlafen doch eh schon alle und wenn wir morgen aufstehen müssen, sind sie schon weg. Wir müssen halt nur etwas leiser sein...“ „Ob wir das schaffen?“, feixe ich. „Kann ich dich überreden, wenn ich dir noch ein Bier gebe? Immerhin musst du dann heute nicht mehr fahren...“ „Okay, überredet.“ „Säufer!“ „Nur wenn du mich so bestichst!“ „Schon klar.“ Andris greift an mir vorbei nach meiner Sprite und trinkt sie in drei Schlucken leer, wobei er mir in die Augen schaut und sich hinterher bedächtig über die Lippen leckt. „Willst du mich scharf machen?“ „Klappt es?“ Ich hebe die Finger und deute einen zirka zentimetergroßen Abstand an. „Hm, ich sollte wohl noch etwas üben.“ „Lieber nicht. Heb’ dir das besser für später auf“, zwinkere ich, plötzlich wieder sehr gut gelaunt. „Okay, das sollte klappen.“ Er springt wieder auf und verschwindet, um die nächste Bestellung entgegenzunehmen. Als er zurück ist, deute ich auf eine Ecke. „Hast du ein paar Zeitschriften für mich oder so?“ „Du willst mich allein lassen?“ „Ich will nur nicht, dass du gefeuert wirst, weil du deine sexuellen Reize bei einem Kunden ausprobierst...“ „Samariter.“ „So bin ich. Also?“ „Ich bring dir gleich welche.“ Die nächsten Stunden verbringe ich zunächst mit dem Durchblättern von Zeitschriften und dann damit, Andris bei der Arbeit zuzusehen. Gleichzeitig muss ich daran denken, wie Florian und ich vor etwas mehr als einem Jahr zum ersten Mal in dieser Bar waren, damals am ersten Abend unseres Studiums, als wir auch Nina und ein paar andere unserer zukünftigen Kommilitonen kennengelernt haben. Oh man, dass das doch tatsächlich schon wieder ein Jahr her ist... Um Punkt ein Uhr steht Andris vor mir und sagt, dass wir gehen könnten. Gähnend laufen wir die drei Straßen bis zu ihm nach Hause entlang. Sein Daumen streift die gesamte Zeit angenehm über meinen Handrücken hinweg. „Leise!“, flüstert er, als er die Tür im dritten Stock aufschließt. Ich bete dafür, dass wirklich alle seine Mitbewohner schon schlafen – und der schwarze Flur scheint es zu bestätigen. Kurz dem Bad einen Besuch abgestattet, schlüpfen wir in Andris’ Zimmer aus unseren Kleidern. Sofort als ich nackt bin, stürzt er sich auf mich und lachend landen wir auf dem Bett. Er hält mir den Mund zu und presst seinerseits seinen gegen meine Schulter, unterdrückt ein Lachen. „Okay, das wird schwierig, aber wir müssen leise sein!“, betont er das nervige Wort ‚müssen’ deutlich, bevor er grinsend seine Lippen auf meine presst. Trotz meiner vorherrschenden Müdigkeit, lasse ich es gerne geschehen und erwidere den Druck fest, die aufbäumende Vorfreude nur schwer zügelnd. ENDE KAPITEL 1 Kapitel 2: Cerība ----------------- Vor mehr als vier Jahren traf ich ihn zum ersten Mal. Bereits in der allerersten Pause nach der allerersten Stunde an der neuen Schule unterhielten wir uns zum ersten Mal. Er war nett, lächelte viel und es wirkte ehrlich. Wir saßen mit drei anderen unserer neuen Mitschüler in der Cafeteria und redeten darüber, warum wir diesen Weg gewählt hatten. Ich fand Florian toll, wie er erzählte, was er sich vorstelle, was er nach den drei Jahren Fachgymnasium vorhatte, und so weiter... Ich konnte ihn die ganze Zeit nur ansehen, auch wenn ich es als bloßes Interesse abtat. Am nächsten Tag, am ersten richtigen Schultag, setzte Florian sich neben mich. „Ist hier noch frei?“, grinste er und legte seine Tasche auf den Tisch vor sich. „Jetzt oder davor?“ Er zuckte mit den Schultern und grinste noch breiter. „Also okay, wenn ich hier sitze?“ „Tu, was du nicht lassen kannst...“ Ich unterstrich die Worte mit einem Lächeln, damit er wusste, wie sie gemeint waren. „Sehr schön, dann wird das jetzt mein Platz!“, malte er ein Ausrufezeichen darauf. Er sah sich im Raum um, wo auch langsam die anderen ihre neuen Plätze fanden, blickte zur Tafel. „Außerdem sieht man von hier aus gut.“ Ich stimmte dem zu und wollte dann irgendwas anderes sagen, als der Lehrer in den Raum kam und sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Wir bekamen einen kurzen Vortrag und dann eine Aufgabe, die wir zu erfüllen hatten. Während wird unsere Utensilien hervorsuchten, kam mir Florian mit einem Mal ganz nahe. Erschrocken erstarre ich, obwohl ich eigentlich zurückweichen wollte. „Weißt du, warum ich mich hier hergesetzt habe?“, fragte er mit einem Blick auf den Tisch. „Warum?“, fragte ich, mich aus meiner Erstarrung lösend und mit dem Blick ein Stück zur Seite weichend. „Weil du mir sympathisch bist.“ Er zog die Mundwinkel nach oben. „Ist es okay, wenn wir Freunde werden?“ Ich zog meine Augenbrauen in die Höhe und sah ihn überrascht an, konnte nur nicken und es mit einem „Klar“ unterstreichen. Ich wunderte mich sehr über diese Direktheit. Tatsächlich freundeten wir uns sehr schnell an. Es war sofort das Gefühl da, auf einer Wellenlänge zu liegen, auch wenn wir merkten, dass wir gar nicht so viel gemeinsam hatten. Das störte nicht, wir lachten dennoch sehr viel, alberten herum, und ich fühlte mich zunehmend wohl in seiner Nähe. Wenn wir ins Kino gingen, denn entschieden wir abwechselnd, welcher Film es sein sollte, und am Ende konnten wir oft stundenlang diskutieren, da wir komplett unterschiedlicher Ansicht waren. Wenn es um Computer- und Konsolenspiele ging, war der Unterschied noch größer, doch Florian schaffte es, mich für Rollenspiele zu begeistern, und fortan duellierten wir uns regelmäßig. Clubs und Diskos waren da auch so eine Sache. Ich ging nicht gerne in die großräumigen Diskos, da ich mich da irgendwie fehl am Platz und verloren fühlte. Ich traf mich lieber mit ein paar Personen in einer Bar, damit man sich unterhalten konnte, was sich in Diskos als schwierig darstellt. Florian hingegen liebte das Licht, die laute Musik und die Menschenmenge, die eine solche Location zu bieten hatte. Manchmal überredete er mich, mit ihm da hin zu gehen und auch wenn ich jedes Mal Spaß hatte, wollte ich solche Abende nicht wirklich wiederholen. Ein weiterer Unterschied war Sport. Während er total auf Fußball abfuhr, konnte ich dem noch nie etwas abempfinden. Ohnehin trieb ich lieber selbst Sport, als anderen dabei zuzusehen. Auch Abende vor der Glotze mit einem Bier in der Hand konnten mich nicht davon überzeugen, zweiundzwanzig ballgeilen Männern zuzusehen. So überredete ich Florian dazu, mit mir ein paar Sachen auszuprobieren. Dem Klettern folgten Badminton und Tennis, Besuche im Fitnessstudio und sogar Kanu fahren. In der Abwechslung fanden wir Spaß, auch wenn wir meistens auf Squash zurückgriffen, da die Halle direkt bei mir um die Ecke lag. Oft kamen wir so verschwitzt zurück und duschten erstmal ausgiebig, wobei es nicht selten vorkam, dass wir beide uns gleichzeitig im Bad befanden. Ich fühlte mich wohl damit, mochte seine Nähe und empfand sie nicht als peinlich. Sein nackter Körper gefiel mir und zog mich auf gewisse Weise an, doch wirklich verstand ich das nicht – oder wollte ich es nur nicht? Fast ein Jahr nach Schulbeginn stellte ich dann fest, dass es neben alle dem einen noch viel größeren Unterschied zwischen Florian und mir gab – auch wenn es mir eigentlich klar war. Ich hatte nur zuvor nie darüber nachgedacht. Es war der Abend, an dem er mir seine neue Freundin vorstellte. Schüchtern saß das Mädchen bei mir im Zimmer und er erzählte, wie er sie kennengelernt hatte. Bei einem der Diskobesuche... und ich fragte mich, wo ich zu dem Zeitpunkt wohl gerade gewesen war. Ich sah das Mädchen an und ich wusste, dass ich sie nicht mochte. Dabei konnte ich mir nicht mal erklären, woher das eigentlich kam. Sie war lieb und nett, sah hübsch aus und nach dem, was Florian erzählte, schienen sie auch zusammenzupassen – doch anstelle mich für ihn zu freuen, suchte ich irgendeinen Fehler an ihr, irgendetwas, was es mir erlaubte, sie zu hassen. Nachdem Florian und Angie weg waren, saß ich noch lange in meiner stillen Wohnung und fragte mich, was es eigentlich war, das mich störte. Ich verstand es nicht, doch ich verstand, dass es mir zuwider war, mir Florian mit Angie intim vorzustellen. Ob es daran lag, dass ich auf Männer stand und Frauen nichts abempfinden konnte? ~ * ~ Meinen ersten Gedanken bezüglich Homosexualität hatte ich in der Grundschule, als ich mich fragte, ob ich mich in meinen Banknachbarn verlieben könnte. Dies ist auch die einzige prägnante Erinnerung, die ich an jene Zeit habe, doch ich weiß auch, dass mich die Gedanken schnell wieder verließen. In der fünften Klasse war ich dann zum ersten Mal mit einem Mädchen zusammen. Wir waren zu jung, um uns zu küssen, doch wir hielten Händchen und gingen Eisessen und alles was man in dem Alter halt macht. Eigentlich hätte sie auch meine Schwester sein können. Diese Irgendwie-Beziehung hielt ein Jahr, dann ging sie auseinander. Drei Monate später küsste ich das erste Mal ein Mädchen – beim Flaschendrehen. Ich fand es ekelhaft feucht und verstand nicht, wie die anderen das tun konnten. Doch aus diesem Drang heraus, dass so was halt alle machten, kam es nicht nur zu weiteren Küssen, sondern als ich vierzehn war auch zum ersten Mal Sex. In der ersten Zeit danach dachte ich, dass ich von Glück sprechen konnte, heute nicht Vater zu sein, da wir es in aller Eile ohne Kondom getan hatten – aber eigentlich, so wurde mir etwas später klar, brauchte ich diesbezüglich eh nur wenig Sorge haben, denn ich war ja noch nicht mal gekommen. Nach diesem merkwürdigen Erlebnis frage ich mich wieder, was denn eigentlich Schwul zu bedeuten hatte und ob es möglich wäre, dass ich es war. Ich beobachtete Mädchen und Jungen und fragte mich, wo der Unterschied für mich lag. Nur darin, dass ich mit Jungen einfach mehr anfangen konnte? Mit den Jahren hatte ich zwei weitere heterosexuelle Beziehungen, auch wenn sie mich nicht erfüllten. Sie hielten nicht besonders lange, da die Mädchen wohl auch merkten, dass ich mich nicht voll und ganz auf sie einlassen konnte. Wieder und wieder fragte ich mich nun, was es wohl brauchte, um Schwul zu sein... da ich aber nie wirklich einen Jungen begehrt oder mich in einen verliebt hatte, wusste ich nicht, ob ich jetzt eigentlich schwul war oder doch nur beziehungsunfähig. Meiner Schulzeit folgten eine zweijährige Ausbildung und der Zivildienst. Selbst dies brachte mich nicht zu einem Ergebnis, auch wenn ich bemerkte, dass ich Männern mehr hinterher sah als Frauen. Solange es da nicht eine Person gab, die mein Herz eroberte, wollte ich mich in keine der Sparten einordnen, wollte ich mich vor mir selbst weder als hetero- noch als homosexuell abstempeln. Ob dieser Tag jetzt gekommen war? Nachdenklich forschte ich an jenem Tag, als Florian und Angie gegangen waren, noch im Bett nach einem Stempel, den ich mir aufdrücken könnte. Hatte ich meine Person gefunden?, fragte ich mich immer wieder und konnte nicht einschlafen. Viel mehr als das, verfolgte mich aber der Gedanke, dass es schon komisch wäre, dass ich es nicht schon vorher bemerkt hatte. Nur weil er jetzt plötzlich eine Freundin hatte, sollte ich mir meinen Gefühlen bewusst werden? Dass genau das der Fall war, bestätigte mir der folgende Tag. Ihn wie immer begrüßen wollend, mit einem lockeren Spruch auf den Lippen, stand ich sprachlos vor ihm und hatte das Gefühl, vor eine Wand der Erkenntnis gelaufen zu sein. Ich merkte, dass seine Augen tiefer waren, als sie schienen, und zum ersten Mal erinnerten sie mich an einen strahlendblauen Sonnentag. „Was ist los?“, wurde mit der Hand vor meinen Augen herumgewedelt. Ich schüttelte nur den Kopf. „Schau mich nicht an, als hättest du einen Geist gesehen!“, schlang er den Arm um meine Schulter, wie er es oft tat, doch zum ersten Mal schienen die Stellen in Flammen aufzugehen, an denen er mich berührte. Erschrocken wich ich zur Seite, stammelte etwas von Toilette und verschwand in diese Richtung. Erst als ich vor einem Waschbecken angekommen war, hielt ich inne. Ich spritzte mir eine Ladung kalte Flüssigkeit ins Gesicht und sah zu, wie sie mein Gesicht hinunterlief. Meine Wangen glühten unter der Nässe hervor. „Scheiße!“, flüsterte ich meinem Spiegelbild zu. Es konnte doch nicht wirklich wahr sein, dass ich mich verliebt hatte. Ob ich ein Problem damit hatte, schwul zu sein? Nein, es war nicht die Homosexualität. Mit dem Stempel hatte ich keine Probleme. Mehr lag mein Problem darin vergraben, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt hatte, einfach so, ohne Vorwarnung, förmlich von einen Tag auf den anderen. Warum hatte ich es denn nicht schon vorher bemerkt? Während ich zurück zum Klassenraum ging und mir die nassen Haarsträhnen hinter die Ohren schob, erinnerte ich mich an einen Satz, den ich mal irgendwann irgendwo gelesen hatte, und der vorzüglich auf meine bescheuerte Situation passte: „Keine kann so ehrlich sein, dass er sich nicht selbst belügt.“ ~ * ~ Besonders in den ersten Tagen war es ungeheuer schwierig, mir nichts anmerken zu lassen. Wann immer Florian mich berührte – und das tat er schon damals oft – musste ich mich davor zurückhalten, nicht erschrocken zur Seite zu springen. Ich hatte mich nie von derartiger Nähe stören lassen, ich durfte jetzt nicht damit anfangen. Florian war nicht dumm, wahrscheinlich hätte er solche Anzeichen sofort bemerkt – dachte ich zumindest. Mit der Zeit wurde es leichter, damit umzugehen. Es war zwar unglaublich schwierig, interessiert und nicht eifersüchtig zu tun, wenn er über seine Freundin sprach, aber ich schaffte es sehr gut. Glücklicherweise hörte Florian auch schnell damit auf, mir eine Freundin suchen zu wollen, als ich ihm sagte, dass ich grundlos im Moment einfach kein Interesse daran hätte. Er erklärte mich zwar für verrückt, aber damit konnte ich leben. Ich schmachtete, wann immer wir zusammen waren. Es war schwer, dies nicht zu tun. In meinen Augen war Florian ein Traum von einem Mann. Sein Körper war wunderschön, sowohl angezogen als auch nackt, wie ich immer wieder unter größter Selbstbeherrschung feststellen konnte. Seine Augen waren wie dafür geschaffen, in ihnen zu versinken, und seine Lippen luden zum Küssen ein. Manche Nacht lag ich wach in Betrachtung von ihm, wenn er mal wieder beschlossen hatte, bei mir schlafen zu wollen, da ihm seine Eltern auf den Sack gingen. Solche Nächte stellten mich mehr und mehr auf die Probe, da er es nicht einsah, mein Schlafsofa zu benutzen, wenn ich doch ein großes Bett hatte. Fast Haut an Haut lag er also neben mir, berührte mich neckisch kitzelnd oder strich mir durchs Haar, welches er mal als unglaublich weich bezeichnet hatte, und schlief dann ohne jeglichen Schutzwall neben mir ein. Wenn er bloß wüsste, wie sehr ich ihn besonders in solchen Nächten begehrte. Solange er eine Freundin hatte, stand es für mich außer Frage, ihm die Wahrheit zu sagen. Als er sich kurz vor den Abiprüfungen von Angie trennte, war dieser Grund zu Nichte gemacht. Lange und oft grübelte ich in den Folgetagen darüber, ob ich es ihm sagen sollte, doch ich beschloss immer wieder, es nicht zu tun. Ich wollte unsere Freundschaft nicht gefährden, wollte die zärtlichen Berührungen nicht verlieren – ich wollte ihn nicht verlieren. Also schmachtete ich weiter und wir schrieben uns für Universitäten und Fachhochschulen ein. Florian und ich wählten die Selbe. Er, da sie in der Stadt lag, und ich... naja, vielleicht auch wegen ihm. Ich glaube vor Jahren hatte ich eigentlich vorgehabt, nach meinem Abitur wegzuziehen – doch jetzt konnte ich das nicht mehr. Ich wollte doch in seiner Nähe sein! ~ * ~ Kurz vor Beginn des Studiums zog Florian aus seinem Elternhaus aus. Zwar musste er ab sofort arbeiten gehen, um das finanzieren zu können, aber er hielt es einfach nicht mehr länger aus. Ich verstand ihn gut, war ich doch bereits während meiner Ausbildung in eine eigene kleine Wohnung gezogen. Ich half Florian beim Umzug. Er tapezierte und strich alle Wände neu und riss die alten Küchenmöbel heraus. In Dreck und Farbe verbrachten wir in seiner kleinen Wohnung Nächte zusammen, die ich nie vorbeigehen lassen wollte. Vielleicht kann man sagen, dass sie uns noch dichter zusammenschweißte als wir es ohnehin schon waren. Dies machte es natürlich nicht gerade leichter für mich, denn ich wusste, dass da noch immer Worte waren, die ich nicht sagen konnte. ~ * ~ Und dann, vor etwas mehr als einem Jahr begann unser Studium. Ob sich viel seither verändert hat? Nur in gewissen Bereichen. Florian und ich verbringen weniger Zeit zusammen, da er fast jeden Tag arbeiten muss. Manchmal überlege ich mir dann, mir vielleicht auch eine Arbeit zu suchen, doch entschied ich mich aus Faulheit, wie ich zugeben muss, nie dafür. Ich bin nun mal ein Kind reicher Eltern, die problemlos meine Miete und Unterhalt bezahlen können, und auch wenn ich mich dann und wann dafür schäme, gefällt es mir doch eigentlich ziemlich gut. Meistens ist es am Wochenende, dass Florian und ich gemeinsam etwas unternehmen. Manchmal sind es die Partys an der FH, manchmal eine Bar oder Disko, manchmal Kino, aber meistens gemeinsame Abende vor meinem oder seinem Fernseher, mit Konsolen-Pads oder Chips in der Hand. Natürlich genieße ich solche Abende in vollen Zügen, mehr noch als vorher, da ich ihn ansonsten fast nur während der Zeit in der FH zu Gesicht bekomme oder an den Wochenenden, die wir meist nicht bei einem von uns Zuhause verbringen, wobei dann auch fast immer Nina oder jemand anders mit von der Partie ist. Innerhalb dieser letzten Jahres ist in mir die Frage, ob es ihm sagen soll, immer lauter geworden. Ich habe außer meiner Homosexualität kein ein einziges Geheimnis vor ihm, und dass es so ein großes ist, macht mir immer wieder ein schlechtes Gewissen. Ich würde so gerne offen mit ihm sein, mich nicht verstellen müssen, doch traue ich mich bis heute nicht. Aber wieso nicht? Bin ich so überzeugt davon, dass er es nicht verstehen wird? Nein, eigentlich nicht. Florian ist ein sehr offener, ein toleranter Mensch. Eigentlich kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass er ein Problem mit Homosexualität hat – würde er mich sonst so oft berühren, mir durch die Haare fahren oder seinen Kopf beim Fernsehen an meine Schulter legen? Ich denke nicht, und selbst wenn ich manchmal heimlich diese Annäherungen noch anders deute, traue ich mich doch nicht, offen mit ihm zu sein. Die Angst, abgewiesen zu werden, ist dermaßen groß, dass ich kein Wort herausbringe, sobald ich versuche, es ihm zu beichten. Andris, den ich kurze Monate nach Semesterbeginn kennengelernt habe, erklärt mich deshalb regelmäßig für verrückt. Ihm habe ich meine Gefühle Florian gegenüber schnell erzählt, da er für mich die erste Person darstellte, die mich verstehen konnte. Eigentlich hatte ich vor ihm nämlich noch nie einen anderen Schwulen getroffen. Andris’ Reaktion war, dass er mich verwundert ansah, mich fragte, wie es sein könnte, dass ich Florian nach so langer Zeit noch nichts gesagt hatte, wie es sein konnte, dass er vor allem noch nichts bemerkt hatte. Lange Gespräche führte ich mit Andris bezüglich dieses Themas und langsam schob er mich noch weiter in die Richtung des Geständnisses. Er könne nie mit einem solchen Geheimnis leben, meinte er, nicht vor seinem besten Freund. Ohnehin fände er es schwer, nicht offen schwul sein zu können und je weiter die Uhr sich dreht, desto mehr kann ich ihm nur zustimmen. Wann ich es nun also Florian sagen will? Ich weiß es nicht, egal wie oft ich mir sage, dass es bald geschehen sollte. Je mehr Tage vergehen, umso länger verheimliche ich ihm dies, desto länger belüge ich ihn... und je mehr Zeit vergeht, desto weniger habe ich das Gefühl, mit dieser Lüge leben zu können... ~ * ~ Mittlerweile ich es Freitagabend, der 27. Oktober. Ausnahmsweise muss Florian nicht so lange arbeiten und hat deshalb angekündigt, noch bei mir vorbeizukommen. Durch meine Wohnung huschend, suche ich jede Ecke nach möglicher, noch vorhandener Unordnung ab. Wieso ich das fast jedes Mal tue, weiß ich eigentlich gar nicht, immerhin hat Florian mich schon in den schlimmsten Situationen erlebt. Um neun Uhr beginne ich, das Essen vorzubereiten. Er wird garantiert hungrig sein, wenn er von der Arbeit kommt, da bin ich mir sicher. Um halb Zehn klingelt es. „Wow, wie das hier duftet!“, schnuppert er anerkennend und hängt seine Jacke an die Garderobe. „Der Auflauf ist noch im Ofen, sollte aber in zehn Minuten fertig sein.“ „Wunderbar, ich hab solchen Kohldampf!“ „Hab ich’s mir doch gedacht“, grinse ich und gehe in die Küche. Florian folgt mir. „Wie war die Arbeit?“ „Wie immer... stressig und anstrengend. Paul hatte heute Stress mit Michael und die beiden haben die ganze Bude zusammengeschrien... aber ansonsten...“ Er verzieht das Gesicht. „Macht es dir was aus, wenn ich Duschen gehe? Der Maschinengeruch will mich einfach nicht loslassen.“ „Wozu fragst du überhaupt?“ „Höflichkeit?“ „Bei mir?“ „Stimmt, du hast recht“, lacht er und zieht mich an sich. „Hach, du bist schon eine prächtige Hausfrau, ich danke dir!“ Mir wird durch die Haare gefahren und er wickelt sich eine meiner Wellen um die Finger, kitzelt mich damit am Ohr. „Genug jetzt!“, drehe ich mich um und drohe ihm mit dem Salatbesteck. Mit einer eleganten Handbewegung verschwindet Florian aus der Küche und lässt mich mit puterrotem Gesicht zurück. Ich fächle mir mit dem Salatbesteck uneffektiv Luft zu und stecke es dann in die Schüssel, welche ihren Platz auf dem Tisch findet. Vor dem Ofen auf dem Boden lasse ich mich nieder und schaue dem Käse beim Braunwerden zu, während das Wassergeräusch aus dem Bad mir andere Bilder vor die Augen malt. Nach einem, um mich selbst zu loben, superleckeren Essen, welches Florian nur in Shorts zu sich genommen hat, schicke ich ihn dazu an, sich endlich was anzuziehen. Vor meinem Schrank stehend wählt er sich ein Shirt, während ich mich aufs Bett sinken lasse. „Aber auf ne Hose verzichte ich. Hier ist es viel zu warm“, protestiert er, was mich grinsen lässt. „Das kommt durch den Ofen. Ich hätte die Tür zumachen sollen.“ „Macht ja nichts.“ Er dreht sich mit einem grünen Shirt in der Hand um. „Ist das neu?“, fragt er, während mir der Atem stockt. „Äh... ja“, nicke ich schnell und wende meinen Blick ab, als er hineinschlüpft. Ich hatte es Andris eigentlich am Dienstag wiedergeben wollen, aber irgendwie ist es nach dem Waschen mit den anderen Shirts in meinem Schrank gelandet. „Das ist irgendwie nicht dein Stil“, zieht Florian wieder meinen Blick auf sich. Er sieht an seinem Oberkörper hinunter und zeigt auf die verwirrenden Muster und Farben. An ihm sieht es ganz anders aus als an Andris. Besser? Ich bin mir nicht sicher... „Ist doch nur für Zuhause“, verteidige ich, obwohl ich ihm eigentlich zustimmen müsste. Wenn er wüsste, dass es mindestens einen Mann auf dieser Welt gibt, der dieses Shirt in der Öffentlichkeit trägt... Verstohlen grinse ich bei dem Gedanken. „Okay, akzeptiert.“ Er lässt sich neben mir fallen. „Was gucken wir?“ „Ich hab daran gedacht“, halte ich ihm eine Videotheks-DVD-Hülle vor die Nase und sehe belustigt zu, wie er sie öffnet und dann das Gesicht verzieht. „Mist, und ich dachte, ich wäre im Kino darum herumgekommen.“ „Bist du, aber jetzt gibt’s sie zum Ausleihen und ich konnte mir doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, mit dir dies wunderbare Werk zu begutachten...“ „Hab ich ne andere Wahl?“ „Nö...“ Er verdreht gespielt genervt die Augen, kneift mich in die Seite und zieht mich dann mit sich zur Wand, an der schon ein paar Kissen platziert sind. „Na dann los, damit ich’s hinter mir hab“, meint er. „Dafür musst du mich loslassen, damit ich die DVD einlegen kann.“ „Ich stelle mir einfach vor, dass sie schon läuft. Kann auch nicht langweiliger sein...“, deutet er auf die schwarze Mattscheibe. Kopfschüttelnd befreie ich mich aus seinem Griff und stehe auf. „Du wirst schon sehen, er wird dir gefallen!“ „Das hast du schon zu oft behauptet, als dass ich dir noch glauben würde.“ Ich winke ab und lege die DVD ein, dimme das Licht und lasse mich dann wieder neben ihm nieder. Sogleich wird mir der Arm um die Schulter geschlungen. Nach dem Film hat sich Florians Verdacht bestätigt: er war unglaublich langweilig. „Hab ich doch gesagt!“, grinst er auf meine Erkenntnis hin und blickt mich siegessicher an. „Du solltest öfter auf mich hören!“ „Letztes Mal hat dir der Film gefallen, den ich ausgewählt habe!“, protestiere ich. „Leeetztes Mal.“ Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Aber dieser war einfach nur mies.“ „Du hast ja gewonnen...“ Damit stehe ich auf und schalte den Fernseher ab. Dem Bad einen Besuch gewidmet, kommt Florian mir oben ohne entgegen. Ich schlüpfe an ihm vorbei, zurück in mein Zimmer, wo ich das Bett zum Schlafen vorbereite. Dann hebe ich das Hemd vom Boden auf, schnuppere kurz daran, wie es nun nach einer anderen Person, nach Florian riecht und lasse es im Wäschekorb landen. So kann ich es Andris ja schlecht wiedergeben... obwohl er es bestimmt witzig fände. Im Bett sitzend, krabbelt Florian über mich hinweg. Ich schalte das Licht ab und sinke ins Kissen, welches ich aber gleich darauf unter meinem Kopf hervorhole. Im Licht der Straßenlaterne drehe ich mich Florian zu, der gerade das Gesicht zum Gähnen verzieht. „Und nu?“, fragt er. „Was nun?“ Ein schwer zu erkennendes Schulternzucken, bevor er die Hand ausstreckt und mich am Hals krault. „Was hast du so die Woche erlebt, von dem ich nichts weiß?“ „Ich war mit Nina Eisessen und einkaufen“, widerstehe ich dem Drang, die Augen zu schließen und mich dem Kraulen hinzugeben. „Wie kam’s?“ Lügend lasse ich die Schultern zucken. „Einfach so.“ „Hat sie was Besonderes erzählt?“ „Nö.“ Ich spüre wie mir heiß wird und bin froh, dass das Licht ausgeschaltet ist. „Und bei dir?“, frage ich dann. „Nichts. Arbeit und noch mal Arbeit...“ Es klingt nachdenklich. „Das ist alles?“, hake ich aufgrund des Tonfalls nach. „Ja, das ist alles.“ Er zieht die Hand zurück und dreht sich auf den Rücken. Seine Stimme war fast schon kühl, was sich nun wie Wall zwischen uns staut. Ich versuche sein Gesicht zu erkennen, was aber nicht funktioniert. Seufzend drehe ich mich ebenfalls auf den Rücken. Stille hängt zwischen uns und ich frage mich, woher sie plötzlich kommt. Den Kopf drehend, erkenne ich seine offenen Augen. Irgendwas scheint ihn zu beschäftigen. Am liebsten würde ich nachfragen und normalerweise würde ich das auch tun, doch heute hält mich irgendwas davor zurück. Vielleicht die kaum merkliche Distanz zwischen uns. Gerade noch überlegend, wie ich sie überwinden kann, lassen mich seine nächsten Worte zusammenzucken. „Lukas, ich... muss mit dir reden...“, klingt seine Stimme matt und fast schüchtern. Es lässt mich aufhorchen. „Worüber?“, frage ich zögernd. Was mag ihm so wichtig sein, dass er es so ankündigt? „Ich hätte es dir vielleicht schon früher-“ Er bricht ab und ich höre das feste Schlucken, bevor er leise weiter spricht: „Ich habe mich verliebt.“ Alles in mir wird stocksteif und ich starre ihn an. „In... wen?“ „Ich... naja... das ist nicht so einfach...“ Ich sehe, wie er die Arme hebt und die Hände vor die Augen legt. Mein Herz beginnt zu hämmern bei diesen schüchternen Worten. Ich kenne ihn so nicht. „Es ist schwierig... weißt du...“ Vor dem nächsten Wort macht er eine wirklich ausgiebige Pause, betont es dann ungewöhnlich stark: „Sie... ist ne gute Freundin... ich hab es lange nicht bemerkt, doch dann ist es einfach passiert... ich will die Freundschaft nicht gefährden, da ich mir sicher bin, nicht ihr... Typ zu sein...“ Es ist, als würde mit einem Mal alles um mich herum in Aufruhr geraten. In diesem Trubel starre ich ihn an, während mein Herz fester und fester zu schlagen beginnt. Ich schaffe es nicht, mir ein Lächeln zu verkneifen, spüre, wie ich rot werde. Ist es zu blauäugig anzunehmen, dass dies gerade eine indirekte Liebeserklärung an mich war? „Ich-“ „Lass uns schlafen!“, unterbricht er mich und dreht sich weg. „Ich hab meiner Mutter versprochen, dass ich ihr morgen früh helfe.“ Abgebrochen bringe ich jetzt keinen Ton mehr hervor. Mein überfüllter Kopf versagt mir den Dienst. Ich versuche, meine Atmung zu verlangsamen, während ich mich zwinge, die Augen zu schließen. Okay, ganz ruhig Lukas, so lange kannst du jetzt auch noch warten!, rede ich mit mir selbst. Nach weiteren schweigenden Minuten kann ich nicht anders, als doch etwas dazu zu sagen. „Du... solltest es ihr sagen“, spiele ich sein Spiel mit, indem ich mich in die weibliche Position hinein schiebe. „Mhm...“, kommt es neben mir, während er sich wieder zu mir dreht. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Gleichzeitig spüre ich das Tasten seiner Finger an meinem Arm und ich greife nach seiner Hand. „Gute Nacht“, kommt es leise und sanft neben mir, als er sie fest drückt. „Gute Nacht“, lächle ich und versuche, nicht all zu glücklich zu klingen. Ich nehme die Wärme der Hand in mir auf und kuschle mich enger in meine Decke, auf Florians unregelmäßigen Atem lauschend und seine Worte wieder und wieder im Kopf wiederholend. Wenn ich das Andris erzähle! Mit dem Gedanken, wie er wohl reagieren wird, schlafe ich irgendwann ein, noch immer durch Florians Finger berührt. ENDE KAPITEL 2 Kapitel 3: Asaras ----------------- Am nächsten Tag wacht Florian vor mir auf. Er deckt den Frühstückstisch und weckt mich, indem er leicht meine Schulter berührt und meinen Namen sagt. Eben noch in einem Traum gefangen, verbindet sich dieser mit der weichen Stimme. Erst als die Berührung auf meiner Schulter etwas reibender wird, wird mir klar, was Realität und was Traum ist. Gähnend drehe ich mich herum und lächle Florian an, der vor mir steht. „Guten Morgen“, meint er sanft und sieht mich neugierig an. „Gut geschlafen?“ „Ausgesprochen gut“, erwidere ich und habe das Bedürfnis, die Arme nach ihm auszustrecken, wie ich es sonst oft bei Andris tue, um ihm vor dem Frühstück noch ein paar Liebkosungen abzuringen. Ich widerstehe und setze mich stattdessen auf. Ich schnuppere. „Es riecht nach frischen Brötchen.“ „Ich war beim Bäcker. Hast du Hunger?“ „Ich? Immer!“ Schnell schlage ich die Decke zur Seite und schlüpfe aus dem Bett. In Jogginghose und Shirt geschlüpft, folge ich Florian gähnend in die Küche. Wird es bald wohl öfter so sein?, frage ich mich im Stillen. Ich lasse mich auf dem Küchensofa nieder und ziehe die Beine in den Schneidersitz hinauf. „Willst du Kaffee?“ „Gerne!“, lächle ich und greife nach einem Brötchen und dem Messer. Ich sehe ihm dabei zu, wie er zu meiner Kaffeemaschine geht und die Kanne darunter hervor nimmt, uns beiden die Becher füllt. „Hach, so lässt’s sich leben!“, kommentiere ich grinsend, als er auch noch meine gewohnte Menge Milch hinterher schüttet. „Und du sagst, ich sei ne gute Hausfrau?“ „Ich kann nur Frühstück machen!“, protestiert er und lässt sich mir gegenüber nieder. „Das reicht mir“, sehe ich ihm ganz tief in die Augen. Er hält dem Blick stand, aber nur für ein paar Sekunden, bevor er sich ebenfalls ein Brötchen greift und mir die Hand für das Messer entgegen streckt. Als ich es ihm gebe, berühre ich mit der Fingerspitze seine Handfläche. „Hast du dir überlegt, was du jetzt machen wirst?“, hake ich nach einer Weile nach, in der wir schweigend dem Radio gelauscht haben. Nicht lange dauert es, bis sein Kopf eine sehr rötliche Färbung annimmt. „Ich... muss noch mal darüber nachdenken, aber ich glaube...“ Er bricht ab und trinkt seine Tasse leer. „Wirst du es ihr sagen?“, frage ich zögernd, während mein Herz mal wieder vor Freude herumhüpft. Ist es fies, ihn so auf die Folter zu spannen? „Ich denke schon... Aber was wenn-“ Weiter kommt er nicht, denn das gerade viel zu schrille Klingeln meines Telefons hält ihn davon ab. Ich greife auf den Tisch neben dem Sofa und nehme den Hörer an mich. „Ja?“, melde ich mich. „Hab ich dich geweckt?“ „Nein, ich bin grad mit Florian beim Frühstücken.“ Nina!, gestikuliere ich Florian, der im selben Moment aufsteht und auf meine leere Tasse deutet. Ich nicke. „Was willst du so früh am morgen?“ „Es ist schon neun! Aber okay, für dich ist es früh, hast recht.“ Wir lachen und Florian sieht mich fragend an. Ich winke ab und sehe dem Kaffee zu, wie er in meine Tasse fließt. „Ich rufe an wegen heute Abend. Hast du da schon was vor?“ „Eigentlich nicht, nein. Ich treffe mich zwar heute Nachmittag mit Andris, aber-“ Ich breche ab, kurz mit dem Gedanken, wie ich es ihm wohl erzählen werde. Ein Grinsen zieht sich über meine Lippen. „Egal, wie gesagt, ich hab Zeit.“ „Und Florian?“ „Sie fragt, ob du heut Abend Zeit hast“, wende ich mich an meinen Gegenüber, der gerade sein zweites Brötchen schmiert. Ein Nicken ist die Antwort. „Jup, hat er“, gebe ich es weiter. „Sehr schön!“ „Was gibt es denn, wenn man fragen darf?“ „Du hast doch bestimmt von der Eröffnung des Universe gehört, oder?“ „Klar!“ „Da kommt man heute und morgen nur mit Eintrittkarten rein, wegen dem Anlauf und so... und rate mal, was ich heute bekommen habe!“ „Ehrlich? Das ist ja klasse! Wie viele?“ Ich strahle Florian an, der meinen Blick nur fragend erwidert. „Fünf Stück! Corinna kommt mit und wahrscheinlich ihr Freund. Ist das nicht klasse?“ „Natürlich! Ich bin begeistert! Ich hab den Gedanken schon aufgegeben, da überhaupt in den nächsten Wochen reinzukommen!“ „Ich auch! Also kommt ihr?“ „Da fragst du noch? Ich auf jeden Fall und Florian sagt da bestimmt auch nicht nein!“ Während ich zunehmend neugierig über den Tisch hinweg gemustert werde, mache ich mit Nina einen Treffpunkt aus. Dann lege ich auf und erkläre Florian erstmal, wohin wir heute Abend gehen werden. Natürlich ist er nicht weniger begeistert. Das Universe ist ein riesiges Center, in dem es zwölf Bowlingbahnen, sieben Billard- und zwei Snookertische, sowie einen Tanz- und einen Barbereich gibt. Schon lange ist im Gespräch, das es die beste neue Location werden soll, und da mich außer Tanzen alles davon begeistern kann, habe ich mich sehr auf die Eröffnung gefreut. Nachdem sich Florian nach dem Frühstück verabschiedet hat, verschwinde ich zunächst einmal unter der Dusche. Hier macht die Freude auf den heutigen Abend wieder der Erregung über Florians Fast-Offenbarung platz. Genau lass ich mir alle Worte noch mal durch den Kopf gehen, seine Berührungen und Blicke. Ein Wunder, dass ich nicht direkt in seine Arme geschmolzen bin. Vielleicht hätte ich ihn doch nicht so auf die Folter spannen, sondern ihm sagen sollen, dass ich doch ebenso empfinde, dass er sich keine Sorgen machen braucht... wie sehr ich ihn doch liebe. Nun unter der Dusche holt mich ein herrliches Gefühl der Gewissheit ein, dass meine Einsamkeit bald vorbei sein wird. Ich berühre mich zärtlich, dann schneller... und nachdem ich gekommen bin, beschließe ich, nun definitiv sofort Andris meine gute Neuigkeit mitteilen zu müssen. Mit einer Tüte Brötchen und Croissants, sowie frischem Kaffee aus meiner Kaffeemaschine stehe ich wenig später strahlend vor der Tür seiner WG. Eine seiner zwei weiblichen Mitbewohnerinnen sieht mich verwundert an. Cora war glaub ich ihr Name... „Ist Andris da?“ „Schon, aber ich glaub, der schläft noch. Er musste gestern bis spät arbeiten.“ „Macht nichts“, grinse ich und zwinkere ihr zu. „Darf ich reinkommen?“ „Wenn du das für richtig hältst...“, zuckt sie mit den Schultern, lässt mich durch die Tür treten und schließt diese dann wieder hinter mir. Ich streife mir die Schuhe ab und warte, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden ist, bevor ich leise die Türklinke hinunterdrücke. Tatsächlich empfangen mich ein durch Vorhänge abgedunkelter Raum und das ruhige Geräusch einer schlafenden Atmung. Leise entledige ich mich der Brötchen und der Kanne Kaffee und gehe zum Bett hinüber. „Andris?“, flüstere ich leise, als ich vor ihm in die Knie gegangen bin. Keine Reaktion folgt meinen Worten. Ich sehe das schlafende Gesicht an, während ich mir langsam doch sicher bin, dass es ziemlich fies wäre, ihm seinen Schlaf zu rauben. Zärtlich streiche ich ihm über die Wange, stehe dann auf und ziehe Jacke, Schuhe und Jeans aus, bevor ich vorsichtig über ihn hinwegklettere, wobei er ein murrendes Geräusch von sich gibt. Dann schlüpfe ich zu ihm unter die warme Decke. Planend, einfach hier zu warten, bis er aufwacht, und mit verträumten Gedanken an meine bevorstehende Zukunft, schlafe ich ziemlich schnell gegen seinen Rücken geschmiegt ein. Ich werde wach davon, dass sich neben mir ruckartig bewegt wird. „Ach, du bist es nur!“, stöhnt er und sein unruhiges Atmen verrät den Schreck darüber, dass er unerwartet jemanden bei sich im Bett vorgefunden hat. „Sorry“, grinse ich verschlafen. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast so schön geschlafen, da dachte ich, ich warte bis du aufwachst... naja, und dann bin ich auch eingeschlafen...“ „Du hättest mich ruhig wecken können!“, sagt er, sich streckend. „So war es doch auch okay, oder stört es dich, wenn ich neben dir schlafe?“ „Und wie es mich stört!“, grinst er ironisch, fährt mir fahrig durch die Haare und steht auf, um die Vorhänge zu öffnen. Grelles Tageslicht blendet mich, während ich ihm dabei zusehe, wie er in seine Shorts schlüpft. „Bin gleich zurück!“, hebt er die Hand und verschwindet auf dem Zimmer. Ein paar Sekunden der Regenerationszeit später stehe ich auf und strecke den Rücken durch. Dann beschließe ich, das Nötigste für ein kleines, für mich zweites Frühstück zu holen. In der Küche treffe ich wieder auf Cora. Sie nickt mir über ihre Zeitschrift hinweg zu. Ich öffne Schränke und Kühlschrank, hole aus Andris’ Fächern Geschirr, Besteck, Zucker, Milch, Butter, Marmelade und Käse hervor, bevor ich mit dem Tablett bewaffnet die Küche wieder verlasse. „Du hast Frühstück mitgebracht!“, grinst Andris breit, als ich hereinkomme. Er hat bereits ein nun angebissenes Croissant in der Hand. „Klar, wenn ich schon zum Überraschungsbesuch komme, dann auch richtig.“ Ich verteile die Sachen vom Tablett auf dem kleinen Couchtisch. Andris lässt sich immer noch mit der Bäckertüte in der Hand auf dem Sessel nieder. Ich selbst belege das Sofa. Kaum hat Andris seinen ersten Hunger mit einem halben Marmeladencroissant beruhigt, sieht er mich nun auch schon neugierig an. „Nun sag schon, woher deine ausgesprochen gute Laune und dieser Besuch kommen!“ „Ja!“ Grinsend lege ich mein halbes Brötchen zur Seite, rutsche im Sofa etwas vor und sehe ihn an. „Florian war gestern bei mir und-“ „Du hast es ihm gesagt?“ „Nein!“ „Nein.... Okay, was dann?“ „Er hat es MIR gesagt?“ „Was?“, wird er lauter, überraschter, rückt nun seinerseits etwas näher. „Wie meinst du das?“, spricht pure Verblüffung aus seiner Stimme. Ich grinse noch mehr, lasse mir Zeit, mit meinem Bericht zu beginnen, doch dann erzähle ich ihm jedes Detail. Okay, vielleicht übertreibe ich ein wenig in einigen Ausführungen, aber das spielt ja nun keine Rolle. Als ich ende, lächelt Andris breit über seine Tasse Kaffee hinweg. „Wer hätte das gedacht!“ „Ja! Ich kann es noch immer kaum glauben!“ Ich strahle wahrscheinlich wie ein Honigkuchenpferd, aber wer sollte das verstehen, wenn nicht er? Die nächste Stunde vergeht damit, dass ich träumerisch auf Andris’ Sofa liege und von Florian schwärme, mir ausmale, wie es wohl aussehen wird, wenn wir uns endlich in den Armen liegen. Andris unterstützt diese Träume mit kleinen Einschüben, lässt aber die meiste Zeit mich reden und sieht mich einfach nur lächelnd an. Es ist schön, ihn zu haben, jemanden, der sich mit mir freut, dem ich dies berichten kann... Fast im selben Moment wird mir aber auch etwas anderes bewusst, weshalb sich meine Miene wohl etwas verdunkelt. „Was ist?“, werde ich fragend angesehen. Ihm wird es schon bewusst sein, doch mit einem Mal tut es mir leid. „Wir können nicht mehr miteinander schlafen“, sage ich vorsichtig. Große Augen sehen mich an, seine Mundwinkel zucken... und im nächsten Moment beginnt er lauthals zu lachen. Ich komme mir schrecklich vor. „Andris?“, frage ich zögernd, als er sich erst langsam wieder beruhigt. Ich setze mich auf. „Du bist süß!“, grinst er. „Mīļotā, denkst du, mir war nicht klar, dass das passieren wird, sobald du was mit Florian anfängst?“ „Mir... war es nicht klar“, gebe ich zu und werde wahrscheinlich rot bei diesen Worten. Es war so etwas vollkommen Normales für mich, hatte nichts mit Florian zu tun, sodass ich gar nicht daran gedacht hatte, dass es aufhören könnte. Diese sexuelle Nähe zwischen uns war etwas, das ich sehr genossen habe... „Hey, mach nicht so ein betrübtes Gesicht!“ Mit einem Satz ist Andris neben mir auf dem Sofa, zieht mich in eine Umarmung. „Es muss dir nicht Leid tun, wirklich nicht, es ist okay für mich. Ich find schon wen neuen.“ Lachend streicht er mir durch die Haare, vergräbt dann den Kopf darin. Ein paar Wellen fallen mir ins Gesicht. Jemand neuen? Es ist schwer, sich vorzustellen, ihn mit einem anderen... „Wirklich?“, spreche ich betrübt. Es ist wie ein drückendes, schlechtes Gewissen. „Na klar“, flüstert er beruhigend in meine Haare. „Solang du noch ab und an im Meddiz vorbeikommst und mich besuchst, bin ich voll und ganz zufrieden.“ „Das sollte ich schaffen...“, feixe ich und lege meine Hände auf seine Arme. Ich ziehe an ihnen und drehe mich in seinem Griff herum, so dass uns nur Zentimeter trennen. „Danke, dass du für mich da bist...“, spreche ich leise und betrachte liebevoll seine dunklen Augen. „Na klar doch! Unsereins muss sich doch gegenseitig helfen!“ Wieder wuschelt er mir durch die Haare. Ich lasse mich dadurch hinunterziehen und wir küssen uns. Zum letzten Mal, wird es mir irgendwie fast wehmütig bewusst. Die restlichen Stunden bis hab vier Uhr verbringen Andris und ich damit, Fernsehzugucken, ein bisschen durch Internet zu streifen, etwas zu kochen und natürlich mit reden. Dann machen wir uns beide auf den Weg, ich nach Hause und er zur Arbeit. Es ist komisch, das ohne Abschiedskuss zu tun. „Komm vorbei, sobald du ein glücklicher Ehemann bist!“ „Spinner!“, verziehe ich das Gesicht und schließe die Tür zu meinem Auto auf. „Wir sehen uns!“ „Jup!“ Ich steige ins Auto, starte den Motor und fahre die Straße hinunter. An der Ecke blicke ich noch mal in den Rückspiegel, doch Andris sehe ich nicht mehr. Während der zehnminütigen Fahrt nach Hause lasse ich mir die Sachen, die Andris gesagt hat, noch mal durch den Kopf gehen und frage mich dann, wen er wohl im Kopf hatte, als er meinte, dass er schon jemanden als „Ersatz“ für mich finden würde. Ob es da vielleicht tatsächlich schon jemanden gibt? Erst vor meiner Haustür schlagen meine Gedanken wieder um, wenden sich dem kommenden Abend zu. Was soll ich anziehen? Mehr denn je will ich Florian gefallen... mit diesen Gedanken betrete ich meine Wohnung und durchwühle in der kommenden Stunde bestimmt zehn Mal meinen Kleiderschrank. „Aloha!“, werde ich bei der Straßenbahnhaltestelle begrüßt, als ich die Bahn verlasse. Nina fällt mir um den Hals und auch von Corinna werde ich zaghaft umarmt. Hendrik, ihr Freund, hält mir grinsend die Hand hin. „Wo ist Florian?“, frage ich, enttäuscht darüber, ihn noch nicht vorzufinden. „Kommt der nicht mit der nächsten Bahn?“ „Stimmt“, erinnere ich mich, zugegeben erleichtert. Ich hatte irgendwie schon fast befürchtet, dass er nicht mehr kommt. „Ja ja, da strahlst du auch schon wieder“, lacht Nina mich an, während sie ihren Arm bei mir unterhakt. Sie streckt sich ein wenig und flüstert mir ins Ohr, dass ich ja so leicht zu durchschauen wäre. „Das hat heute auch einen guten Grund!“, erwidere ich vielsagend, doch bevor ich noch mehr sagen kann, fährt die Bahn ein. Florian wird von Nina ebenso euphorisch umarmt und nachdem er die anderen beiden begrüßt hat, kommt er auf mich zu. Seine Wangen sind tief gerötet, wie ich lächelnd zur Kenntnis nehme, als er mir in die Augen sieht. „Na dann los!“, werde ich von Nina mitgezogen, bevor ich irgendwas sagen kann. „Ich bin so gespannt, wie es da drin aussieht!“ Tatsächlich wird der Abend genial. Zwar muss man hier und da etwas warten, um zum Beispiel an eine der Billardbahnen heranzukommen, aber das sind Dinge, die man gerne in Kauf nimmt. Nach zwei erfolgreichen Spielen, die Florian unter meinem schmachtenden Blick haushoch verloren hat, geht es weiter zu einem der Billardtische. Corinna, die auf einem Barhocker in der Nähe platz nimmt, feuert Nina und Hendrik lautstark an, während Florian und ich aber am Gewinnen sind. „Wir sind ein unschlagbares Team!“, grinse ich Nina an, als sie uns übertrieben beglückwünscht. Bestätigung suchend strahle ich Florian an, der meinen Blick nur über rote Wangen hinweg erwidert und dann schließlich nickt. „Was ist los?“, frage ich und schlinge den Arm um seine Schulter. „Macht es dir keinen Spaß?“ „Doch doch“, kommt es schnell, „Es ist nur... mit gestern meinte -“ „Hey Jungs! Aufhören zu Schmusen! Da hinten ist ein Tisch freigeworden!“, unterbricht Nina Florian und deutet in eine der Ecken. Seufzend nehme ich den Arm von Florians Schulter. „Später“, lächle ich ihn an und er nickt, bevor wir beide hinter den anderen hergehen. Später ist besser gesagt als getan, denn Florian betrinkt sich an diesem Abend so dermaßen, dass ich mir sicher bin, dass es heute auch nichts wird. Außerdem würde ich gerne mit ihm darüber reden, wenn er nüchtern ist. So also nehme ich das Angebot von Nina an, ihn nach Hause zu bringen. „Immerhin wohne ich direkt um die Ecke...“, grinst sie, während sie den betrunkenen Florian ansieht, wie er an dem Straßenbahnhäuschen lehnt. „Aber soll ich... dir nicht doch lieber helfen?“, frage ich zögerlich, mir nicht sicher, ob es gut ist, Nina dies aufzubürgen. „Denkst du, ich bin zu schwach dafür?“, verzieht sie das Gesicht und streckt mir die Zunge raus. „Keine Sorge, ich bringen deinen Geliebten schon heil nach Haus!“ „Nina!“, entfleucht es mir – aus Gewohnheit vielleicht, bevor mir klar wird, dass das bald nicht mehr nötig sein wird. „Schon gut, bin ja still“, zwinkert sie und zeigt dann hinter mich. „Die Bahn kommt!“ Zuhause begebe ich mich schnell in mein Bett. Zufrieden mit mir und der Welt schwelge ich in Erinnerungen daran, wie Andris immer wieder zu mir sagte, dass ich Florian endlich die Wahrheit sagen soll. Jetzt brauch ich das nicht mehr tun... jetzt wird diese Sorge bald endlich vorbei sein und er wissen, dass ich ihn schon immer geliebt habe. Was ist es schon wichtig, dass seine Gefühle noch nicht so alt sind? Sie sind da, mehr brauch ich nicht zu wissen... Kurz davor, einzuschlafen, reißt mich ein dreimaliges Klingeln in die Senkrechte. Irritiert sehe ich mich nach meinem Handy um, bis mir klar wird, dass es die Haustür war. Sofort springe ich auf. „Wer um alles in der Welt-“ Ich breche ab, ich die Tür aufgerissen habe. „Florian?“ Mein Herz macht einen Satz. „Ich wusste es doch!“, bringt er hervor, sich an den Türrahmen lehnend. Sein Gesicht ist ganz bleich. „Komm... komm doch erstmal rein!“, sage ich schnell und trete einen Schritt vor, um ihn zu stützen. Schreckliche Sorge kommt in mir hoch. Wurde er überfallen? Nina und er? Nein, dafür ist er zu normal angezogen... aber was dann? Ich führe ihn ins Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett fallen lässt, das Gesicht in den Händen verbirgt. Sein Körper schüttelt sich. „Was ist denn los...?“, frage ich vorsichtig und sinke neben ihn, strecke den Arm aus. „Sie liebt mich nicht!“ Schlagartig ziehe ich den Arm zurück. „Was hast du gesagt?“, setzt mein Herz für einen Schlag aus. Habe ich- „Nina... sie sagt, sie sieht mich nur als Freund.“ Es ist, als würde mit einem Mal meine gesamte Wohnung um mich herum in Trümmern fallen. Ich starre ihn an, spüre das Zittern meines Körpers und sehe sein Zittern, ausgelöst durchs Weinen, welches ich nun vernehme. Das... das kann doch nicht... „Du... du bist in Nina verliebt?“, frage ich, mit einem bitteren Geschmack im Mund. „Ja“, schluchzt er. Oh Gott, wie konnte ich nur so blöd sein? Ähnlich wie er vergrabe ich meinen Kopf in den Händen, starre hinunter zum Boden. Darum seine Nervosität heute, darum die merkwürdigen Blicke, die er ihr zugeworfen hat, darum sein komisches Verhalten, als sie ihn nach dem Billardgewinn in die Arme geschlossen hat – darum war er heute so, wie er war. „Das kann doch nicht wahr sein!“, flüstere ich, während ich Wut auf mich selbst aufkommen spüre. Wie konnte ich nur so naiv sein? „Doch! Ich wollte es dir ja sagen, aber es war mir... so peinlich... sie ist doch gar nicht mein Typ... und außerdem ist sie doch meine Freundin... und... und...“ Schluchzen versagt ihm die Stimme und ehe ich mich versehe, habe ich die Arme um ihn geschlungen. Während meine eigene Welt in Trümmern liegt, ist mir klar, dass nicht ich es bin, der jetzt getröstet werden muss. „Wann hast du es ihr gesagt?“ „Das ist egal...“ „Wann?“, bohre ich nach. „Als sie... mich reingebracht hat... ich... ich hab sie geküsst... ich konnte nicht anders...“ Ich schließe die Augen und atme tief durch. Wenn ich ihn doch nur selber – ach was ein Quatsch, das hätte auch nichts an seinen Gefühlen geändert, er hätte ihr trotzdem irgendwann gesagt, dass er sie... liebt. Schwer ist es, nicht aufzuspringen und alle möglichen Dinge in der Gegend herumzuschmeißen. Ich zwinge mich dazu, ruhig sitzen zu bleiben, ihn in meinen Armen zu wiegen und mir anzuhören, wie er abgehackte Sätze von sich gibt. Nina... er liebt Nina... nicht mich... Knapp eine Stunde später hat Florian sich endlich beruhigt und schläft in meinen Armen ein. Vorsichtig löse ich meinen Griff, stehe auf und platziere ihn in einer bequemen Position auf meinem Bett. Kurz kommt mir der Gedanke, dass seine Klamotten sicher unbequem sind... doch außer Jacke und Schuhen ziehe ich ihm heute nichts aus. Dann sinke ich neben dem Bett nieder, seine Hand in meiner. Ich lehne den Kopf gegen seinen Arm und sehe ihm ins Gesicht. Einige Tränenspuren sind noch zu erkennen, verhelfen mir nicht gerade dazu, mich besser zu fühlen. Ich strecke die Finger aus und wische sie ihm weg, streiche ihm über die verklebten Wimpern und über die rote Nase. „Nina also?“, flüstere ich leise. Sie also ist es, in die du dich unbemerkt verliebt hast? „Wieso nicht ich?“ Lange sitze ich so da, in seiner Betrachtung und auf seinen Atem lauschend. Schwer fällt es mir, ihn nicht wachzurütteln und anzuschreien, wie er mich so an der Nase herumführen konnte. Aber das hat er nicht, nicht eine Sekunde lang. Er hat immer von einem Mädchen geredet, nur ich war es, der angenommen hat, dass er sich damit tarnen wollte... Wieder berühre ich Florians Wimpern mit meinen Fingerspitzen. Sein kurzes Murren lässt mich zurückweichen. Mir die Tränen aus dem Gesicht wischend, stehe ich auf. Ich ertrage es nicht, ihn länger hier bei mir im Bett liegen zu sehen... ich kann das einfach nicht. Schnell schlüpfe ich in eine Hose und einen Pulli, schreibe dann ein paar kurze Worte auf ein Blatt und lege es vor meinem Bett auf den Boden, zu seinen Schuhen und seiner Jacke. Auf dem Weg zur Tür greife ich nach dem grünen Shirt, das eigentlich Andris gehört, aber im Moment Florians Duft trägt. Ich presse es mir an die Lippen und unterdrücke weitere Tränen. Leise schließe ich die Schlafzimmertür, kurz darauf die meiner Wohnung. Auf dem kalten Flur bleibe ich einen Moment lang stehen und atme tief durch, überlege nur kurz, ob ich wirklich gehen soll. Nein, sollte ich nicht, aber ich halte es gerade nicht länger aus. „Was-“ Zum Glück ist es Andris selbst, der mir verschlafen die Tür öffnet. Ohne ein Wort halte ich ihm sein Shirt hin, dränge mich an ihm vorbei und verschwinde in seinem Zimmer. Dort bleibe ich mitten im Raum stehen, darauf wartend, dass er die Tür schließt. Dann erst drehe ich mich wieder zu ihm um. „Mīļotā, was-“ Ehe er auch nur ein weiteres Wort mehr sagen kann, lasse ich mich in seine Arme fallen und beginne hemmungslos zu heulen. Keine Ahnung wie viele Ewigkeiten vergangen sind, bis ich es geschafft habe, mich einigermaßen zu beruhigen, auch wenn ich sagen würde, dass es verhältnismäßig schnell ging... Andris hat sich mit mir zusammen auf den Boden sinken lassen und mich ähnlich festgehalten, wie ich zuvor Florian, was es nicht gerade einfacher machte, zu weinen aufzuhören. Irgendwann scheine ich keine Tränen mehr übrig zu haben, und so starre ich nur traurig, Andris' Finger spürend, die mir zärtlich die Haare zerwühlen. Ich seufze und schließe die Augen wieder, versuche mein Herz langsam zur Ruhe zu bringen, indem ich auf seines lausche. Es gelingt mir ein bisschen. Ich drehe mich, so dass ich Andris, der gegen sein Bett lehnt, ansehen kann. Er streicht mir übers Gesicht, lässt einen Teil der Nässe darauf verschwinden. Sein Blick ist liebevoll, und fast könnte ich wieder in Tränen ausbrechen, wenn da noch welche wären. „Willst du darüber sprechen?“ Ich nicke und schweige, da ich nicht weiß, wie ich anfangen soll. Plötzlich ist es mir hochgradig peinlich, dass ich die Andeutungen Florians so unglaublich missverstanden habe. „Er liebt mich nicht“, beginne ich ironischerweise genauso wie Florian zuvor. Verständnislos werde ich angesehen. „Nina... er liebt Nina.“ „Nina?“ „Ja. Hat er doch gesagt! Sie, er hat gesagt SIE... wie konnte ich nur so blöd sein!“ „Sscht, beruhig dich“, wird an meiner Hand gezogen, da ich vor plötzlicher Wut aufgesprungen bin. Ich lasse mich zurück sinken. „Das heißt... du hast es falschverst-“ „Ja! Ich war blauäugig, dämlich, ein vollkommener Trottel!“ Andris strafft die Arme um mich, welche mich am Boden halten. Dafür lässt er mich aber meine Stimme erheben, mich noch weiter selbst beschimpfen. Erst als ich damit fertig bin, wird sein Griff wieder lockerer. „Hat das geholfen?“ „Ein bisschen...“, gebe ich zu und lasse den Kopf zur Seite sinken. „Ich war so doof...“, flüstere ich. „Du hast nur gehört, was jeder zweite in deiner Situation gehört hätte... das ist nichts Verwerfliches...“, spricht er mir sanft ins Ohr. „Find ich schon...“ „Ich nicht. Ich verstehe dich...“ Ein Lachen entweicht mir. „Danke“, sage ich, mir aber nicht sicher, ob ich es glauben soll. Ich schlinge meine Finger um seine und halte sie fest. Danke... danke, dass du hier bist... „Lass uns ins Bett gehen...“, sage ich irgendwann mit schlechtem Gewissen, als Andris ein Gähnen entweicht. Ich stehe auf und schlüpfe aus dem Großteil meiner Klamotten. „Das ist eine gute Idee. Dir wird es gut tun, ein bisschen zu schlafen...“ Ich nicke, während ich unter die Decke krieche, darauf warte, dass Andris mir folgt. Dies getan, schmiege ich mich gegen seine Brust. Ich suche in meinem Kopf nach Worten, die ich sagen kann. Es ist so billig, sich einfach zu bedanken. Er ist so lieb zu mir, ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun würde... Ich suche in meinen Erinnerungen ein Wort und seinen Klang. „Paldies“, flüstere ich, mir sicher, es falsch auszusprechen. „Lūdzu“, höre ich ihn lächeln. „Schlaf gut, Mīļotā.“ Sanft streicht er über meinen Kopf, lässt die Hand dann ruhig in meinem Nacken liegen. „Du auch...“ Damit zwinge ich meine Augen, sich zu schließen, meinem Körper und Geist, sich zu entspannen. Ich versuche, nicht an Florian zu denken, und lenke mich ab mit den Gedanken daran, wie Andris mir diese Worte beigebracht hat. ENDE KAPITEL 3 Kapitel 4: Niknums ------------------ Als ich am nächsten Tag nach Hause hetze, fühle ich mich nicht gerade besser, was aber vorrangig andere Gründe als meinen Liebeskummer hat. Ich stürze in meine Wohnung hinein und finde sie wie erwartet leer vor. „Scheiße!“, fluche ich, einen Zettel auf dem Bett entdeckend. Danke, dass du gestern für mich da warst. Ich will jetzt alleine sein. Wir sehen uns morgen. Zähneknirschend lasse ich mich auf mein Bett sinken. Ich hätte da sein sollen, wenn er aufwacht. Wieso habe ich gestern nicht mehr daran gedacht, dass ich ihn alleingelassen habe? Ich hatte gar nicht vorgehabt, bei Andris zu schlafen, ich wollte ihm eigentlich nur mein Leid klagen, und dann in die Höhle der Trauer zurückkehren... „Mist... mist... MIST!“, schreie ich mich selbst an und werfe den zerknüllten Zettel durch den Raum. Wie erwartet gibt es natürlich keinen lauten Schlag, auch wenn ich es mir gewünscht hätte... Ich sinke auf meinem Bett zurück und wickle mich in eine Decke ein. Sofort durchzieht ein Gedanke mein Innerstes. Sie riecht nach ihm, so sehr nach ihm... Mich noch tiefer in dem Duft vergrabend, wird mir schnell zu heiß. Ich schmeiße Jacke, Pulli, Hose und Schuhe von mir und schlinge mich wieder in die Decke ein. Ich hätte ihn in den Arm nehmen sollen, heute Nacht, so wie es Andris bei mir getan hat... Ich hätte ihn trösten sollen, heute Morgen noch mal seinem Kummer lauschen sollen. Was für ein verfluchter bester Freund ich doch bin! Ich ziehe wieder den Geruch ein, mich nach einer Weile fragend, ob das eigentlich wirklich Florian ist, den ich da rieche. Es wird eher eine Mischung sein, eine Mischung aus Andris und mir, mit ein bisschen Florian... Mit einem komischen Magengrummeln stehe ich auf. Kurz entschlossen streife ich die Bettwäsche herunter, ebenso das Laken. Ich brauche gerade keine Decken, die nach Erinnerungen riechen, nein, das ist wirklich nicht sehr praktisch. Im Bad stopfe ich sie in die Waschmaschine, stelle diese an und setze mich davor. Der sich monoton bewegenden Trommel zusehend, frage ich mich, ob ich Florian anrufen sollte. Nein, beschließe ich. Er hat geschrieben, dass er allein sein will... Aber was, wenn das gar nicht stimmt, wenn er es nur sagt, um mich nicht weiter zu belasten? Ich schüttle den Kopf. Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht... obwohl, wahrscheinlich Ähnliches wie in mir, oder? Bitter lachend stehe ich auf und entledige mich meiner Klamotten. Nur in Shorts gehe ich in die Küche, mir etwas zu trinken holend. Mit der Saftpackung in der Hand stelle ich mich neben mein Fenster, starre hinaus und zwinge mich, nicht immer wieder zu meinem Telefon zu sehen. Ich weiß, dass es mir persönlich nicht wirklich gut tut, allein zu sein. Am liebsten wäre ich jetzt wieder bei Andris oder sonst wo... irgendwo, wo mich Abwechslung erwartet, nur halt nicht in meiner einsamen Wohnung. Ob er das genauso sieht? Zögernd greife ich schließlich doch besseren Wissens nach dem Hörer. Mit ihm in der Hand laufe ich in der Wohnung herum, entknülle den Zettel mit Florians Worten und lese sie erneut. Ich will jetzt alleine sein. Was, wenn es wirklich eine Lüge war? Ich wähle seine Nummer und bestätige... doch sofort lege ich wieder auf, stürme zurück in die Küche und knalle den Hörer auf die Ladestation. „Lass es!“, fauche ich mich selbst an. Ich sollte seine Wünsche berücksichtigen! Mir dessen nicht sicher, vergrabe ich mich unter einer Wolldecke auf meinem Sofa und schalte den Fernseher an. Ich zappe durch die Kanäle, bleibe an Talkshows hängen, die mich nur noch trauriger machen. Bald schalte ich wieder ab, vergrabe mich weiter in meiner Decke und starre aus dem Fenster gegen den grauen Himmel. Was mach ich jetzt bloß?, fährt es mir durch den Kopf. Ich weiß, dass er mich nicht liebt und wenn er es nicht jetzt tut, wird er es wohl nie tun. Also sollte ich aufhören, ihn zu lieben. „Ja klar, das ist ja auch so einfach“, meckere ich mich selbst an. Aber was soll ich stattdessen tun? Ihm mein Leben lang hinterher trauern? Nein, eigentlich muss ich ihn aufgeben, voll und ganz, mir etwas Neues suchen und mich neu verlieben. Doch ist das wirklich möglich? Gibt es irgendetwas, das es möglich macht? Aber gesetzt dem Fall, dass ich tatsächlich jemanden finde... es wird ein Mann sein, garantiert. Und dann? Dann stehe ich noch immer vor dem Problem, dass Florian nicht die geringste Ahnung hat, dass ich schwul bin. „Verdammt!“ Ich strecke mich auf dem Sofa aus, lassen den Kopf auf die Sitzfläche gleiten. Aber kann ich ihm das jetzt sagen? Jetzt, da er Liebeskummer wegen Nina hat? Doch wenn nicht jetzt, wann dann? Und wenn ich es ihm sage, sage ich ihm dann auch, dass ich ihn liebe? Mist, muss das denn alles so verzwickt sein? Und wieso schaffe ich es gerade eigentlich überhaupt, so verflucht rational zu denken? Ich verbringe bestimmt zwei Stunden damit, mich selbst zu bemitleiden, und damit höre ich schließlich nur auf, weil mein Magen mir seinen Hunger kund tut. Seufzend stehe ich auf und gehe in die Küche. Keine Lust zu kochen, schiebe ich eine Pizza in den Ofen und schaue ihr beim Backen zu. Was soll ich bloß den ganzen Tag lang machen? Heulen? Mich bemitleiden? Mich fragen, wie ich ihm gegenübertreten soll? Das ist doch alles scheiße! Ich springe auf und zerre meine Sporttasche hervor, packe sie, ziehe mich an. Die Pizza fast vergessen, bin ich schon halb aus der Tür, als sie mir zum Glück doch noch einfällt. Wunderbar, jetzt fackelst du auch noch fast die Bude ab! Ich stelle den Ofen aus, beschließe, dass ich jetzt keinen Bissen herunterbekomme, und verlasse meine Wohnung. Mit der Bahn zwei Stationen gefahren, stehe ich vor dem Fitnessstudio, das mich anzugrinsen scheint. „Ich weiß, ich war lange nicht mehr bei dir...“, spreche ich leise und trete durch die Glastür, meinen Mitgliederausweis herausholend. Keine fünf Minuten später finde ich mich auf der ersten Foltermaschine wieder, dem Fahrrad. Foltermaschine aber auch nur deshalb, weil ich es durchtrete, als würde ich die Tour de France gewinnen wollen. So gut es geht, versuche ich all meine Kraft und Wut in meinen Beinmuskeln zu stauen und sie von dort herauszulassen. Zwanzig Minuten später taumle ich erschöpft von dem Ding herunter. Mein Atem geht rasend und mir ist schwindelig. Ich sinke zur Seite und werde festgehalten. „Geht es Ihnen gut?“, sehe ich in ein das Gesicht eines jungen Mannes. „Ja, vielen Dank“, lächle ich und stelle mich wieder richtig auf meine Beine. „Sie sollten was trinken.“ „Werd' ich“, nicke ich und drehe mich um, suche meine Tasche und begebe mich zu ihr, als ich sie gefunden habe. Die erste meiner zwei kleinen Flaschen Wasser leere ich sofort, dann beschließe ich, mir das nächste Gerät zum Auspowern zu suchen. Fast zwei Stunden taumle ich zwischen Ohnmacht und Kraftakt hin und her, mache nur wenige Pausen und trinke bestimmt vier Liter Wasser, um nicht umzukippen. Ich weiß, dass es überhaupt nicht gut ist, sich so zu verausgaben, aber ich will es heute so, ich brauch' es heute so! Ich will diesen körperlichen Schmerz spüren, damit der Seelische nicht ganz so weh tut. Als letztes erlaube ich mir schließlich einen Besuch in der Sauna. Was heißt erlauben... mein Menschenverstand weiß, dass es mich nicht gerade gut tun wird, und dennoch betrete ich die vernebelte Hölle. Mit mir sind nur zwei andere Männer hier, was es mir leicht macht, mich zu entspannen. Ich lehne mich zurück an die Kachelwand und schließe die Augen. Und was mach ich, wenn ich gleich raus hier bin? Doch noch zu Florian gehen und mir seinen Kummer anhören? Mein Magen zieht sich zusammen bei dem Gedanken. Ich weiß nicht ob es die Eifersucht ist oder die Gewissheit, dass es ihm schlecht geht, welche diesen Druck bewirkt, ich weiß nur, dass ich es scheiße finde. Eigentlich will ich nur für ihn da sein, will ich ihm einfach nur helfen... wären da nicht meine eigenen verkorksten Gefühle, die dem im Weg stehen. „Mist!“ Ich reiße die Augen wieder auf und stehe auf. Die mittlerweile drei Männer sehen mich fragend an, als ich mit schnellen Schritten die Sauna verlasse. Eine Dusche und ein paar Minuten später stehe ich an der kühlen frischen Luft. Ich steige in die Bahn, die Richtung Florians Wohnung fährt, und frage mich, ob ich das Richtige tue. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich bei ihm sein sollte... um ihm zu helfen, um vielleicht noch besser zu verstehen, dass meine eigene Liebe keine Chance hat. Wenig später stehe ich vor der verschlossenen Tür, die mir auch nach mehrmaligem Klingeln nicht geöffnet wird. Traurig lasse ich die Schultern hängen, warte zehn Minuten und mache mich dann auf den Heimweg, wissend, dass es nichts bringen wird, wenn ich noch länger warte. Den Rest des Tages verbringe ich mit Spazierengehen, herumlungern in meiner Wohnung und einem schlechten Gewissen, weil ich nichts für die Uni tue. Den Versuch, Florian zu kontaktieren, unternehme ich nicht noch einmal, sondern beschließe ihn schlussendlich doch in Ruhe zu lassen. Ab morgen kann ich noch genug für ihn da sein. Gegen Abend wird mir das Alleinsein und Nichtstun zu viel und ich merke, wie sehr ich mir Andris’ Nähe herbeiwünsche. Deshalb begebe ich mich kurz entschlossen auf den Weg. Entschuldigend stehe ich eine viertel Stunde später vor ihm, mir sicher, dass ich ihn nerve, doch stattdessen lässt er mich mit einem Lächeln herein. Wir verbringen die meiste Zeit vor dem Fernseher, da ich es vorziehe, nicht zu reden. Dennoch lassen mich meine Gedanken nicht wirklich in Ruhe und ich frage mich weiterhin, wie ich nun vorgehen soll. Um diesen Gedanken endlich Einhalt zu gebieten und immer noch aus Sehnsucht nach Andris, welche auch durch das Beisammensitzen nicht gemindert wurde, krabble ich zu ihm auf den Sessel und küsse ihn. ~ * ~ Ähnlich wie gestern, bin ich auch heute wieder im Eilschritt zu meiner Wohnung unterwegs. Wissend, dass ich mal wieder zu spät zur Vorlesung komme, sammle ich meine verstreuten Sachen zusammen, ziehe mir schnell was Frisches an und flitze dann mit meinem Auto die Straßen mit den fluchenden Mitbürgern entlang. Das Gefühl, welches mich seit dem Aufstehen begleitet, versuche ich bestmöglich zu ignorieren, auch wenn es mir noch so oft sagt, dass es gleich ziemlich komisch sein wird, auf Nina und Florian zu treffen. Letztendlich jedoch treffe ich weder ihn noch sie in der Mathevorlesung an. Nachdenklich lasse ich mich in der hintersten Reihe nieder und tue schwer daran, zuzuhören. Noch immer grübelnd verlasse ich nach der Vorlesung den Saal. Ich begebe mich in Richtung Bäcker, da mein Magen schon seit geraumer Zeit knurrt. Langsam gehe ich den Weg entlang, mich weiterhin fragend, wo vor allem Nina sein kann. Ich meine, dass Florian ihr aus dem Weg geht, könnte ich ja noch verstehen, aber - Weiter komme ich mit meinen Gedanken nicht, denn im nächsten Moment erhalte ich auch schon eine Antwort auf alle meine Fragen: Da sitzen sie beide einträchtig zusammen beim Bäcker und trinken Kaffee. Wie versteinert bleibe ich stehen und starre sie durch die Glasscheibe an. Träume ich? Ich schließe die Augen, öffne sie erneut. Keine Änderung des Bildes ist zu erkennen, außer, dass Nina anfängt zu lachen. Das war es dann wohl auch schon mit dem aus dem Weg gehen... Nicht wirklich wissend, was es bedeutet, gehe ich weiter. Eigentlich würde ich lieber umdrehen, aber das wäre ziemlich kindisch von mir, oder? So also betrete ich den Bäcker und werde auch sofort von meinen beiden Freunden bemerkt. Nina winkt mich lächelnd zu sich herüber. „Sorry, dass wir dich mit Schmitz alleingelassen haben...“, meint sie entschuldigend, als ich mir einen Stuhl herangezogen habe. „Es war eine ganz kurzfristige Entscheidung.“ „Schon okay...“, sage ich und blicke zwischen ihnen hin und her. Seid ihr jetzt zusammen?, traue ich mich nicht zu fragen, obwohl mir jedes Wort davon ironisch auf der Zunge baumelt. Stattdessen mache ich gute Miene zu schlechtem Spiel und verhalte mich wie sie: ganz normal. „Ich bin so froh, dass sie normal mit mir umgeht!“, nimmt Florian mich nach der nächsten Vorlesung zur Seite, als Nina gerade zu den Toiletten verschwunden ist. „Ich hatte Angst, dass sie mir aus dem Weg geht, aber das tut sie nicht...“ „Das wäre ja auch ziemlich lächerlich...“, kommentiere ich, meine Antwort erhalten. Sie sind also kein Paar und wollen so tun, als wäre nichts vorgefallen? Toller Plan... Ich wende den Blick ab zum schwarzen Brett und schlucke jegliche Ironie herunter. Kurz darauf höre ich Ninas Schritte und wir setzen uns in Bewegung mit Ziel Mensa. Während Florian ein Gespräch beginnt, kann ich nur zwischen den beiden hin und her sehen und bekomme langsam das Gefühl, in irgendeinen grottenschlechten Film geraten zu sein. Toll, dass ihr so einfach auf Normalität umschalten könnt... Schade nur, dass ich damit so gar nicht umgehen kann. Das Mittagessen und ein Praktikum hinter mich gebracht, verabschiede ich mich. Ich ertrage diese Honigkuchenpferd-Stimmung einfach nicht eine Sekunde länger! Auf dem Weg zu Andris, nach dessen beruhigender Nähe ich mich schon wieder sehne, frage ich mich, woher meine miese Laune kommt. Sollte ich nicht froh sein, dass es Florian gut geht? Ja, das sollte ich... doch so einfach ist das nicht. So viel hat sich doch für ihn geändert, lässt er sich aber nichts davon anmerken. Wie schafft er das bloß? Ich würde am liebsten die ganze Zeit schreien, weil ich es nicht ertrage, zu wissen, dass ich nie eine Chance bei ihm haben werde und er... er tut, als wäre nie etwas geschehen! ~ * ~ Der Dienstag vergeht ähnlich strahlend, so als würden Bienen in pinken Tütüs herumfliegen und alles ist rosig. Ich könnte kotzen! Als die Bienen am Mittwoch noch zahlreicher erscheinen, halte ich es nicht mehr aus. „Ich ertrag das nicht länger!“ Mit diesen Worten springe ich auf, gehe zum Prof und bitte ihn, heute das Praktikum früher verlassen zu dürfen. Vielleicht sehend, wie wichtig es mir ist, nickt er griesgrämig und ich suche das Weite. „Warte doch mal!“, hält mich am Parkplatz eine hektische Stimme davon ab, in mein Auto zu steigen. Mit finsterem Blick sehe ich mich zu Florian um. Als ich ihn sehe, scheint alles aus mir herausbrechen zu wollen, all meine Wut, meine Trauer... einfach jede kleine Emotion, die ich so lange so tief vergraben habe. Ich packe ihn bei den Schultern und will ihn schütteln, doch schließlich starre ich ihn nur an. „Was hast du denn?“, fragt er, mit den Fingern vorsichtig meinen Kopf berührend. Ich reiße ihn zur Seite. „Gar nichts!“, zische ich, die Wut bestmöglich unterdrückend. Er kann nichts dafür!, schreie ich mich innerlich an. Er will doch nur mit der Person weiterhin gut auskommen, in die er verliebt ist! Das ist etwas vollkommen Normales! Ja, natürlich ist es das, aber wie schaffst du es so einfach, fröhlich zu sein? „Wie machst du das?“, schreie ich ihn an und er wäre zurückgewichen, hätte ich ihn nicht weiterhin festgehalten. Ich lasse ihn los. „Was?“ „Das alles! Du tust, als wäre nichts geschehen, obwohl du die ganze Zeit traurig sein solltest. Sag mir verdammt noch mal, wie das geht!“ Unverständnis spricht aus seinem Blick. Was ich mich so aufrege, fragen seine Augen, und ich verstehe, dass sie es tun. Er kennt meine Situation nicht, natürlich ist er verwirrt. „Vergiss es!“, fahre ich herum und stampfe zum Auto zurück. „Was ist denn los mit dir?“, ruft er mir hinterher. „Nichts!“, schreie ich und schließe die Autotür auf Ich steige ein, und obwohl ich ihn noch etwas sagen höre, schlage ich die Tür hinter mir zu und starte den Wagen, rase vom Parkplatz. Ich hätte deine Unschuldsmiene nicht eine Sekunde länger ertragen. Nach einer halben Stunde des sinnlosen Herumkurvens schlage ich – mal wieder – den Weg zu Andris ein. Er ist schlichtweg im Moment die einzige Person, mit der ich das Gefühl habe, reden zu können. Er versteht mich wenigstens und ist für mich da! Als ich bei der WG ankomme, macht mir dasselbe Mädchen auf wie letztes Mal. „Wenn du zu Andris willst, er ist nicht-“ „Ist er nicht?“ Cora schüttelt den Kopf. „Kann ich trotzdem reinkommen?“ „Ich... ich weiß nicht.“ „Es ist okay!“, sehe ich sie eindringlich an. „Ich werde mich in seinem Zimmer verstecken und warten, dass er wiederkommt.“ „Ich-“ „Bitte!“, fast flehend. „Na gut...“, tritt sie zur Seite, um mich reinzulassen. „Danke.“ Ich lächle sie an und verschwinde dann in Andris’ Zimmer. Ich lasse mich aufs Bett fallen und starre gegen die Decke, den bekannt beruhigenden Geruch dieses Raumes in mir aufnehmend, der es aber nicht schafft, mich ohne Besitzer wirklich zur Ruhe zu bringen. Ich sehne seine Arme herbei, seine Lippen, seine Wärme... Warum ist er nicht hier, wenn ich ihn brauche? Wo ist er bloß? Die Uhr verrät mir, dass ich fast eine ganze Stunde gewartet habe, als Andris endlich auftaucht. „Was machst-“, fragt er überrascht und ich springe sofort vom Bett auf. „Wieso kommst du so spät?“, fahre ich ihn an, aus irgendeinem merkwürdigen Grund, der mir eigentlich selbst nicht einleuchtet. „Äh... ich war in der Uni?“ „Und das war wichtiger als ich?“ „Moment mal!“ Er hebt die Hände. „Ich wusste nicht, dass du hier bist!“ „Na und? Du hättest hier sein sollen!“ Ich fauche, wütend, total sinnlos – doch ich kann mich gerade einfach nicht beruhigen. Er war nicht hier! Ich hätte ihn so sehr gebraucht! „Mīļotā, was ist denn los?“ „Nenn mich nicht so!“ Ich balle meine Hände zu Fäusten. „Du hast doch gar keine Ahnung!“ „Jetzt mach aber mal halblang!“, kommt er nun mit wütendem Blick auf mich zu. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Schrei mich nicht so an!“ „Ich schreie nicht!“, schreie ich – und obwohl es mir sofort bewusst wird, senke ich meine Stimme nicht. „Und sag mir nicht, was ich zu tun habe!“ „Mīļ- Lukas, beruhige dich!“, streckt er die Hand aus. „FASS mich nicht an!“ „Was verdammt noch mal ist denn los?“ „Du warst nicht da!“ „Aber jetzt bin ich da!“ „Ja... aber jetzt... SCHEIßE!“ Ich trete gegen das Sofa, was mir einen höllischen Schmerz einbringt und mich nur noch wütender macht. Eine Hand berührt mich, ich schlage sie grob weg. „Wie könnt ihr alle so normal tun?“, schreie ich ihm ins Gesicht. „Wer wir?“ „Florian, Nina, du... alle halt! Merkt denn keiner, wie scheiße das ist? Wie scheiße es mir geht?“ „Natürlich merke ich das! Darum bin ich doch für dich da!“ „Für mich da? Du willst doch nur ficken! Die ganze Zeit tust du, als wäre es dir wichtig, aber dann küsst du mich wieder und zeigst, was du wirklich willst! Du willst meinen Körper, mehr nicht. Klasse, super, so was kann ich jetzt echt gut gebrauchen, nachdem mir das Herz gebrochen wurde! Aber vergiss es! Ich lass mich nicht so ausnutzen! Nicht von dir, Schwuchtel!!“ Als ich verstumme scheint alles zu verstummen. Andris sieht mich an, aus düsteren Augen, die mir ins Herz stechen. Dann dreht er sich um und deutet zur Tür. „Raus“, kommt es kalt. „Andris, das-“, „VERSCHWINDE!“ Nur eine Sekunde zögere ich, dann stürme ich an ihm vorbei zur Tür, meine Schuhe und meine Jacke in der Hand und die Worte „Du kannst mich mal!“ von mir stoßend. Erst auf der nassen Straße wird mir ersteres bewusst. Schnell schlüpfe ich hinein, hebe beim Aufrichten den Blick zum Fenster, in dem ich ihn stehen sehe. Als er meinen Blick bemerkt, zieht er die Vorhänge zu. „DU ARSCHLOCH!“, brülle ich und zeige den Mittelfinger, während in mir ein höllischer Schmerz entflammt, den ich zu unterdrücken versuche. „Du verficktes ARSCHLOCH!“ Ich drehe mich um und stürme zu meinem Auto. Schnell ist der Gang getreten und ich flitze die Straße hinunter. Bloß weg von hier! Erst als ich vor meiner Wohnung zum Stehen komme, wird mir klar, was soeben geschehen ist. Heulend breche ich hinter dem Steuer zusammen. ENDE KAPITEL 4 Kapitel 5: Atzīšanās -------------------- Warum habe ich das getan? Ich verstehe es nicht... ich verstehe mich nicht! Egal, wie ich versuche, es mir zu erklären, so kann ich es einfach nicht. Ich hatte nicht mal im Ansatz einen Grund, so zu reagieren, wie ich es getan habe. Ganz im Gegenteil! Eigentlich bin ich ihm doch sogar dankbar... Und ich weiß doch, dass er es nicht für Sex tut – nicht mehr. Wir haben uns angefreundet... Er ist doch mein Freund! Wie konnte ich ausgerechnet ihn, der mir so sehr geholfen hat, so vor den Kopf stoßen? Ich bleibe in meinem Auto sitzen bis es vollkommen ausgekühlt ist und ich nicht mehr damit aufhören, mit den Zähnen zu klappern. Also verkrieche ich mich für weitere Selbstvorwürfe in meiner kleinen Wohnung. Einer meiner ersten Wege führt mich zum Anrufbeantworter. Vielleicht hat er ja.... Natürlich nicht. Traurig sinke ich vor dem Telefon nieder. Wieso habe ich das getan? Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal mehr, was ich alles zu ihm gesagt habe... ich weiß nur noch, dass es ziemlich gemein war! „Pah!“, stoße ich aus. Von wegen gemein! Die Untertreibung des Jahrhunderts! Ich habe ihn beschimpft, habe ihm Sachen unterstellt, deren Wahrheit ich doch eigentlich kenne. Wie konnte ich nur so verflucht blöd sein? Wie Stunden kommt es mir vor, die ich einfach nur da sitze, bevor mir irgendwann wieder einfällt, weshalb ich eigentlich so sauer gewesen bin. Dass ich sogar den Grund vergessen habe, weshalb ich Andris so fertiggemacht habe, spricht nicht gerade für mich... Mit dem Gefühl, schon wieder heulen und toben zu wollen, stehe ich auf, strecke meine steifen Glieder. Ich trotte ins Bad, statte der Dusche einen Besuch ab. Zitternd stehe ich unter dem heißen Wasser und höre Bruchteile von dem, was ich zu ihm gesagt habe. Wie konnte ich ihn nur als Schwuchtel bezeichnen? Wie konnte ich sagen, dass er nur Sex will? Wieso habe ich das getan? Ich strecke mein Gesicht den Wasserstrahlen entgegen, als könnten sie mich reinigen, mir die Schuld abwaschen... aber das klappt natürlich nicht. Stattdessen beginne ich zu husten, als das Wasser durch meinen geöffneten Mund meine Luftröhre herunter laufen will. Ich drehe das Wasser ab und entsteige der Dusche. Noch immer zitternd schlinge ich den Bademantel um mich. Teilweise noch nass bis auf die Knochen gehe ich ins Schlafzimmer, lasse mich dort aufs Bett fallen und vergrabe meinen Kopf in einer der Decken. Dunkelheit hüllt mich ein und ich lasse mich fangen. Mit ihr versuche ich die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben, die Erinnerungen an die ungerechtfertigte Wut, das Gefühl des höllischen Schmerzens. Es gelingt nicht, aber irgendwann schlafe ich ein. Mitten in der Nacht werde ich wieder wach, hellwach. Geschlafen, obwohl ich es gar nicht wollte, ist nun mein Schlafpensum erfüllt und ich schaffe es nicht mehr, auch nur ein Auge zuzutun. Stattdessen starre ich lange einfach nur in die Dunkelheit und versuche, nicht nachzudenken... bis ich eine Träne aus meinem Auge rinnen fühle. Dies Gefühl verdrängend, rapple ich mich auf, ziehe mich an und verlasse meine Wohnung, nur mit einem Apfel bewaffnet, den ich in großen Bissen hinunterschlinge. Ich beginne in der Straßenlaternendunkelheit zu joggen. Vor meinem Abi habe ich das fast täglich getan. Gegen Ende bin ich jedes Mal fast 10 Kilometer gelaufen, ohne müde zu werden... wieso habe ich eigentlich damit aufgehört? Ich strecke den Kopf in die frische Luft und ziehe den Geruch des nassen Asphalts in mich ein. Ich mag das. Kurz darauf wird er durch frischeren Geruch ersetzt, als ich in den Park komme. Der Kies knirscht unter meinen Sohlen und ist ein angenehmes Geräusch in der verfluchten Stille. Kaum etwas anderes ist zu hören außer hier und da ein Auto. Wieso bin ich eigentlich nie nachts joggen gegangen? Es ist ziemlich angenehm... Bereits am Ende des Parks geht mir langsam die Puste aus. Wissend, dass dies noch nicht mal ein Viertel meiner früheren Strecke war, drehe ich um, langsamer als zuvor. Ich sehe mich um, fast alles ist schwarz. War es im Sommer, dass ich mit Andris hier war? Ich glaube schon... zur Prüfungszeit, als er mich für Grundlagen Nachrichtentechnik vorbereitete. Wir haben so viel gelacht... Mit dem bitteren Schmerz der Gewissheit, dies kaputtgemacht zu haben, versuche ich mich auf andere Dinge zu konzentrieren, doch fällt mir nur die andere Person ein, die mir nicht weniger Kopfzerbrechen bereitet... Eine Zeit lang war er mit mir joggen, auch in diesem Park. Ich war mir nie einig, ob ich es lieber mochte, wenn er dabei war oder ich alleine ging. Für die Einsamkeit sprach die Zeit des Nachdenkens, aber ebenso sprach dies auch dagegen... Den Kopf schüttelnd, wie um all diese Erinnerungen loszuwerden, verlasse ich den Park wieder. Immer langsamer werden meine Schritte, je weiter ich meinem Ursprung komme, doch ich weiß, dass ich weiterlaufen muss... wenn ich jetzt anhalte, breche ich zusammen. Im stehenden Gehen schließe ich die Haustür auf, jogge die Treppe hinauf, und höre erst in meiner Wohnung auf, meinen Beinen den Befehl zum Bewegen zu geben. Ich sinke in mein Bett, wie schon zuvor, und hoffe nun irgendwie die nächsten Stunden herumzubekommen, ohne viel Nachdenken zu müssen... ~ * ~ „Was... machst du denn schon hier?“, werde ich aus großen Augen angesehen, fünf Stunden nach meiner Joggingtour. Ich grinse Nina an und zucke mit den Achseln. „Auf euch warten?“ Sie greift mir an die Stirn. „Okay...“, sagt sie dann langgezogen und lässt sich neben mir fallen. „Was ist los?“ „Nichts, was soll sein?“, streite ich ab, schaffe es aber nicht, sie lange anzusehen. Ob sie noch an gestern denkt? „Seit dem ersten Semester warst du nicht mehr vor uns bei irgendeiner Vorlesung...“ „Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, zwinkere ich, obwohl mir nicht danach zu mute ist. „Scheint so.“ Ihr Blick ist noch immer skeptisch, wird dann aber von Florian in Besitz genommen, der durch die Tür tritt. Er sieht mich ebenso ungläubig an. „Hast du ihn bestochen?“, deutet er auf mich und sieht Nina an, die lachend den Kopf schüttelt. „Bist du krank?“, wendet er sich dann mir zu. „Ihr seid doch echt gemein!“, schmolle ich gespielt. „Da ist man mal pünktlich...“ „Nicht man, DU!“ Florian sieht mich amüsiert an und lässt sich dann endlich neben Nina nieder. Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln. Er fragt sich sicher noch, was gestern mit mir los war... „Hast du noch ein Sudoku für mich?“, frage ich, um die Gedanken loszuwerden. Zwei ungläubige Augenpaare schauen mich an. „Er ist krank!“, kommt es im Chor. „Eindeutig!“, nickt Nina, dies unterstreichend. „Ach, seid doch still. Also?“ „Ja, warte.“ Florian holt seine Tasche hervor und hält mir zwei Blätter hin. Dankbar nehme ich sie an. Anschließend lasse ich mich in ein Gespräch verwickeln, zumindest bis der Professor den Raum betritt und Stille einkehrt. Ich wende meinen Blick der Tafel zu, merke aber recht schnell, dass ich mich wie erwartet nicht konzentrieren kann. Schon wieder wandern Bruchstücke meines Streits mit Andris durch mein Hirn... Ich höre förmlich meine schrecklichen Worte... sehe seinen mir zugedrehten Rücken, als er mich hinausschickte... seinen Blick am Fenster... Schnell greife ich nach meinem Stift und beginne, Zahlen zu finden. Doch es ist schwierig, sich wirklich darauf zu konzentrieren, wenn die eigenen Gedanken doch eigentlich einen ganz anderen Weg einschlagen wollen. Aber ich will es nicht! Ich will nicht darüber nachdenken, dass ich einen Freund verloren habe... und dass es ganz alleine meine Schuld ist! Aber könnte ich nicht hingehen und mich entschuldigen? Energisch setze ich den Stift erneut auf. Auch darüber will ich nicht nachdenken! „Du bist aber nicht sehr weit gekommen...“, deutet Nina auf mein oberes Blatt. Nur ein Sudoku ist gelöst, bei dem zweiten habe ich irgendwann aufgehört... und ich muss zugeben, ich hab es eigentlich noch nicht mal wirklich gemerkt. Ein dumpfer Schmerz sitzt mir in den Knochen, als ich aufstehe, und ich weiß, dass er nicht vom Joggen kommt. „Ich weiß schon, warum ich’s nicht mag“, kommentiere ich und füge in Gedanken hinzu: Es fesselt mich nicht genug. Dennoch stecke ich die Blätter in meine Tasche und folge meinen beiden sich lachend unterhaltenden Freunden aus dem Saal heraus. „Bäcker?“, fragt Nina, zwischen uns herum sehend. „Ich könnte nen Kaffee gebrauchen.“ „Bin dabei!“, verkündet Florian und ich nicke gezwungenermaßen. Beim Bäcker in eine Ecke sitzend, unterhalten Nina und Florian sich fast pausenlos und ich versuche, dem zu folgen. Während ich an meinem Kaffee nippe, sehe ich unschlüssig zwischen ihnen hin und her. Wie schafft er es bloß, so normal mit ihr umzugehen? Ich weiß nicht, ob ich das könnte, wenn ich ihm meine Gefühle gebeichtet hätte... Okay, aber Nina macht es einem auch sehr leicht. Ich sehe in ihr lachendes Gesicht mit den winzigen Sommersprossen. Was hat sie bloß, dass ihn so anzieht? Klar, sie ist hübsch und nett... aber wie er schon sagte, eigentlich ist sie gar nicht sein Typ – zumindest glaube ich das. Um sie nicht zu lange anzustarren, sehe ich aus den Augenwinkeln zu Florian. Seine Augen strahlen während er spricht und gestikuliert. Worüber reden sie eigentlich? Ich kann dem nicht folgen... Versunken in die Betrachtung von Florians Augen und den Vergleich zu Andris' Dunkelbraunen anstellend, merke ich nicht, dass das Gespräch verstummt. Erst eine Berührung auf meiner Hand lässt mich meinen Gedanken entkommen und fast verschütte ich meinen Kaffee über meiner Hose. „Geht es dir gut?“, trifft mich Florians besorgter Blick. „Du bist ganz blass...“ „Mir geht es gut!“ Hektisch springe ich auf, wende mich ab, spüre, wie meine Wangen garantiert nun nicht mehr so blass sind. Ich stelle meine halbvolle Tasse in die Abgabe und trete ins Freie. Fest ziehe ich die kalte Luft ein und versuche, ruhig zu werden. Schwer ist dies, da mich sofort wieder etwas an der Schulter berührt. „Irgendwas stimmt doch nicht mit dir. Du bist schon seit ein paar Tagen so komisch.“ „Bild dir doch nichts ein!“, fahre ich Florian an und dann trifft mich Ninas Blick. Ihren besorgten Augen sehe ich an, dass sie mehr als nur eine vage Ahnung davon hat, was los mit mir ist. „Lasst uns gehen, sonst kommen wir zu spät“, setze ich mich in Bewegung, um dem zu entkommen. Nach den heutigen Vorlesungen und als Florian sich verabschiedet hat, fragt Nina mich, ob ich noch etwas mit ihr machen will. Ich sehe sie an, sehe den Blick, der einen Teil schlechten Gewissens verrät, und lehne ab. „Ich hab noch was vor“, lüge ich. „Oh, schade... mit diesem Photonik-“ „Andris!“, unterbreche ich sie, während es mir einen Stich in die Brust gibt. Dann schüttle ich den Kopf und sehe demonstrativ auf die Uhr. „Nein, aber ich muss jetzt los.“ „Okay.“ Ich werde kurz in die Arme geschlossen und dann drehe ich mich um, zum Flüchten. Der restliche Tag vergeht, wie der letzte geendet hat: mit Selbstvorwürfen, Liebeskummer und noch mehr Selbstvorwürfen. Um dies nicht bis in alle Ewigkeit weiterzutreiben, zwinge ich mich, endlich wieder etwas für die FH zu tun. Immerhin muss die Aufgabe bis Freitagnacht abgegeben sein... So also vertiefe ich mich in den Programmiercode und versuche, meinen Kopf nur auf Problemstellung und -lösung zu konzentrieren. Doch weichen meine Gedanken nur allzu oft davon ab, weshalb ich nach fünf Stunden noch immer nicht sehr viel weiter gekommen bin. Fluchend stehe ich auf, um mir etwas zu essen zu machen. Während ich das Fleisch kleinschneide und anbrate, kommen natürlich noch mehr Gedanken in mir auf, und beim Kartoffelschälen schneide ich mir in den Daumen. Wie lange soll dass denn jetzt so weiter gehen? Später im Bett schaffe ich es nicht, einzuschlafen. Eigentlich bin ich mir darüber im Klaren, dass es ganz und gar nicht so weitergehen kann. Es gibt zwei Dinge, die ich hinter mich bringen muss: zum einen sollte ich Florian trotzdem meine Gefühle gestehen, und zum anderen muss ich mich bei Andris entschuldigen. Wieso ich letzteres noch nicht getan habe? Mehrere Gründe, eigentlich... und doch zwei ganz einfache: Scham und Angst. Zum einen ist es mir unglaublich peinlich, wie ich mich aufgeführt habe, wie ich mich so gehen lassen konnte... doch ich weiß auch, dass das nicht wirklich ein Grund ist, dass er mich schon viel peinlicher erlebt hat... dass es alles doch nur an meiner Angst hängt. Ich habe Angst, dass er mir nicht verzeihen wird. Bei dem, was ich zu ihm gesagt habe, könnte ich ihm nicht verübeln, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Ich war doch ohnehin nicht gerade eine Bereicherung für ihn... Wahrscheinlich ist er froh, mich los zu sein. Bei diesem Gedanken grabe ich mich instinktiv tiefer in die Decken ein und versuche, mich von dem trauernden Schmerz in mir loszuringen... versuche, mich auf eine andere Frage zu konzentrieren. Sollte sie jetzt nicht viel wichtiger sein? Sollte ich mich nicht die ganze Zeit fragen, was ich nun mit Florian machen werde? Was würde geschehen, wenn ich ihm jetzt die Wahrheit sagen würde? Würde er es verstehen? Würde er mich hassen? Werde ich noch einen Freund verlieren? Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen... komischerweise weniger als je zuvor. Ob das daran liegt, weil er jetzt den Schmerz der unglücklichen Liebe kennt und wahrscheinlich unendlich froh ist, dass Nina so normal mit ihm umgeht? Wahrscheinlich. Ich wühle mich im Bett herum, bleibe mit allen Vieren von mir gestreckt auf dem Rücken liegen, eigentlich todmüde und doch hellwach. Ich beschäftige mich mit den Gedanken, was es mir für Vorteile bringen könnte, wenn ich es Florian sage, nun da ich weiß, dass nicht das, was ich mir wünsche, dabei herauskommen kann. Es kann mir helfen, loszulassen, würde Andris wahrscheinlich jetzt sagen. Mehr nicht? Obwohl... ist das nicht genug? Ich werde einfach endlich loslassen können... ~ * ~ Am nächsten Tag schaffe ich es wie gewohnt, mich zu verspäten. Ich werde mit den Worten empfangen, dass wohl alles wieder normal ist, und zucke daraufhin die Schultern. Während der Vorlesung zwinge ich mit meinen Gedanken an einem ganz bestimmten Punkt fest: dem Geständnis. Keine Ahnung, warum so plötzlich, aber irgendwas in mir sagt mir, dass es endlich geschehen muss. Allerdings... So sehr ich auch gestern Abend darüber nachgedacht habe, es zu tun, weiß aber doch immer noch nicht wie. „Hey Florian, ich bin schwul und in dich verliebt!“ - Viel zu plump und zu direkt... „Florian, ich muss mit dir reden. Ich stehe auf Männer!“ – Besser, aber auch nicht das Wahre... Aber was dann? Ihn einfach küssen? Oder ihm eine Mail schreiben? Alles Schwachsinn, purer Schwachsinn! Wie gerne ich doch Andris fragen würde, seinen Rat suchen... er wüsste bestimmt eine Lösung... Ohnehin würde ich so gerne mit ihm reden. Traurig sacke ich noch mehr in meinem Sitz zusammen, krakle auf dem Blatt herum und versuche, weiter an das Geständnis zu denken. Ich vermisse ihn. Als Florian, Nina und ich nach der Vorlesung zum Mittagessen in die Mensa gehen, gleitet mein Blick wie üblich über alle Sitze hinweg – dabei suche ich ihn doch gar nicht! Irgendwie erleichtert, ihn nicht entdeckt zu haben, lasse ich mich mit meinem Tablett nieder. Ich habe einfach keine Ahnung, wie ich ihm gegenübertreten soll, wenn ich ihn das nächste Mal sehe... Es ist der Moment, als ich den Blick hebe, um Florian lächelnd auf seine Frage zu antworten, als ich an ihm vorbei zum Nebentisch blicken kann: Dunkelbraune Augen treffen auf meine und ich habe das Gefühl, einen Baumstamm in den Magen gerammt zu bekommen. Klappernd fällt mein Besteck aufs Tablett und erschrocken dem Geräusch folgend, wende ich kurz die Augen ab. Als ich sie wieder hebe, ist Bewegung am Nachbartisch aufgekommen. Ich sehe gerade noch, wie Andris sich mit finsterem Blick, wie ich ihn noch nie bei ihm gesehen habe, abwendet und davongeht. Am liebsten würde ich ihm hinterher schreien, doch meiner Kehle entweicht kein Laut. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Den restlichen Vorlesungstag lang ist jeglicher ernste Gedanke an das Geständnis Florian gegenüber wie ausgelöscht. Stattdessen bin ich damit beschäftigend, jegliche Gedanken an Schuldgefühle zu verdrängen und gleichzeitig in Trauer um den Verlust dieser wichtigen Freundschaft aufzugehen. Hat mir sein Blick heute gezeigt, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will? War ich doch nur für das eine gut? Hat er mir seine Freundschaft nur vorgegaukelt? Wieso tut es bloß so sehr weh? Es ist schwer, sich zu zwingen, nicht darüber nachzudenken. Noch nicht mal das Geständnis schafft es, mich voll und ganz abzulenken. Zwar gehe ich verschiedene mögliche Worte durch, doch immer wieder spüre ich das Verlangen, Andris danach zu fragen... und kurz danach kommt das Stechen zurück, welches mir klar macht, dass es vorbei ist... So also komme ich zu keinem sinnvollen Geständnis, egal wie lange ich grüble. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren... Dennoch frage ich Florian am Ende der letzten Vorlesung, wann er heute frei hat. Ich müsse mit ihm reden, ist meine Begründung, und zu meiner Erleichterung stimmt er zu. Die Stunden bis zum Abend scheinen schleichend zu vergehen. Immer und immer wieder gehe ich nun mit mir selbst aufgezwungener Konzentration durch, was ich zu Florian sagen könnte, ohne doch eigentlich zu einem Ergebnis zu gelangen. Irgendwie bin ich nicht genug bei der Sache. Aber wieso nicht? Heute ist so ein wichtiger Tag! Meinen Schrank zerwühlend, versuche ich mich auf die Klamottenwahl zu konzentrieren, was auch nicht funktionieren will. Dann irgendwann klappt gar nichts mehr und ich muss wieder an Andris denken... Was er wohl denken würde, wenn ich ihm sagen würde, dass ich es Florian heute endlich sagen werde. Ein Lächeln strafft meine Lippen. Wahrscheinlich würde er mich beglückwünschen! Nein. Das Lächeln verschwindet augenblicklich wieder. Wahrscheinlich ist es ihm mittlerweile egal. Ich schüttle den Kopf, will diese Gedanken von mir schleudern. Sie haben hier nichts zu suchen, jetzt geht es nur um Florian und mich! Endlich die Klamottenwahl getroffen, schlüpfe ich ganz langweilig in Jeans und Shirt und warte eine endlose Zeit darauf, endlich losgehen zu können. Vor Florians Wohnungstür angekommen, fühle ich mich grässlich. Mein Magen rumort, als wolle er alles, was ich je gegessen habe, von sich stoßen, und irgendwie ist mir schwindelig. Nun also soll auch über meine andere Freundschaft entschieden werden? Ich drücke die Klingel, mit allem Mut, den ich noch irgendwo verscharrt habe. Sofort wird geöffnet. „Da bist du ja!“, grinst Florian und lässt mich rein. Nervös gehe ich ins Wohnschlafzimmer und lasse mich aufs Sofa sinken. „Was gibt es?“ „Ich muss mit dir... reden...“ „Das klingt nicht gut“, grinst er und am liebsten würde ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht schlagen. „Ist es auch nicht“, lasse ich den Kopf sinken und starre auf meine verschlungenen Hände. Ich muss direkt zur Sache kommen! Jetzt oder nie! „Es geht um... um meine Gefühle... für dich“, werde ich zum Ende hin immer leiser. „Ich verstehe nicht?“, kommt es verwirrt. „Ich...“ Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle herunter, schließe die Augen. „Er wird dich nicht hassen, bestimmt nicht. Dafür mag er dich zu sehr.“ Genau höre ich Andris’ Worte in meinem Kopf und fast wünsche ich ihn zu mir. Jetzt seine Hand halte, seine Wä- „Lukas?“ Ich zucke zusammen, sehe Florian an. Konzentration!, schreie ich mich innerlich an. Wieder öffne ich die Lippen zum Sprechen. Bring es endlich hinter dich, verdammt! „Seit mehr...“ Meine Stimme zittert, doch ich kann nichts dagegen tun. „Seit mehr als drei Jahren... liebe ich dich.“ Es ist raus. Ich kneife die Augen zusammen und verkrampfe meine Hände, auf den großen Ausbruch wartend. Doch er bleibt aus. Stattdessen ist es vollkommen still. Ich blinzle, sehe zunächst meine Hände, hebe dann aber meinen Blick. Florians ist starr. Nur ein wenig überrascht, nur mäßig erstaunt... zumindest deute ich es genau so. Dafür spricht wohl aus meinem Blick die Ungläubigkeit. Wüsste ich es nicht besser, würde ich schon fast bezweifeln, etwas gesagt zu haben. Ich springe auf, Florians Blick folgt mir. „Hast du mich nicht gehört?“, frage ich verzweifelt. „Doch...“, kommt es langsam. „Ich... aber wieso... ich will doch...“ Florian steht nun auch auf und sieht mich an. Was erwartet er denn jetzt von mir, verdammt? Er kann doch nicht einfach so da stehen! „Schrei mich an! Werd wenigstens sauer...“, bringe ich heraus. Ich packe ihn am Arm, sehe ihm fest in die Augen. „Wenn du es nicht tust, kann ich mich nicht entschuldigen! Dann kann ich dir nicht sagen, wie leid es mir tut!“ Pure Verzweiflung spricht aus mir, zusammen mit meiner Angst. Ich beginne zu zittern, habe das Bedürfnis, ihn zu schlagen oder wegzurennen. Natürlich tue ich nichts davon. Im nächsten Moment zieht er mich an sich. Vollkommen erstarrt lasse ich es geschehen. Sein Kopf vergräbt sich an meinem Hals. „Seit drei Jahren?“, fragt er mich brechender Stimme. Ich nicke, traue mich, die Arme auf seinen Rücken zu legen, als er seinerseits seine Finger in meinem Pulli vergräbt. „Wieso sagst du es mir erst jetzt?“ „Ich... aus Angst.“ „Wovor?“ „Dass du mich... hassen könnest.“ Der Griff wird stärker. „Wie könnte ich dich je hassen? Doch nicht deshalb... nicht deshalb...“ Nun vergrabe ich meinen Kopf in seinen Haaren, ziehe ihren Duft ein, klammere mich stärker an den festen Körper. Er hasst mich nicht!, erfüllt es meinen Kopf. Und es war gar nicht so schlimm. Andris hatte Recht... und das werde ich ihm noch nicht mal sagen können. Ich kann nicht anders, als die Lippen kurz zu einem traurigen Lächeln zu verziehen, bevor ich mich noch fester in die Umarmung lehne. Es ist, als wäre mir der gesamte Grand Canyon vom Herzen gefallen. ENDE KAPITEL 5 Kapitel 6: Draudzība -------------------- Ich weiß, dass aus Florians Worten keine Hoffnung für mich spricht, und doch habe ich das Gefühl, unglaublich glücklich zu sein. Seine Umarmung, sein fester Blick, mit dem er mich jetzt ansieht... das alles nimmt mir die Last von den Schultern. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich will mich bedanken, dafür, dass er mich nicht verabscheut... doch ich bringe kein Wort heraus, kann ihm nur in die Augen sehen und hoffen, dass er meine Erleichterung darin lesen kann. Irgendwann löst er die Arme von mir. Auch ich lasse ihn sofort los. Er tritt einen Schritt zurück, lächelt, sinkt dann in seinen Sessel zurück. Ich tue es ihm gleich, ziehe die Füße hinauf aufs Sofapolster und sehe ihn an... vielleicht ein wenig erwartungsvoll. Umso länger die Stille anhält, desto mehr habe ich das Gefühl, dass sein Blick ins Überraschte übergeht. Worüber denkst du nach, dass es dich jetzt so wundert, wo es doch zuvor nicht so war? Ich will es fragen, doch ich tue es nicht. Ich will ihn sprechen hören. Dann mit einem Mal werden seine Augen weit. „Das heißt, du warst die ganze Zeit schwul?“, fragt er mit vollkommener Verblüffung. „Äh... jaaa...?“, frage ich skeptisch nach. „Schon immer?“ Ich lache auf. „Ich denke schon...“ „Und du fandest nicht, dass du es mir sagen solltest?“ „Doch schon... aber... hätte es einen Unterschied gemacht?“ „Nein, aber ich bin dein bester Freund! Ich muss doch alles über dich wissen!“ „Aber ich bin in dich verliebt!“, erinnere ich ihn. „Meinst du nicht, dass es mir ein kleinwenig schwer fallen könnte?“ „Oh... ja...natürlich...“ Er grinst entschuldigend. „Ähm... willst du... jetzt eine Antwort von mir?“ Ganz zögernd... Ich schüttle lächelnd den Kopf. „Nein. Ich weiß, dass du Nina liebst, darum-“ „OH MIST!“, schlägt er sich vor den Kopf. „Und ausgerechnet dir klage ich meinen Kummer! Verdammt!... Es tut mir leid! Ich wusste ja nicht, dass du... du...“ Ich lehne mich vor und greife nach seiner fuchtelnden Hand. Sofort wird er still. „Es ist in Ordnung“, lächle ich ihn an. „Irgendwie wusste ich die meiste Zeit, dass es aussichtslos war...“ „Es tut mir... trotzdem leid.“ „Danke.“ Er nickt, seufzt, dreht die Hand, so dass seine Handfläche sich in meine schmiegt. Ich werde rot und als ich ihn ansehe, merke ich, dass er es auch ist. Ich lasse ihn los. „Und ich berühre dich so oft... oh Gott, das musste ja schrecklich für dich sein!“ „Schrecklich nicht, nein...“ ... eher angenehm – doch ich verkneife mir diese Worte. „Es tut mir trotzde-“ „Hör auf, bitte! Du konntest es nicht wissen. Du kannst nichts dafür!“ Ein Nicken, wie zu sich selbst, dann wird sein Blick mit einem Mal wieder neugierig. „Wer weiß alles, dass du schwul bist?“ „Meine Familie und Nina.“ Andris verschweige ich ihm, warum auch immer. „NINA?“ „Ja... sie hat es selbst herausgefunden...“ „Weiß sie auch, dass du...“ „Ja, auch das hat sie gemerkt.“ Seine Augen werden größer. Ich kann mir denken, was ihm gerade durch den Kopf schwirrt. Er schüttelt ihn nachdenklich, seufzt, lehnt sich im Sessel zurück. „Dann hätt’ ich ja gar nicht überlegen müssen, mit welchem Mädel ich dich verkuppele...“ „Das hast du getan?“ Ich lache auf. „Na klar! Immer wieder, besonders in letzter Zeit... okay, es hat mich gewundert, dass du nie Interesse an irgendwem gezeigt hast, aber ich hab dich einfach für verrückt erklärt. Dass du schwul sein könntest, daran hab ich nie gedacht. Wenn dann hättest du es mir gesagt... dachte ich zumindest...“ Fast wirkt er gekränkt. „Ich wusste nicht, wie du dazu stehst...“ „Hä? Ich hab nen schwulen Bruder! Was denkst du denn?“ Nun bin ich es, der große Augen macht. Wie bitte? Schwuler Bruder? Aber wieso... „Daniel?“, frage ich vollkommen überfordert nach. „Nein, nein, Sven.“ „Aber seine Freundin... Jacky...“ „Jaqué. Wir nennen ihn nur nicht so. Er hasst den Namen. Ich dachte, das wüsstest du... eigentlich machen wir kein Geheimnis daraus, in der Küche meiner Eltern hängt sogar ein Foto der beiden...“ „Die... sind mir nie aufgefallen...“ „Und ich hab dir nie was von den beiden erzählt? Kann ich mir gar nicht vorstellen...“ „Nicht... viel zumindest... das...“ Ich verstumme vollkommen verwirrt. Sven... ich bin ihm nur ein Mal begegnet... er hat Jacky erwähnt, aber nur kurz... hat er Pronomen benutzt, die nichts erkennen ließen, oder war ich zu doof, richtig hinzuhören? Oh Mann, wie anders es gelaufen wäre, wenn ich das gewusst hätte... „Wenn ich das gewusst hätte!“, spreche ich aus, was mir im Kopf herumwirbelt. Es hätte meine Lage um so vieles einfacher gemacht! Ein Nicken. „Ich bin damit aufgewachsen, es ist etwas vollkommen Normales für mich. Wegen Sven hab ich wahrscheinlich auch keine Hemmungen, Männer anzufassen. Seit ich ein kleiner Junge war, hat er mich immer verhätschelt...“ Es hat etwas fast liebevolles, wie er über seinen sechs Jahre älteren Bruder spricht... und ich frage mich, wieso er das nie vorher getan hat... „Sag mal... Hab ich dir dadurch irgendwie... Hoffnungen gemacht?“ Ich werde rot, als ich nicke. „Manchmal“, gebe ich ehrlich zu. „Immerhin ist es eigentlich nicht normal, dass ein 24jähriger Mann einem anderen durch die Haare streichelt...“ „Das stimmt wohl.“ Auch er wird rot. „Tut mir leid. Soll ich es ab jetzt lassen?“ „Willst du es lassen?“, frage ich ehrlich zurück. „Immerhin kennst du jetzt meine Gefühle und-“ „Ach Quatsch! Wenn es dich nicht stört, stört es mich nicht! Du wirst ja jetzt nicht plötzlich über mich herfallen, oder?“ „Doch natürlich!“ Mache ich eine schnelle Bewegung nach vorne. Wir lachen beide. „Nein, im ernst. Ich fände es schön, wenn du dich so verhalten könntest, als wüsstest du nichts davon...“ „In Ordnung“, nickt Florian. „Sollte machbar sein.“ Er grinst. „Danke!“ Vollkommene Erleichterung durchströmt mich auch wenn ich mir noch natürlich nicht sicher sein kann, ob sich nicht doch irgendwas ändern wird. Später, als wir gemeinsam in Florians Bett liegen, ist das Licht noch lange an und wir reden über vieles, auch über meine Gefühle. Es tut gut, und ich habe das Gefühl, dass es eigentlich gar nicht mehr so weh tut, dass er mich nicht auch liebt. Viel wichtiger ist es, hier mit ihm liegen zu können und zu wissen, dass sich nichts an unserer Freundschaft geändert hat. Erst als das Licht gelöscht ist, kehrt langsam Ruhe ein. Ich drehe mich auf den Bauch und schmiege meinen Kopf ins Kissen. Ich fühle mich gut, richtig gut. Die Last ist mir vom Herz genommen und ich fühle mich fünfzig Kilo leichter. Wenn ich es doch nur Andris erzählen könnte. Ich zucke zusammen bei diesem Gedanken. Ein paar Mal habe ich in den vergangenen Stunden an ihn gedacht und jedes Mal wird es schmerzlicher. Wieso beginne ich ihn gerade jetzt so zu vermissen? Seufzend kuschle ich mich weiter ein und lausche auf Florians Atem. Bald wird dieser ruhiger und verrät mir, dass er eingeschlafen ist. Zögernd schalte ich das Licht wieder an, wende meinen Blick zur Seite und sehe in das friedliche Gesicht. Keine Ahnung wieso, aber es tut gut, ihn schlafen zu sehen und zu wissen, dass ich endlich kein Geheimnis mehr vor ihm habe. Ich strecke die Finger nach seinem Gesicht aus und streiche ihm über die Schläfe. Ich sehe auf seine Lippen, seine Nase, betrachte den kleinen Ring am rechten Ohr... Irgendwie würde ich sagen, dass das Geheimnis meiner Homosexualität zu bewahren, das Schwierigere war. Ich hasse es, ihm etwas zu verheimlichen... und dann war es auch noch so ein wichtiger Punkt. Nun aber muss ich es nicht mehr... Nun kann ich endlich frei atmen und so sein, wie ich wirklich bin. Nun hätte ich ihm auch erzählen können, was mein Verhältnis zu Andris ist... oder war... Ich seufze, nehme meine Finger zurück und schalte das Licht wieder ab. Ich ziehe meine Decke bis zum Kinn und schließe die Augen. Erst als ich schon fast eingeschlafen bin, wird mir plötzlich klar, dass ich zum vielleicht ersten Mal gar nicht daran gedacht habe, Florian küssen zu wollen... ~ * ~ Der Gedanke, mit dem ich eingeschlafen bin, verfolgt mich auch noch am Morgen, als ich mit Florian am Frühstückstisch sitze. Nachdenklich kaue ich an meinem geschmacklosen Käsetoast, während wir Nachrichten hören. Ich bemerke das breite Grinsen, das sich auf Florians Gesicht bildet, und werde rot. Mir war gar nicht bewusst, dass ich ihm die ganze Zeit auf die Lippen gestarrt habe. „Worüber denkst du nach?“ „Über mein Bedürfnis, dich zu küssen“, platzt es aus mir heraus und sofort schlage ich mir die Hand vor den Mund. „Verdammt!“, nuschle ich. Bitte lass mich im Boden versinken! Doch Florian, auch wenn sein Blick kurz überrascht war, geht schnell wieder zu dem Grinsen zurück. „Würdest du es gerne?“ „Ich... habe es immer gewollte“, weiche ich seiner Frage aus, ohne zu wissen, weshalb ich nicht einfach mit Ja antworte. Einen Moment lang scheint ihm etwas im Kopf herumzugehen. Dann nickt er und ich sehe ihn unverständig an. „Aber nur ein Mal“, kommt es über den Tisch hinweg und ich lasse mein Toastbrot fallen. „Wie bitte?“ „Wenn du willst, darfst du mich küssen... ein Mal“, sieht er mich ernst an. „Das ist... dein Ernst?“ Er nickt und trinkt einen Schluck Kaffee... mit vollkommener Ruhe. „Ich hab noch nie nen Mann geküsst... Irgendwie ist es schon interessant, ob es sich anders anfühlt.“ „Nicht sehr... da sind halt Bartstoppeln, aber sonst...“ Bin ich denn blöd? Das klingt fast so als würde ich versuchen, ihm sein Interesse auszureden. „Hast du schon viele geküsst?“ „Ja, ich hatte ein paar Freundinnen...“ „Und Männer?“ „Nur einen.“ Ich senke den Kopf und starre auf meinen angebissenen Toast hinunter. Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich tatsächlich vor Andris noch nie einen Mann geküsst habe. Und auch habe ich noch mit keinem anderen Mann geschlafen.... Nur Andris, mein erster und einziger... Es hat mir gereicht. „Was ist mit diesem traurigen Blick?“, unterbricht Florian mich in meinen Gedanken. Wie ertappt hebe ich meinen Kopf wieder und versuche, ein Lächeln zu Stand zu bekommen. „Nichts“, grinse ich schief. „Hat er dir was bedeutet?“ Ich zucke mit den Schultern, einen anderen Impuls unterdrückend, während Florian zu grinsen beginnt. „Du wirst rot, is ja süß.“ Ich greife mir an die glühenden Wangen und frage mich, weshalb ich dermaßen reagiere. „Sei still“, zische ich dann und versuche meinen Kopf zu zwingen, seine normale Hautfarbe wieder anzunehmen. Zur Überbrückung der Gedanken greife ich nach meinem angebissenen Toast. „Also?“ „Was?“, sehe ich verdutzt hoch. „Willst du mich jetzt küssen?“ „Oh, äh... ja“, spreche ich, während mein Kopf zu dröhnen beginnt. Ich hab gar nicht mehr daran gedacht... In der nächsten Sekunde sitzt Florian neben mir. Überfordert sehe ich ihn an. „Du musst das nicht tun“, spreche ich, während mein Herz langsam etwas schneller klopft. „Wieso nicht?“, lächelt er und streckt die Finger aus. Sie berühren meine Wangen. „Aber könntest du bitte lächeln?“, flüstert er dann. „Ich mag zwar keine Männer, aber ich mag es, wenn du lächelst.“ Nun wird auch er etwas rot und ich versuche, meine Mundwinkel in die Höhe zu ziehen. „Du sollst mich nicht auffressen!“, schüttelt er den Kopf und streichelt meine Wangen mit seinen Daumen, kommt mir dabei immer näher. „Du sollst lächeln, so wie du es immer tust.“ Noch näher kommt er mir und ich kann schon seinen Atem streicheln spüren... Ich schließe die Augen und mache mich bereit für das weiche Gefühl. Smaids, fährt es mir durch den Kopf, mit einer sanften Stimme und einem imaginären Finger, der meine Lippen streichelte. Das heißt Lächeln. Ich zucke zurück, entziehe mich Florians Händen und kippe fast mit dem Stuhl um. „Wow! Vorsichtig!“, hält er mich fest, während ich ihn entgeistert anstarre. „Ich, äh... haben wir uns geküsst?“, stammle ich, während mein Herz rast. „Äh... nein... noch nicht.“ „Gut.“ Ich stehe auf. Verwirrt werde ich angesehen, während ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Irgendwas stimmt gerade nicht mit mir. Ich atme tief durch, erwidere seinen Blick und suche nach Worten. „Ich denke, wir sollten das nicht tun. Es... ist nichts Freundschaftliches mehr.“ Es klingt fast schon diplomatisch... eigentlich schon zu sehr. Wie schaffe ich es bloß, das alles mit so viel Ruhe zu sprechen? „Du hast wohl Recht.“ Auch Florian erhebt sich, während ich ihn ansehe, fast mustere. Mein Herz schlägt noch immer etwas schneller und ich versuche, es zu beruhigen. Fast hätten wir uns geküsst. Bestimmt wäre es schön gewesen, aber... Ich schüttle den Gedanken ab. „Ich glaub, es ist besser, wenn ich jetzt gehe...“ „Stimmt irgendwas nicht?“ „Nein, alles okay!“ Ich lächle ihm beruhigend zu. Sollte nicht er es sein, der sich komisch verhält? „Na gut.“ Kurz scheint er zu überlegen. „Ich gehe heute Abend mit Nina ins Kino. Willst du mitkommen?“ „Ich... nein, lass mal. Macht euch einen schönen Abend.“ Ich verlasse die Küche und gehe zum Bett, wo noch der Großteil meiner Kleidung liegt. Ich ziehe mich um. Als ich mich zu Florian drehe, sieht er mich nachdenklich an. „Danke“, sage ich, seinen Blick auf meinen ziehend. „Ich bin froh, dass du mein bester Freund bist.“ „Glaub mal, das bin ich auch.“ Ich gehe auf ihn zu und wir umarmen uns. Ich vergrabe für ein paar Sekunden meine Nase an seinem Hals und ziehe seinen Geruch ein. Bei all dem kann ich doch das merkwürdige Ziehen in meinem Magen nicht deuten. ENDE KAPITEL 6 Kapitel 7: Zināšana ------------------- Der Rest des Tages vergeht damit, dass ich mich immer wieder dieses komische Gefühl einholt, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ich denke viel nach, gehe Joggen, um mich abzulenken, und denke noch mehr nach. Andris kommt mir dabei immer wieder in den Kopf, zusammen mit der Erkenntnis, dass er mein erster Mann war und mir dies nie bewusst geworden ist. Natürlich, am Anfang, bei unserem ersten Mal, vielleicht auch noch beim Zweiten... aber danach... danach habe ich eigentlich nie wirklich darüber nachgedacht. Wieso hätte ich es auch tun sollen? Ich mochte seine Küsse, mochte den Sex mit ihm und habe dabei nie etwas vermisst... ich mochte seine Nähe und Anwesenheit... ich mochte es einfach so sehr, dass es mir vollkommen genug war. Je länger ich über diese Dinge nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass ich mich endlich entschuldigen sollte. Und dennoch... ich verdränge den Gedanken immer wieder. Eine andere Sache, über die ich nachdenke, vielleicht, um nicht nur an Andris zu denken, ist Nina. Ich weiß nicht wieso, aber ich verspüre das Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass die Sache mit Florian geklärt ist, denn ich denke nicht, dass er das von alleine macht. Keine Ahnung wieso ich das Gefühl habe, dass ich es tun sollte... vielleicht deshalb, weil sie sich doch in ihrer Situation vollkommen komisch vorkommen muss... Natürlich geht mir bei alle dem auch Florian durch den Kopf. Doch ich kann nicht mal genau sagen, was es ist, an das ich denke. In erster Linie ist es wohl die Erleichterung, ihm endlich die Wahrheit gesagt zu haben, ihm nun nichts mehr verheimlichen zu müssen... Dann aber wieder frage ich mich, wieso das Bedürfnis, ihn zu küssen, mich ihn trotzdem nicht hat küssen lassen. Ich war so nah dran... einer meiner größten Wünsche wäre fast in Erfüllung gegangen... Wieso habe ich abgeblockt? Was ist bloß los mit mir? ~ * ~ Die nächsten Tage vergehen ähnlich gedankendurchzogen, zumindest dann, wenn ich alleine bin. Ich versuche mich abzulenken, versuche so wenig wie möglich, den Zahnrädern in meinem Kopf freien Lauf zu lassen, denn immer wieder bringen sie mich zu meiner verlorenen Freundschaft zurück, der ich mich nicht traue, hinterher zu rennen. Manchmal sehe ich Andris in der Mensa, aber meist suchen meine Augen nur nach ihm, ohne ihn zu finden. Wenn sie es tun, dann traue ich mich nicht, ihn lange anzusehen, denn wenn unsere Blicke sich treffen, tut es weh. Das Strahlen, das ich in seinen dunklen Augen immer so mochte, ist verschwunden, und es ist nur dieser finstere Blick zurückgeblieben. Es tut weh, zu wissen, dass ich schuld daran bin... und dass mir der Mut fehlt, die Sache zu klären, macht es nicht gerade besser. Wenn ich mit Nina und Florian zusammen bin, denke ich zum Glück sehr wenig nach. Ich fühle mich nicht mehr gereizt, sondern beobachte die beiden, beobachte als Außenstehender wie sich ganz, ganz langsam etwas zu entwickeln scheint, wie sie sich immer mehr annähern und Nina ihn immer öfter einfach nur ansieht. Ich glaube nicht, dass Florian dies wahrnimmt... doch auch bei Nina selbst bin ich mir da nicht sicher. Ich glaube nicht, dass sie merkt, wie ihre Sympathie für Florian sich verändert... und noch weniger glaube ich, dass ich mich irre. Mittlerweile frage ich mich deshalb des Öfteren, was wohl Ninas Worte waren, als sie Florian die Abfuhr erteilte. Manchmal überlege ich, ob ich auch eine Rolle gespielt haben könnte, dann nämlich wenn ich das Glänzen ihrer Augen sehe, wenn Florian in der Nähe ist. Ich frage mich, ob sie vielleicht ja gesagt hätte, wenn sie meine Gefühle nicht gekannt hätte. Ich weiß nicht, ob ich mich mit diesen Gedanken zu wichtig mache, aber vielleicht stimmt es tatsächlich. Oder sie hat ihn wirklich voll und ganz als Freund gesehen und Gedanken, ob daraus mehr werden könnte, kamen deshalb nie auf... Bei all diesen Gedanken bezüglich der sich aufbauenden Zuneigung Ninas, wundert es mich, wie wenig es mich eigentlich stört. Eher freut es mich, zu sehen, dass Florian wahrscheinlich doch eine Chance bekommen wird, dass seine Liebe wahrscheinlich nicht unerfüllt bleibt. Natürlich, vielleicht unterdrücke ich das Gefühl einfach, weil ich weiß, dass es nichts bringt, aber wenn, dann tue ich dies nicht bewusst. Oder ich habe es tatsächlich geschafft, loszulassen. So schnell? ~ * ~ Fast zwei Wochen sind vergangen, als ich mir meiner Beobachtungen sicher bin. Wieso Nina in dieser Zeit keinen zweiten Anlauf gemacht hat, alleine mit mir zu sprechen, weiß ich nicht, aber eigentlich ist das nicht so wichtig. Mittlerweile geht es Ende November zu und ich bin immer mehr davon überzeugt, dass sich bei Nina auch etwas entwickelt hat. Es ist in ihren Augen zu sehen, ihn ihrem Lächeln... Ein Wunder, dass Florian noch nichts bemerkt zu haben scheint, aber wahrscheinlich hat er diese Gedanken einfach abgeschaltet, weil er glaubt, ohnehin keine Chance zu haben. Naja, und dass ich so lang in ihn verliebt war, hat er immerhin auch nicht bemerkt... Vielleicht deshalb habe ich das Gefühl, nachhelfen zu müssen, und verabrede mich schließlich eines Nachmittags mit Nina. So kann es einfach nicht weiter gehen! Als es so weit ist, fehlt mir der Punkt, mit dem ich anfangen kann. Wir sitzen im Café eines Einkaufszentrums und ich nippe an meinem Kaffee herum. „Es geht um Florian“, sage ich schließlich, um endlich die Stille zu unterbrechen und das Gespräch zu beginnen. „Das... hab ich mir gedacht...“, wird sie rot. „Hat er dir gesagt, dass ich ihm die Wahrheit gesagt habe?“ „Er hat so etwas... angedeutet... aber er wollte nicht weiter darüber reden...“ Wie ich es mir gedacht habe. „Er weiß jetzt alles und wir haben die Sache geklärt“, erkläre ich ihr. „Das... ist schön, nicht wahr?“ Ich nicke und lächle ihren roten Wangen zu. „Und ich wollte dir sagen, dass du keine Hemmungen haben brauchst...“ Ich senke den Kopf ein wenig, um sie anzusehen. Sie hebt den Blick von ihrem Kaffeerand, eine immer stärkere Röte annehmend. „Woher... weißt du...“ „Ich bin ebenso wenig blind wie du“, grinse ich sie an. „Außerdem erinnerst du mich an mich selbst...“ „So schlimm bin ich nicht!“, protestiert sie. Es lässt mich lachen. „Nein, das stimmt wohl. Aber du hast dich verliebt, oder?“ Sie zuckt zaghaft mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher“, gesteht sie dann. „Weißt du... es kommt mir schon etwas komisch vor, dass ich mich plötzlich so zu ihm hingezogen fühle, nachdem ich weiß, dass er mich liebt... ich weiß nicht ob das... echt ist...“ „Wieso sollte es nicht?“ Sie zuckt die Achseln. „Weil ich es nicht von alleine gemerkt habe?“ Ich schüttle den Kopf, lächle sie beruhigend an. „Ich hab viel über all das nachgedacht, musst du wissen... Dabei ist mir auch aufgefallen, dass du immer viel weniger Hemmungen hattest, mich zu berühren als ihn... auch gingst du mit mir schon immer viel lockerer um, obwohl du uns doch eigentlich beide sehr magst... Ich glaube, dass du ihn schon immer anders angesehen hast...“ „Das sage ich mir auch... aber was, wenn ich mir das nur einrede?“ „Welchen Grund gäbe es dafür?“ „Vielleicht weil sich jede Frau einen Freund wünscht... und weil ich nun mal bei ihm einen guten Mann gefunden hätte...Vielleicht mag ich auch einfach diese Sicherheit...“ „Sag mal, redest du dir nicht gerade ein, nicht in ihn verliebt zu sein?“ „Ich...“ „Weißt du Nina... es gibt da einen Spruch, der besagt, dass man noch so ehrlich sein kann, sich selbst belügt man aber dennoch dann und wann...“ Sie schweigt und rührt in ihrer Tasse herum. Ich habe das Bedürfnis, ihr zu sagen, dass sie süß aussieht, so schüchtern. Florian fände es bestimmt toll, sie so zu sehen, wie er sie sonst nie erlebt. Ich sage es ihr nicht, da sie dann wahrscheinlich vor Röte platzen würde. „Du solltest mit ihm reden“, sage ich schließlich. „Sei ehrlich zu ihm.“ „Ich... ich weiß nicht.“ „Was hast du zu verlieren?“ „Ich will ihm nicht wehtun.“ „Ich glaube, davor brauchst du keine Angst zu haben.“ „Hab ich aber.“ Ich fasse über den Tisch hinweg und ergreife ihre Hand. „Schlaf ne Nacht drüber, dann weißt du schon, was zu machen ist.“ „Meinst du?“ Ich nicke. „Und was ist mit dir?“ „Gar nichts. Ich wollte dir heute eigentlich einfach nur sagen, dass du dir um mich keine Sorgen machen brauchst.“ „Es... es tut mir leid... das muss schwer-“ „Nein. Weißt du, ich habe mit der Sache Florian abgeschlossen.“... und ich weiß, dass ich das aus irgendeinem Grund wirklich habe. „Belügst du dich auch nicht selbst?“, zwinkert sie. „Ich hoffe nicht.“ Wir lachen. Einen Moment lang sieht sie mich danach prüfend an, kommt aber scheinbar zu dem Ergebnis, dass ich tatsächlich die Wahrheit sage. Fast ist Erleichterung auf ihrem Gesicht zu erkennen. „Danke“, lächelt sie. Ich erwidere ihr Lächeln und wundere schon gar nicht mehr, dass es so ohne jeglichen Schmerz geht. „Sag mal“, ihr Blick wird neugierig, „Was ist eigentlich mit Andris? Ich sehe euch gar nicht mehr zusammen...“ Das Lächeln, das ich eben noch trug, gefriert mir. „Das ist vorbei“, antworte ich steif. „Wieso?“ „Weil... darum. Es ist einfach vorbei.“ Jedes Wort davon sticht mir erneut in den Magen... oder ins Herz... ich weiß es nicht, irgendwie tut es überall weh. „Das ist schade.“ Ich zucke mit den Schultern und versuche das quälende Gefühl von mir zu schieben. Irgendwie will es einfach nicht vergehen, schon seit so vielen Tagen nicht... Sollte das nicht auch langsam mal aufhörem? Immerhin habe ich es auch geschafft, Florian loszulassen... Wieso ist das nun bei Andris bloß so schwierig? Ich kannte ihn doch noch nicht mal ein Jahr lang... und dennoch vermisse ich ihn so sehr. Um den Gedanken loszuwerden, greife ich nach der Karte und beschäftige mich mit der Auswahl. ~ * ~ Nach unserem Gespräch geht eine weitere Woche ins Land, in der Nina keinen Schritt in Florians Richtung macht. Fast würde ich sagen, dass es nichts gebracht hat, mit ihr zu sprechen, wären da nicht dann und wann ihre Blicke, die sie mir zuwirft, und von denen ich weiß, dass das schlechte Gewissen aus ihnen verschwunden ist. Stattdessen sehe ich Hilflosigkeit in ihren Augen, weil sie sich ihrer Sache noch immer nicht sicher ist, weil sie ihren eigenen Gefühlen nicht vertraut. So also beobachte ich die beiden weiter, das erste Mal in meinem Leben mit dem Gefühl, zwei Leute zusammenbringen zu wollen. Mittlerweile bin ich endlich bei dem Punkt angelangt, an dem ich mich nicht mehr Frage, weshalb mich das Ganze nicht im Geringsten stört. Es ist einfach so... und eigentlich ist es ja wirklich gut so! ~ * ~ Es ist Anfang Dezember, als das passiert, was sich wohl kein Kind wünscht. Es ist vor dem zweiten Unterrichtsblock des Praktikums Datenbanken... Nina ist noch nicht da und Florian und ich sind schon am Ratschlagen gewesen, was wohl sein kann. Sorgen machen wir uns eigentlich nicht wirklich, da es doch bestimmt nichts Schlimmes sein kann... vielleicht ist sie krank oder hat einfach ausnahmsweise auch verschlafen. Mit diesen Gedanken gehe ich in der Pause zwischen den Blöcken zur Toilette... und als ich wieder zurückgehen will, weiß ich, dass doch etwas Schlimmes passiert ist. Nina begegnet mir auf dem Flur und ich sehe die Tränen sofort. „Was ist passiert?“, frage ich, als ich bei ihr angekommen bin. Sie schluchzt nur, schüttelt den Kopf, stammelt irgendwas von Mutter und Krankenhaus... Ich will sie umarmen, doch sie lässt mich nicht. Sie fragt nach Florian. „Er ist drinnen“, sage ich auf den Raum deutend, und ehe ich fragen kann, ob ich ihn holen soll, beschleunigt sie schon ihren Schritt. Ich folge ihr, bleibe aber im Türrahmen stehen, als sie hindurchgetreten ist, denn sobald sie gesehen wird, stürmen die vier Mädchen dieses Kurses auf sie zu. Was los ist, wollen sie wissen, während ich mich ärgere, nicht tatsächlich Florian herausgeholt zu haben. Fragen trommeln auf Nina ein und ihr Kopf dreht sich hin und her. Ich kann fast fühlen, wie höllisch der Kopfschmerz sein muss. Ich hebe den Blick und entdecke Florian in der hintersten Reihe. Er hat den Kopf gereckt und sein Gesicht ist aschfahl. Wieder den Blick auf Nina, sehe ich, wie sie immer heftiger den Kopf schüttelt und dann drängt sie sich zwischen den anderen hindurch. Ihr Kopf hebt sich und dann scheint sie Florian gesehen zu haben, denn ihre Schritte werden schneller. Auf halbem Weg treffen die beiden sich. Nina verschwindet fast in seinen Armen. Die anderen stehen da, verdattert, verwirrt, nicht wissend, was sie machen sollen, als Ninas Schluchzen beginnt. Ich hingegen kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich mich nun etwas beruhigter gegen den Türrahmen lehne und beobachte, wie Florian ihr über den Rücken streicht, ihr leise ins Ohr spricht. So schlimm die Situation ist, ist dennoch eines sicher: Hiernach werden sie sich gefunden haben. Hiernach wird sie gemerkt haben, wie sehr sie sich in ihrem Schmerz nach ihm gesehnt hat... hiernach- Meine Gedanken scheinen zu verstummen. Es ist in dem Moment, als er ihr beruhigend durch die Haare fährt, in dem mir mit einem Mal alles klar wird... Es ist dieser Moment, in dem ich verstehe, was genau ich verloren habe. Den stechenden Schmerz fühlend, bewege ich mich vom Türrahmen weg. Mechanisch beschleunigt sich mein Schritt, weg hier, irgendwohin... Im Fahrstuhl sinke ich zusammen nachdem ich die Stopp-Taste gedrückt habe. Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen, während er hämmert und mir klar macht, was mir so lange hätte klar werden sollen... als ich verstehe, was ich schon lange hätte verstehen sollen. Mit einem Mal liegt es ausgebreitet vor mir, als wäre es schon immer da gewesen, doch versteckt hinter irgendeiner riesigen Mauer. Und ich weiß sogar, wie diese Mauer heißt. Ein trockenes Lachen entweicht mir, als mir Zusammenhänge klar werden, als ich verstehe, weshalb die letzten Wochen so gewesen sind, wie sie waren... weshalb ich gestoppt und Florian nicht geküsst habe. Wie war das mit dem selbst belügen? Ich scheine echt ein Meister darin zu sein. Natürlich war da Florian, immer nur Florian. Meine Gefühle wuchsen und wuchsen und irgendwann war ich mir einfach sicher, dass sie nie wieder schrumpfen würden. Ich konnte es mir nicht vorstellen, deshalb hielt ich an ihnen fest, hielt ich an meinem Schmerz fest, an der unerwiderten Liebe und dem Gedanken, ewig mit ihr zu leben... dabei wäre alles so viel einfacher gewesen, wenn mir nur ein einziges Mal klar geworden wäre, dass ich mich da irgendwann fürchterlich in etwas verrannt hatte. Ob ich loslassen kann, habe ich mich immer wieder gefragt. Ob ich loslassen kann? Natürlich kann ich das, denn eigentlich habe ich das schon längst getan... da nämlich, als sich etwas ganz entscheidendes in mein Leben schob... oder jemand... Ich sehe ihn vor mir, höre Worte der fremden Sprache und spüre Tränen meine Handflächen benetzen. Zu wem bin ich gegangen, wenn ich reden wollte? Bei wem fiel es mir merkwürdig schwer, alles auf eine Freundschaft zurückzureduzieren? Zu wem hat es mich gezogen, wenn es mir schlecht ging oder ich alleine sein wollte? Bei wem war der Gedanke, ersetzt zu werden, für einen Moment fast unerträglich? In wessen Armen fühlte ich mich geborgen wie nirgends sonst? Wem wollte ich am liebsten alles erzählen, was mir passiert ist, und ich hielt mich nur aus der Gewissheit zurück, dass es ihn wahrscheinlich nicht interessierte? Und ist es nicht genau das, weshalb ich es einfach nicht schaffe, über meinen Schatten zu springen? Weil ich ihm Dinge vorgeworfen habe, die aus einer Angst in mir sprachen, aus der Angst heraus, wirklich nur für das Körperliche da zu sein? Habe ich nicht einfach nur Angst, dass sich das bestätigen könnte? Und wieso ist das wohl so? Weil ich ihn liebe, verdammt noch mal! ENDE KAPITEL 7 Kapitel 8: Atmiņas ------------------ Im Nachhinein betrachtet war mein erstes Aufeinandertreffen mit Andris an meinem ersten Unitag – oder besser gesagt Abend. Es war im Meddiz gewesen, ich habe bei ihm ein Bier bestellt, glaube ich zumindest. Andris meinte später mal, dass er mich schon damals bemerkt hätte. Wieso? Weil ich traurig ausgesehen hätte, obwohl ich lächelte. Das sagte er. Ich erinnere mich nicht daran. Mein erstes bewusstes Aufeinandertreffen mit Andris war auf der ersten Maschbauparty des Semesters, Ende Oktober. Er gab mir ein Bier aus, ohne dass ich wusste, wer er war oder warum er dies tat. Dann stellte er sich mir vor, die Hand nach meiner ausgestreckt. Irritiert ergriff ich sie. „Ich bin Andris!“, sagte er lächelnd. Ich glaube, ich muss sehr doof geguckt haben, denn ich dachte seinen Namen über die laute Umgebung falsch verstanden zu haben. Nachfragen wollte ich aber auch nicht... Er allerdings bewies, dass er schon damals aus meinem Gesicht lesen konnte, denn er beugte sich näher an mich heran, immer noch lächelnd, und erklärte mir: „Der Name ist lettisch.“ Er zwinkerte. „Merk ihn dir!“ Worüber wir uns an jenem Abend unterhielten, weiß ich nur noch bruchstückhaft. Die meiste Zeit hielt ich eher nach Florian Ausschau und fragte mich nebenbei, wieso mich dieser fremde Typ angequatscht hatte. Wir unterhielten uns über unsere Studiengänge. Ich Informatiker, er Photoniker hatten wir uns zu berichten, wieso wir diese Richtung gewählt hatten. Auch erfuhr ich, dass dies bereits sein drittes Semester war – ein alter Hase also. Dann redeten wir über die Party, auf der wir uns befanden, von der wir allerdings noch nicht allzu viel mitbekommen hatten. Grinsend deutete er auf die tanzende Menge und fragte, ob ich Lust habe. Ich tat es als einen Scherz ab, der er, wie ich später erfuhr, gar nicht war. Dem Thema Party folgten allerlei Themensprünge. Immer noch ein Auge auf Florian werfend, unterhielt ich mich eine weitere geschlagene Stunde mit Andris, bevor er schließlich beschloss, mal seinen Leuten Hallo sagen zu wollen. Als er ging, fragte ich ihn doch noch, wieso er mich angesprochen hatte. Er zuckte mit den Schultern, sagte, dass ich so verloren gewirkt hätte, und verabschiedete sich dann mit einem netten Lächeln. Erst in dem Moment wurde mir bewusst, dass er mir eigentlich sehr sympathisch war. Diesem Partygespräch folgten ein paar weitere, kürzere. Ab und an sahen wir uns in der Mensa, dann wieder beim Bäcker, in der Bibliothek oder einfach irgendwo auf dem Fachhochschulgelände. Dies geschah vielleicht ein, zwei Mal in der Woche, aber schon so, dass ich ab und an nach ihm Ausschau hielt. Die Male, in denen ich mich mit Andris unterhielt, ging es meistens um den FH-Alltag. Über was hätten wir auch sonst reden sollen? Ich wusste ja schließlich nicht, ob wir Gemeinsamkeiten hatten, was er überhaupt privat tat, oder wie er über bestimmte Dinge dachte. Eigentlich waren unsere Aufeinandertreffen sehr oberflächlicher Natur, aber das störte mich nicht. Auch Nina und Florian hatten Andris mittlerweile kennengelernt. Sie fragten mich mal, ob er aus Lettland käme oder wieso er sonst einen lettischen Namen habe. Als ich die Frage weiterreichte, bekam ich nur die geheimnisvollen Worte zurück, dass er mir das sicher irgendwann mal in einer ruhigen Stunde sagen würde. ~ * ~ Der Tag, der alles veränderte, war der Tag der Pre-Christmas-Party. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, hinzugehen, da ich mich noch mit ein paar Freunden hatte treffen wollen, aber dann entschied ich mich doch dazu. Diese Party sollte jedes Jahr ein riesiges Event sein, hatte ich gehört, und deshalb wollte ich sie nicht verpassen. Von dem Event bekam ich letztendlich nicht viel mit. Der Abend begann damit, dass ich verwundert auf die unzähligen, verkleideten Menschen stierte. Ich selbst war in normalen Klamotten gekommen, wie auch viele andere, doch unter ihnen stachen die meist rotweißen Kostüme natürlich deutlich hervor. Ob es mich begeisterte? Ich weiß es nicht wirklich, denn eigentlich hasste ich schon immer Karneval und alles, was daran erinnerte... Durch die fröhliche Menge hindurch suchte ich in den nächsten Minuten Gesichter, die ich kannte. Am liebsten wäre mir natürlich Florian, aber von ihm wusste ich, dass er erst zwei Stunden später kommen würde. So hielt ich vor allem nach Nina Ausschau, die ich aber nirgends entdecken konnte. Frustriert ließ ich mich schließlich mit einem Bier im Plastikbecher auf einer Treppe ein wenig Abseits nieder. Das Ganze erinnerte mich zu sehr an die überfüllten Diskos, denen ich nie wirklich etwas abempfinden konnte. Ich saß nicht lange alleine da, denn irgendwann begab sich ein Weihnachtself zu mir... und als er mich angrinste, erkannte ich Andris. „Oh mein Gott!“, stieß ich aus und konnte nicht anders, als schallend über seine Aufmachung zu lachen. Ich war mir nicht sicher, ob er vollkommen dämlich oder einfach nur lustig aussah. „Gefall ich dir?“, streckte er lachend die Arme aus. Ich schüttelte den Kopf. „Nicht?“, schmollte er unter seinen rot bemalten Wangen hervor. Wieder musste ich lachen, woraufhin sich sein Blick erhellte. „Und warum sitzt du hier so abseits rum?“, fragte er dann. „Ich mag solche Partys nicht unbedingt. Außerdem finde ich niemanden, den ich kenne.“ „Du kennst mich.“ „Du bist ja jetzt auch hier.“ „Ist das gut?“ „Ich denke schon.“ „Na dann!“ Er lächelte, ließ sich neben mir nieder und schlang mir den Arm um die Schulter. Erschrocken verschüttete ich einen Teil meines Biers. „Hola!“, hielt er meine Hand fest. „Du bist schreckhaft.“ „Eigentlich nicht.“ Er zuckte die Schultern und schaute sich um. Dann lehnte er seinen Kopf an meinen und strich mir durch die Haare. Später erfuhr ich, dass das alles Taktik war. Er wollte testen, wie ich auf solche Annäherungen reagieren würde. Dass ich mich nicht wehrte, sondern sie still ertrug, bestätigte ihm seinen Verdacht. „Soll ich dir was sagen?“, fragte er irgendwann, während ich noch immer mit mir rang, aufzuspringen und seinen Berührungen zu entgehen. So etwas machte sonst nur Florian – ich war es nicht gewohnt. „Hm?“ „Du darfst es aber niemandem sagen.“ „In Ordnung...“, nickte ich, mich fragend, was es so spannendes gab. Er lehnte sich näher zu mir, strich sanft ein paar meiner Wellen zur Seite. Sein Atem kitzelte mein Ohr. „Ich steh auf dich.“ Mein Becher fiel zu Boden und das Bier ergoss sich über die Stufen. Ich schob meinen Körper steif zur Seite, um Andris anzusehen, herauszufinden, ob er einen Scherz machte. Er jedoch sah mich vollkommen ernst an und ich begriff, dass es ihm tatsächlich ernst war. „Das...“ Ich befreite mich von seinem Griff und stand auf. „Es tut mir leid, aber... ich hab da schon einen, den ich...“ Ich stieg die Stufen hinunter, ohne fertig zu sprechen. Unten hob ich meinen leeren Becher auf. Als ich mich wieder aufrichtete, stand der Weihnachtself vor mir. Er grinste und einen Moment fragte ich mich, ob ich nicht doch auf einen Scherz hereingefallen war. „So war das gar nicht gemeint“, schien er meine Vermutung zu bestätigen. Ich wurde knallrot. „Nicht?“, brach meine Stimme. Wie peinlich! Ich hatte mich nicht nur blamiert sondern auch geoutet. „Na dann, sorry!“ Ich wollte abhauen, von dieser grässlichen Party verschwinden, doch gerade an der Tür hielt mich seine Hand auf. „Warte doch mal!“, lächelte er, als ich zu ihm herumwirbelte, meinen Arm befreite. „So war das nun aber auch nicht gemeint.“ „Wie dann?“, fauchte ich, hatte keinen Bock mehr darauf, noch weiter verarscht zu werden. „Ich meinte, du gefällst mir. Du bist nett, intelligent, sexy... hast schöne Augen und tolle Haare... Ich mag dich einfach... und mehr wäre auch nicht schlecht...“ „Mehr?“, brachte ich schwer hervor, da es mir fast den Atem nahm. „Sex.“ „Oh!“, machte ich und meine Augen wurden noch größer. „Na dann...“ Ich drehte mich um und verschwand durch die Tür. Das ging zu schnell, mein Kopf machte diese Sache einfach nicht mit. Wie konnte er so was einfach so... „Lukas!“, rief er mich, während ich schnellen Schrittes vom Gebäude wegging. Ich konnte diese direkte Anmache nicht fassen. So etwas war mir noch nie passiert! „LUKAS!“ Ich blieb stehen. Ich weiß nicht wieso. Als ich mich umdrehte, sah ich noch, wie er sich in Bewegung setzte und schnell zu mir kam. „Hab ich dich jetzt vergrault?“, fragte er, als er vor mir stand. „Ja... nein... das...“ Ich ließ die Schultern hängen und kam mir peinlich vor. „Willst du... mit zu mir kommen?“ „Für Sex?“ „Muss nicht sein, wir können auch einfach nur reden.“ Ich sah ihn prüfend an, bevor ich zustimmte. Bis heute weiß ich nicht, wieso ich ihm so leicht nachgab. Auf halbem Weg zum Parkplatz hatten wir uns dann nicht für seine WG sondern für meine Wohnung entschieden. Ob es gut war, ihn mit zu mir nach Hause zu nehmen? Ich war mir nicht sicher und doch tat ich es... Auf der Fahrt schwiegen wir. Er befreite sich von einigen seiner Verkleidungsutensilien, wischte sich die Farbe von den Wangen und saß schließlich als Andris in einer merkwürdigen Hose und einem hässlichen Shirt unter seiner Jacke neben mir. Ich grinste ihn an, während ich im Kopf wieder und wieder seine Worte durchging. Sex. Was, wenn er es doch wollte? Konnte ich das? Mit einem praktisch Fremden? Ich verneinte es mir und fuhr dennoch weiter. Vielleicht könnten wir ja wirklich nur reden, hoffte ich, denn eigentlich konnte man das mit ihm ja ganz gut... In meiner Wohnung angekommen, bat Andris zunächst um eine kleine Führung. Staunend ließ er sich danach auf dem Fußboden vor meinem Sofa nieder. Zögernd setzte ich mich zu ihm, mich fragend, warum er nicht die bequemen Polster wählte. „Gehst du nebenbei arbeiten?“, fragte er und sah sich noch immer um. „Nein“, gab ich zu und es war mir irgendwie unangenehm, als ich dann auch die Frage, ob meine Eltern das zahlten, wahrheitsgemäß beantwortete. „Cool!“, meinte er daraufhin aber nur ehrlich und sah mich an, ohne jeglichen erkennbaren Neid in den Augen. Ich ließ meinen Blick sinken. „Was machen deine Eltern?“ Kurz und knapp beantwortete ich ihm diese Frage und ein paar weitere, mich fragend, was ich ihn fragen könnte. Mir fiel nichts ein. Ohnehin war mein Kopf leer, vernebelt von der Sorge, dass er mehr wollen könnte. Ich kam mir wie ein Mädchen vor... eine Jungfrau obendrein. Naja, in gewisser Weise war ich letzteres ja auch noch, zumindest wenn es um Männer ging. Da das Gespräch erstarb, fragte ich ihn zu seinen Weihnachtsplänen, froh, auf diese Frage gekommen zu sein. Euphorisch berichtete er, dass es ein riesiges Fest geben würde. Ich hörte ihm interessiert zu und bemerkte gar nicht, wie er immer näher an mich heranrückte. „Und was machst du?“, fragte er dann. Sein Knie berührte mittlerweile meins. Es brachte mich aus dem Konzept und ich verhaspelte mich. „Ruhig“, lächelte er und sah mich an. Seine Augen schienen mich einnehmen zu wollen. Ich kam mir dumm vor, lachte, begann wieder zu sprechen und brach ab. Ich starrte auf seine Lippen. Sekunden später küsste er mich. Es war ein fester Kuss und überhaupt der erste, den ich seit mindestens drei Jahren bekommen hatte. Vielleicht aus dem Grund erwiderte ich ihn augenblicklich. Ich schlang die Arme um Andris’ Hals und drängte ihn näher an mich heran. Ich fiel rückwärts, zog ihn mit mir, ließ mich noch fester küssen und wurde mir irgendwo zwischendrin klar, dass es sich unglaublich gut anfühlte. Dann war der Kuss zu ende. Andris lag auf mir und lächelte mich an. Ich erwiderte dies Lächeln, als er sich zögernd aufsetzte. Da sah ich, dass er erregt war, und Sekunden später merkte ich, dass auch ich es war. Er merkte es auch. Sofort wandte ich den Blick ab. „Schämst du dich?“, kam es leise. Ich zuckte die Schultern, mir selbst nicht sicher. „Ich kenne dich doch eigentlich gar nicht.“ „Du kannst mich aber kennenlernen... wenn du willst.“ Er streckte die Finger aus und berührte mein Bein. Ich sah sie an. „Erzähl mir was von dir“, meinte ich dann. Er schien einen Moment zu zögern, setzte sich im Schneidersitz hin. Ich konnte nicht anders, als auf seine erkennbare Erektion zu starren, und dies erregte mich selbst nur noch mehr. „Mal schauen...“, zog er meinen Blick auf sein Gesicht. „Mein Name kommt aus Lettland. Meine Mutter hat ihn ausgesucht. Sie hat mir auch ein paar lettische Worte und Sätze beigebracht, die ich gerne verwende...“ „Stammt deine Mutter aus Lettland?“ „Nein, niemand meiner Verwandten.“ „Wieso dann?“ „Ihre große Liebe war Lette...“ Er grinste schief. „Das hat sie mir erzählt, als ich vierzehn war und meine Eltern seit drei Jahren geschieden waren. Als ich das erfuhr, war ich nur froh, dass die mich nicht Räven genannt hatte. So hieß der Typ nämlich.“ Ein Lachen entwich mir. „Das kann ich verstehen.“ „Nun bist du dran“, lächelte er. „Erzähl mir was über dich.“ „Ich... ich weiß nicht. Meine Eltern sind seit dreißig Jahren verheiratet. Sie haben sich immer ein Mädchen gewünscht, aber keins bekommen. Vielleicht haben sie deshalb meinem Bruder und mir jeden Wunsch erfüllt, den wir hatten...“ Bevor eine Pause eintreten konnte, fragte ich schnell: „Und du kannst Lettisch?“ „Nur ein bisschen, meist einzelne Worte.“ „Sag mal was.“ „Skūpsts.“ Es klang komisch. „Was heißt das?“ „Kuss.“ Er lächelte. „Er hat mir gefallen.“ Ich wurde rot und ließ zu, dass er mir näher kam. Diesmal berührten unsere Lippen sich nur kurz. „Es tut mir leid, ich hatte es eigentlich wirklich nicht vor, das kannst du mir glauben, aber...“ „Aber?“ Er deutete auf seine noch immer ausgebeulte Hose. Ich wurde noch röter, sah weg, sah wieder hin und sah ihm dann in die Augen. „Ich hab noch nie... mit einem Mann...“ Ich sprach nicht zu Ende. „Noch nie?“, verstand er natürlich dennoch. Ich schüttelte den Kopf. „Das macht nichts.“ Er sah mich forschend an, küsste mich erneut kurz. „Es würde dir gefallen.“ Ich glaubte ihm nicht und dennoch zog ich bereits seit Minuten in Betracht, ihm nachzugeben. Zögernd streckte ich die Finger aus und sie fanden den Stoff, der seine Erektion bedeckte. Kaum hatte ich den Druck etwas verstärkt, pressten sich Andris’ Lippen auf meine. Sie waren heiß und feucht und verschlangen mich förmlich mit ihrem atemberaubenden Kuss. Ich ließ mich wieder zurück gleiten, ihn mit mir ziehend, nicht bereit, den Kuss zu unterbrechen. Meine eigene Erektion wuchs wieder an. Mit einem Mal wurde mir unglaublich warm. „Okay“, stöhnte ich. „Okay!“ Es war, als hätte ich den Startschuss gegeben. Hände griff in meine Kleidung, zerrten daran, befreiten mich von ihr. Ich stöhnte, als er meine nackte Brust fand, als er mich am Hals küsste, als seine Hände meine Seiten fest entlang strichen. Ich zog ihm das Hemd aus, um noch mehr seiner Haut unter meinen Fingern zu spüren. Von der Hose befreite er sich selbst, ebenso wie mich. Seine Erektion drückte an mein Bein, als er tiefer glitt. Ich winkelte es an und meine Zehen fanden die Hitze. Während er mir die Shorts hinunterzog und mein Glied in den Mund nahm, rieb ich meine Zehen an seinem, spürte den stoßenden Atem auf meiner eigenen, empfindlichen Haut. Ich warf mich zurück, als er schneller wurde, intensiver, drängender. Ich verkrampfte meine Hände in seinen Haaren und riss an ihnen, als er mich weiter trieb, doch er ließ sich nicht aufhalten und dann kam ich in seinem Mund. Erschrocken fuhr ich hoch. „Das... das tut mir-“ Er küsste mich. Kurz schauderte mich mein eigener, unbekannter Geschmack, doch dann erregte mich selbst das. Ich griff hinunter, als ich merkte, wie er selbst es tat, berührte sein Glied und rieb es. Ich griff fester zu, als er mich dazu aufforderte, merkte, dass es mir gefiel, dies zu tun. Kurz darauf kam auch er. Einen Moment lang blieben wir so sitzen, dicht beieinander, ich die Hand noch immer an seinem Glied. Als mir dies bewusst wurde, sprang ich auf. Ich holte Taschentücher, reichte ihm welche, wischte mir selbst die weißen Flecken von den Lenden, die er hinterlassen hatte. Dann fischte ich meine Shorts vom Boden und zog sie an. Als ich damit fertig war, wagte ich endlich wieder, zu ihm zu sehen. Für einen Moment fragte ich mich, ob es das jetzt gewesen war. Hatte er jetzt bekommen, was er wollte und somit das Interesse verloren? Dann aber sah er mich an und er lächelte und er fragte, ob er die Nacht hier verbringen könne. „Ich werde nichts tun, was du nicht willst!“, fügte er schnell hinzu. Ich stimmte zu. „Kann ich duschen?“ Auch das bejahte ich. Er stand auf mit den Worten, zu wissen, wo das Bad sei, und dann ließ er mich allein. Ich sank auf mein Sofa, fassungslos über das, was soeben geschehen war. Ich hatte so etwas noch nie so schnell getan. Nachdem er geduscht hatte, tat ich es ihm gleich. Während den paar Minuten, holte mich der Gedanke ein, dass er bestimmt gleich mit meinen Sachen auf und davon sei, doch ich verwarf ihn direkt wieder. Danach fragte ich mich, wo ich ihn schlafen lassen sollte... ob er vorhatte, in meinem Bett... Diese Frage war schnell beantwortet, da ich ihn genau dort vorfand. „Schläft oft wer hier?“ „Wieso?“ „Du hast zwei Decken...“ „Florian manchmal“, erklärte ich und löschte das Licht. Sofort flackerte das an meinem Bett auf. Andris grinste und wich dann zur Wand hin. Ich legte mich hin und zog meine Decke über mich. Dann löschte ich auch das Licht. „Ist er es, in den du verliebt bist?“, kam es nach einer Weile. Erst wollte ich es abstreiten, doch dann tat ich es nicht. Ich nickte und als mir klar wurde, dass er dies nicht sehen konnte, sagte ich „Ja.“. „Weiß er das?“ „Nein.“ „Seit wann bist du’s denn?“ „Seit mehr als zwei Jahren.“ „So lange schon?“, machte er eine schnelle Drehung neben mir. „Ja“, gab ich zu und meine Lust, darüber zu reden, schwand immer mehr. „Willst du’s ihm noch sagen?“ „Eigentlich schon... irgendwann...“ „Du solltest es tun!“ „Wieso?“ „Nur so!“ „Aha.“ Es wurde still. Ich vergrub mich tiefer unter der Decke und fragte mich, warum ich es gar nicht als so komisch empfand, ihn bei mir schlafen zu lassen. Aber das lag wohl einfach an seiner Person. Selten war ich einem so offenen und gleichzeitig sympathischen Menschen begegnet. „Ar labu nakti“, kam es irgendwann leise. Trotz einer Vermutung fragte ich nach. „Gute Nacht“, sprach er daraufhin sehr sanft. Ich wiederholte es falsch und schlief danach ziemlich schnell ein. ~ * ~ Der nächste Tag begann fast so, wie der letzte geendet hatte, wenn auch in etwas verdrehter Reihenfolge. Kaum aufgewacht, wurde ich geküsst. Ich ließ es mir gefallen, ebenso wie die anschließende gegenseitige Befriedigung. Es war sogar einfach, ihm danach ins Gesicht zu sehen. Am Frühstückstisch fragte er mich dann weiter über Florian aus. Ich berichtete, nicht ganz so knapp angebunden wie in der Nacht zuvor. Tatsächlich begann Andris schon da, mir Tipps zu geben. Anschließend redeten wir noch über andere Dinge und dann sagte er, dass er langsam los müsse. „Ich weiß jetzt, wo du wohnst“, lächelte er an der Tür. „Kann ich ab und zu vorbeikommen?“ „Wozu? Für Sex?“, rutschte es mir heraus, obwohl unsere vergangenen Stunden doch mehr gewesen waren als das. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nur zum Reden, das kannst du nämlich genauso gut.“ Ich wurde rot und nickte. „Okay.“ ~ * ~ Es war ein paar Tage später, dass ich das erste Mal mit dem Gedanken ins Meddiz ging, Andris zu besuchen. Tatsächlich hatte er Schicht und ich sah ihm von der Theke aus zu. Als seine Schicht vorbei war, brachte ich ihn die drei Straßenecken mit meinem Auto nach Hause. Bevor ich fuhr, überkam uns die Lust. Vollkommen verwirrt fuhr ich danach heim. Ich hatte noch nie eine Sexfreundschaft gelebt. Das erste Mal richtigen Sex hatten wir an Sylvester. Wir hatten beide getrennt gefeiert, doch als ich gegen vier Uhr nachts nach Hause kam, fand ich eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter vor, die mir ein frohes neues Jahr wünschte. Da sie keine zwanzig Minuten alt war, rief ich ihn an. Nochmals knapp zwanzig Minuten später stand er vor meiner Tür, abgehetzt vom Fahrradfahren aber super gut gelaunt. Wir küssten uns heftig, beide vom Alkohol benebelt, und dann fragte er mich, ob ich mit ihm schlafen wolle. Ohne darüber nachzudenken sagte ich ja. In den darauffolgenden Wochen sahen wir uns kaum, da wir beide in Prüfungsvorbereitungen steckten. Wenn wir uns trafen, ging es immer sehr schnell, und irgendwie fand ich es schade, dass wir den Sex mehr so nebenbei praktizierten, denn eigentlich gefiel es mir ziemlich gut. Noch trauriger allerdings war ich darüber, dass unsere Begegnungen wirklich fast nur aus Sex bestanden… Nachdem wir alle Klausuren geschafft hatten, sprach ich Andris darauf an. Es waren Semesterferien, er arbeitete viel und ich verbrachte mal endlich wieder mehr Zeit mit Florian... und dennoch beschlossen wir beide, dass es uns so nicht gefiel. Daraufhin verbrachte er ein komplettes Wochenende bei mir, welches mit Alkohol, Essen, dem Ausprobieren von verschiedenen Stellungen und sehr langen Gesprächen viel zu schnell verging. Nach diesem Wochenende waren aus uns Freunde geworden. Klar, ich stand auf seinen Körper, aber fast mehr noch genoss ich es, mit ihm zu reden, ihm alles Mögliche zu erzählen oder ihm zuzuhören. Mit dem, was ich erzählte, hielt ich mich nur manchmal zurück, aus Angst, ihn zu langweilen, obwohl ich doch immer wieder das Bedürfnis verspürte, ihm alles, was ich erlebte, mitzuteilen. Ab dem Zeitpunkt war es auch ungefähr, dass er anfing, mich Mīļotā zu nennen. „Das heißt Schatz!“, sagte er eines Tages zu mir und lächelte. „Meine Mutter hat mich früher oft so genannt. Vielleicht mag ich das Wort deshalb so sehr.“ „Es klingt schön“, stimmte ich ihm zu und er flüsterte es mir zärtlich ins Ohr, zusammen mit anderen Worten, die ich mittlerweile kannte: Vai tu gribi gulēt ar mani – was soviel heißt wie „Willst du mit mir schlafen?“ Dies bejahte ich recht förmlich mit „Piebalsot“, während ich nicht bemerkte, wie mein Herz noch immer hämmerte, aufgrund des zärtlichen Kosewortes. Nein, ich begriff nicht, wie viel es mir bedeutete... wie viel er mir mittlerweile bedeutete und wie gut es mir tat, mich in seiner Gegenwart fallen und von ihm immer wieder auffangen zu lassen. Ich begriff nicht, dass ich mein Herz verloren hatte. ~ * ~ Nun, da ich diese Tage zurückdenke, ist es mir unbegreiflich, wie blind ich doch sein konnte. Wieso habe ich nie gemerkt, dass ich in seiner Gegenwart eigentlich nie an Florian dachte? Wieso habe ich nie gemerkt, dass ich seine Nähe unglaublich genoss, dass ich mich in seinen Armen wohl fühlte, wie nirgends sonst, und dass ich sowohl stundenlang mit ihm reden als auch schweigen konnte? Wieso habe ich nie gemerkt, dass ich mich in Andris verliebt hatte? Dies und noch viele andere Fragen sind es, die mich nun beschäftigen, die ich aber zum größten Teil wohl nie beantworten können werde... doch ist unter allen auch eine ganz wichtige, welche ich definitiv beantworten sollte: Kann ich jetzt noch schaffen, diese Beziehung, sei es eine Freundschaft oder mehr, zu retten? Ich habe Angst vor der Antwort. ENDE KAPITEL 8 PS: Mein absolutes Lieblingskapitel... und ich glaube ihr versteht wohl fast alle, weshalb das so ist *lach* Kapitel 9: Bailes ----------------- Tage vergehen, in denen ich über kaum etwas nachdenke, was nicht in irgendeiner Weise mit Andris zu tun hat. Ich sitze wie ein Geist in den Vorlesungen und kritzle auf meinen Blättern herum. Wenn ich zeichnen könnte, wären wahrscheinlich schon hunderte Andris-Skizzen entstanden… so aber male ich diese nur in meinem Kopf, stelle mir sein Lachen vor oder seine strahlenden Augen… auch an seinen Körper denke ich, an die weiche Haut und an die Lippen… wie oft habe ich an ihnen gehangen, ob nun physisch oder bei seinen Erzählungen… und doch ist es, als würde mir langsam die Erinnerung danach entgleiten. Ich fühle sie nicht mehr, weiß nicht mehr, wie er schmeckte… und langsam glaube ich sogar, seine Stimme zu vergessen… Stattdessen höre ich unentwegt die meiner Professoren, oder die besorgten Stimmen von Nina und Florian, wenn sie mich mal wieder fragen, was denn bloß mit mir los sei. Nichts, sage ich immer wieder, und weiß doch ganz genau, dass man merkt, dass eben nicht nichts ist. Wenn ich zuhause bin, sitze ich vor meinem Computer, vor dem Fernseher, in der Küche oder sonst wo und kann nicht aufhören, daran zu denken, wie viel Zeit ich hier mit Andris verbracht habe. Es war so normal, ihn um mich zu haben, selbst wenn wir nichts zusammen machten, sondern lernten oder etwas laßen, im Internet nach Informationen suchten oder eMails beantworteten. Es war so vollkommen normal, dass er sich ganz ungezwungen in meiner Wohnung bewegte, meinen Kühlschrank plünderte oder ab und zu meine Kleidung trug. Ich habe das Gefühl, mich an all die Male zu erinnern, die er in ein Shirt oder eine Hose von mir schlüpfte, mich dann immer wieder aufzog, wie steif mein Kleidergeschmack doch sei. Dass es ihm ausgesprochen gut stand, habe ich ihm nie gesagt… Sogar dann und wann beim Einkaufen muss ich an Andris denken. Es ist zwar in der ganzen Zeit nur sehr selten vorgekommen, dass wir gemeinsam einkaufen waren, und doch sind mir die paar Mal in Erinnerung geblieben. Ich sehe noch vor mir, wie er plötzlich anfing, mit den Nektarinen zu jonglieren, wie ich ihn zunächst erschrocken, dann aber fast begeistert dabei musterte… „Als ich noch ganz klein war“, hat er gegrinst und die Nektarinen von seinem Ellenbogen in den Einkaufwagen springen lassen, „habe ich mir gewünscht, mal zum Zirkus zu gehen. Immer wenn einer in der Stadt war, habe ich meine große Schwester gezwungen, mit mir hinzugehen. Sie hat es gehasst, sag ich dir!“ Er hat nach einem Glas Gurken gegriffen, ließ es in der Luft wirbeln und fing es elegant wieder auf, zur Erleichterung meines stehengebliebenen Herzens. „Einmal hab ich mich nachts davongeschlichen und bin zum Zirkus gelaufen. Was ich da gemacht hab, weiß ich gar nicht mehr, nur dass man mich am Ende bei den Pferden gefunden hat…“ Mir wurde eine Packung Nudeln zugeworfen, die ich nur mit Not fing. „Hab den Traum aufgegeben, als ich auf die neue Schule kam. Ab da wurden Jungs für mich interessanter…“ Bei diesen Worten ist er auf mich zugekommen, hat mich an sich gezogen und geküsst. Erschrocken hatte ich eine Dose fallen lassen, was natürlich erst recht dafür sorgte, dass uns alle bemerkten. Grinsend löste er sich wieder von mir. „Idiot!“, fauchte ich und konnte mir dennoch selbst ein Grinsen nicht verkneifen. Tiefrot hob ich die Dose auf und ging weiter mit den Worten, dass er bestimmt ein toller Clown geworden wäre. All diese Erinnerungen spulen sich in meinem Kopf seit Tagen in einer Endlosschleifen ab, egal wie sehr es schmerzt, jedes Mal wieder… jedes Mal mehr. Ich muss immer daran denken, was ich verloren habe, muss immer wieder daran denken, dass ich zu blind war um zu merken, dass mein Glück die ganze Zeit greifbar nahe gewesen ist… und dass es sich nun immer weiter von mir entfernt. Natürlich kann ich mittlerweile durch das ganze Nachdenken fast all meine Fragen, die zu Anfang durch meinen Verstand wirbelten, problemlos beantworten. Wieso ich nie gemerkt habe, dass ich in Andris Gegenwart eigentlich nie an Florian dachte? Weil wir immer wieder über Florian sprachen. Meist brachte Andris das Thema auf… und wenn er es nicht tat, dachte ich weniger und weniger an meine vermeintlich große Liebe… stattdessen ging ich voll und ganz in Andris’ Gesellschaft auf, bemerkte es jedoch nie. Aber wieso? Wieso habe ich nie gemerkt, dass ich mich in Andris verliebt hatte? Wahrscheinlich weil wir schon fast alles teilten, was Verliebte teilen. Wir waren zärtlich miteinander, hatten guten Sex, sprachen über wichtige und unwichtige Dinge, schafften es, uns miteinander zu langweilen, uns dabei gut zu fühlen, schafften es, unseren Alltag miteinander zu leben... und so weiter. Und es wurde mit der Zeit so normal für mich, dass ich es nie als das deutete, was es war… denn hatte ich es so nicht viel einfacher? War es nicht einfacher, das Ganze weiterhin als eine Freundschaft zu betrachten? Dies machte es unkompliziert… denn hätte ich mich auch nur ein einziges Mal gefragt, ob ich ihn liebe, wäre da auch die Frage gewesen, was dann denn mit Florian ist. Vielleicht aus diesem Grund hinterfragte ich nie meine Gefühle, sondern genoss es einfach wie sie war. Über all das, bin ich mir mittlerweile klar geworden… nur über eines nicht… Und zwar bleibt da immer noch die Frage, was Andris von mir hält. Ob ich das nicht weiß? Nein. Ich weiß, dass er gerne mit mir zusammen gewesen ist, weiß, dass ihm sowohl das sexuelle als auch das intellektuelle mit mir gefiel, weiß, dass er mich immer öfter Mīļotā nannte – doch was das bedeutet, das weiß ich nicht. Vielleicht würde ich sagen, dass er mich auch liebt… doch ich verstehe nicht, weshalb er mir dann immer wieder in der Sache mit Florian geholfen hat, wieso er mir gut zusprach, immer und immer wieder. Und hätte er nicht diese Freude für mich gezeigt, als ich mit meinem Missverständnis zu ihm kam, dann würde ich vielleicht Gefühle für mich erkennen, doch so? So weiß ich nur, dass er von einem Ersatz für mich sprach, dass er sagte, dass es genug sei, wenn ich ab und zu ins Meddiz komme... Wie also soll ich glauben, dass er mich auch liebt? Es gibt kein wirkliches Anzeichen dafür. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich an jenem Tag im November so ausgeflippt bin, weil ich unterbewusst danach sehnte, Liebe von ihm zu bekommen – und da ich diese nicht spürte, bin ich so auf ihn losgegangen, habe ihn beschimpft und ihm unglaublich gemeine Vorwürfe an den Kopf geworfen. Kein Wunder, dass er mir seither aus dem Weg geht. ~ * ~ Tage vergehen, ohne dass ich irgendeinen Fortschritt in der Sache mit Andris mache… Egal wie oft ich an ihn denke, wie sehr ich mich an all die Sachen mit ihm erinnere, so tue ich doch nichts wirklich Produktives – und dass quält mich bei all dem am meisten. Natürlich, seit mir klar geworden ist, was eigentlich mit meiner Gefühlswelt los ist, verfolgt mich der Gedanke, dass ich endlich mit ihm sprechen muss, überall hin… und doch habe ich es nicht getan. Ich weiß, dass ich es über alles will… doch ich weiß nicht, wie ich es tun soll. Ich weiß nicht, was geschehen könnte, wenn wir uns begegnen, weiß nicht, was er mir dann an den Kopf werfen wird. Natürlich werden es Sachen sein, die ich verdient habe, aber ich will sie nicht hören, ich habe Angst davor... Und so weiß ich nur mit jedem Tag mehr, dass ich endlich über meinen Schatten springen sollte… und suche das gesamte FH-Gelände und die Mensa mit den Augen nach ihm ab, in der Hoffnung, zu wissen, was zu tun ist, wenn ich ihn erstmal sehe… und dann am Abend stelle ist fest, dass schon wieder ein Tag vergangen ist, an dem ich es nicht geschafft habe, einen Schritt vorwärts zu tun. Ich versuche nicht darüber nachzudenken, wie viele ungenutzte Tage schon vergangen sind, sondern versuche nur an das Hier und Jetzt zu denken, als ich mich an einem kalten Tag Mitte Dezember auf den Weg mache… Lange habe ich zuhause gesessen und darüber nachgedacht… ich habe im Kopf sogar versucht, eine Pro und Contra Liste aufzustellen, die ich aber sofort wieder verworfen habe, da sie natürlich viel mehr Pro-Punkte enthielt… und irgendwann habe ich mich aufgerafft, habe ich es geschafft, meine Wohnung zu verlassen, in mein Auto zu steigen und loszufahren… Und jetzt, da ich hier stehe, starre ich nur das Türschild an, auf dem sein Name steht. Ein paar Mal schon habe ich meine Hand gehoben, habe meine Finger über dem kleinen, schwarzen Knopf schweben lassen… und doch schaffe ich es nicht, die ganze Zeit schon nicht. Was wird passieren, wenn ich klingele? Was wird er sagen, wie wird er mich ansehen? Wird er sehr wütend sein? Wird er schreien? Wird er mir überhaupt zuhören wollen? Auf all das habe ich keine Antworten und weiß auch, dass ich sie nicht bekommen werde, wenn ich nicht endlich klingele… und doch steigt die Angst immer mehr. Ich habe Angst, mit diesem kleinen Druck auf die Klingel alles zu verlieren… aber habe ich das nicht schon längst? Ein weiteres Mal lasse ich meine Finger sinken. Was werde ich ihm eigentlich sagen, wenn ich ihn sehe? Wie soll ich beginnen? Soll ich mich erst entschuldigen oder ihm direkt sagen, dass ich ihn liebe? Soll ich- Das plötzliche Öffnen der Tür lässt mein Herz stehen bleiben. Ein Augenpaar triff mich und ich erwidere den Blick mit klopfendem Herzen… dann wird der Blick fragend. „Kann ich dir helfen?“, fragt die junge Frau, die andere Mitbewohnerin Andris’, deren Namen ich vergesse habe, da sie mir nur ein Mal begegnet ist. Sie scheint mich gar nicht erst zu erkennen. „Ich…“ Mein Hals ist trocken. Ich wende den Blick ab und weiß, dass ich knallrot bin. Sie tritt aus der Tür heraus und schließt diese hinter sich. Sofort fährt ein aufhaltendes Zucken durch meinen Körper. Sie bemerkt es auch. „Willst du zu jemandem?“, fragt sie und ihre Stimme zeigt fast schon Belustigung, was die Sache nicht gerade angenehmer macht. „Andris…“, hebe ich meinen Blick langsam wieder. „Oh, das tut mir leid.“ Sie schließt die Tür ab und lächelt mich an. „Den hast du gerade verpasst… er ist vor zwanzig Minuten los zum Meddiz…“ Es ist, als würde jemand einen Stein auf meine Schultern fallen lassen. Ich fühle mich, als wäre der ganze Mut, den ich aufgebracht habe, um hier her zu kommen, zu einem kleinen Haufen zusammengefallen. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um. Ich steige die Treppe hinab und höre ihre Worte nicht mehr, die sie mir hinterher ruft… ich spüre nur die vollkommene Enttäuschung in meinem Inneren. Er ist nicht da. In meinem Auto sitzend, weiß ich natürlich, was ich nun tun sollte: ab zum Meddiz. Dennoch dauert es bestimmt zehn Minuten bevor ich es schaffe, den Schlüssel im Schloss herumzudrehen. Langsam wie nie fahre ich die Straßen entlang und als ich schließlich vor der Bar mit ihrem Leichtschild ankomme, tue ich mir schwer daran, mein Auto zu verlassen. Ich verkrampfe meine Finger um meinen Schlüsselbund und zögernd nur trete ich näher, kann immer besser durch die durchsichtigen Bereiche der Fenster sehen… und in dem Moment, in dem ich auf der richtigen Straßenseite angekommen bin, entdecke ich auch Andris. Er steht an der Bar und unterhält sich mit einem jungen Mann… er lächelt und seine Augen scheinen zu glänzen. Langsam mache ich noch einen Schritt näher an die Glasscheibe heran. Andris’ Lippen bewegen sich und er beugt sich etwas vor, damit der andere ihn besser versteht… wieder ein Lächeln… „Lass mich dich küssen“, fährt es mir durch den Kopf. Es war bei einem der ersten Male gewesen, an denen ich das Meddiz wegen ihm besucht hatte. Aufgrund von Projektstress hatten wir uns seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen… Ich weiß noch, wie gerne ich es tatsächlich auch getan hätte, und dennoch habe ich den Kopf geschüttelt. „Also wirklich, keine Geduld der Herr…“, habe ich gegrinst und ihn in die Seite gestoßen. „Wieso sollte ich, wenn ein so begehrenswerter Gast mich so verführerisch anlächelt?“ „Tue ich das? Danke für den Tipp. Ich werd es mir ganz schnell abgewöhnen!“ „Brauchst du nicht… ich mag das…“ Und dann hat er mich tatsächlich geküsst. Nur flüchtig und nur auf die Wange nahe meiner Lippen, aber er hatte es getan, mitten am Tresen der damals überfüllten Bar… Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Noch jetzt spüre ich die Hitze auf meinen Wangen, die immer wieder kommt, wenn ich an solche Momente denke. Dabei sind es so schöne Erinnerungen, so winzige, kleine Momente, über die ich mir nie wirklich Gedanken gemacht habe… dabei waren sie etwas so besonderes gewesen… Wieso fällt mir das bloß erst jetzt auf? Ich lasse den Kopf sinken, als ich sehe, wie Andris von seinem Gesprächspartner zurücktritt. Er grinst, macht eine wegwerfende Handbewegung und greift dann nach seinem Tablett. Im Vorbeilaufen berührt er den mir Fremden an der Schulter, was ein kleines Zucken durch meinen Magen jagt. Der Blick einer jungen Frau im inneren der Bar trifft mich, und ich drehe mich um. Nur meine Angst trennt mich jetzt noch von Andris… wieso kann ich sie bloß nicht endlich überwinden? Wieso schaffe ich es nicht, nun zu ihm da reinzugehen und mit ihm zu reden? Oder vielleicht sollte ich in diesem Moment auch einfach nur Taten sprechen lassen, ihn an mich ziehen und einfach küssen, vor all den Leuten. Ich schüttle den Kopf. So etwas würde Andris vielleicht machen, doch ich bin nicht der Typ dazu… ich habe nicht diesen Mut, ich habe noch nicht mal ein klein wenig Mut… Und während ich mich auf den Weg zurück zu meinem Auto mache, versuche ich mir einzureden, dass ich dies nur tue, weil es vollkommen sinnlos wäre, an einem so öffentlichen Ort mit Andris zu reden. ~ * ~ Tage vergehen... und den Mut, ein weiteres Mal zu Andris nach Hause zu gehen, bringe ich nicht auf. Ich muss daran denken, wie normal er in der Bar gewirkt hat, überhaupt nicht traurig, sondern fröhlich wie immer. Wahrscheinlich hat er sich damit abgefunden, dass ich nicht mehr zu ihm kommen werde… wenn ihn das überhaupt je beschäftigt hat… Zwei Tage nach meinem ersten Versuch, zu Andris zu gehen, schaffe ich es wenigstens, seine Handynummer zu wählen. Statt ihm geht die Mailbox dran und ich lege wieder auf. Eine halbe Stunde später noch mal genau das Gleiche… und auch am nächsten Tag. Ich spreche nicht auf die Mailbox, habe nicht den Mut dazu, auch nur bis zum Ende der Ansage zu warten. Was sollte ich auch sagen? Ich sollte direkt mit ihm reden. Es vergeht fast eine ganze Woche, in der ich nichts tue… und dann haben wir wieder Freitag… und Nina fragt mich, ob ich nicht Lust habe, mit auf die FH-Party zu kommen. Ich verneine dankend, beruhige sie, als sie besorgt nachfragt, ob es mir gut ginge. Sie und Florian machen sich Sorgen, immer noch oder immer mehr… Seit sie nun glücklich ein Paar sind, scheinen sie es nicht gut zu vertragen, mich deprimiert neben sich zu sehen… Ich kann das verstehen, und dennoch mache ich keine Anstalten, mich ihnen gegenüber zu verstellen. Erklären tue ich ihnen meine Situation aber auch weiterhin nicht. Die FH-Party nun sieht Nina als eine gute Gelegenheit für mich, mal wieder etwas Spaß zu haben – ich sehe es einfach nur als das, was es ist: eine Massenveranstaltung, mit der ich nichts anfangen kann… und wahrscheinlich würde ich eh nur die ganze Zeit daran denken können, wie Andris mich damals auf einer solchen Party angemacht hat… Der Abend bricht an und ich denke auch so an damals zurück… und dann ist es diese Erinnerung, die mich aufstehen und zu meinem Schrank gehen lässt. Eigentlich ist es doch die perfekte Gelegenheit, Andris zu sehen. Er wird mit Sicherheit da sein, immerhin liebt er Partys, hat das gesamte letzte Jahr nie eine FH-Party verpasst… Lange stehe ich da und nehme ein Kleidungsstück nach dem nächsten in die Hand. Dabei ist es so unwichtig. Nicht nur, dass Andris mich ohnehin schon in allem und nichts gesehen hat, es wird ihm wohl auch vollkommen egal sein, was ich trage. Aber mir hilft es, darüber nachzudenken, da ich so andere Gedanken verdrängen kann. Als ich mich schließlich auf den Weg mache, weiß ich nicht wirklich, wie ich vorgehen soll, wenn ich ihn wirklich antreffe… Immer wieder dieselbe Frage: was soll ich bloß sagen? Auf der Party angekommen, dränge ich mich schnell zum Kern der Menge vor. Hier halte ich Ausschau nach seinen kurzen schwarzen Haaren, doch kann ich sie auch nach genauster Suche nirgends entdecken. Enttäuscht drehe ich wieder um. Mit einer Cola setze ich mich auf die nahegelegene Treppe, die gleiche, auf der er mir auch sagte, dass er auf mich stand, und beobachte die Menge, sowie die Leute, die den großen Hauptraum betreten und verlassen. Viele wilde Köpfe sehe ich hier, so manche mit dunklem Haar, aber nirgends das, welches meine Fingerspritzen so gut kennen. Wie oft habe ich es zärtlich berührt, wie oft in Extase hindurchgestrichen... Wieso konnte ich bloß nicht früher begreifen, was es mir bedeutete? Irgendwann gesellen sich Florian und Nina zu mir. Auf ihre Verwunderung, dass ich doch hier bin, reagiere ich nur mit einem Zucken der Schultern… und so sitzen wir eine Weile zu dritt da und starren vor uns hin. Jede Sekunde schrumpft meine Hoffnung, ihn hier noch zu sehen, weiter. Vielleicht muss er arbeiten... Traurigkeit scheint mein Herz einzunehmen. „Ich gehe nach Hause“, verkünde ich und stehe auf. Es hat keinen Sinn, noch länger zu warten. Nina und Florian folgen mir die paar Treppenstufen hinunter. Nochmals sehe ich über die ganzen Leute hinweg, erwidere dann traurig Ninas Blick und lass mich von ihr zum Abschied in den Arm nehmen. Ich trotte übers Gelände zum Parkplatz hin, mit gesenktem Kopf. Mīļotā, höre ich ihn in meinem Kopf zu mir sagen und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich mochte es sehr, wenn er mich so nannte... Es hatte etwas Besonderes... Fast bei meinem Auto angekommen, vernehme ich von irgendwoher ein dumpfes Geräusch. Ich hebe meinen Kopf danach und bereue Sekunden später, es getan zu haben. Da ist er, gar nicht so weit von mir entfernt... und bei ihm ist irgendein anderer Typ. Das zärtliche Kosewort klingt nun grausam sarkastisch in meinen Ohren, während ich wie angewurzelt dastehe und die beiden sich vor meinen Augen einbrennen, wie sie sich unbemerkt von mir und der Welt heftig küssen. Mir wird speiübel. Ich reiße mich los, beschleunige meinen Schritt und springe ins Auto. Den Motor gestartet, rase ich an dem anderen Auto vorbei, in welchem er mit diesem Ersatz von mir rummacht. Aber was heißt Ersatz? Vielleicht hatte er ja schon viel länger was mit dem... vielleicht ist er einfach der nächste in der Reihe… Ich unterdrücke jegliche Tränen auf der Heimfahrt. Ich will nicht weinen! Immer und immer wieder höre ich seine Worte in meinen Ohren, doch sie haben ihre Wärme verloren. Er braucht mich nicht mehr. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang annehmen, dass alles wieder so werden könnte, wie früher, vielleicht sogar viel besser? War ich denn wirklich so naiv? Bei mir Zuhause angekommen, stehe ich zunächst traurig herum. Ich starre auf den Punkt, an dem wir uns zum ersten Mal küssten, starre auf so viele andere Flecken, in denen meine Erinnerungen mit ihm vergraben sind. Am liebsten würde ich jede einzelne auf der Stelle vergessen, doch mit einem Mal scheinen sie in meinem Kopf fest gebrannt, verankert mit meinen Gefühlen, die ich am liebsten ebenso hinausschleudern würde. Doch bei alle dem sehe ich auch das Bild vom Parkplatz vor mir. Wut packt mich und ich werfe Dinge durch den Raum. Eine Vase zerschellt an der Tür. Die Scherben ansehend, lasse ich mich auf dem Sofa nieder und versinke mit jeder Sekunde mehr darin. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang auf irgendetwas hoffen? ENDE KAPITEL 9 Kapitel 10: Vienatne -------------------- Samstag und Sonntag vergehen damit, dass ich alles tue, was ich mir schon seit einer Ewigkeit vorgenommen habe. Zuerst mache ich Hausputz, dann ordne ich jegliche Dateien, die auf meinem Computer verstreut waren. Ich stürze mich in die neuste Programmieraufgabe und rufe mal wieder meine Mutter an. Wir reden über Weihnachten und ich verspreche ihr, bereits am Vorweihnachtstag da zu sein, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Dann irgendwann... habe ich nichts mehr zu tun. Es ist der Sonntagnachmittag eines grässlichen Tages und die Gedanken wollen mich beim besten Willen einfach nicht loslassen. Ich gehe joggen, einen Teil meines üblichen Weges, wobei ich versuche, auf alle Kleinigkeiten zu achten, die mich umgeben. So ganz funktioniert das natürlich nicht, aber zumindest ein bisschen. Zwei Stunden sitze ich danach vor dem Fernseher und schaue den größten Schwachsinn. Als auch das nicht hilft, entscheide ich mich dazu, meinen Körper zu überlasten. Vielleicht kann ich dann heute wenigstens schnell einschlafen – das ist mein Plan. Dieser Plan führt mich zum Fitnessstudio, welches an diesem Abend sehr leer ist. Zunächst keuche ich mir auf dem Fahrrad einen ab, dann auf dem Laufband. Dies verlassend, trifft mich der Blick eines jungen Mannes. Er lächelt, als ich seinen Blick erwidere. Das Gerücht im Kopf, in Fitnessstudio viele schwule Männer finden zu können, wende ich mich wieder ab, gehe zur Hantelbank hinüber. Ich frage mich, ob es wohl stimmt. Denn... Gerüchte sind ohnehin immer eine Sache für sich. Ich würde zum Beispiel nie vor mir behaupten, dass ich sehr weiblich bin. Okay, ich koche gerne und ich bin vielleicht ab und zu ein wenig verweichlicht, aber ansonsten glaube ich nicht, dass ich irgendwie besonders stark mit den Händen rede, einen anderen Gang habe oder gar anders spreche. Eine solche Gliederung ist echter Schwachsinn, würde ich zumindest sagen, der ich nicht viele Schwule kenne. Tatsächlich habe ich nie wirklich mit „Meinesgleichen“ auseinandergesetzt. Ich war zum Beispiel noch nie in einer Schwulenbar, obwohl ich weiß, wo in meiner Nähe welche sind, und ich durchforste das Internet auch nicht nach allen möglichen Schwulenseiten. Eigentlich hatte ich nie das Bedürfnis, andere Schwule kennenlernen zu wollen, da ich mich nie als etwas Besonderes gesehen habe und somit auch keine „besonderen“ Freunde brauche. Wenn ich ehrlich bin, ist Andris der einzige Schwule, mit dem ich mich mehr auseinandergesetzt habe. Es gibt ein lautes, dumpfes Geräusch, als ich die Stange mit den Gewichten hinunter krachen lasse. Ruckartig richte ich mich auf. Andris, Andris, immer Andris... verdammt noch mal, ich habe keinen Bock mehr darauf! Da war es ja sogar leichter, jahrelang über Florian nachzudenken – aber vielleicht macht das gerade auch nur die Wut, die ich in mir trage. Ich sehe mich um. Dabei treffe ich wieder auf den Blick des Mannes, welcher mich auch schon zuvor angesehen hat. Nun wirkt der Blick noch eindringlicher, das Lächeln noch reizvoller. Nein, das bilde ich mir doch nicht nur ein! Ich stehe auf und gehe zu meiner Sporttasche, die nur unweit von ihm entfernt steht. Ich nehme mir die Flasche zum Trinken heraus, lasse mir das Wasser die Kehle herunter laufen und schiele zu dem Mann hinüber. Noch immer, mittlerweile fast verführerisch lehnt er an einem der Beistelltische. Mir wird heiß, auch wenn dies wohl eher durch den ganzen Sport kommt... Ich trete einen Schritt auf ihn zu, lächle, bis mir bewusst wird, was ich da eigentlich tue. Sofort fahre ich wieder herum, schnappe mir meine Tasche und mache nen Abgang Richtung Duschen und Sauna. Letzteres betretend, treffe ich auf nur einen weiteren Mann, der ausgestreckt auf einer der Bänke liegt. Ihm gegenüber lehne ich mich gegen die Wand und schließe die Augen. Es reicht für heute, ich sollte bald nach Hause gehen... Ich versuche, mich zu entspannen. So da sitzend, in der feuchten Hitze des Raumes, muss ich daran denken, wie ich ein Mal mit Andris zusammen eine Sauna besucht habe. Er sagte, dass er nicht wirklich ein Fan davon wäre, doch damals konnte ich ihn dafür gewinnen. Ich glaube, es ist im März gewesen... Ich weiß noch, wie er in dem weißen Handtuch neben mir saß, welches er partout nicht abnehmen wollte. Ich lachte über sein Schamgefühl, das so gar nicht zu seinem sonstigen Charakter passte, doch er ließ sich davon nicht beirren. So saßen wir damals keine fünf Minuten in der Sauna und zum ersten Mal schloss ich dabei nicht die Augen. Ich konnte sie einfach nicht von seinem verschwitzt glänzenden Körper lassen und er seine nicht von meinem... Irgendwann nahm ich die Beule unter dem Handtuch wahr und konnte selbst nicht mehr an mir halten. Ich riss ihn an der Hand von der Bank herunter und schleifte ihn mit mir, hinein in eine der Umkleidekabinen, in der wir uns so geräuschlos wie nur möglich liebten... Ein leichtes Stöhnen entweicht mir. Jetzt noch habe ich das Gefühl, seine Hände überall zu spüren... ganz genau sogar... Ich reiße die Augen auf und starre in zwei blaue. Sie grinsen, viel zu nah an mir dran. Erschrocken stöhne ich nochmals auf, als er fester zugreift. Das Lächeln in seinem Gesicht wird stärker, während ich versuche, jegliche Laute zu unterdrücken. Ich spüre mich gelähmt, unfähig, auch nur einen Knochen zu bewegen. Meine Augen wandern herum. Der Mann von zuvor ist weg, bis auf uns beide ist niemand hier... Als ich wieder hinsehe, ist er mit einem Mal noch näher, will mich küssen. Heißer Atem stößt mir gegen den Hals und mein Stöhnen vernehme ich wie aus weiter Ferne. Schneller wird der Griff, heftiger die Erregung in meinem Unterleib. Ich sehe den Typen an, werfe den Kopf zurück und beschließe, mich in dies Gefühl fallen zu lassen, nicht mehr zu versuchen, meinen schweren Körper zu bewegen. Die Augen schließend, stöhne ich auf... und sehe Andris vor mir. Augenblicklich stoße ich ihn von mir und springe auf die Füße. Verdutzt wird mein Blick erwidert, als ich mit einer Mischung aus Schreck und Erregung ringe, keuche. „Sorry, hab ich-“ Ich reiße mein Handtuch an mich, nicht fähig, ihm zuzuhören. Es mir um die Hüften schlingend, verlasse ich fluchtartig den nebligen Raum, hoffend, dass mir keiner begegnet, der die deutliche Abzeichnung meiner Erregung sehen könnte. Unter der Dusche drehe ich das Wasser eiskalt und erschaudere bis auf die Knochen, während ich das Gefühl habe, mich nur mit Mühe auf den Beinen halten zu können. Wieso bloß? Es wäre so leicht gewesen, sich fallen zu lassen, mich zum Höhepunkt tragen zu lassen... es wäre so verdammt einfach... und doch, doch konnte ich es einfach nicht tun. Ich konnte den einzigen Menschen, mit dem ich je dieses heftige Verlangen geteilt habe, nicht betrügen. Eine Träne läuft mir aus den Augen, welche ich sofort mit dem kalten Wasser davonschwimmen lasse. Wieso kann ich denn nicht alles, was ich mit ihm erlebt habe, einfach vergessen? Mich einigermaßen beruhigt und angezogen verlasse ich das Fitnessstudio ziemlich fluchtartig. Bloß nicht diesem Typen begegnen, ist meine einzige Intention, und erleichtert sitze ich daraufhin im Auto. Der Nachhauseweg kommt mir heute unglaublich kurz vor, was vielleicht daran liegt, dass ich eigentlich gar nicht nach Hause will. Dort erwartet mich nur die Stille meiner eigenen vier Wände. Sonst bin ich in solchen Momenten immer zum Meddiz gefahren oder zu Andris nach Hause... immer zu Andris. Ich trete aufs Gas und beschleunige den Wagen um die nächsten Ecken herum. Ich schlage einen anderen Weg ein und bringe mich schließlich mit quietschenden Reifen zum Stehen. Ich steige schnell aus, noch mit dem Gedanken, dass ich bestimmt stören werde, im Kopf. Aber ich muss es versuchen. Als Florian mir die Tür öffnet, sieht er in der Tat mehr als nur ein bisschen überrascht drein. „Störe ich?“, frage ich höflicherweise, sehe an ihm vorbei Ninas Jacke an der Gardarobe hängen. Etwas zögernd schüttelt er den Kopf. „Nein. Nina ist da, aber komm ruhig rein.“ „Wahrscheinlich sollte ich doch besser gehen“, mich schon wieder verfluchend, dieser Kurzschlussreaktion nachgegangen zu sein. „Quatsch. Du kommst doch nicht ohne Grund, oder?“ Langsam nicke ich. „Ich muss... Können wir reden?“, sehe ich ihn an und weiß, dass ich in diesem Moment so verzweifelt aussehen muss, wie ich mich fühle. „Natürlich!“, kommt es sofort. Mit einem dankbaren Lächeln trete ich nach ihm in die Wohnung und schließe die Tür, lasse ihn voran gehen und bleibe stehen, als ich sie reden höre. Dann kommen Schritte in den Flur. Als ich den Blick hebe, steht Nina vor mir. Sie lächelt und umarmt mich. „Tut mir leid“, sage ich. „Ach quatsch. Ich hab ihn immer. Manchmal muss er auch noch dir gehören.“ Sie grinst und greift nach ihrer Jacke. Während die beiden sich verabschieden, verschwinde ich zum Bett hin. Ich sinke in die Kissen und bin froh zu liegen. Innerlich fühle ich mich unglaublich ausgelaugt... „Worum geht es?“, fragt Florian, als er sich neben mich aufs Bett setzt. Ich schließe die Augen, seine Finger in meinem Haar spürend, was mich wenigstens etwas zu beruhigen scheint. Es bringt mein Herz ein klein wenig zur Ruhe. Ich seufze und frage mich, wo ich bloß anfangen soll. „Der Name Andris sagt dir was, oder?“ „Das ist dieser Photoniker, oder?“ Ich nicke widerwillig. „Was ist mit ihm?“ „Ich liebe ihn.“ Die Hand in meinen Haaren hält inne. Blinzend öffne ich die Augen und sehe zu Florian, der meinen Blick verwirrt erwidert. „Aber… Ich dachte du... naja...“ „In den letzten Monaten hat sich ziemlich viel in mir verändert, ohne dass ich es selbst gemerkt habe...“, gebe ich zögernd zu, bevor ich mich dazu entschließe, dass es keinen Sinn hat. Ich muss ihm alles von vorne erklären. Als ich fertig bin, habe ich ein paar Tränen unterdrücken müssen und das Bedürfnis, an der ein oder anderen Stelle vor Ironie laut aufzulachen. Eigentlich ist das ganze ziemlich dämlich, wenn man es so betrachtet. Alleine schon die Situation, dass ich ausgerechnet Florian, in den ich so lange verliebt gewesen bin, nun von meinem neuen Liebeskummer erzähle, ist doch irgendwie Ironie des Schicksals. Vor noch ein paar Monaten wäre das vollkommen undenkbar gewesen! „Und du bist sicher, dass er mit diesem Typen zusammen ist?“, fragt Florian, als ich bei der Situation auf dem Parkplatz angelangt bin. „Nein, aber das tut auch nichts zur Sache. Er hat jemand anderen gefunden... das ist alles, was ich wissen muss.“ „Aber das...“ „Sieht es für dich nach irgendwas anderem aus?“ „Naja... nicht auf Anhieb... aber vielleicht... glaubst du denn gar nicht, dass du ihm was bedeutet haben könnest?“ „Ich war wahrscheinlich schon irgendwie ein Freund, aber ich denke nicht, dass er auch so für mich... gefühlt hat.“ Ich seufze und lehne mich gegen die Wand. „Er hat mir so viel wegen dir geholfen, mir immer wieder gut zugeredet...“ Meine Finger spielen mit der Decke unter meinen Füßen und ich habe das Bedürfnis, sie darin zu verkrampfen. „Ich weiß nicht…“, höre ich Florians zweifelnde, nachdenkliche Stimme. „Wenn man jemanden liebt, will man dann nicht, dass er... naja... glücklich wird? Und da du nun mal gesagt hast, dass du mit mir-“ „Das ist Wunschdenken!“, unterbreche ich ihn und lasse von der Decke ab. „Und außerdem hatte er so schnell jemand anderen, dass es nicht schlimm für ihn sein kann...“ Vielleicht merkend, dass ich nicht wirklich von diesen Gedanken abzubringen bin, hört Florian auf, mir Ratschläge zu geben. Stattdessen lässt er es zu, dass ich bis weit nach Mitternacht immer die gleich Dinge wiederhole und am Ende heulend wie ein Mädchen in seinen Armen liege. Es sollte mir peinlich sein, aber in diesem Moment bin ich einfach nur froh, nicht alleine zu sein, bin ich froh, endlich mit jemandem darüber zu sprechen. Und wieder könnte ich lachen, wenn es nicht so traurig wäre, denn sieht es nicht so aus, als haben Andris und Florian schlicht und einfach die Rollen getauscht, die sie in meinem Leben spielten? Das ist so was von bescheuert! ~ * ~ Man kann schon sagen, dass mich Florians Worte trotz allem ein wenig nachdenklich stimmen. Ganz so doof kommt mir der Gedanke, den ich sofort als Wunschdenken abgetan habe, dann doch nicht mehr vor. Im Gegenteil, umso länger ich darüber nachdenke, umso mehr gefällt er mir eigentlich sogar... Zwei Tage lang hält dies Gefühl der leichten Hoffnung allerdings nur, bis sie wieder vollends im Keim erstickt wird… dann nämlich, als ich am Mittwoch Andris in der Mensa sehe. Es ist nicht nur die Tatsache, dass er mich nicht eines Blickes würdigt, sondern auch die, dass er sich mit genau dem Typen unterhält, mit dem ich ihm im Auto gesehen habe… und spätestens, als Andris ihm die Hand fast zärtlich auf die Schulter legt, bleibt mir das Essen im Halse stecken und jeglicher Hoffnungsschimmer verschwindet auf Nimmerwiedersehen. In den darauffolgenden Tagen bis Weihnachten kommt es noch zwei Mal vor, dass ich die beiden gemeinsam sehe, einmal noch in der Mensa und das andere Mal in ein angeregtes Gespräch vertieft in der Bibliothek… Als ich das Buch, welches ich eigentlich ausleihen wollte, mit einem lauten Knall zurück auf den Tisch pfeffere, sehe ich noch aus den Augenwinkeln, wie sich Andris’ Blick hebt… doch die Trauer und die Wut in mir lassen es nicht zu, dass ich mich zu diesem Blick umdrehe. Mit schnellen Schritten und verkrampften Händen gehe ich davon und tue schwer daran, nicht jeden Moment schon wieder in nutzlose Tränen auszubrechen. Es ist zu spät… es ist vorbei… Und wie vorbei es ist. Meine gesamte Familie merkt mir an den Weihnachtstagen an, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Meiner Mutter ist im Gesicht anzusehen, welche Sorgen sie sich macht, doch ich bringe keine Kraft dazu auf, mich zusammenzureißen. Gefragt, was ich habe, werde ich weder von meiner Mutter, noch von meinem Vater… nur mein Bruder spricht mich schließlich darauf an. Mit ihm im geheizten Wintergarten sitzend, erzähle ich ihm kurz und knapp, dass ich unglücklich verliebt bin, und bitte ihn dann, mir einfach was von seinem Leben zu erzählen. Ich will lieber zuhören als reden. Ihm also lauschend, drehe ich mir aus seinen Utensilien eine Zigarette. Papier spannen, Tabak rein, drehen, lecken, kleben, fertig. Erst dann fällt mir ein, dass ich mir das Rauchen schon vor vier Jahren abgewöhnt habe. Blöde Angewohnheit, man wird sie nie wieder los. Danach kaue ich lustlos auf ein paar Keksen meiner Mutter herum. Sylvester verbringe ich mit Nina, Florian, Corinna, Hendrik und ein paar anderen Freunden. Hier folgt dann auch mein schlimmster Absturz… und zwar als mir bewusst wird, was vor einem Jahr geschehen ist: Das erste Mal Sex, das erste Mal Andris ganz nah... Florian braucht lange, um mich zu beruhigen, damit ich mit Heulen und dem sinnlosen Betrinken aufhöre. Anschließend hänge ich ewig über einer Toilettenschüssel und verfluche die Gefühle, dass sie nicht ebenso wie der Alkohol gepaart mit Gallenflüssigkeit verschwinden können. Wenn all das noch unerträglicher werden kann, dann ist der Grund dazu wohl die Prüfungszeit, die nicht auf sich warten lässt. Sechs Prüfungen sind es, die es dieses Jahr zu bewältigen gilt, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich es schaffen soll, mich auf die ganzen verschiedenen Dinge zu konzentrieren… Von den Vorlesungen habe ich kaum etwas mitbekommen, wie soll ich also nun all das in meinen Kopf hineinbekommen? Hier ist es Nina, welche eine unglaubliche Geduld an den Tag legt. Während Florian nach den Vorlesungen meistens arbeiten geht, verbringt sie mit mir ihre freie Zeit und paukt… sie erklärt mir, was wir in den letzten Wochen gemacht haben, wie es funktioniert, selbst wenn sie das ein oder andere selbst nicht so ganz versteht. Tatsächlich nimmt mein Kopf sogar einiges von dem auf, was sie mir erzählt… was vielleicht daran liegt, dass ich froh bin, endlich mal an etwas anderes denken zu können. Wohl nur durch diesen freundschaftlichen Einsatz schaffe ich es letztendlich tatsächlich, fünf meiner sechs Prüfungen zu bestehen – auch wenn es teilweise sehr knapp ist und ich mir sicher bin, dass ich sie in einer anderen Situation definitiv besser hinbekommen hätte. Doch das ist vollkommen egal. Nach den Prüfungen bricht der nächste Horrortrip an: die Semesterferien! Alles mache ich, um auch nur einen Tag zu erleben, an dem ich nicht an Andris denken muss. Voll und ganz klappt dies natürlich nie… doch gegen Ende Februar schaffe ich es, meinen Kopf endlich wieder auf andere Dinge zu konzentrieren – wenigstens so lange ich nicht daran denke, dass ich bald wieder zur FH muss… Naja, und spätestens abends im Bett ist es mit Ablenkung eh wieder vorbei. Zu oft habe ich es mit ihm geteilt, um nicht an ihn erinnert zu werden. ~ * ~ Und dann? Ehe ich mich versehe ist es tatsächlich schon wieder März. Die ersten Tage des Semesters sind vergangen und auch heute habe ich bereits meine erste Vorlesung hinter mich gebracht. Andris habe ich in den letzten Tagen noch nirgends gesehen – und ich bin unglaublich froh darüber. Nun auf Beginn des Praktikums wartend, surfe ich im Netz herum. Hierbei verschlägt es mich auf die Seite der FH, wo ich zunächst einmal die Termindaten des Semesters abschreibe, anschließend den Mensaplan der Woche studiere und dann an den Nachrichten hängenbleibe… Fast bin ich auch hier schon wieder weg, als mir plötzlich ein Wort entgegen springt. Wie versteinert halte ich in jeglicher Bewegung inne. Es ist nicht mal dieses Wort, das mich so erschüttert, sondern alles, was damit zusammenhängt, alles was mit einem Mal von irgendwo ganz tief in meinem Gehirn wieder hervor kriecht… Alles und ein einziger Satz, den er damals zu mir gesagt hat. Ich springe auf, stürme aus dem Raum, nicht auf die Rufe meiner Freunde achtend. Schnell sitze ich im Auto und sause den Parkplatz hinunter. Wie konnte ich es vergessen? Wie konnte ich diese Worte vergessen? Sie haben mich doch schon damals auf eine gewisse, mir vor mir selbst peinliche Weise glücklich gemacht. Wann war das bloß? Anfang des Sommers? Nein, ich glaube es war Ende August... Er hat so viel darüber geredet, hat meine Ratschläge hören wollen, war sich nicht sicher, wie er sich am besten für die Praxissemesterstelle bewerben sollte. Er hatte Angst davor, eine Stelle zu bekommen, die ihm nicht zusagen würde... oder wo ihm die Umgebung nicht gefiel. Eines Abends kurz vor dem Schlafen war es dann, dass er davon redete, dass er schon immer raus aus unserer Stadt gewollt hatte. Er erzählte mir, dass er immer vorgehabt hatte, in den Süden Deutschlands zu ziehen, wenigstens für dieses halbe Jahr. Dann verstummte er, denn er hatte mein trauriges Gesicht gesehen... Ich springe aus dem Auto heraus, bin froh, die Tür zum Gebäude offen vorzufinden. Ich stürze die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. Ich strecke die Finger nach der Klingel aus, doch halte ich im selben Moment inne. Mein Herz setzt aus, als meine schlimmste Befürchtung wahr wird: Dort wo einst sein Name stand, steht nun ein fremder. Sein Name ist verschwunden... Andris ist verschwunden. Die Beine geben mir nach, als Erinnerungen in meinem Kopf über mir zusammenbrechen. Damals, er hat mich lächelnd in den Arm genommen, hat mich geküsst und mir durch die Haare gestrichen... er hat zärtlich lettische Worte geflüstert, die ich nicht verstanden habe, und hat dann etwas zu mir gesagt, das ich in den folgenden Monaten vergaß, das ich bis heute vergessen habe – Vielleicht weil es mir schon damals so peinlich gewesen ist, dass ich kein Wort dazu gesagt habe. Nun aber erinnere ich mich, als wäre es soeben erst geschehen... und nun wüsste ich auch, was ich darauf antworten würde. Die Worte drehen sich in meinem Kopf herum. Wie konnte ich sie nur vergessen? Wie konnte ich das einzige Mal, dass er wirklich über Gefühle mir gegenüber sprach, einfach so vergessen? Tränen sickern mir die Wangen hinab, während ich es ihn noch immer ganz genau sagen höre: „Ich bleibe hier. Es ist mein Ernst, Mīļotā. Wenn du willst, dass ich bleibe, dann bleibe ich. Ich kann mir keine schönere Stadt vorstellen als diese, wenn du nicht in ihr bist.“ ENDE Kapitel 10 Kapitel 11: Mīla ---------------- Noch immer kauere ich am Boden vor der WG-Tür, hinter der ich ihn ein Jahr lang habe vorfinden können. Heute ist dies nicht mehr möglich, heute ist er weg. Was mache ich denn jetzt? Ich rapple mich auf, starre den neuen Namen unter der Türklingel an. Wieso konnte es mir nicht vorher einfallen, nur ein klein wenig früher? Er ist bestimmt noch nicht lange weg. Seit einem Monat... höchstens. Wäre ich doch vorher zu ihm gegangen... hätte ich doch damals den Mut gefasst, ins Meddiz zu gehen… oder hätte ich ihn noch mal versucht anzurufen… vielleicht sogar, nachdem ich ihn mit diesem Kerl gesehen habe... vielleicht hätte es doch eine Chance auf Versöhnung gegeben... vielleicht hätte er mir verziehen... denn ich war ihm auch wichtig. Mit einem Mal weiß ich, dass ich ihm wichtig war. Er wäre hier geblieben – wegen mir! Das Gefühl eines Tränenbaches unterdrückend, drehe ich mich zum Gehen. Langsam trete ich die Treppenstufen herunter, mich fragend, was ich denn jetzt machen soll. Gibt es überhaupt irgendetwas, das ich tun kann? Ich will ihn doch immer noch so sehr... und mehr denn je wünsche ich mir, ihm meine Gefühle erklären zu können, denn zum ersten Mal glaube ich, dass er sie verstehen würde. Auf dem Absatz mache ich kehrt. Ich sehe die Treppenstufen wieder hinauf und folge ihnen dann erneut zur Klingel. Ist es nicht einen Versuch wert? Sollte ich jetzt nicht alles tun, um wenigstens noch ein letztes Mal mit ihm zu sprechen? Als ich die Klingel betätige, rast mein Herz, ebenso, als Cora vor mir steht, welche mich nun noch skeptischer ansieht als je zuvor. Ich glaube, sie konnte mich noch nie leiden… „Andris wohnt nicht mehr hier“, sagt sie, als ich sie noch nicht mal grüße, da ich noch nach den richtigen Worten suche. „Ich weiß... Kannst du mir vielleicht sagen, wo er jetzt wohnt?“ Ihr Blick wird zunehmend kritisch. „Du warst sehr lange nicht mehr hier. Ihr hattet nichts mehr miteinander zu tun, oder?“ „Ja“, gebe ich zu. „Dann kann ich es dir nicht sagen, tut mir leid.“ „Aber-“ „Es hat schon einen Grund, dass du die Adresse nicht kennst, oder?“ Ihr Blick wird ziemlich schneidend. „Ja, aber das-“ „Tut mir leid“, unterbricht sie mich erneut und schüttelt den Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein!“, platzt es aus mir heraus. „Du hast doch keine Ahnung, was passiert ist! Wie kannst du-“ „Es geht mich nichts an, macht das unter euch aus!“ „Versuch ich ja! Aber dazu musst du-“ „Sagt mal Leute, geht das auch leiser?“, tritt in meinen Augenwinkeln ein Typ aus Andris’ Zimmer hervor. Wütend will ich ihn anfahren, dass es ihn nichts angehe, als es mir die Worte in der Kehle stecken bleiben. „Du?“, entfleucht es mir stattdessen. „Ich?“, werde ich verdattert angesehen. „Kenne ich dich?“ Ich schaffe es nicht, zu antworten, stattdessen wende ich all meine Kraft dazu auf, mein Herz am Schlagen zu behalten. Das kann doch nicht wahr sein, er kann doch nicht... doch nicht ausgerechnet er. „Was will er?“, höre ich ihn zu Cora sagen, während ich noch immer in das bekannte Gesicht sehe. Es ist kein Irrtum, niemals könnte ich ihn verwechseln. „Er will Andris’ Adresse, aber-“ „Was machst du hier?“, schaffe ich es, meinem Mund wieder Laut abzuringen. Ich funkle den Typen feindselig an. „Ich wohne hier?“, kommt es mit einem Ton als wäre ich blöd und er deutet zur Tür hinter sich. „Wieso? Wieso ausgerechnet hier? In Andris’ Zimmer... das...“ Diese Tatsache zerschlägt all meine Hoffnung, die ich mit der Erinnerung an Andris’ Worte aufgebaut habe, wieder zu Nichts. Ich bekomme keine Antwort auf meine Worte. Stattdessen verschwindet Cora kopfschüttelnd und dieser Typ sieht mich noch immer verwirrt an. Kaum schaffe ich es, seinen Blick zu erwidern. Ich weiß immer noch so genau, wie es aussah, als er und Andris sich küssten. Mir wird übel. „Hey? Geht es dir gut?“, werde ich an der Schulter berührt und merke erst da, dass mir für eine Sekunde schwarz vor Augen geworden ist. Ich schlage seine Hand weg. „Nein!“, fauche ich. „Und fass mich nicht an!“ „Okay, jetzt mal langsam!“ Er wirkt viel zu ruhig, wofür ich erst recht auf ihn losgehen wollen würde. „Erklär mir doch mal, woher du mich kennst und was du mit Andris zu tun hast.“ Es ist grausam, den Namen aus seinem Mund zu hören. Wie oft er ihn wohl gestöhnt- Ich verdränge jegliches Bild aus meinem Kopf. Wieso bin ich eigentlich noch hier? „Einen scheiß werd ich!“, zische ich. „Das ist doch jetzt eh alles egal! Er wollte nur seinen Spaß! Den will er immer… er…“ Ich schüttle den Kopf als mir etwas die Luft zum Atmen raubt. „Ich sollte gehen“, presse ich hervor und mache auf dem Absatz kehrt. Das hat doch keinen Sinn! „Warte mal!“ „Was?“, bleib ich nicht stehen. „Kann es sein, dass du... Bist du Lukas?“ Fast verfehle ich die nächste Stufe, klammere mich am Treppengeländer fest. Dann fahre ich zu ihm herum und sehe zu ihm auf. Plötzlich schaut er nicht mehr misstrauisch. „Ja...?“ Ein Lachen entkommt ihm, was mich zusammenzucken lässt. In der nächsten Sekunde verschwindet er aus meinem Blickfeld. „Warte!“, höre ich ihn nur noch, gefolgt von weiteren Lauten des Lachens. Vollkommen verwirrt steige ich die paar Treppenstufen wieder hinauf. Keine gefühlten zwanzig Sekunden später steht er wieder vor mir. Er drückt mir einen Zettel in die Hand und lächelt. „Bitte“, lächelt er. Ich blicke hinab, erkenne eine Freiburger Adresse. Meine Finger krampfen sich darum. „Das… So weit...“, stottere ich. Ein Nicken. „Eigentlich hatte er hier schon eine Stelle, aber dann hat sich einiges geändert…“ Er zuckt mit den Schultern, mit einem aber irgendwie wissendem Blick. In mir verkrampft sich immer mehr. Er hätte hierbleiben können, wenn ich nicht... wenn... „Danke!“, sage ich. „Vielen Dank!“ Damit flitze ich die Stufen hinunter, immer mehrere auf einmal nehmend. Die Kanten des Zettels spüre ich in meiner Hand, während es die Hoffnung schafft, daraus hervorzukriechen und in mich einzugehen. Oh bitte, bitte, lass es nicht zu spät sein! „Du bist was?“, kommt es mir ungläubig aus meinem Handy entgegen. „Im Zug nach Freiburg“, wiederhole ich, mit einem Lächeln auf meine Fahrkarte sehend. Zwei Mal umsteigen, insgesamt mehr als eine Stunde Verzögerung aufgrund der Aufenthalte... und dazu noch fast sieben Stunden Fahrt. Es ist mir egal. Zwar werde ich erst um kurz nach 22 Uhr da sein, aber es ist noch heute... Heute noch werde ich ihn sehen können! „Aber wieso?“ „Andris. Ich muss mit ihm reden.“ „In Freiburg?“ „Er macht da sein Praxissemester.“ „Oh. Und woher weißt du das so plötzlich?“ „Das ist kompliziert. Kann ich es dir erzählen, wenn ich wieder da bin?“ „Wann wird das sein?“ „Ich weiß nicht“, lächle ich mein undeutliches Spiegelbild an. „Wenn alles gut läuft, nicht vor nächster Woche.“ „Dass du da hinfährst... das verspricht also was Gutes?“ „Ich hoffe es.“ „Dann drück ich dir die Daumen.“ „Paldies“, grinse ich und das warme Gefühl in mir verstärkt sich. „Äh... was?“ „Das heißt Danke.“ Das erste Stück bis zum Umsteigen vergeht schnell – kein Wunder, ist es ja auch nur eine knappe dreiviertel Stunde – doch als ich in den zweiten Zug steige, der mich in viereinhalb Stunden von Hamburg nach Mannheim bringen soll, weiß ich sofort, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkommen wird. Ich versuche, mich mit dem Buch, welches ich heute aus der Bibliothek mitgenommen habe, abzulenken, was natürlich eher schlecht als recht klappt. Immer wieder muss ich einen Absatz doppelt lesen und verstehe oft selbst dann nicht den Sinn in dem, was da gerade in den Worten stand. Schließlich gebe ich es auf und stecke das Buch weg. Ich lehne mich gegen die Scheibe und sehe in die trübe Landschaft hinaus, welche an mir vorbeirast. Irgendwo in unserem Großraumabteil bettelt gerade ein Kind seine Mutter nach etwas an, ein Stück vor mir streitet leise ein junges Pärchen. Ansonsten ist es still. Ich schließe die Augen und kann es mir nicht verkneifen, zu lächeln. Obwohl es eher kalt hier ist, habe ich das Gefühl einer wohligen Wärme in mir drin. Natürlich, ich weiß nicht wie es laufen wird, vielleicht ist es zu spät und Andris will schon nichts mehr von mir wissen - aber stehen die Chancen nicht auch gut, dass er sich freut, mich zu sehen? Er wollte wegen mir in Lübeck bleiben, hatte sogar schon eine Stelle – ist das nicht schon eine Art Liebesbeweis? Natürlich, da ist immer noch dieser Typ, der mich stört. Sie haben sich geküsst, ich habe sie ein paar Mal zusammen gesehen und er wohnt nun in Andris’ altem Zimmer. Es ist nicht gerade leicht, meine Eifersucht zu unterdrücken, obwohl ich mir immer wieder sage, dass es dafür eine leichte Erklärung geben wird. Immerhin kannte er meinen Namen und hat mir daraufhin direkt Andris’ Adresse gegeben. Er muss also von mir gesprochen haben... Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein. Was heißt schlafen, ich hab das Gefühl, jeden Stopp mitbekommen zu haben, aber wirklich werde ich erst wach, als Mannheim angesagt wird. Sofort sitze ich wieder senkrecht Gleich nur noch ein bisschen, nur noch etwas mehr als eine Stunde, dann bin ich endlich da! In der düsteren Helligkeit des letzten Zuges schaffe ich es nicht, meine Augen nochmals zuzutun, aus Angst, die Haltestelle zu verpassen. Ich starre die Dunkelheit durchs Fenster an, die wenigen Lichter in der Ferne und versuche mir vorzustellen, was auf mich zukommen wird. Wie wird er reagieren, wenn ich plötzlich vor der Tür stehe? Wird er lächeln? Wird er einfach nur erstaunt aussehen? Oder wird sein Blick wütend werden? Vielleicht wünsche ich mir eine Mischung aus allem. Wenn er wütend wird, dann kann ich wenigstens erklären, was im Herbst los war... und wenn er lächelt, weiß ich, dass diese Zugfahrt nicht umsonst war... Aber was werde ich sagen, wenn ich vor ihm stehe? Was ist das Wichtigste, was ich loswerden will? Dass ich ihn liebe, natürlich... aber auch so viele andere Dinge. Oh man, ich freue mich so darauf, ihn zu sehen! Als der Zug endlich am Freiburger Hauptbahnhof zum Stillstand kommt, steige ich in die Kälte hinaus und stehe einen Moment unschlüssig herum. Ich habe dies alles so überstürzt und mir dabei überhaupt keine Gedanken gemacht, wie ich eigentlich zu seiner Wohnung kommen werde... Zögernd gehe ich den Weg bis zum Hauptausgang, wo aber auch schon meine Antwort auf mich wartet. In das vorderste Taxi steigend, nenne ich die Straße. „Oh, das ist nicht weit“, lächelt die Fahrerin. „Soll ich Sie trotzdem hinbringen?“ „Ja bitte. Ich will nicht riskieren, mich zu verlaufen.“ „In Ordnung.“ Sie startet Auto und Zähler und fährt vom Taxiparkplatz hinunter. Mit schlagendem Herzen starre ich die Straßenlaternen an. „Sie sehen zufrieden aus, geht es zu ihrer Freundin?“ „Nicht direkt... Aber hoffentlich zu meinem zukünftigen Freund“, antworte ich ohne zu zögern, lächle in mich hinein und bete, dass alles gut gehen wird. „Oh, das ist schön. Ich hoffe es klappt.“ „Ja, das hoffe ich auch. Danke.“ Ich lächle dem Rückspiegel mit den Lachfalten um die Augen entgegen und frage mich irgendwie auf einmal, wie meine Mutter wohl reagieren wird, wenn ich ihr Andris vorstellen werde. Sie kam nie so wirklich mit meinem Schwulsein klar, auch wenn sie meinte, dass sie es akzeptieren würde. Sogar mein Vater schien weniger Probleme damit zu haben. Nur wenige Minuten später hält das Taxi. „Da sind wir“, lächelt die Dame und nennt mir den zu zahlenden Preis. Ich drücke ihr den Schein und ein paar Münzen Trinkgeld in die Hand. „Einen schönen Abend... und viel Glück!“ Dankend erwidere ich die Aussage und steige aus. Als das Taxi weggefahren ist, stehe ich noch immer an der gleichen Stelle. Vor mir steht ein dreistöckiges, weißes Gebäude und die Hausnummer zeigt mir, dass ich genau richtig bin. Ich habe das Gefühl, umzukippen vor Nervosität und Freude. Auf das Haus zugehend, suche ich nach Worten, welche ich in die Gegensprechanlage sagen kann. Sie fallen mir ein... doch ich brauche sie nicht. Auch nach dem dritten Klingeln schweigt mich die Gegensprechanlage noch immer an. Vollkommen enttäuscht lasse ich die Hand sinken. „Er ist nicht da“, flüstere ich mir selbst zu, um mir die Tatsache zu verdeutlichen. Er ist einfach nicht da. Ich trete ein paar Schritte zurück und starre die Häuserfront hinauf. Ein paar Fenster im zweiten Stock sind erleuchtet, auf einer Seite aber herrscht die Dunkelheit. Er ist nicht da. Ein Zittern ergreift mich, als es mir wirklich bewusst wird. Ich sehe auf meine Uhr, welche mir 22:18 anzeigt. Wo ist er denn noch um diese Zeit? Es ist doch mitten in der Woche... Nicht wissend, was ich tun soll, gehe ich das Stück wieder zur Haustür zurück. Ich lasse mich auf der obersten Stufe nieder und stütze den Kopf in meine kalten Hände. Und nun? Warten? Minuten vergehen... eine halbe Stunde... Ich beginne zu frieren und versuche meine Hände in meinen Jackentaschen zu wärmen, hilflos nach einem Ausweg suchend. Was, wenn er nicht nach Hause kommt? Was, wenn er einen neuen Freund hat und heute bei ihm übernachtet? Was wenn- „Lu... kas?“ Mein Kopf fährt in die Höhe, die Stimme sofort erkennend. Und tatsächlich, da steht er... zusammen mit einem anderen, sehr hübschen Mann. Mein Herz scheint zu erstarren, während seine Augen sich weiten. „Was machst du denn hier?“ Ich sehe zwischen den beiden hin und her, nicht mehr wissend, wieso ich am ganzen Körper zittere. Ich höre wie der Fremde leise etwas sagt. Andris’ Blick wandert zur Seite, weg von mir, hin zu ihm. Er lächelt, sagt etwas, das meine rauschenden Ohren nicht aufnehmen wollen. Dann verabschiedet sich der blonde Schönling, dreht sich um, steigt in ein Auto und fährt davon. Ich kann nicht mehr tun, als ihm nachzusehen und froh zu sein, dass er weg ist, während die Hoffnung dennoch mal wieder in mir zerbröckelt. „Willst du... reinkommen?“, fragt Andris zögernd, während er auf mich zukommt, dann an mir vorbei geht. Ich nicke heftig. „Dann komm.“ Ich drehe mich um und trete durch die nun aufgeschlossene Tür. Während wir die Treppe hinaufgehen, kann ich nur seinen Rücken anstarren. Am liebsten würde ich ihn an mich ziehen. „Hast du lange gewartet?“, fragt er, als er eine alte, verzierte Holztür aufschließt. „Nein“, lüge ich. Die dreiviertel Stunde ist mir in Wahrheit wie ein Jahrzehnt vorgekommen. Ich spüre seinen Blick auf mir, der mir sagt, dass er meine Lüge erkennt. Wahrscheinlich glühe ich vor Kälte, zumindest prickelt meine Haut, nun, da sie die Wärme meiner Nervosität erhält. „Sorry, es ist kalt hier“, sagt Andris, nachdem er die Tür wieder geschlossen hat. „Ich drehe die Heizung über Tag immer klein, wegen Stromkosten und so...“ Ich nicke nur und ziehe ebenso wie er Jacke und Schuhe aus, obwohl es mich danach sehnt, beides anzubehalten. Meine Tasche lasse ich neben meinen Schuhen zu Boden gleiten. Dann stehe ich unschlüssig herum. „Ich kann dir leider keinen Kaffee anbieten, ich hab noch keine Maschine. Aber wenn du willst, kann ich dir einen heißen Kakao machen... oder Tee.“ „Kakao“, sage ich, irgendwie schüchtern. Diese Situation ist so ganz anders, als ich sie mir erhofft habe... „Gut.“ Er deutet mit dem Kopf in Richtung einer Tür. Zögernd folge ich ihm. Der Raum, den wir betreten, ist eine Art Wohnküche. Er ist nicht sehr groß, aber es passen Andris’ Garnitur und ein Schrank für den Fernseher hinein. Zögernd lasse ich mich auf den Sessel nieder. Während Andris zwei Tassen Kakao heiß macht, sprechen wir kein Wort. Verstohlen beobachte ich seinen mir zugedrehten Rücken und frage mich, ob ich etwas sagen soll. Aber was? Nun, da ich ihn mit diesem Mann gesehen habe, sind alle möglichen Anfänge aus meinem Kopf verschwunden. Ob das wirklich sein Neuer war? Wieso sonst sollten sie um diese Uhrzeit zusammen sein? Bin ich also ganz umsonst hier? Als Andris mit dem Kakao zu mir kommt, schließe ich sogleich meine eisigen Hände um die heiße Tasse. „Ich hab die Heizung schon hochgedreht, aber es dauert einen Moment“, sagt er, ohne mich anzusehen. „Frierst du?“ „Es ist okay“, erwidere ich, während er sich aufs Sofa setzt. Minuten vergehen, in denen wir noch immer schweigen. Ich rühre in meiner Tasse herum, nippe ab und zu daran, nur um festzustellen, dass er noch immer zu heiß zum Trinken ist. Außerdem versuche ich, endlich den richtigen Anfang zu finden. „Du machst mich irre!“, kommt es irgendwann und ich hebe den Blick. „Du tauchst hier einfach so auf und dann schweigst du mich an! Es muss doch einen Grund geben, warum du hier bist!“ Er klingt nicht unfreundlich, aber ungeduldig. Ich nicke. „Ich wollte... mit dir sprechen...“ „Ach wirklich.“ Ziemlich kühl. „Worüber?“ „Über uns...“ „Uns?“ Ein sarkastisches Lachen, das mich zusammenzucken lässt. „Es gibt doch schon lange kein Uns mehr!“ Seine Worte entmutigen mich. Ich vergrabe meinen Blick in meiner Tasse. „Du bist noch sauer...“ „Ob ich noch sauer bin?“, fährt er mich an. „Natürlich bin ich das!“ Er stellt seine Tasse mit einer festen Bewegung ab und beugt sich etwas vor. Seine Augen funkeln mich an. „Du glaubst doch nicht allen ernstes, dass ich das alles vergessen habe? Erst sagst du solche Dinge, gehst mir monatelang aus dem Weg und dann tauchst du einfach so hier auf. Soll ich etwa vor Freude im Dreieck springen? Sorry, aber meinst du nicht, dass ist etwas viel verlangt?“ Bei jedem seiner Worte wird er lauter… bei jedem seiner Worte sinke ich mehr in mir zusammen. „Ich habe gehofft, du würdest... dich vielleicht... freuen... ein ganz klein bisschen zumindest...“ „Freuen?“ Er schüttelt den Kopf, seine Stimme zeigt, dass er noch immer auf hundertachtzig ist. „Weißt du eigentlich, was du da sagst? Tagelang habe ich darauf gewartet, dass du zu mir kommst! Ich hätte noch nicht mal eine Entschuldigung gebraucht, immerhin wusste ich, wie schlecht es dir ging… aber nein, der Herr schweigt sich aus und geht mir aus dem Weg! Und dann verlangst du, dass ich mich freue? Vor Monaten hätte ich mich gefreut, Lukas, ja, aber heute? Das kann ich nicht!“ Seine Augen sehen noch immer in meine und ich erwidere den Blick. Am liebsten würde ich wegsehen oder sogar aufstehen und das Weite suche… aber ich sehe ihn an, ich zwinge mich dazu, ihn anzusehen. Ich suche etwas in seinen Augen. Irgendetwas muss da doch noch sein, ganz tief drin… Und da ist es, als ich ihn lange genug ansehe: Das Lockern der Augenbrauen… etwas Sanftes… auch wenn es nur winzig ist. „Es tut mir leid“, spreche ich und festige meinen Blick. „Es tut mir schrecklich leid.“ „Ich-“ Er verstummt, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Sein Blick ist auch weiterhin auf mich gerichtet, seine Stirn weist Denkfalten auf. Dann schüttelt er plötzlich seufzende den Kopf, greift sich mit der Hand an die Schläfe und reibt daran. Sein Blick verlässt mich und starrt ins Leere… oder zu irgendeinem Punkt, den nur er sehen kann. Ich will zu dir… lass mich zu dir kommen. „Wieso fällt dir das jetzt ein?“, kommt es schließlich und die Wut hat seine Stimme verlassen. Unverständlichkeit spricht jetzt aus ihr. „Das ist es nicht“ Ich rücke etwas näher an ihn heran. „Es hat mir schon damals leid getan.“ Sein Blick wird wieder härter. „Wieso bist du dann nicht am nächsten Tag zu mir gekommen? Oder den Tag darauf? Oder eine Woche später? Wieso erst jetzt?… Das ist noch viel schlimmer, Lukas.“ „Ja.“ Ich nicke… „Ich weiß.“ Ich habe das Bedürfnis, ihn nach diesem Mann zu fragen, der heute bei ihm war… Doch ich weiß, dass es nicht an mir ist, Fragen zu stellen… ich muss endlich Antworten liefern, lange überfällige Antworten… „Es gibt so viele Gründe, die dir alle dämlich erscheinen würden, weil sie es auch sind…“, beginne ich nun zögernd zu erklären ohne wirklich zu wissen, was ich sagen soll. „Einer davon war Angst, ein anderer Scham... Ich wusste einfach nicht, wie ich dir gegenübertreten sollte... Dabei habe ich so oft darüber nachgedacht, es zu tun... Doch dann hab ich dich mit dem Kerl gesehen... und ich-“ „Welcher Kerl?“, unterbricht er mich. „Der jetzt in deinem Zimmer wohnt...“ „Oh.“ Sofort scheint er zu einer Erklärung ansetzen zu wollen, doch ich halte ihn auf. „Du solltest nichts erklären müssen…“, sage ich und schüttle den Kopf. „Es ist deine Sache, ebenso mit dem Typen heute. Ich weiß, dass ich nicht das Recht habe-“ „Das ist mein Cousin!“, kommt es diesmal zu schnell, um ihn aufzuhalten. „Er hat mit den Job und die Wohnung besorgt...“ Während die Erleichterung über mir zusammenbricht, schaffe ich es nicht, mein Lächeln zu verbergen. Ich fahre mir mit der Hand durchs Gesicht, versuche wieder ernst zu werden, doch ist es ziemlich schwer… Ich bin so froh… „Das ist gut“, sage ich deshalb. Seine Stirn runzelt sich wieder ein wenig, doch er sagt nichts dazu, sondern scheint darauf zu warten, dass ich weiter spreche. Ich suche nach den nächsten Worten und tue schwer daran, sie zu finden… Mit allem Mut, den ich aufbringen kann, stehe ich auf und ich lasse mich direkt neben Andris auf dem Sofa nieder. Nun aus nächster Nähe fallen mir die Augenringe auf und ich muss das Bedürfnis unterdrücken, sie zu berühren. Stattdessen nehme ich wahr, wie er ein winziges Stück zur Seite rutscht. Diesmal lasse ich mich nicht entmutigen, sondern beginne endlich wieder zu sprechen. „Ich habe lange nicht verstanden, was eigentlich wirklich zwischen uns war… Ich habe nicht darüber nachgedacht, sondern es einfach genossen… und dann, als es vorbei war, habe ich es vermisst, habe ich dich vermisst, Andris… Es tat weh, nicht in deiner Nähe sein zu können und dich mit diesem Typen zu sehen… und es wurde immer schlimmer, je mehr Zeit verging, je mehr ich versuchte, dich zu vergessen…“ Ich rücke das Stück, das er uns getrennt hat, wieder zu ihm heran. „Ich habe zu lange gebraucht, um alles zu begreifen… das weiß ich, und das tut mir am meisten leid... doch ich bete, dass es noch nicht zu spät ist…“ „Zu spät?“ Seine Stimme ist schwach, sein Blick forschend. „Wozu Lukas? Hör auf in Rätseln zu sprechen…. Ich vertrage das nicht, nicht heute… ich will nicht etwas falsch deuten oder so… ich will sichergehen, dich richtig zu verstehen... ich meine... von was sprichst du die ganze Zeit?“ Ich lächle. „Liebe, Andris, ich spreche von Liebe.“ Seine Augen weiten sich und ich habe das Gefühl, vom Dröhnen meines eigenen Herzens erdrückt zu werden. Bitte… bitte lass es nicht zu spät sein. „Ist das… dein Ernst?“, kommt es stockend, ungläubig. Ich nicke und versuche in seine Augen zu tauchen. „Es ist mein voller Ernst, Andris. Ich habe endlich gemerkt, wie sehr ich dich brauche… ich habe gemerkt, wie sehr ich dich vermisse, wenn du nicht bei mir bist... ich vermisse deine Wärme, deine Hände, Lippen, Augen... deinen Mund, deine Gedanken und Berührungen... und vor allem dein Herz, Andris.“ … und endlich habe ich den Mut, nach seinen Händen zu greifen. Sie sind kälter als meine. „Ich vermisse dein Herz und ich bin hier, um es zurückzubekommen.“ „Weißt du... was du da sagst, Mīļotā?“ Ich nicke wieder, als mir aufgrund des sanften Wortes Tränen in die Augen schießen. „Ja, so sicher wie nie zuvor. Bitte verzeih mir, Andris. Du warst mein erster Mann und ich wünsche mir, dass es genau so bleibt.“ Ich drücke seine Hände, führe sie an meine Lippen und küsse sie. „Ich liebe dich. Bitte, bitte liebe mich auch.“ Seine Hände entreißen sich mir, als er die Arme um mich schlingt. Ich werde an ihn herangezogen und er vergräbt seinen Kopf an meinem Hals. „Du Dummkopf“, höre ich ihn flüstern. „Begreif doch endlich, wie lange ich das schon tue. Aber du hast immer nur Florian gesehen... und ich wollte, dass du glücklich bist... und ich dachte...“ Ein Lachen, bevor er mich noch enger an sich drückt. „Oh Mīļotā, es tevi mīlu, es tevi ļoti mīlu.“ Verwirrt drücke ich ihn von mir, sehe ihn an. „Heißt das... du liebst mich?“ Er lacht, beugt sich zu mir und küsst mich mit den sanftesten Lippen der Welt. „Das habe ich dir auch beigebracht. Hast du es vergessen?“ Ich nicke. „Tut mir leid.“ Er küsst mich erneut. „Weißt du, ich sag es nur so gerne. Es erscheint mir ehrlicher als in Deutsch...“ Er schließt meinen Kopf in seine Hände und verkreuzt seinen Blick mit meinem, während das Glück aus seinen Augen zu springen scheint. „Es heißt: Ich liebe dich, Lukas, ich liebe dich sehr!“ Überglücklich lächle ich, sinke in seine Arme hinein und vergesse alles um mich herum. „Wie konnte ich nur ein halbes Jahr so blind sein?“, flüstere ich und erhalte daraufhin einen ähnlich leidenschaftlichen Kuss wie an unserem allerersten Abend, damals als ich nichts mit ihm hatte machen wollen außer reden... Wärme erfüllt mein Herz bei diesem Gedanken. Niemals hätte ich gedacht, dass mir ausgerechnet jener Weihnachtself mal so mein Herz stehlen würde. ENDE Kapitel 11 Epilog: Kopā ------------ Liebe kommt plötzlich… und wenn es passiert, bemerkt man es nicht. Zuerst fand ich Lukas einfach nur niedlich… dann interessant… wenig später anziehend und unglaublich sympathisch… wann ich allerdings angefangen habe, lachen zu wollen, wann immer er lacht oder traurig zu sein, wenn er es ist, das weiß ich nicht mehr… all das ging so schnell ineinander über, dass die Grenzen verwischten und ich sie nicht mehr erkannte. Dass ich mich verliebt hatte, verstand ich erst, als Dennis mich dabei erwischte, wie ich Lukas schon seit Minuten anstarrte. Was ich so an Lukas mochte, konnte ich lange nicht benennen. Eigentlich war er mit seinen leicht gelockten Haaren und den weichen Gesichtszügen so überhaupt nicht mein Typ, und dennoch konnte ich kaum damit aufhören, jeden Millimeter seines Körpers immer wieder mit den Augen zu verschlingen, zu streicheln, zu bewundern. Dass er es nie bemerkte, beruhigte mich zunächst… doch dann begann es mich zu stören und am liebsten hätte ich „hier“ geschrien, wäre ich mir nicht sicher gewesen, dass er es nicht gehört hätte. Ich war noch nie ein Mensch von Schauspielerei gewesen. Immer ehrlich hatte ich mit mir gelebt, allen meine Meinung gesagt, niemandem je meine Neigungen verschwiegen… Lukas war der erste Mensch, für den ich bewusst log, für den ich mich bewusst versteckte… und vor dem ich mich versteckte. Ich war mir nicht sicher, was geschehen würde, wenn ich dies nicht täte. Also verbarg ich meine Gefühle und schloss sie in mich ein. Ich begann zu schauspielern, mich zu verstellen, wenn er es erwartete, und spielte den guten Freund an seiner Seite. Ich sprach ihm Mut zu, während mein eigener immer weiter sank, und fand mich Tag für Tag in einem immer aussichtsloser werdenden Alptraum gefangen. Irgendjemand hat mal gesagt, dass Liebe etwas Einsames ist. Für eine lange Zeit konnte ich diesem Jemand nur zustimmen. Zwar war ich nicht im herkömmlichen Sinne einsam, aber tief in mir drin war ich es. Ich wollte meine Gefühle herausschreien, wollte Lukas mit aller Kraft festhalten und ihm sagen, dass ich ihn nie wieder gehen lassen würde, doch ich tat es nicht, nicht ein Mal… ich vergrub mich, während meine Liebe immer stärker wurde und ich es bald nicht mehr schaffte, ihr auch nur für eine kurze Zeit zu entrinnen. Jeder Winkel meiner Haut wollte, dass er mir gehört, obwohl ich doch wusste, dass sein Herz schon lange einem anderen versprochen war. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich bemerkte, dass ich mich bezüglich dieses Punktes irrte. Zwar wäre ich nicht so von mir selbst eingenommen, als dass ich gedacht hätte, dass Lukas sich in mich verliebt hatte, doch bemerkte ich irgendwann, dass er zumindest nicht mehr so starke Gefühle für Florian hatte, wie er selbst glaubte. Natürlich ließ dies meine Hoffnung sprießen, während ich mich fragte, wie ich ihm helfen könne, es selbst zu bemerken. Und hier fand ich keine andere Möglichkeit, als ihm weiter zu helfen, ihn weiter in die richtige Richtung zu schupsen. Der Einbruch kam, als Lukas mir von Florians Gefühlen erzählte. Es war, als habe man mich in einen Horrorfilm gesetzt, als er träumte, dass er nun bald mit seiner großen Liebe vereint sein würde. Und ich? Ich musste weiter mein Spiel spielen, mich für ihn freuen, für ihn lachen und lächeln, während ich das Gefühl hatte, innerlich zerfressen zu werden… und ich musste ihn trösten, als er die Wahrheit erfahren hatte, als er in meinen Armen lag, meine Hilfe brauchte und ich mich selbst verfluchte, weil mir eigentlich die Freude im Gesicht stehen wollte, darüber, ihn doch nicht verloren zu haben. Was für ein egoistischer Mensch ich doch war. Kaum hatte sich das Leben mal ein Stück in diese, meine Richtung gedreht, musste es mir aber auch schnell wieder beweisen, dass es ganz und gar nicht auf meiner Seite stand. Erst dachte ich noch, dass Lukas sich schon wieder abreagieren würde. Ich verstand seine Trauer, seinen Frust, und ich verstand sogar seine irrationale Reaktion mir gegenüber… doch ich verstand nicht, weshalb seine Wut und Beschimpfungen das letzte waren, das ich von ihm hörte. Wenn man liebt, ist man schnell so weit, Fehler des anderen auf sich zu nehmen, nur damit alles wieder gut wird. So hatte auch ich erst vor, mit ihm zu reden, während die Enttäuschung, dass er nicht zu mir kam, stetig wuchs… Ich redete mir ein, dass er schon seine Gründe haben würde, und versuchte ein paar Mal, meine zu überwinden und meinerseits den ersten Schritt zu machen… doch da er schließlich sogar meinen Blicken auswich, entschied ich mich dafür, dass ich ihm wohl doch nicht so viel bedeutet haben konnte. Wieso sonst ließ er auch weiterhin diese Funkstill herrschen? Vor Lukas hatte ich ein freies Leben geführt. Ich war zwar nicht mit jedem Mann ins Bett gestiegen, aber ich hatte schon ab und an mit hübschen Kerlen geflirtet. Einer dieser Flirts war David gewesen, mit dem ich davor und danach nie wirklich etwas zu tun gehabt hatte. Doch da, als ich das Gefühl hatte, jemanden zu brauchen, um meinen Schmerz zu ertränken, war er da und fing mich auf. Er schlief mit mir und ließ mich schreien, toben, weinen… er ließ mich alles erzählen, dass ich schon seit Monaten auf der Seele trug, und das ich eigentlich Lukas hätte erzählen sollen, der Person, um die sich mittlerweile alles bei mir drehte. Mit jedem Tag, der verging, seit ich Lukas abgeschrieben hatte, ging es mir schlechter. Zwar ließ ich nach außen hin genau das Gegenteil wirken, doch allein daran, dass ich sofort die Praxissemesterstelle kündigte und mir weit weg eine andere suchte, hätte man schon die Wahrheit erkennen müssen. Es ging mir nur noch darum, schnellstmöglich wegzukommen von Lukas, von meiner Liebe, von meinem Schmerz. Ich wollte all das einfach nur noch vergessen. Im März hatte ich natürlich noch lange nicht vergessen, doch ich hatte das vergraben, was zu weh tat, um darüber nachzudenken… und ich hatte nicht gedacht, dass ich es jemals wieder hervorholen müsste. Doch dann stand er da, einfach so, vor meiner Tür. Ich glaube, ich war in meinem Leben noch nie dermaßen überrascht, schockiert, erschrocken, glücklich, verwirrt und wütend gewesen… und das alles auf einmal. Lukas zeigte mir, dass Liebe nicht immer Einsamkeit bedeutet… ich zeigte ihm, dass Liebe unverwechselbar ist… und gemeinsam zeigten wir uns, dass Liebe das vielleicht schönste auf der Welt ist, wenn sie erwidert wird. Nicht mal im Traum hatte ich mehr daran gedacht, dies mit ihm sagen oder erleben zu dürfen, doch nun war es so weit. Zum ersten Mal konnte ich Lukas ohne Schauspielerei in den Armen halten, zum ersten Mal konnte ich all die schnulzigen Dinge loswerden, die ich ihm schon seit mehr als einem Jahr ins Ohr hatte flüstern wollen. Und zum ersten Mal konnte ich mich zum Abschied von ihm wie von meinem Partner verabschieden und ihm sagen, wie sehr ich ihn vermissen würde. Derartige Abschiede gab es in den nächsten Monaten häufig. Viel zu selten und viel zu kurz war unsere gemeinsame Zeit, hatte sie begonnen, war sie auch schon wieder vorbei und uns trennten erneut 800 Kilometer. Ich verfluchte mich dafür, die Stelle in Lübeck gekündigt zu haben, und obwohl ich wahnsinnig gerne in Freiburg arbeitete, konnte ich das Ende meines Praxissemesters kaum erwarten. Und als mir mein Chef letztendlich sagte, dass sie mich gerne behalten wollen würden, tat ich schwer daran, nicht vor ihm zusammenzubrechen. Es war schwer, Lukas an jenem Abend anzurufen. Schon seit Tagen sprachen wir darüber, dass es nur noch knapp ein Monat sein würde, bis wir endlich zusammenleben könnten… und ich musste diesen Traum jetzt zerstören. Natürlich, ich hätte ablehnen können, doch ist all das immer ein zweischneidiges Schwert. Eine Chance, wie sie mir geboten wurde, schlägt man nicht so einfach aus. So also sagte ich Lukas, dass ich mich gegen uns entschieden hatte, nicht gegen unsere Gefühle, aber gegen das baldige Beisammensein. Für einen Moment glaubte ich wirklich, alles verloren zu haben. Zunächst war natürlich auch Lukas traurig, doch kaum hatten wir ein paar Minuten geredet, versprach er mir, dass es nicht schlimm sei, dass wir dennoch unsere Chance bekommen würden. Ein halbes Jahr noch!, sagte er und ich hörte die Zuversicht in seine Stimme. Ein halbes Jahr noch, in dem er sich etwas in Freiburg suchen würde… und dann könnten wir endlich richtig zusammen sein. Ich muss zugeben, dass wir es uns wohl beide leichter vorgestellt haben, eine Praxissemesterstelle im Informatikbereich zu bekommen… doch stattdessen haben wir in manchen Momenten alles scheitern sehen. Wochenlang schickte Lukas Bewerbungen herum, wurde ein paar Mal auf Bewerbungsgespräche eingeladen und bekam letztendlich dennoch keine passende Stelle. Immer wieder hieß es hoffen, bangen, traurig sein... und wir mussten mit dem Gedanken spielen, was aus uns würde, wenn er nichts bekäme. Dann, an dem Tag, als er die Zusage erhielt und mich anrief, um mir überschwänglich unser Glück zu berichten, brach ich am anderen Ende in Tränen aus... zum ersten Mal seit er mich kannte. Die letzte Zeit der Trennung verging schnell, hatten wir doch nun endlich definitiv einen Tag, auf den wir uns freuen konnten. Wir schwärmten einander vor, träumten von unserer ersten gemeinsamen Wohnung, welche wir ausgesucht hatten, und konnten unsere Freude kaum halten, als es endlich soweit war. Dass unsere neuen Nachbarn so direkt an unserem ersten Tag erfuhren, dass wir ein verliebtes schwules Pärchen sind, störte dabei keinen von uns, hatte Lukas mir doch ohnehin versprochen, dass wir kein Geheimnis daraus machen würden. Heute ist es so, dass es tatsächlich jeder weiß, egal ob Arbeit, Freunde oder Familie. Lukas’ Mutter hatte zunächst ein kleines Anfreundungsproblem mit mir, doch mittlerweile hat sie sich damit arrangiert. Lukas’ Kollegen erfuhren es, als er mich auf einer Betriebsfeier als seine Freundin vorstellte, und unsere Freunde, die wir mittlerweile in Freiburg gefunden haben, haben uns ohnehin gleich als Paar kennengelernt. Es ist so, wie man es sich nur wünschen kann und heute, mehr als ein Jahr später würde ich sagen, dass es tatsächlich nichts gibt, was mich glücklicher machen könnte. Lächelnd lasse ich die silbernen Glieder durch meine Finger gleiten. Ich weiß, dass es unglaublich kitschig ist… und dabei mag ich Kitsch nicht. Kitsch und ich passen einfach nicht zusammen… und dennoch konnte ich nicht anders, weiß ich doch, dass er so etwas manchmal sehr mag. Und das ist genug, mehr brauche ich nicht, als diese Gewissheit, dass er sich freuen wird, dass seine Wangen glühen werden und er versuchen wird, die Tränen zu unterdrücken… und dann werde ich ihn mit klopfendem Herzen umarmen, ihn küssen, und meine Finger über seine Haut gleiten lassen, in seinen Nacken, wo ich die silbernen Glieder miteinander verbinden werde, damit er ebenso wie ich unser Symbol tragen kann, den kleinen Weihnachtsstern, auf dessen Rückseite in winzigen Buchstaben geschrieben steht: Mīļotā, es tevi vienmēr mīlēšu ENDE „Es tevi mīlu“ März 2008 ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Der Epilog: Eigentlich ist dies der zweite Epilog, den ich zu dieser Geschichte geschrieben habe. Zuerst ist ein Epilog aus Lukas' Sicht entstanden, doch der hat mich bereits am Anfang nicht zufrieden gestellt… Später bin ich darauf gekommen, den Epilog aus Andris’ Sicht zu schreiben. Im Endeffekt bin ich mit dem Ergebnis zufrieden, auch wenn ich aufpassen musste, dass ich nicht zu ausführlich schreibe, da es ja doch NUR ein Epilog ist *drop* Ich hatte einfach so viele Andris-Gedanken im Kopf, die ich nun gerne geschrieben hätte *drop drop* Danke: Zuletzt möchte ich mich bei allen Leser bedanken! Es freut mich immer riesig zu sehen, dass es Leute gibt, die meine Werke gerne lesen, da ich unglaublich gerne schreibe und es schade wäre, die vielen Zeilen auf meinem Computer verotten zu lassen. Daher wirklich vielen, vielen Dank *verbeug* Liebe Grüße eure Stiffy ^__^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)