Forgotten Memories von Ryoken_ ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- Prolog „Yae …“, die Stimme des Mädchens war nur ein Flüstern, „Yae, wo bist du?“ Tränen liefen über das Gesicht des Mädchens. Immer wieder fragte sie nach ihrer Zwillingsschwester. Priester schleiften das Kind, ihr Name war Sae, in das Kurosawa-Anwesen. „Nein! Nein, ich will nicht!“, schrie Sae. Ihr Knie schmerzte noch immer, bei ihrer Flucht war sie gestürzt. Ja, Sae und ihre Zwillingsschwester hatten versucht wegzulaufen. Sie hatten versucht, ihrem Schicksal zu entfliehen. Doch dann war sie, Sae gestürzt. Ihrer Schwester hatte sie noch zugerufen, zu laufen. Zu laufen so schnell sie nur konnte ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen. Schlussendlich hatten die Priester Sae eingeholt und brachten das junge Mädchen zurück. Zurück in das Dorf der Götter, Minakami, zurück in die Kurosawa-Villa. „Yae!“ Mio irrte durch den Wald. Wo war Mayu? Zuletzt hatte Mio ihre Schwester gesehen, als diese einem Schmetterling gefolgt war. „Mayu, wo bist du?“, rief sie nach ihrem Zwilling. Sie rannte weiter, bis sie einen schmalen Pfad entdeckte. Diesem Pfad folgend entdeckte Mio kurze Zeit später ihre Zwillingsschwester Mayu, welche noch immer diesem purpurfarbenen Schmetterling folgte. „Mayu, warte!“, rief Mio und lief ihrer Schwester nach. Kapitel 2: The lost village --------------------------- Mayu und Mio Amakura waren Zwillinge. Beim Spielen hatten sie sich im Wald verirrt. Bald darauf hatte Mayu gefallen daran gefunden, einem Schmetterling hinterher zujagen. Mio konnte ihre Schwester nicht zurückhalten und kurze Zeit später hatte sie sie aus den Augen verloren. Erleichtert atmete Mio auf. Erleichtert, ihre Schwester gefunden zu haben. „Mayu. So warte doch!“, rief sie erneut. Doch Mayu reagierte in keiner Weise auf die Rufe. Immer weiter rannte sie in den dunklen Wald. Mio versuchte ihr zu folgen, doch einmal kam es ihr so vor, als trüge Mayu plötzlich einen weißen Kimono. Schlussendlich holte Mio ihre Schwester doch ein. Die andere war plötzlich stehen geblieben. Vor ihnen lag ein kleines Dorf. „Wo sind wir denn hier?“, fragte Mayu zögerlich. Nach kurzem Überlegen antwortete Mio: „Ich weiß es nicht!“ Die Priester bedeuteten Sae, still zu sein. „Wir können das Ritual nicht ohne ihre Schwester durchführen!“ sagte einer von ihnen. Mit eiskalter Stimme erklärte ein anderer: „es wird funktionieren. Es muss funktionieren!“ Sae wurde von zwei Priestern in den Keller des Hauses gezerrt. Ein großes, viereckiges Loch befand sich in der Mitte des Raumes. Die Angst Saes wurde immer größer. „ich will nicht sterben! Bitte nicht! Nein! Yae!“, schrie sie. Doch sie konnte schreien was sie wollte, niemand nahm es wahr. Oder wollte es wahrnehmen. Die Priester brachten sie zu einem großen Stein am Loch. Legten ihr die Schlinge des langen Strickes um den Hals. Ängstlich sah Mayu sich um. Das Dorf wirkte verlassen und heruntergekommen. Mio nahm ihre Hand, hatte sie doch ebenso große Angst wie ihre Schwester. „Wenn wir nur wüssten, wo wir hier sind.“, meinte Mayu. Mio nickte nur und trat näher an ein Haus heran. „Vielleicht ist ja doch jemand hier.“, sagte sie und klopfte an die Tür. Wider Erwarten schwang diese mit einem knarrenden Geräusch auf. Mayu murmelte: „Ich glaube nicht, dass wir da hineingehen sollten. Lass uns von hier verschwinden …“ „wenn du mir sagst, wohin wir gehen sollen, dann können wir ja gehen!“, meinte Mio. Als ihre Schwester nicht antwortete, trat sie in die Vorhalle des Hauses. Mayu blieb dicht hinter ihr. Sie zitterte vor Angst. Mit einem Mal schrieen die Zwillinge laut auf. Vor ihnen auf der Treppe war eine Frau aufgetaucht. Sie sah aus, als wäre ihr Genick gebrochen. Langsam kam sie auf Mayu und Mio zu. Die beiden waren wie angewurzelt stehen geblieben, doch nun rannten sie los. So schnell wie nur möglich rannten sie durch das Dorf. Glücklicherweise folgte die Frau ihnen nicht. „W .. was war das?“, stammelte Mio. Ihre Schwester wusste jedoch keine Antwort auf diese Frage. Sae hatte panische Angst. Flehte die Priester an, sie gehen zu lassen. Oder zumindest nach ihrer Schwester zu suchen. Keiner der Priester ging darauf ein. Einer löste sich von der Gruppe und schritt feierlich auf Sae zu. Diese schloss die Augen, tränen rann ihr Gesicht hinab. Der Priester, sein Gesicht war verdeckt, kam immer näher. Laut schluchzte Sae auf. Nun stand der Priester knapp vor ihr. Er stieß Sae vom Stein. Sofort zog sich die Schlinge um Saes Hals zu. Ein schneller Tod war ihre Erlösung. Ein weiterer der vermummten Priester trat hervor und zu zweit warfen sie den Körper des Mädchens in das Loch. Schlussendlich wandten sich die gestalten um und verließen diesen Ort. Inzwischen hatte Mayu den purpurfarbenen Schmetterling wieder entdeckt. Erneut rannte sie ihm hinterher, die Rufe ihrer Schwester nicht hörend. Sie lief geradewegs auf ein Haus zu, welches sich etwas weiter weg befand. Mayu war schnell aus Mios Sicht entschwunden, doch Mio gelang es rasch, ihre Zwillingsschwester zu finden. Majestätisch erhob sich das Haus, in welches Mayu gerade verschwunden war, vor Mio. Ihre verzweifelten Schreie hatten Mayu nicht davon abgehalten, in jene Villa zu gehen. Meilenweit entfernt fuhr eine junge Frau namens Rei Kurosawa aus dem Schlaf. In ihrem Traum war sie wieder durch das Haus des Schlafes gewandert. Doch nun schrie sie vor Schmerz beinahe auf. Ein tattoo-artiger Bluterguss zog sich wie aus dem Nichts aufgetaucht über ihre Schulter. Im Traum hatte Rei ihren Verlobten Yuu gesehen, doch als sie ihm folgen wollte, war er verschwunden. Sollte das etwa Einbildung gewesen sein? Nein, dafür war alles viel zu real gewesen. „Yuu …“, Rei schluchzte. Ihr Verlobter war vor mittlerweile zwei Jahren bei einem von ihr verursachten Autounfall gestorben. Tränen liefen der jungen Frau hinab, als die Erinnerungen an diesen Tag in ihr hochkamen. Als sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, sah Rei auf. Ihre Assistentin, Mitbewohnerin und beste Freundin Miku Hinasaki trat ein. Zaghaft setzte sie sich neben Rei aufs Bett und legte den Arm um sie. „Rei? Ist alles in Ordnung?“, fragte sie die Ältere. Rei nickte nur und stand auf um sich umzuziehen. Miku war schnell aus dem Zimmer verschwunden um Frühstück zu machen. Kapitel 3: The nightmare continues ---------------------------------- Kapitel 2 - The nightmare continues Seufzend stand Miku in der Küche. Sie machte sich Sorgen um Rei, immerhin hatte sie sie schon lange nicht mehr so niedergeschlagen erlebt. Auch das erneute Auftauchen des Stechpalmen-Tattoos gefiel dem Mädchen gar nicht. Kopfschüttelnd versuchte sie, sich keine Gedanken zu machen, zumindest jetzt noch nicht. Das Knarren der Treppe lies Miku aufsehen. Während sie zusah, wie Rei sich nun den am Tisch liegenden Briefen zuwandte, achtete sie nicht auf ihre Katze, welche in genau diesem Moment einige Gläser von der Abtropfplatte neben der Spüle herunterwarf. Erschrocken fuhren Rei und Miku zusammen, während sie nach der Ursache dieses Lärms suchten. „Ruri!“, bemerkte Miku schließlich das Tier, welches nun auf der Arbeitsplatte saß. Während das Mädchen ihre Katze schimpfend in den Vorraum beförderte, wandte sich Rei wieder den Briefen zu. Sie stellte fest, dass es sich um einen Auftrag und mehrere Rechnungen handelte. Schnell überflog sie den Auftrag, sie war freiberufliche Fotografin, und sah dann zu Miku, welche gerade wieder zur Tür hereinkam. Fragend sah die Jüngere Rei an, welche gezwungen lächelte. „Wir sollen ein altes Haus fotografieren. Die Fotos dienen dann zur Vorlage für einen Horror-Thriller. Dem Brief liegt eine Karte zu dem Haus bei, also machen wir uns besser gleich auf den Weg.“, erklärte sie. Einige Zeit später waren die beiden bereits auf dem Weg zu dem Haus, von welchem Rei Fotos machen sollte. Von Zeit zu Zeit sah Miku besorgt zu der Frau. Noch immer hatte sie ein äußerst ungutes Gefühl, denn was war, wenn die ganze Geschichte von neuem beginnen würde? Würden sie dem Fluch ein weiteres Mal entrinnen oder gab es diesmal vielleicht erst gar keinen Ausweg? „Miku? Ist alles in Ordnung?“, fragte Rei das Mädchen. Die Angesprochene schüttelte nur den Kopf und lächelte. Die junge Hinasaki war bemüht, Rei nichts von ihren Sorgen merken zu lassen. Weiterhin stumm durch die Frontscheibe des Wagens starrend, kamen Erinnerungen in ihr hoch. „Guten Morgen, Miku!“, rief ihr Bruder Mafuyu und grinste sie an, „Wenn du unbedingt über deinem Frühstücksmüsli einschlafen willst, dann bitte, tu es, aber ich glaube nicht, dass das eine sonderlich gute Idee wäre.“ Schlaftrunken sah seine Schwester ihn an und murmelte: „Und warum nicht?“ Erneut musste Mafuyu grinsen und merkte dann an, dass es vielleicht einfach besser wäre, es nicht zu tun. Kopfschüttelnd, und sich fragend wie man um diese Uhrzeit schon so fröhlich sein konnte, aß Miku weiter. „Ich fahre heute zu dem Haus, in dem Herr Takamine für seinen neuen Roman recherchiert.“, sagte Mafuyu. Auf die Frage seiner Schwester, wann er denn wieder zurückkommen würde, erwiderte er schulterzuckend: „Keine Ahnung!“ Angsterfüllt rannte Miku durch das Haus. Sie lief von Raum zu Raum, suchte einen Ausweg aus diesem Alptraum. Vergeblich rüttelte das Mädchen an manchen Türen, vergeblich suchte sie einen Weg hinaus. Immer wieder warf sie panische Blicke über die Schulter, um nachzusehen ob der Geist ihr folgte. Erschöpft lehnte sie sich schlussendlich an eine Wand. Das Mädchen rutschte zu Boden, schreckte jedoch sofort wieder hoch. Vor ihren Augen war ein junges Mädchen aufgetaucht. Jenes Mädchen war ein Geist und diese Tatsache bewegte Miku dazu, schnellstmöglich zu verschwinden. „Dein Bruder … er ging in diese Richtung.“ Die Stimme des kleinen Geistermädchens war kaum mehr als ein Flüstern, doch Miku verstand jedes Wort. Schnell fuhr sie herum, und sah gerade noch, in welche Richtung der Geist gezeigte hatte, ehe er verschwand. „Mafuyu …“ Das Mädchen bewegte sich langsam in die Richtung, in welcher sich ihr Bruder befinden sollte. Der Boden knarrte laut unter Mikus Füßen und die junge Hinasaki hatte ihre Kamera Obscura griffbereit. Vorsichtig öffnete sie eine Tür, hinter der sie Geräusche vernahm und daher das Geistermädchen dahinter vermutete. Zögernd trat Miku in den Raum, der größtenteils von einer Blende eingenommen wurde. Hinter dieser Blende hörte sie jemanden, sie vermutete das Mädchen von vorhin, weinen. Links von sich sah Miku Hinasaki eine Treppe, welche in das Obergeschoss des Zimmers führte. Sie wollte schon hochgehen, als sie das Geistermädchen erneut sah. Unweit neben der hochführenden Treppe befand sich ein kleiner Treppenabgang. Das geisterhafte Kind bedeutete Miku, ihr zu folgen. Langsam tat Miku wie geheißen und stieg die Treppen hinab. Knarrend öffnete sich die Tür und das Mädchen sah sich um. Von dem Geist war keine Spur mehr zu entdecken, genauso wenig wie von Mafuyu, Mikus Bruder. Vor der Hinasaki baute sich etwas wie ein Altar auf. Miku trat näher heran, um gleich darauf zurückzuschrecken. Sie hatte ein Geräusch vernommen, welches anscheinend von über ihr gekommen war. Zitternd vor Schreck blickte sie nach oben und stieß einen kleinen Schrei aus. Einen knappen Meter über ihr hing ein großer Käfig, in welchem eine junge Frau gefangen war. Teilnahmslos saß sie da, nahm keine Notiz von Miku oder dem Knarren ihres Gefängnisses. Der Hinasaki war, als könnte sie ein leises Murmeln vernehmen, dennoch sicher war sie sich nicht. Angsterfüllt aufblickend ging Miku Schritt für Schritt zurück, aus diesem unheimlichen Raum heraus. Kaum war die Tür hinter dem Mädchen zugefallen rannte sie so schnell sie konnte. Ihr Ziel klar vor Augen, wollte sie nur noch einen Ausgang finden. Dies war leichter gesagt als getan, den Miku verirrte sich immer mehr in den Gängen des Hauses. Mehr als einmal schien es ihr, als würde sie jemand verfolgen. Sooft sie jedoch einen Blick zurück riskierte konnte sie niemanden entdecken, auch nicht mithilfe der Kamera Obscura. Verzweifelt schritt das Mädchen energischer aus. Es musste doch einen Ausweg geben, es musste einfach einen geben! „Aaaah!“ Ein Aufschrei gellte durch das Haus. Zitternd saß Miku auf dem Boden, sah zu den Balken über ihr. Gerade eben war eines der daran befestigten Seile heruntergefallen. Es hatte das Mädchen nur gestreift und doch war es so plötzlich gekommen, dass Miku für eine kurze Dauer einfach sitzen blieb und versuchte, diesen kleinen Schock einigermaßen zu verarbeiten. Miku befand sich in einem langen Gang, dessen Decke voller Balken war, an welchen unzählbar viele Seile hingen. Hinter ihr befand sich ein großer Spiegel, dem sich das Mädchen jetzt vorsichtig näherte. Schritt für Schritt trat sie vor, dem Spiegel immer näher kommend. Sie hob ihre Hand, berührte leicht das Glas jenes Spiegels und atmete erleichtert aus. Da war nichts weiter als ihr eigenes Spiegelbild zu sehen. Sie wollte sich schon abwenden, doch dann sah sie etwas, dass ihr das Blut in den Adern gefrieren lies. Plötzlich aufgetaucht war ein ganz anderes Bild. Aus dem Spiegel heraus kam eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren auf sie zu. Sie trug einen weißen Kimono und hielt den Blick gesenkt. Langsam näher kommend, verließ sie den Spiegel. Ohne einen Laut bewegte sie sich auf Miku zu, welche sich starr vor Schreck nicht zu bewegen vermochte. Geräuschlos verstrichen Sekunden über Sekunden, bis Miku die leise Stimme des Geistes vernahm: „ The ropes … the ropes …“ Mit einem Schrei wachte das Mädchen auf. Sofort bremste Rei und sah Miku erschrocken an. „Was ist denn los?“ , fragte die Ältere besorgt. Tief durchatmend realisierte Miku, das sie nur geträumt hatte. Es war ein Traum jener Art, die ihr nicht unbekannt waren. Vor geraumer Zeit waren ihre Nächte durchzogen von all dem Horror, welcher ihr in diesen Träumen widerfahren war. Nächtelang war sie durch dieses Haus gegangen, das Haus des Schlafes, und doch erinnerte sich nichts mehr an die Himuro-Villa, als dieses Traumgebäude. Jene Träume waren allerdings seit langem verschwunden. Keine geisterhaften Wanderungen durch ein nichtexistentes Haus, keine schmerzhaften, Tattoo - ähnlichen Blutergüsse mehr, alles hatte aufgehört. Bis jetzt. Es sah ganz danach aus, als würden diese nächtlichen Horror-Visionen wiedergekehrt sein. Stunden zuvor sorgte sich Miku um Rei, nun war auch bei ihr selbst die Stechpalmentätowierung wieder aufgetaucht. Zitternd besah Miku ihre Arme, welche die dunkelblauen Zeichnungen aufwiesen. Schließlich sah sie zu Rei auf, der die Sorge ins Gesicht geschrieben stand. „So … Sollen wir umkehren?“, fragte die Erwachsene mit brüchiger Stimme. Unentschlossen blickte die Jüngere durch die Frontscheibe des Wagens. „Nein …“. Mikus Stimme war kaum ein Flüstern, sie zitterte vor Angst, doch als sie zu Rei aufblickte lag etwas Entschlossenes in ihren Augen. Rei verstand. Sie kannte Miku mittlerweile lang genug um zu wissen, dass das Mädchen sich von diesen Träumen nicht einschüchtern ließ. Verhindern konnten sie sie ohnehin nicht, was bedeutete sich damit abfinden zu müssen. Weiterhin besorgt fuhr Rei erneut los. Zu ihrem Glück befanden sie sich zurzeit auf einer alten, kaum befahrenen Landstraße irgendwo mitten im Nirgendwo. So gab es keine Probleme, da Rei Kurosawa immerhin gerade eben mitten auf jener Straße geparkt hatte. Miku saß nachdenklich neben ihr, die besorgten Blicke, die die Ältere ihr immer wieder zuwarf kaum beachtend. Verzweifelt rüttelte Mio Amakura an dem großen Tor, welches sie von ihrer Schwester trennte. Vor kurzem war sie noch einem purpurfarbenen Schmetterling folgend durch diese gelaufen, doch aus unerfindlichen Gründen fand Mio dieses Tor nur verschlossen vor. „Verdammt …!“ Das Mädchen lehnte sich mit dem Kopf an das aus Holz bestehende Tor. Verwirrt und verärgert. Was sollte sie jetzt nur machen? Die Tür, welche sie von ihrer Schwester trennte war verschlossen, daran bestand kein Zweifel. Ohne auch nur im Entferntesten nachzudenken war Mayu Amakura losgerannt. Sie hatte ihre Zwillingsschwester Mio rufen gehört, nicht aber den Inhalt verstanden. Nur lose Worte die sie nicht interessierten. Alles was im Augenblick wichtig war, war diesem Schmetterling zu folgen. Sie fühlte eine intensive Verbundenheit, die so stark war, dass es fast schon wehtat. Die Schmerzen in ihrem Bein ignorierte Mayu, auch wenn es nicht ganz so einfach war. So schnell sie konnte kam sie dem Schmetterling hinterher. Das Mädchen hatte nur noch Augen für diesen. Sie bewegte sich direkt auf ein großes, hölzernes Tor zu. Als der Purpur-Schmetterling darüber hinwegflog überlegte Mayu nicht lange und schritt durch das Tor. Die verzweifelten Rufe ihrer Schwester hinter ihr nahm sie nicht mehr wahr. Leicht zuckte Mayu zusammen, als das schwere Tor hinter ihrem Rücken zufiel. Beunruhigt blickte sie die lange Brücke vor ihr entlang. Erst zögernd, dann doch etwas zügiger schritt das Mädchen auf das Haus hinter der Brücke zu. Die Brücke, alt und morsch wie sie war, knarrte unter Mayus Füßen und die Zwillingsschwester Mios beeilte sich, das andere Ende jener zu erreichen. Erleichtert atmete die junge Japanerin aus und besah sich das Haus nun von nahem. Es wirkte alt und alles andere als vertrauenserweckend und doch so altbekannt, was sich Mayu nicht erklären konnte. Aber es war nicht das Bekannte, das sie in dies Gebäude lockte, es war etwas anderes, unerklärliches. „Masumi … Masumi wo bist du?“ Jemand schluchzte in der Dunkelheit. „Masumi … Masumi wo bist du?“ Immer und immer dieselben Worte. „Ich vermisse dich … komm zurück …“ Die langen, schwarzen Haare bedeckten das Gesicht der Person. „Warum, Masumi?“ Es schien eine zierliche Frau zu sein, allein gelassen von jenem, den sie liebte. Zitternd presste sie ein Notizbuch an sich und murmelte vor sich hin. Murmelte in die Dunkelheit, von niemandem gehört. Tränen rannen ihr Gesicht hinab, von niemandem gesehen. Das Wimmern, welches sie zeitweise von sich gegeben hatte verstummte nun ganz. Stille, nur noch Stille. Alles war ruhig, kein Geräusch war mehr zu hören. Kein Laut störte diese Stille. Nichts. Weder Treppen, die unter niemandes Schritten knarrten, noch Luftzüge die eventuell ein Geräusch verursachen könnten. Keine Geräusche, die offenbarten, dass die Frau nun wieder in ihr Notizbuch schrieb. Das Kratzen des Schreibgerätes war seit langem verstummt. Ein Schrei gellte durch die ewig anhaltende Nacht: „MASUMI WO BIST DU?“ Kapitel 4: What are you looking for? ------------------------------------ Die Sonne ging bereits unter, an diesem schönen Herbsttag. Rote, braune und gelbe Blätter fielen durch den immer wieder aufkommenden Wind dann und wann mit leisem Rascheln zu Boden und inmitten dieser schön anzusehenden Pracht konnte man eine hübsche junge Frau erkennen. Sie hatte langes, schwarzes Haar und trug eine kurzärmelige Bluse mit dazupassendem blauen Rock, etwas ähnlich dem einer Schuluniform, welcher ihr bis zu den Knien reichte. Miyako Sudo und sie war in diese Gegend gekommen um ihren Verlobten wieder zu finden. Dieser, sein Name war Masumi Makimura, war Landvermesser und sollte hier etwas für den geplanten Minakami-Damm überprüfen. Doch es war nicht ganz so gelaufen wie es sollte, Masumi war verschwunden und es gab über Monate hinweg kein Lebenszeichen von ihm. Selbst die Polizei hatte die Suche nach dem Mann bereits eingestellt. Nur Miyako wollte die Hoffnung nicht aufgeben, sie wollte ihn wieder finden, ihn in die Arme schließen und alle Zweifel der letzten Zeit vergessen. Nun war sie hier. Einsam. Allein. Voller Hoffnung. Voller Hoffnung ihre große Liebe wieder zu finden. Angetrieben von jener Hoffnung sollte sie bald merken, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Einen Fehler, der sich vielleicht nicht wieder ausmerzen ließ. Die Bäume warfen bedrohliche Schatten auf den Boden und der Wind zischte ihr unhörbare Worte zu. Miyako fröstelte ein wenig und betrachtete ängstlich die Umgebung. Das Laub unter ihren Füßen raschelte leise und die junge Frau spielte nervös mit etwas in ihrer schwarzen Tasche herum. Sie zog kurz ein Foto hervor welches sie mit einem Mann, höchstwahrscheinlich ihrem Verlobten, zeigte. Tränen stiegen ihre Augen hoch und leise Schluchzer ihrerseits waren zu hören. „Masumi …“ Schon bevor Mayu das Gebäude betreten hatte, hatte sie bemerkt, dass etwas fehlte. Nicht der Schmetterling, der verschwunden war. Unsicher hatte sie sich umgesehen, sich dann doch dazu entschlossen in dieses Haus zu gehen. Und jetzt stand sie da, mitten in diesem großen Gebäude und wusste es. Mio. Wo war Mio? Wie konnte sie das nur vergessen? Was hatte Mayu selbst nur dazu bewogen hier in diesem unheimlichen Dorf alleine ohne ihre Schwester ein Haus zu betreten? Sie wusste noch nicht einmal wo sie sich befand, hatte keine Ahnung wo der Ausgang war und wollte nur noch zurück zu ihrer Zwillingsschwester. „Kagome, Kagome …“ Rascheln. Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Sie rannte. Miku Hinasaki rannte, entfernte sich immer schneller der drohenden Gefahr, näherte sich einer Größeren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ich muss (weg von hier schnell weg nur weg) Mafuyu finden! Miku stolperte und schrie auf. „ … itsu itsu deyaru …“ Die Stimmen, sie kamen immer näher. Sie kommen, (ich will weg nur hier weg) ich muss mich beeilen … (ich habe Angst) Mafuyu wo bist du? … Miku schrie. Immer wieder denselben Namen, ohne Unterlass. Schrie immerzu nach ihrem Bruder. Nach Mafuyu. Reis verzweifelte Versuche, das Mädchen zu beruhigen blieben wirkungslos. Minuten um Minuten vergingen, langsam verstummten Mikus Schreie, gingen über in Tränen. Völlig aufgelöst saß die junge Hinasaki neben Rei im Wagen. Schluchzte leise Mafuyus Namen. Rei sah ihre Mitbewohnerin besorgt an, ehe sie beschloss, es für den heutigen Tag sein zu lassen. Miku brauchte Ruhe, sonst würde sie es gewiss nicht durchstehen. Der Auftrag konnte schließlich noch ein Weilchen warten. So fuhr Rei Kurosawa kurze Zeit später auf den Parkplatz eines kleinen Hotels. Es lag außerhalb jeglicher Städte und war - bis auf einige wenige Gäste - leer. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, holte die freiberufliche Fotografin ihre Mitbewohnerin aus dem Auto. Die beiden hatten, bis auf Reis Fotoausrüstung kaum Gepäck dabei. Miku hatte sich auf der Fahrt zum Hotel, welches Rei auf ihrem Autoatlas gefunden hatte, etwas beruhigt. Jetzt saß das Mädchen zitternd in ihrem Zimmer auf dem Bett. Die Tränen waren längst versiegt und getrocknet, doch Mikus Augen waren noch gerötet. „It´s raining again…“ „Kaname…" ich würde ihn so gerne sehen. Wie es ihm wohl geht?“ Kyouka Kuze saß an ihrem Tischchen und kämmte ihr Haar. Sie ließ ihr Spiegelbild nicht einen Moment aus den Augen. Stundenlang saß sie so da, stundenlang kämmte sie sich nun schon, stundenlang sprach sie ohne Unterlass von ihrem Sohn. Ihre Worte waren an niemanden gerichtet, verhallten ungehört in diesem Raum, war sie doch die einzige die sich darin befand. „Mein süßer, kleiner Kaname“ Sie seufzte und erhob sich nun. Nach einem kurzen Blick durch den Raum entschied sie, sich doch noch eine Weile weiterzukämmen. Ein weiteres Seufzen entwich ihren Lippen, als die Frau mit dem langen schwarzen Haar sich erneut niederließ. „Er hat meine Haare geliebt.“ Kyoukas Stimme nahm einen verträumten Ton an, als sie nun von ihrem Geliebten sprach. Wieder hörte ihr niemand zu. Wer denn auch? Niemand war anwesend. „Er wird zurückkommen und mich holen. Er hat es mir versprochen.“ Das plötzliche, aber doch leise Geräusch an der Tür war ihr gar nicht aufgefallen, Kyouka nahm es nicht annähernd wahr. Amane, die draußen vor der Tür zu Kyoukas Zimmer stand, war zu Boden gesunken. Sie wusste, Kaname war hier. Sie wusste, seine Mutter wollte ihn sehen, um jeden Preis. Doch das konnte Amane nicht riskieren. Kaname war hier um Reika zu sehen, obwohl er nicht hier sein dürfte. Männer waren in Kuze-Schrein verboten. „Gomen nasai“, flüsterte Amane der Tür zu und verschwand. Sie musste Kaname helfen, unentdeckt zum Schrein zu kommen. Er wollte Reika sehen. Unbedingt. Unter allen Umständen. Amane wusste, ihr würde eine schwere Strafe bevorstehen, sollte herauskommen dass sie es war, die dem Jungen geholfen hatte. Und dennoch wollte sie ihm aus tiefsten Herzen helfen, Reika noch ein letztes Mal zu sehen. Die Schreinmaid eilte die Treppen hinab, den Gang entlang, durch die Tür zum Geisterbaumgarten. Da stand er bereits, ihr Bruder Kaname und sah sich hektisch um. Er war leicht zusammengezuckt, als die Tür hinter Amane zufiel. Auch er hatte Angst entdeckt zu werden, wusste er doch um die harte Strafe die ihn ereilen würde. Und das Oberhaupt der Kuze-Familie würde diese Strafe gewissenhaft ausführen. Oder eher ausführen lassen. „Amane!“, rief Kaname der kleinen Schreinmaid zu. Sie beeilte sich, zu ihm zu kommen, als ein Laut die beiden zusammenzucken ließ. Das Geräusch klang, als würde es von einem der nahe liegenden Puppenzimmer einer Schreinmaid kommen. Schnell packte Amane den Älteren und zog ihn durch die Tür, durch die sie eben gekommen war. Das Mädchen wollte es noch nicht riskieren, den Schrein zu betreten. Niemand durfte sie sehen. Sonst wäre alles umsonst. Alles würde vorbei sein. Niemand durfte sie sehen. Niemand. „Kaname …“, flüsterte Amane und schreckte auf, als der andere reagierte. „Was ist denn?“, fragte er das Mädchen. Sie wandte sich ab und murmelte ihre Antwort ins Nichts. „Ist schon gut … ich meine, es ist alles in Ordnung.“ Mit einem schüchternen, aber dennoch unverkennbar nervösem Lächeln auf den Lippen sah sie Kaname nur an. Sie machte sich Sorgen. Hatte Angst, was passieren würde wenn Kaname Reika sah. Sie ein letztes Mal sah. Würde er versuchen mit ihr zu fliehen? Würde er versuchen sie erst zu überreden, damit sie überhaupt mit ihm floh? Nein. Reika hatte diesen Weg selbst gewählt. Sie hatte selbst zugestimmt, die neue Priesterin zu werden. Es war wohl überlegt gewesen. Niemals würde Reika jetzt noch weglaufen. Niemand könnte sie dazu bewegen. Es war ihr Weg, sie wollte es so. Sie hatte so entschieden, also würde reika jetzt nicht weglaufen. Niemals weglaufen … Tränen stiegen Amane in die Augen und ehe sie noch einen Versuch unternehmen konnte, sich zu beherrschen rannen diese Tränen über ihr Gesicht, nasse, heiße Spuren hinterlassend. „Amane?“ Sie hörte Kanames fragende Stimme. „Amane?“ Unaufhörlich flossen ihre Tränen. „AMANE?!“ Wusste er, dass seine Mutter ein Stockwerk höher auf ihn wartete? Wusste er, dass er sie sehen könnte? Wusste er wie sehr seine Mutter sich wünschte, ihn zu sehen? Nein. Er wusste gar nichts. Sleep, priestress, lie in peace …“ Leise war Reikas Stimme zu vernehmen. Leise hallte ihre Stimme durch den kleinen raum, ungehört. Tränen, wie Perlen glänzend, die ihr Gesicht hinabliefen. Ungesehen. Das Knacken der Äste unter ihren Füßen gab Miyakos Angst jedes Mal aufs Neue kurzzeitig Nahrung. Dieser Ort gefiel ihr nicht, so düster und undurchschaubar wie er war. Am liebsten würde sie stehen bleiben und sich einfach nur ein wenig ausruhen. Dennoch wagte die junge Frau nicht, allzu lange am selben Fleck zu verweilen. So lange war sie nun schon auf der Suche nach Masumi. Und doch musste Miyako nun zugeben, sich verirrt zu haben. Wie toll. Erst kam sie her um ihren Verlobten zu finden und jetzt müsste man mit ein bisschen Glück nach ihr selbst suchen. Aber wer würde sie schon suchen? Gerade sie? Würde sie jemand vermissen? Würde jemand kommen um nach ihr zu suchen? Nein. Wer sollte das schon tun? Ein leises, nervöses und alles andere als überraschend humorloses Lachen erklang kurz. Auf dieses erste Lachen folgte ein zweites, schon etwas lauteres aber immer noch so humorlos. Diesmal klang etwas anderes darin mit. Etwas, wie voll von Verzweiflung. Verzweiflung, die sich nun endgültig in ihr breit machte. Alles war wie weggewischt, die Angst, die Sorge, die Hoffnung, die wie ein Talisman in ihrer Brust geglüht hatte. Da war nichts mehr. Nur noch abgrundtiefe Verzweiflung. Die schiere Endgültigkeit dieses Gefühls trieb der jungen Frau Tränen in die Augen. Die herrschende Stille wurde nun durchzogen von kurzen, schnell aufeinander folgenden Schluchzern, erst laut, dann sank Miyako zu Boden, leise weinend, sich gehen lassend. Sich einfach gehen lassend und ihrer Verzweiflung die Überhand gewinnen lassend. Ein Knacken in unmittelbarer Nähe ließ sie hochfahren. Die Kälte ihrer Verzweiflung wich der eisgleichen Kälte der Furcht. Ein weiteres Knacken. Sie versuchte sich einzureden dass da nichts wäre, dass sie es sich einbildete. Ein Knacken, jetzt ganz nah. Die Furcht machte der Panik Platz. Miyako sah angsterfüllt und mit schreckgeweiteten Augen auf die Stelle an der sie den Verursacher des Geräusches vermutete. Wenngleich sie nichts und niemanden sehen konnte, wusste sie einfach dass sich jemand hier befand. Er, sie oder vielleicht sogar es war hier, war nahe. Zu nahe. Langsam wich sie zurück. Ein Grauen erfüllte sie nun, von einer Tiefe, weitreichender als Verzweiflung, schlimmer noch als pure Angst, mehr als Panik. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)