Wie lange noch...? von abgemeldet (Die Geschichte eines jungen Prostituierten) ================================================================================ Kapitel 36: Aus der Sicht von Jamie ----------------------------------- Jamie hatte die Augen geschlossen und lauschte auf die Geräusche um ihn herum. Das Zwitschern der Vögel, quakende Frösche und das Summen unzähliger Insekten. Schritt für Schritt knirschte der helle Kies unter seinen Stiefeln und seine ausgestreckten Hände glitten über die Blüten der am Wegrand wachsenden Blumen. Ein leuchtendes Rot schimmerte durch seine Lider und er wandte den Kopf der Sonne zu. Ihr warmes Licht ließ seine Haut prickeln und schenkte ihm eine tiefe, innere Ruhe, wie er sie schon seit Monaten nicht mehr verspürt hatte. Tief einatmend nahm er den Duft der aberhundert blühenden Pflanzen wahr und ein winziges Lächeln spielte um seine Lippen. In seinem ganzen bisherigen Leben hatte er noch nie einen so wunderschönen Garten gesehen. Nein, es war eigentlich schon kein Garten mehr, der da um Jacks Cottage herum angelegt war, es war ein regelrechter Park. Die vielen, ineinander verschlungenen Wege, welche zu Lauben oder Pavillons führten, das Geräusch und die Kühle der vielen kleinen Springbrunnen. Alles war so entspannend und verträumt, dass Jamie seine Sorgen vergaß und wie bezaubert durch die Hecken, Sträucher und Blumen streifte. Trotz der Sonne war es noch etwas kühl und ein stetiger, salzig riechender Wind fuhr durch seine Haare und ließ sie tanzen. Vor ein paar Tagen war der Friseur da gewesen und hatte ihm die langen Zotteln geschnitten. Sein Gesicht hatte von seinen täglichen Spaziergängen hier im Park wieder etwas Farbe bekommen und bald würde er vielleicht wieder genauso aussehen, wie zu der Zeit, in der er noch im „Vouge" gearbeitet hatte. Es war komisch, nicht mehr zu arbeiten. Es klang verrückt, doch Jamie vermisste sein Leben im Nachtclub. Den Alltag, die anderen Jungen und überhaupt sein altes Leben. Ethan hatte ihn gestern gefragt, ob er, wenn er könnte, wieder zurückgehen würde. Jamie hatte in diesem Moment keine Antwort darauf gehabt, denn sosehr er es auch genoss, nicht mehr mit fremden Männern ins Bett steigen zu müssen, ebenso wusste er jetzt plötzlich nichts mehr mit sich und seinem Leben anzufangen. Würde Jack ihn in eine Lehre schicken? Was war, wenn er nicht fähig war, etwas anderes zu tun, als Männer zu bedienen und Smalltalk zu halten? Jamie blieb stehen und öffnete die Augen. Er stand am Rand des Parks und neben ihm erhoben sich alte und knorrige Bäume in den Himmel. Das Cottage lag mitten in der Natur, unzählige Meilen von dem nächsten Dorf und ein paar Tagesreisen von London entfernt irgendwo im Nirgendwo. Jack weigerte sich nämlich strickt, ihm genauere Informationen zu geben, da er wahrscheinlich fürchtete, Jamie könnte abhauen und irgendwie zurück nach London gelangen bevor-... Ja, bevor was eigentlich? Bevor Jack sich nicht zu hundert Prozent sicher war, dass Jamie niemals mehr in die Prostitution zurück gehen würde? Oder bis er seine Ausbildung abgeschlossen hatte? Was wollte Jack von ihm? Langsam kam er sich vor wie ein Verbrecher, der in einem wunderschönen Gefängnis saß und darauf wartete, dass sein Urteil gesprochen wurde. Plötzlich horchte Jamie auf. Der Wind hatte das Geräusch von wiehernden Pferden zu ihm getragen. Jack hatte Pferde? Oder lebten sie hier wild und durchstreiften den Wald und die grünen Hügel immer auf der Suche nach Futter? Schon seit er klein gewesen war, hatte er Pferde geliebt. Ihr großer, warmer Körper und die weichen Nüstern. Sanft und stark. Wieder trug der Wind das Geräusch über die Bäume und Jamie ging den Waldrand entlang auf der Suche nach einem Pfad, der ihn in den Wald und zu den Pferden führte. Um den größten Teil des Grundstückes verlief eine verwitterte, etwa hüfthohe Steinmauer, doch auf dieser Seite wurde der Park nur von dem Wald begrenzt. Hinter der Mauer lagen weite, saftiggrüne Wiesen, die gewellt wie ein überdimensionales Meer anstiegen und abfielen. Auch die Bäume, die Jamie jetzt umgaben, waren grün bemoost und Efeu rankte sich an den Stämmen empor. Durch das dichte Blätterdach fielen einzelne Sonnenstrahlen und malten tanzende Muster auf den Waldboden. Alles war so wunderschön, dass Jamie es gar nicht glauben konnte. London war so grau und verdreckt, doch hier auf dem Land war es, als würde man durch den Garten Eden wandeln – denn so musste das Paradies aussehen. Der Pfad führte gewunden und verschlungen immer weiter, bis ihm schließlich ein Gatter den Weg versperrte. Neugierig kletterte er darüber hinweg und stapfte auf der feuchten Wiese auf die immer lichter werdenden, letzten Baumreihen zu. Schließlich trat er zwischen den Stämmen hervor und ließ seinen Blick über die endlos scheinende, grüne Fläche gleiten. Nur ein paar Meter weiter stand ein schönes, rotbraunes Pferd. Bilder aus seinen Erinnerungen stiegen auf. Der Tag vor sechs Jahren zum Beispiel, an dem er und alle anderen Kinder des Heims einen Ausflug zu einem in der Nähe liegenden Kloster gemacht hatten. Neben den vielen Gärten hatte es dort auch eine Koppel mit Pferden gegeben. Den ganzen Tag war Jamie zwischen den Pferden umhergelaufen und hatte Gras gepflückt. Er erinnerte sich noch genau an die vorsichtig schnappenden Pferdeschnauzen auf seiner Hand. Inzwischen hatten die Pferde ihn ebenfalls bemerkt und kamen langsam auf ihn zugetrabt. Wie damals griff Jamie nach einem Büschel Gras, riss die saftigen Halme ab und bot sie mit ausgestreckter Hand dem rotbraunen Hengst an. Zuerst schaute ihn das Pferd nur misstrauisch an, dann machte er noch einen Schritt auf ihn zu und senkte den Kopf, um das ihm angebotene Gras zu fressen. Langsam hob Jamie die andere Hand und strich dem Hengst über die Stirn. Der Hengst ließ es willig geschehen und auch als Jamie über die kauenden Backen hin zum Hals strich, blieb das Pferd geduldig stehen und schien die Streicheleinheit sogar zu genießen. Jamie fühlte sich in den Jahren zurückversetzt und strich in Gedanken verloren über den warmen Hals des Tieres, kämmte mit den Fingern die zottelige Mähne und klopfte leicht auf das staubige Fell. Auch die anderen Tiere – es waren insgesamt sieben – kamen nun auf ihn zu, doch sie blieben etwas entfernt stehen und beobachteten das Ganze. Die Zeit verging wie im Fluge und Jamie merkte erst, wie spät es geworden war, als die Sonne den Himmel langsam rot färbte und die Wolken zart rosa und orange über den Himmel zogen. Gelbgoldenes Licht strahlte über die Wolkenränder und fasziniert beobachtete Jamie, wie der rotglühende Sonnenball langsam hinter den Hügeln verschwand. „Wunderschön, nicht?" Eine bekannte Stimme ließ Jamie aufkeuchend herumwirbeln. Jack stand einen Schritt von ihm entfernt und sah ihn grinsend an. „Du hast mich erschreckt!", empörte Jamie sich und legte sich eine Hand auf die Brust, um seinen verschreckten Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Entschuldige, das wollte ich nicht." Jamie nickte und sah an Jack vorbei zum Waldrand. „Was machst du hier?", fragten sie plötzlich gleichzeitig und Jack begann zu lachen. Der letzte Rest der Sonne verschwand und auch die überschäumende Farbenpracht verschwand mehr und mehr, bis schließlich nur noch ein graublaues Licht den Himmel erhellte. „Wir sollten langsam zurück. Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich im Dunkeln zum Haus zurückfinde." Ein leichter Stupser gegen die Schulter bewegte Jamie dazu, sich abermals umzudrehen und die weiche Schnauze des Hengstes zu streicheln. „Wie heißt er?", fragte er Jack, und Jack trat neben ihn und klopfte dem Tier auf die Flanke. „Dieser Prachtkerl hat noch keinen Namen. Ich habe ihn erst kürzlich gekauft. Ich hab noch nicht einmal dafür gesorgt, dass er zugeritten wird, eigentlich eine Schande bei so einem schönen Tier, nicht?" „Wie alt ist er denn?" „Zwei Jahre alt und wirklich sehr ungestüm." Jack sah ihn von der Seite an und schmunzelte. „Aber bei dir scheint er lammfromm zu sein. Du hast wohl ein Händchen für Tiere." Jamie antwortete nicht, sondern schaute dem Hengst nur ruhig in die Augen und rieb ihm über die Stirn. „Was hältst du davon, wenn ich sage, ich schenke ihn dir?" Jamie sah abrupt auf und starrte Jack ungläubig an, dann senkte er den Blick. „Das kann ich nicht annehmen." Doch so einfach schien Jack nicht aufgeben zu wollen. „Dann kannst du ihn zureiten und ihm einen Namen geben." „Jack, ich weiß nicht, was ich sagen soll, ganz ehrlich, ich-... ." Doch Jack winkte ab und suchte seinen Blick. „Ich möchte einfach nur, dass du wieder glücklich wirst und ein neues Leben anfangen kannst." Es widerstrebte Jamie, das Geschenk anzunehmen, denn er schuldete Jack schon so viel. Wenn es irgend ging, dann wollte Jamie verhindern, dass Jack irgendwann einmal eine Gegenleistung für all das einfordern konnte. Obwohl Ethan ihm versichert hatte, dass Jack nie auch nur auf diesen Gedanken kommen würde, so hatte Jamie jedoch immer noch Bedenken, denn es konnte nicht angehen, dass Jack das alles ohne Hintergedanken und nur aufgrund eines guten Herzens für ihn tat. „Nimm mein Geschenk an, Jamie. Wir haben keine Zeit mehr, lange über das Warum zu diskutieren, sonst kommen wir nie zum Haus zurück, bevor es dunkel ist." Mit einem Klaps auf das große Hinterteil ließ Jack den Hengst davon galoppieren und ging schnellen Schrittes auf den Waldrand zu. Verwirrt stand Jamie wie angewurzelt da, dann lief er Jack hinterher. „Warum willst du ihn mir schenken?" Jack ging geradeaussehend weiter. „Weil ich gemerkt habe, dass er dir gefällt und dass du ihm gefällst. Ich hab mehr Pferde als ich reiten kann und aus diesem Grund möchte ich dir diesen Hengst schenken. So einfach." „Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?" Ein erschreckender Verdacht stieg in Jamie auf. „Du lässt mich beobachten?!" Jack antwortete nicht und da wusste Jamie, dass er Recht hatte. Wütend blieb er stehen und schnaubte. „Das ist ja das reinste Gefängnis hier! Oh ja, ich schlafe in einem riesigen Bett und trage teure Kleider, aber dafür wird jeder meiner Schritte anscheinend von deinen Männern überwacht und ich weiß nicht mal wo ich bin! Was soll das Ganze, Jack!?" Ein paar Meter entfernt blieb Jack stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich will nur nicht, dass du aus irgendwelchen, sentimentalen Gründen davonläufst und wieder in dein altes Leben zurückrutschst. Verstehst du das nicht? Ich will dich beschützen!" „Beschützen!", Jamie spuckte das Wort förmlich aus. „Indem du mich einsperrst und wie einen Gefangenen behandelst?" Jack trat auf ihn zu und sah ihn fest an. „Ich glaube, dass jeder Gefangene von einem Leben, wie du es hier führst, nur träumen kann!" „Dann hol dir einen Gefangenen her, aber ich kann so nicht leben." Jacks Blick flackerte und Jamie bereute fast, was er gesagt hatte, doch das weiche Lächeln, das dann auf Jacks Gesicht trat, machte ihn nur noch wütender. „Auch wenn du wolltest, du könntest gar nicht weg. Wie du schon sagtest, du hast keine Ahnung, wo du bist. Warum akzeptierst du nicht einfach, dass jemand dir eine Möglichkeit schenken will, ein neues Leben anzufangen?" „Ein neues Leben? Meinst du, ich kann mein altes Leben einfach so vergessen und ausradieren, so als wenn es nie gewesen wäre?" Jack schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, das kann und will ich gar nicht von dir erwarten. Ich möchte dir nur zeigen, dass du auch ein anderes Leben führen kannst, als das im Nachtclub." Jamie schnaubte erneut und stapfte missmutig an Jack vorbei, den in der aufkommenden Dunkelheit immer schwerer zu erkennenden Weg entlang. Schweigend lief er voran, bis die Bäume sie schließlich freigaben und er wieder auf den Kiesweg trat. Die Lichter des Cottages leuchteten in einiger Entfernung und Jamie durchquerte, immer darauf zu, den Garten und stieg schlussendlich die steinernen Stufen zur Veranda hoch. Jack hatte ihn eingeholt und hielt ihn, bevor Jamie das Haus durch die Terrassentür betreten konnte, noch einmal am Arm zurück. „Und das Pferd gehört von jetzt an dir, egal wie du über deinen Aufenthalt hier denkst. Niemand hier will dir etwas tun. Denk noch mal darüber nach, Jamie." Dann ließ Jack seinen Arm los und betrat, den schweren Vorhang beiseite schiebend, das Wohnzimmer. Jamie wandte sich vom Haus ab und trat an die Brüstung der Veranda. Ihm gehörte jetzt also ein Pferd und Jack würde ihn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln daran hindern, von hier abzuhauen. Vielleicht sollte er sich wirklich damit abfinden – jetzt, wo er nicht einmal mehr einen Grund hatte, nach London zurückzukehren. Dieser Prachtkerl hat noch keinen Namen-... . Und plötzlich wusste Jamie, wie er den rotbraunen Hengst nennen sollte. „Luca...", flüsterte Jamie in die Dunkelheit. „Er soll Luca heißen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)