Seelensplitter von Hrafna (Rufe aus der Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 9: "Abschied" --------------------- "Abschied" (Kyouran - Shiosai) Vage streichen die Fingerspitzen des anderen über seinen bloßen Rücken, zeichnen verschlungene Muster auf seine Schulterblätter, ehe sie dem Lauf seiner Wirbelsäule bis zum Nacken folgen. Es ist eine liebevolle, beruhigende Berührung, deren Intimität ihm Gänsehaut bereitet. „Ich habe meine Entscheidung getroffen. Du kannst mich nicht davon abhalten.“ Darüber hinaus ist ihm bewusst, dass sich die Person hinter ihm nicht nach seiner Nähe und Zuneigung verzehrt – seine Sehnsucht gilt einem Fremden, und die Vertraulichkeiten zwischen ihnen beruht lediglich auf der Projektion des Älteren. Er stört sich nicht daran, denn in seinen Augen ist es unbedeutend. „Ich weiß.“ Ein weiteres Murmeln verliert sich in seinem Haar, das ihm ungebunden über die Schultern fällt. Die Sorge hingegen, die sich in jenen leise gewisperten Worten verbirgt, entspricht der Wahrheit. Sein Bruder hat Angst, natürlich liebt er ihn. „Mein Verstand ist derart zermürbt, dass ich mich selbst nicht wieder erkenne. Es ist besser so, glaub mir. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine grauenvolle Sache es ist, die eigene Seele in seinem Leib vergehen zu spüren…“ Mittlerweile hat der Hass sein Innerstes zerfressen und irreparable Schäden angerichtet; ein langsamer, aber steter Prozess, der seine Persönlichkeit konsumiert und ihn zu einer willenlosen Bestie werden lässt. Klare Momente, wie diesen, hat er nur noch selten. „Kyouran… Es tut mir leid, dass ich euch wieder Kummer machen werde. Nur noch dieses eine Mal…“ Seufzend lehnt er sich zurück, akzeptiert nun schließlich das Angebot eines vergänglichen, körperlichen Halts. Er wird bald sterben, wahrscheinlich heute, oder morgen; dies hier sind seine letzten Stunden, und gleichgültig, wie bitter dieser Gedanke auch erscheinen mag, es wird ihn endlich erlösen und aus seinem Dilemma befreien. „Sag das nicht.“ Natürlich sind die Tatsachen nicht zu ändern, dennoch weigert sich sein gesamtes Wesen dagegen, sich damit arrangieren zu müssen. Shiosais Leben, einstmals für die Ewigkeit bestimmt, wird unwiderruflich verlöschen, und ihm selbst bleibt nicht einmal die Illusion eines Jenseits bestehen, wo er ihn möglicherweise noch einmal sehen könnte. Drachen ist der Zutritt verwehrt, ihre Seelen zerbersten in Abertausende von Splittern, die niemals wieder zusammen gefügt werden können, verdammt als ruhelose Geister zu existieren und niemals Frieden zu finden. „Wie ungerecht…“ Was erwartet man, wenn man mit dem Geschenk der Unsterblichkeit gesegnet ist? Ein zusätzliches Mitgift umsonst? „Vielleicht. Trotzdem ist es allein meine Schuld. Ich habe diesen Pfad betreten, also muss ich ihn auch bis ans Ende gehen.“ Etwas Nasses benetzt seine Schulter, und ihm ist vollkommen einsichtig, dass Kyouran weint. Um ihn . „Du solltest eigentlich mit mir schimpfen, großer Bruder. Mach nicht denselben Fehler wie ich, halte deine Emotionen im Zaum oder der Irrsinn verschlingt dich.“ Für gewöhnlich hätte er solch hochtrabende, belehrende Aussagen nicht über seine Lippen gebracht, jetzt empfindet er es als angemessen. Niemand hat es verdient, sein Schicksal zu teilen – ausgenommen die Bastarde aus dem Clan der Luftdrachen. „Shiosai, sieh mich bitte an.“ Widerwillig wendet er sich ihm zu, und billigt, dass sich die Hände des älteren Wasserdrachen auf seine Wangen legen, seine Fingerspitzen die blasse Haut kosen. Doch es beläuft sich nicht allein auf seinem fahlen Teint; das Symbol des Wasserclans auf seiner Stirn wirkt wie verwischt, seine Augen sind stumpf und wie von Nebel verschleiert. „Vergiss mich nicht.“ Kyouran ringt um seine Fassung, schluckt hart. „Das werde ich nicht.“ Mit einer knappen Bewegung entzieht sich der Jüngere seinem Bruder, richtet seinen Hakama und streift anschließend den Haori wieder über seine Arme, als er sich umdreht. Leichten Schrittes durchquert er die Hälfte des Raumes, dann hält er kurz inne, um die Wasserlanze der Vatnsdrekar, Sui no Rinrou, die er sich zuvor aus dem heiligen Schrein ohne Erlaubnis aneignete, aufzunehmen. „Pass für mich auf Suika auf. Bitte.“ Der Angesprochene öffnet den Mund, um eine Bestätigung zu erwidern, doch er bekommt keine Silbe heraus, nicht ein Ton will sich aus seiner Kehle lösen. Fürwahr, es ist lächerlich, dennoch… Durch seinen Kopf schwirren so viele unbeantwortete Fragen, konfuse Erinnerungen und Schuldzuweisungen, dass er vor Verwirrung und Anspannung kaum mehr ruhig atmen kann. Hinzu addiert sich die Verzweiflung, die aus seinem Mitwissen resultiert, lähmt ihm Körper und Geist. Er mustert für einen Augenblick Shiosais Rücken, und es versetzt ihm einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz. „Shiosai…“ Dieser schweigt, hebt anstatt dessen die rechte Hand, während seine Schultern sich unwillkürlich entspannen. Ein stummer Abschiedsgruß, nicht mehr, und auch nicht weniger. Verzagt presst der andere die Zähne aufeinander, und seine Finger krampfen sich in den Stoff seiner Kleidung, als sein jüngerer Bruder nunmehr vor den Shouji tritt und den Arm ausstreckt. Seine Paralyse dauert an bis sich die Schiebetür lautlos wieder schließt und erst in diesem Moment kann er einen Teil davon erfolgreich abschütteln. Es ist zu spät, er ist allein, er wird ihn niemals wieder sehen. Der schwarze Tee, der noch immer unberührt in dem perlmuttfarbenen Geschirr vor ihm weilt, ist unlängst kalt geworden. ***---***---*** [Anm. der Autorin] Der OS ist mir schwer gefallen. Ich wollte Shiosai aus seinem Image als rachsüchtiges, von Hass erfülltes Monster heraus holen und ihn von seiner ursprünglichen Seite zeigen. Umso deutlicher wird dann nämlich, was starke Emotionen mit einer Drachenseele anrichten und wohin dieser Weg am Ende führt. Die Szene spielt sich ein oder zwei Tage vor der Begegnung mit Flúgar im Wald der Kitsune ab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)