Meet me under the blue moon von abranka ================================================================================ Kapitel 1: Meet me under the blue moon -------------------------------------- Es war ein Loch in seiner Tasche. Ein verdammtes Loch! Ein Loch! Kaito starrte es an, streckte die Hand durch und starrte es wieder an. Das war... Das war nicht möglich! Nein, absolut nicht möglich. Das... „NEIN!“ Er riss die Tasche hoch und fixierte das Loch so, als wenn er es durch den reinen Blick dazu bringen könnte, sich zu schließen und den Inhalt der Tasche wieder herzubringen. Doch so funktionierte das dummerweise nicht. „Oh nein!“ In einem Anfall extremer Verzweiflung riss er sich die schwarze Perücke samt Haarnetz vom Kopf und schleuderte sie zu Boden. Die hellblau gefärbte Haarmähne, die er darunter verborgen hatte, fiel ihm weich auf die Schultern. „Oh nein...“ Er hatte sein Notizbuch verloren. Und nicht nur irgendeins, nein. Das, in dem die ganzen verdammten Songtexte für das nächste Album drinstanden! Kaito war nämlich nicht irgendein junger Japaner, sondern der neue Stern am J-Pop-Himmel. Der Sänger OCEAN. (Sein Management hatte den Namen zwar bescheuert gefunden, ihn aber durchgehen lassen, weil Kaito sich schlichtweg auf die Bedeutung eines der Kanjis, aus denen sein Name bestand, versteift hatte.) Und jetzt waren die Texte weg... Und nicht nur das, nein, in diesem verdammten Buch standen sein richtiger Name und seine richtige Adresse! Wenn jemand diese an die Öffentlichkeit gab... Er würde umziehen müssen. Mindestens! Händeringend und abgrundtief verzweifelt ließ er sich auf das Designersofa seiner vollkommen durchgestylten Wohnung fallen. Und jetzt? Neu schreiben? Aber diese Ideen würde er nie wieder haben! Niemals! Und gerade der Song ‚Blue Moon’ hatte ihm so verdammt gut gefallen. Das war nicht fair! Das war einfach nicht fair! Und er konnte sich ja noch nicht einmal erinnern, wann... Moment. Als er in diesem verdammten Bus gesessen hatte... Memo an mein Hirn: Nie wieder freiwillig Bus fahren! (Er war heute auf die Idee gekommen, inkognito wie ein normaler Mensch in die Stadt zu fahren und Bummeln zu gehen und hatte dabei unglaublich viele neue Ideen gesammelt und gleich in Texte verarbeitet.) Genau... Da hatte es beim Aufstehen laut Ratsch gemacht. So, dass es einem richtig durch und durch ging. Er musste die Busgesellschaft anrufen! Gedacht, getan. Keine Minute später war Kaito am Telefon, rief erst die Auskunft an und ließ sich von dort weiter verbinden. Ernüchtert knallte er das Telefon zurück in die Ladestation. Sie hatten keine Videoüberwachung in den Bussen, würden aber anrufen, falls sie etwas finden würden. Es bestünde allerdings keine sehr große Chance. Den Fahrer hatte man bereits kontaktiert, aber dieser hatte nichts gefunden. Somit hatte jemand das Notizbuch also eingesteckt. Kaito stöhnte auf und sank dramatisch auf den Lammfellteppich neben der Couch. Und jetzt? Himmel, was hatte er denn noch in dem Buch stehen? Telefonnummern. Seiner Managerin, seiner Plattenfirma, diverser Popsternchen und einiger echter Stars. „Oh nein...“, wimmerte er. Wenn irgendwer das Ding an die Presse gab... Er war geliefert! Absolut geliefert! Man würde sich über ihn lustig machen wie über Paris Hilton und die ganzen dummen Hühner, die ihr Zeug verloren. Niemand würde mehr mit ihm etwas zu tun haben wollen und ihm eine Privatnummer geben, sobald die ersten hysterischen Fananrufe kamen! Grauenhaft! Er war ruiniert! Vollkommen ruiniert! Mit letzter Kraft lange er erneut nach dem Telefon und rief seine Managerin an. Sachiko musste kommen... Sachiko wusste immer Rat... Vier Stunden später hatte es Sachiko endlich geschafft, ihren Schützling soweit zu beruhigen, dass er auf dem Sofa lag und schlief. Wozu manchmal ein paar kleinere Tricks doch gut sein konnten... Sie seufzte leise und zog die Beine an. Kaito mochte auf der Bühne großartig sein, aber im privaten Leben war er eine absolute Katastrophe. Sie kannte niemanden, der noch dramatischer sein konnte. Niemanden. Und sie hatte schon einige der ganz großen Stars betreut. Manchmal, da fragte sie sich, ob er für dieses Business überhaupt geeignet war – und dann bewies er wiederum genau das, indem er sich exakt richtig verhielt. Und welcher Superstar hatte nicht wenigstens einen Knall? Da war Kaito dann wohl doch gut aufgehoben... Nur... Wie sollte sie dafür sorgen, dass das verlorene Notizbuch keine Katastrophe wurde? Das mit den Privatnummern war ja ein wirkliches Problem und das mit den ganzen Lyrics auch! Niemand konnte so etwas aus dem Gedächtnis wiederhinbekommen. Das war unmöglich... Und sie war verdammt froh gewesen, als Kaito von unterwegs angerufen hatte, um ihr aufgeregt mitzuteilen, dass er die Texte zusammenhatte, ein riesiger Hit dabei war und er die Musik schon im Kopf hatte. Aber so? Da war nichts zu machen. Und die Plattenfirma wollte langsam wenigstens die erste Single aufnehmen. Irgendetwas, was darauf hindeutete, dass mit OCEAN zu rechnen war, dass das zweite Album kommen würde... Am nächsten Morgen erwachte Kaito mit hämmernden Kopfschmerzen und dem Gefühl eines extremen Desasters. Das Notizbuch! Schlagartig saß er hellwach auf dem Sofa, fiel beinahe herunter und ließ ein langgezogenes Heulen hören. „NEIN!“ Sachiko kam aus der Küche und reichte ihm kommentarlos eine Tasse Kaffee. „Beruhige dich.“ „Mach den Fernseher an! Gleich kommen doch die Morgennachrichten mit dem Teil aus der Szene!“ (Das sah er jeden Morgen, um auf dem Laufenden in der Welt der Stars und Sternchen zu bleiben.) Sachiko verdrehte die Augen, stellte den Fernseher aber an. Das Programm war bereits fortgeschritten, doch abgesehen davon, dass OCEANs größter Konkurrent eine Entziehungskur machen würde – was OCEANs Marktwert noch steigerte -, gab es nichts Interessantes. „Noch nicht...“ Kaito ließ sich mit einem tiefen Seufzen zurückfallen und nahm nun die Kaffeetasse an. Erleichtert nippte er daran. „Das heißt zwar noch nichts, aber...“ „Verdammt, hör auf, so hysterisch zu werden!“, fauchte Sachiko ihren Schützling schlagartig an. „Es kann genauso gut der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass es dir jemand einfach zurückbringt! So, wie es auch zweimal im Monat Vollmond geben kann!“ „Kann es?“ Perplex blinzelte Kaito sie an und strich sich durch die wirren Haare. „Ja. Und jetzt setz dich in Bewegung. Du kannst nicht ewig herumjammern.“ Mit einem dumpfen Murren, dass sie nicht seine Mutter sei, verschwand Kaito ins Bad. Drei höllische Tage lebte er noch in Ungewissheit. Drei Tage absolute Verdammnis, in der seine Psyche ihn von einem Tief in das nächste riss, jedes Mal noch dramatischer, sodass Sachiko mittlerweile vorübergehend bei ihm eingezogen war. Er kam spät aus dem Studio an diesem Abend zurück. Er hatte versucht, wenigstens den Blue-Moon-Song wieder hinzubekommen, doch er scheiterte ständig. Es war zum Ausrasten! „Post für dich. Liegt im Wohnzimmer.“ Sachikos Worte erreichten ihn aus der Küche, als er gerade seine Hausschuhe anzog. Neugierig schritt er in besagtes Zimmer und sah dort auf dem Tisch ein kleines Päckchen liegen, das in hübsches Seidenpapier eingeschlagen war. Eine Briefbombe etwa? Misstrauisch hob er es hoch und schüttelte es. Briefbomben machten doch Geräusche, oder? Er presste sein Ohr dagegen, dann zuckte er mit den Schultern und riss das Papier ab. Da sowohl kein Absender darauf stand und keine Briefmarke darauf klebte, hatte es wohl jemand einfach so in den Kasten geworfen. Klein genug dafür war es ja... Einen Augenblick später jauchzte er vor Freude. Sein Notizbuch! Er gab dem dunklen Lederbuch einen dicken Kuss und tanzte durch das Zimmer Richtung Küche. „Sachiko! Es ist wieder da! Es ist wieder da!“ Die Managerin steckte den Kopf aus der Küche und grinste ihn an. „Siehst du, wie der doppelte Vollmond.“ „Juhu!“ Selig schlug Kaito das Buch auf – und erstarrte. Da hatte jemand herumgekritzelt! Seine Rechtschreibung verbessert und... Anmerkungen hinterlassen! Wie paralysiert ging er zurück ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Überall waren die Anmerkungen! In einer ganz feinen und akkuraten Handschrift. Und sie waren... kritisch. Sie hinterfragten alle seine Bilder, beinahe jeden Gedanken... Er war blass geworden und blätterte weiter, bis er bei dem Text zu ‚Blue Moon’ angekommen war. Dieser war vollkommen übersät mit fremden Worten! Der Fremde hatte nicht nur angemerkt, nein, er hatte den Text vollkommen neu geschrieben! Fassungslos starrte Kaito auf die Seiten. Das war... Verdammt, die neue Version war genial! Absolut genial! Das ging ihm schon bei den ersten Zeilen auf... „Some things are never meant to be Some things are only meant to happen Once in a while Under a blue moon…” Die Melodie kam, ohne dass er weiter darüber nachdenken musste. Hastig sprang er auf und hechtete zu dem Klavier. Einen Augenblick später drangen die ersten Töne durch die Wohnung und Sachiko kam neugierig aus der Küche. Still blieb sie im Türrahmen stehen und lauschte Kaitos Klavierspiel. Verdammt. Das klang wirklich nach einem Hit. Kaito arbeitete den Rest des Tages an diesem Song, feilte an der Melodie und stimmte sie ab. Es war... perfekt. Einfach nur perfekt... Er hatte gar nicht gemerkt, wie Sachiko gegangen war. Er hatte es absolut nicht mitbekommen... Mit einem Glas Wein und dem Notizbuch machte er es sich nun erschöpft auf dem Sofa gemütlich. Die Beine untergeschlagen saß er da und las die Anmerkungen noch einmal durch. ‚Gute Idee, nicht ausgearbeitet.’ ‚Kein ausdrucksstarkes Bild.’ ‚Was willst du damit sagen?’ Alles hatte der Fremde in Frage gestellt. Es war, als wenn er ihn selbst in Frage gestellt hätte... Und das fühlte sich nicht besonders gut an. Kaito mochte keine Kritik. Vor allem nicht, wenn sie aus dem Unbekannten geäußert wurde. Dennoch war der Songtext zu ‚Blue Moon’ jetzt absolut genial... Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe – und blätterte um. Vor Überraschung fiel ihm das Buch beinahe aus der Hand. Da stand noch etwas, das er den ganzen Tag über nicht gesehen hatte! ‚Ich schenke dir diesen Text, in der Hoffnung, dass er dich für die Zukunft inspiriert. Ich bin sicher kein Fan von OCEAN und dessen Musik, die Texte jedoch haben Potenzial. Ein Potenzial, das du weiter ausschöpfen solltest. Da ich selbst es nicht mag, wenn man mich aus dem Nichts kritisiert und mir klug kommt, ein Vorschlag: Wenn du darüber reden willst, triff mich zum zweiten Vollmond des Juni zum Mondaufgang am Senso-ji. Ich werde eine Kirschblüte tragen. Kitagawa Hiroshi.’ Das würde er sich garantiert nicht entgehen lassen! Aber... der zweite Vollmond im Juni? Das war... Seine Augen irrten zu dem Kalender und fixierten ihn. Der 30. Juni. Das war... morgen! Nervös zupfte Kaito an der Perücke herum. Er wartete jetzt seit einer halben Stunde auf den Mondaufgang. Die Menschenmenge hier an dem ältesten Schrein Tokios machte ihn nervös. Wenn ihn jemand erkannte... Seine Augen suchte die Menge immer wieder ab, fanden aber niemanden mit einer Kirschblüte. Ha, wahrscheinlich war das nur ein Scherz oder so gewesen. Garantiert! Und er machte sich jetzt hier zum Deppen. Nur gut, dass dieser Kerl – er war sich sehr sicher, dass es ein Mann war – nicht wusste, wie er aussah. Wenigstens nicht in Verkleidung... „Takeshima-san?“, kam die freundliche Frage von jemanden neben ihm und Kaito wirbelte herum. Das... Eine Kirschblüte im Knopfloch. Das... war er. Der Mann, dem er gegenüber stand, war recht groß, oberer Durchschnitt, wenn nicht sogar noch größer. Er hatte schwarzes Haar, das ihm frech in die Stirn fiel, und funkelnde Augen. Er war vielleicht drei oder vier Jahre älter als Kato, aber definitiv nicht mehr. „Wie... wie hast du mich erkannt?“, brachte Kaito überrascht hervor und vergaß jegliche Regeln der Höflichkeit. Wenn der Kerl in seinen Gedanken herumschmierte, dann durfte er ihn auch duzen! „Och, das ist einfach. Es gibt hier wenig Leute, die suchend durch die Gegend schauen.“ Hiroshi grinste breit. „Darf ich dich Kaito nennen, wo du mich ja eh schon duzt?“ „Ich... Äh...“ „Oder wäre dir OCE...“ „Kaito ist prima!“ Kaito war rot angelaufen, hatte Hiroshi beim Arm genommen und zur Seite gezerrt. „Was... was hast du dir nur dabei gedacht?“ „Wobei? Dass ich dir dein Buch zurückgegeben habe? Das war doch eine Selbstverständlichkeit. Jemand anderes hätte das vielleicht ausgenutzt...“ Hiroshi zuckte mit den Schultern. „Ich nicht.“ „Ja, du hast nur darin alles vollgekritzelt!“ „Ich habe dich korrigiert und verbessert“, gab Hiroshi gelassen zurück. „Du hattest Kritik notwendig. Wahrscheinlich hat dir noch nie jemand gesagt, was du besser machen kannst, oder?“ Perplex schüttelte Kaito den Kopf. „Nein... Ich... Nein.“ „Siehst du? Dann wurde es doch mal Zeit, dass es jemand tut.“ Hiroshi lächelte leicht und schlenderte weiter voran, den Weg entlang, der um den Tempel herumführte. Kaito folgte ihm langsam. „Und... warum? Warum... hast du kein Geld daraus geschlagen?“ „Warum sollte ich?“ Hiroshi zuckte mit den Achseln. „Ich habe kein Interesse daran.“ „Aber...“ „Ob nicht jeder Interesse an Geld hat? Sicher doch. Gerade ein abgebrannter Möchtegerndichter wie ich.“ Er lachte. „Aber so dringend habe ich es nicht nötig, dass ich so etwas tue. Wirklich nicht.“ „Hm...“ Kaito legte die Stirn in Falten und dachte nach. Er musste ja zugeben, dass ihm dieser Hiroshi wirklich sympathisch war. Und... Hilfe konnte er gebrauchen. Und ‚Blue Moon’ war doch der Beweis für Hiroshis Talent... Der Text, zu dem Kaito die Melodie nur so zugeflogen war... „Sag mal... Was würdest du davon halten, mit mir zusammenzuarbeiten und Tantiemen für die Lieder zu bekommen?“ Zögerlich blickte Kaito den anderen an. Was er wohl sagen würde? Hiroshi erwiderte den Blick überrascht und lächelte. „Nun, es wäre definitiv einen Versuch wert.“ „Some things are never meant to be Some things are only meant to happen Once in a while Under a blue moon…”, summte Kaito leise vor sich hin, während sie gemeinsam zu der wartenden Limousine schritten. Es wurde Zeit, einen vernünftigen Vertrag aufzusetzen – und an gemeinsamen Texten zu feilen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)