Wie lange noch...? von abgemeldet (Die Geschichte eines jungen Prostituierten) ================================================================================ Kapitel 37: Aus der Sicht von Luca ---------------------------------- Das Leben und Wirbeln der Stadt zog verschwommen und trist an Luca vorüber. Sein Blick war wie durch einen Tunnel ausschließlich auf die vor ihm liegenden Dinge gerichtet, doch egal was sein emotionsloser Blick einfing, nichts berührte ihn. Er fühlte sich kalt und leer. Auf der einen Seite fand er es unverständlich von sich selbst, dass er anscheinend so ein Problem damit hatte, dass seine Mutter nach Jahren der Misshandlung unter seinem Vater endlich bereit war, alles aufzugeben und neu anzufangen. Denn so wie es aussah, hatte sie damit gewartet, bis alle ihre Söhne aus dem Haus waren und sie ihnen nichts mehr davon zumuten musste. Auf der anderen Seite war sie eine untreue Ehefrau, die ihren Mann seit Monaten hinterging und schamlos betrog. Nicht nur seinen Vater, sondern auch ihn hatte sie betrogen, schließlich hatte er bis vor kurzem noch in ein und demselben Haus gewohnt und geglaubt, dass sie eine rechtschaffende Ehefrau war. Was hatte er sich nicht für Schuldgefühle gemacht, als sein Vater ihn damals rausgeworfen hatte. Die Familie zerstört, Vaters Ehre kaputt gemacht, all das und noch viele andere Dinge hatte er sich vorgeworfen und jetzt musste er begreifen, dass das „heile" Leben, von dem er gedacht hatte, dass es existierte, alles nur noch Schall und Rauch gewesen war. Er hatte die Familie nicht in Scherben geschlagen, sondern seinen Vater und seine Mutter lediglich auf die Bruchstücke ihrer eigenen Leben gestoßen; Leben, die schon lange vor seiner Entscheidung, sie mit seiner Liebe zu Jamie zu konfrontieren, aus dem Ruder gelaufen waren. Luca spürte die Kälte um ihn herum mittlerweile nicht mehr und irgendetwas hatte sich verändert. In seine Gedanken vertieft, war er stehen geblieben und hatte mit leerem Blick auf die vielbefahrene Straße gestarrt. Als er das bemerkte, geriet er ins Schwanken und taumelte einen Schritt vorwärts auf die vorbeiratternden Kutschen zu. Eine Hand packte ihn daraufhin und zog ihn hart zurück. Erschrocken wirbelte Luca herum und starrte einem jungen Mann ins Gesicht. Wahrscheinlich sah der gar nicht schlecht aus, doch gerade jetzt verdunkelte Wut seine Züge und ein eigenartiger Ausdruck stand ihm in den Augen. „Meinst du, das ist der einzige Ausweg?!", rief er aufgebracht, packte Luca an den Schultern und schüttelte ihn leicht. „W-w-was?", stotterte dieser zurück und blinzelte leicht verstört das vor ihm hin und herschwankende Gesicht an. „Ich weiß nicht, was du durchmachen musstest, aber glaubst du im Ernst, dass es eine Lösung ist, sich vor eine Kutsche zu werfen?!" Der junge Mann sah wirklich aufgebracht aus und als er Luca losließ und ihm fest in die Augen sah, erkannte Luca, dass der eigenartige Ausdruck Hilflosigkeit und Verzweiflung gewesen war. Verwirrt von der Heftigkeit und dem augenscheinlichen Missverständnis, wich Luca etwas ängstlich zurück. Die Verzweiflung in den Augen des Mannes nahm zu und er hob die Hände, als wolle er ihn aufhalten, doch dann ließ er sie wieder sinken und atmete tief ein und aus. Luca musterte ihn derweil. Der junge Mann trug einen langen, grauen Filzmantel mit Hornknöpfen und um den Hals hatte er einen farbenfroh gestrickten Schal geschlungen. Seine Hände waren unbehandschuht. Sie sahen nicht so aus, als ob er viel mit ihnen machte, wie die Hände eines Menschen, der sich mit geistigen Dingen beschäftigte, nicht mit handwerklichen. „Bitte" Luca zuckte zusammen und riss sich von dem Anblick der Hände los und sah dem jungen Mann wieder ins, nun gefasst wirkende, Gesicht. „Bitte glaub mir, nichts ist es wert, sein Leben dafür aufzugeben." „Nein, ich-...", widersprach Luca und schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich wollte nicht-... also, es war nicht das, wofür Sie es gehalten haben, Mister!", beteuerte er und verlieh seiner Stimme Nachdruck. Zweifelnd sah der junge Mann ihn an und nickte dann. „Ich kann dir nicht helfen, wenn du es nicht zulässt, aber bitte überleg es dir anders." Etwas entnervt schüttelte Luca jetzt heftiger den Kopf. „Ich wollte mich nicht umbringen!" Einige Passanten drehten sich zu ihnen um und warfen ihm entsetzte Blicke zu, dann eilten sie schnell weiter. Der junge Mann nickte langsam und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Falls du irgendwann darüber reden möchtest, ich bin Michael Stantsford. Von Sonntag bis Freitag bin ich in der Sankt Marien Kapelle anzutreffen, komm doch einfach mal vorbei." „Ich wollte wirklich nicht-...", doch Michael unterbrach ihn. „Pass auf dich auf." Luca klappte seinen Mund zu und nickte stumm. Der junge Mann wandte sich um und ging dann – nicht ohne sich noch einmal zu dem wie angewurzelt stehen gebliebenen Luca umzudrehen – die Straße hinab. Die Straßen wurden allmählich dunkel, als Luca nach Hause zurückkehrte. Die Straßenlaternen flammten auf und tauchten die leerer werdenden Straßen in ein goldgelbes Licht. Die Verzweiflung des jungen Mannes – Michael – hatte ihn ins Grübeln gebracht. Was war, wenn sein leben wirklich keinen Sinn mehr hatte? Was, wenn Jamie ihn gar nicht suchen kommen würde? Würde er dann einfach weiterleben können? Ohne das, was ihm einen Sinn in seinem sinnlosen Leben gegeben hatte? Wenn er mal so darüber nachdachte, hatte er bisher nie entscheiden dürfen, was er tat oder nicht. Seit er alt genug gewesen war, hatte er im Haushalt helfen müssen, weil auch noch seine Brüder da gewesen waren, dann hatte sein Vater ihn bei Mister Tribbles in die Lehre gegeben, ohne ihn vorher überhaupt zu fragen, ob er das überhaupt wollte. Nicht dass es ihm nicht gefallen hatte, aber es war nicht seine eigene Entscheidung gewesen. Betroffen kickte Luca eine nasse Zeitung in den Rinnstein und fuhr mit einer Hand unter seinen Mantel. Jamies Medaillon hatte er seitdem er es gefunden hatte, nicht mehr abgenommen. Es gab ihm Hoffnung und Kraft, all die Zeit ohne ihn zu verbringen. Luca sah auf und blieb stutzend stehen, dann ballten sich seine Fäuste und er spannte unbewusst den Kiefer so fest an, dass seine Zähne knirschten. Dort, am Ende der Straße, stand eine Kutsche und davor, im weichen Licht einer Laterne, zwei innig umschlungene Menschen. Der Mann wirbelte die Frau herum und die Frau lachte ausgelassen, sodass es in der kalten Nachtluft widerhallte. Lucas Mutter ließ sich von dem Mann küssen, der mit größter Wahrscheinlichkeit Graham war, und schmiegte sich noch einmal an ihn, bevor der widerwillig in die Kutsche stieg und die Tür schloss. Seine Mutter warf eine Kusshand durch die Glasscheibe und winkte, als die Kutschte langsam, dann immer schneller davonfuhr. Sie sah der Kutsche hinterher, bis sie um eine Ecke bog und auch langsam das Rattern immer leiser wurde. Während seine Mutter ihrem Liebhaber hinterhergeschaut hatte, war Luca Schritt für Schritt näher gekommen, sodass ihn jetzt nur noch wenige Meter von seiner Mutter trennten. Sie hatte wohl seine sich nähernden Schritte gehört und drehte sich zu ihm um – und erstarrte. „Luca-...?!" Wortlos musterte Luca seine Mutter. „Es ist nicht so, wie du denkst!", rief Catherine und begann, ihre unbehandschuhten Hände zu ringen. Luca schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und schürzte seine rissigen, kalten Lippen. „Was denke ich denn?", presste er dann hervor und blinzelte die aufsteigenden Tränen zurück. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Wange und sein Kopf schwang zur Seite. Seine Mutter stand vor ihm und starrte erst ihn, dann ihre immer noch erhobene Hand an. Dann traten Tränen in ihre blauen Augen und sie stürzte auf Luca zu und umarmte ihn fest. „Es tut mir leid, Luca. Es tut mir so leid... .Was denkst du jetzt von mir?", ihre Stimme klang beinahe etwas verzweifelt. Mühselig befreite Luca sich aus den Armen seiner Mutter und sah betreten zu Boden. Er konnte ihr nicht sagen, dass er die Briefe schon lange gelesen hatte. Dass er wusste, wie lange sie schon ihren Mann betrogen hatte. Catherine strich ihm sanft über die heiße Wange, auf der sich langsam aber deutlich ihre Fingerabdrücke abzeichneten. Das Schweigen zwischen ihnen wurde bedrückend und Luca murmelte: „Und? Du hast einen Liebhaber, was macht das schon. Als ich mich zu Jamie bekannt hab, hab ich doch eh schon alles kaputt gemacht." Sie schniefte und wischte sich unwirsch ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Dann fügte er noch leiser hinzu: „Ich hätte ihn an deiner Stelle auch verlassen!" Seine Mutter nahm seine Hände und sah ihn an, bis er aufschaute. „Sag so was nicht, dein Vater ist ein gu-..." Doch Luca unterbrach sie. „Ein guter Mensch, also?!" Er machte sich erneut los und stopfte seine Fäuste in die Hosentaschen. „Um seinetwegen brauchst du mich nicht anzulügen. Früher habe ich das vielleicht auch geglaubt, hab die Prügel ohne ein Wort weggesteckt, weil ich dachte, dass er wohl schon seine Grüne hat dafür, aber seit Jamie weiß ich, was es heißt, geliebt zu werden! Und aus Nächstenliebe hat Vater mich bestimmt nicht geschlagen!" „Luca-...!" „NEIN! Tu doch nicht so! Du hast alles für ihn aufgegeben damals! Deinen Stand, deine Familie, alles und er dankt es dir, indem er dich beschimpft und schlägt! Das weißt du ganz genau und ich bin kein Kind mehr, also sag mir nicht, dass ich das nicht verstehen kann!" Geschockt und mit großen Augen sah seine Mutter ihn an, hob die Arme um sie dann wieder kraftlos fallen zu lassen. Luca ging auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wie lange willst du es noch mit ihm aushalten?" Sie schluchzte auf und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Irgendwie fühlte sich das alles nicht mehr an, wie ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, sondern als gäbe er ihr – als Gleichgestellter – einen gutgemeinten Rat. „Ich kann ihn nicht verlassen!" „Doch. Du kannst!" „Wenn er das zwischen Graham und mir erfährt, schlägt er mich tot und er hat sogar das Recht dazu!" „..." Darauf hatte Luca keine Antwort, denn sie hatte Recht. „Lass uns gehen." Die Straße war dunkel und so konnte Luca ganz deutlich das Licht in dem Fenster des oberen Stockwerkes sehen. Sein Vater war schon da. Luca musste sich diese Nacht erneut einen anderen Schlafplatz suchen. „Luca-... dein Vater, er-..." „Ich weiß, ich geh ins „Vouge" und schlaf da. Mach dir keine Sorgen." Catherine drückte schnell seine Hand, dann zog sie den Hausschlüssel aus der Rocktasche und verschwand im Haus. Luca blieb, versteckt im Schatten der Hauswand stehen und schloss bitter die Augen, als nur wenige Sekunden später das Gebrüll seines stockbetrunkenen Vaters hinaus auf die Straße klang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)