Der Bulle und der König von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Der Anfang vom Ende ------------------------------ „Mako-chan... Hey, Mako-chan… Duuuuu, Mako-chan…” Das Quengeln nahm kein Ende. Mako-chan, Mako-chan, Mako-chan. Dies war nicht das erste Mal, dass Makoto Takashi verhaften musste. Seit Makoto bei der Polizei von Ikebukuro war, begegneten sich die beiden öfters mal auf „geschäftlicher“ Basis. Und lachten darüber. Takashi würde Makoto die Hände hinstrecken, damit Makoto ihn in Handschellen legen könnte und wenig später würde Makoto einen sehr aufgedrehten Takashi per Arschtritt wieder aus dem Präsidium befördern. Doch nicht diesmal. Diesmal, so wusste Makoto, würde der König sein Reich nicht so schnell wiedersehen. Es bedurfte weder Beweisen, noch eines Geständnisses, denn Makoto, katastrophalerweise in Yokoyamas Begleitung, hatte ihn auf frischer Tat ertappt – beim Morden. Yokoyama, der sich von Yoshioka hatte überreden lassen, wieder in den Dienst zu treten, war gerade dabei, in den BMW, den er einst in einer Wette an Makoto verloren hatte, einzusteigen, als es passierte. Erst dachten sich die beiden Gesetzeshüter nichts dabei, schließlich jagte doch ständig irgendein G-Boy einen Black Angel, irgendein Gelber lief ständig vor einem Schwarzen davon. So auch vorhin, als Kyoichi, Anführer der Black Angels, in einem Affenzahn vor Takashi davonrannte und Takashi ihn mit einem gezielten, aus einem Videospiel abgeguckten Tritt zwischen die Schulterblätter, mitten auf der Straße zu Fall brachte. Normales Szenario. Die beiden liebten es schließlich, sich gegenseitig grün und blau zu schlagen, mit Essbesteck zu piercen und Treppen runterzuwerfen. Leider war es diesmal anders und Kyoichis masochistisches Grinsen erblasste schneller, als Makoto „Das reicht, du Vollidiot!“ brüllen konnte. Während Takashi diesmal besonders zu strahlen schien. Der schmächtige König der G-Boys saß breitbeinig in Kyoichis Kreuz und zielte immer wieder auf Kopf und Genick seines Gegners, dem alle Tänzchen und alles Französisch der Welt nicht mehr helfen konnten. „Biä fä pua toa, kretä!“ kläffte Takashi in etwas, das wohl Französisch darstellen sollte, während seine Faust immer mehr die Farbe von Kyoichis Haaren annahm, die von all dem Blut in wirren Strähnen aneinander klebten. Als Makoto es endlich schaffte, mit der eigenen Hand zwischen Takashis Faust und Kyoichis Genick zu fahren, bewegte der Untere sich schon nicht mehr. Die Sanitäter, die wenige Minuten später eintrafen, konnten nur noch seinen Tod feststellen, während Takashi, obwohl Makoto ihn von hinten an den Handgelenken festhielt, fröhlich triumphierend auf und abhopste und brüllte, „Kyon-chan, ich hab dir doch gesagt, dass ich dir die Fresse einhaue, wenn du wieder doof bist! Bukuro braucht keinen doofen Bandenchef, nur mich!“ Makoto wusste ganz genau, dass Takashi zwar durchgeknallt und vollkommen gestört, aber keineswegs dumm war und wusste, wie man jemanden vernünftig, krankenhausreif, halbtot oder totprügeln konnte. Takashi hatte noch nie versehentlich jemanden umgebracht. Egal, wie übel er seine Gegner zurichtete, immer mied er rigoros die empfindlichen Stellen. Und Kyoichi war stark genug, sich gegen einen Takashi, der ihn nur halbtot prügeln will, zu wehren. Egal, was Makoto oder Takashi noch für Argumente hätten bringen können, es war ein eindeutiger Mord. Kein Totschlag, keine Körperverletzung mit Todesfolge, kein Unfall, sondern Mord. Und darauf stand die Todesstrafe. Und Makoto hatte die „Ehre“, seinen besten Freund zu verhaften und ins Verderben zu schicken. Ihm war zum Kotzen zumute, er spürte den Boden unter den Füßen nicht mehr und alles wurde wie überbelichtet, so hell und unwirklich. „Mako-chan...“ quengelte es wieder vor ihm, während er Takashi, noch immer in Handschellen, durch den Gang des Polizeipräsidiums Richtung Haftkeller schob, Mako-chan, weißt du...“ “Was!?“ fauchte Makoto ihn schärfer an, als er eigentlich wollte. „Deine Hände sind kalt.“ „Ich glaub eher, du bist überhitzt...“ „Und nass sind sie auch. Aua....“ Wie der König einer dreihundert Mann starken Schlägerbande so wehleidig sein konnte, wenn er nur einen Handrücken an die Birne bekam, war Makoto seit jeher ein Rätsel. Aber noch nie zuvor tat das quäkende „Aua“ ihm selbst so weh. Und ihm war danach, dem Strohkopf, dessen weiße Kleidung jedes Blutbad zu überstehen schien, noch mehr davon zu entlocken. Ihm war danach, Takashi so richtig zu verprügeln und anzuschreien. „Warum lernst du nicht?“ – „Hör auf mit dem Scheiß!“ – „Wegen einer scheißkindischen Bande..!“ Was waren die G-Boys und die Black Angels letztendlich? Takashi bedeuteten seine Boys viel, während Kyoichis Angels lediglich eine Trotznummer gegen seinen ehemaligen Anführer waren. Aber egal, was sie ihren Führern bedeuteten, diese Banden waren letztendlich nichts weiter, als ein Haufen gelangweilter Jungs ohne Zukunft, die sich um Ikebukuro prügelten, als ob es was zu holen gäbe. Als ob es nicht möglich wäre, unter Mitmenschen, die einander weder kennen, noch kümmern, in einer Stadt zusammenzuleben. Zwar machten sich die G-Boys noch hier und da nützlich, aber unterm Strich blieb eine unsinnige Bande dummer Jungs. Und wegen so was riskierte Takashi also die Todesstrafe. Dabei wusste er längst, dass nicht Kyoichi oder seine Männer Rika, Shun, Mitsuru und die anderen ermordet hatten, sondern Yamai, der außer Reichweite ebenfalls in der Todeszelle saß. Und auch Yamai war nicht die Quadratwurzel allen Übels, denn der hatte nur auf Wunsch von Hikaru und gelegentlich auf Auftrag des Kyougokuclans gehandelt. Wobei zumindest Hikaru ebenfalls nicht allein schuldig war, hatte ihr Vater sie doch zu dem Monster gemacht, das sie war. Und wem würde ihr Vater dann die Schuld geben? Letztendlich kam es doch nur darauf an, wer schlussendlich handelte. Egal, was Kyoichi Takashi getan haben mochte, und mehr als Verrat und Körperverletzung war das nicht, Takashi war es, der eines Abends beschloss, ihn zu töten. Und er hatte dabei ein wenig zu viel Spaß, als dass man ihn gezwungen haben könnte. Niemand konnte ihn hier noch rausreden. Wäre Makoto wenigstens allein gewesen. Dann hätte er Kyoichis Tod auf jemand anders schieben können, vielleicht hätte er ihn sogar verhindern können oder Kyoichi eigenhändig mit seiner Dienstwaffe erschossen, „Notwehr, Gefahr im Verzug“, ehe Takashi ihm irgendwelche einschlägigen Wunden hätte einschlagen können. Aber er war nicht allein gewesen, und Yokoyama, das wusste Makoto ganz genau, musste sich gerade ziemlich toll finden. Kaum waren sie im Präsidium angekommen, war er auch schon zu Yoshioka geeilt um stolz zu verkünden: G-Boys König Takashi Andoh ist geschnappt und kommt nie wieder raus! Und war es nicht toll für einen Sadisten wie Yokoyama, dass ausgerechnet Takashis bester Freund ihn verhaften und in die Zelle führen musste? „Mako-chan,“ blökte Takashi müde, während Makoto ihn etwas grob in seine Zelle beförderte, „Ich hab Hunger, kaufst du mir einen Kloß?“ „Seh ich so aus?“ grummelte Makoto und setzte Takashi auf ein Bett, das eines Königs nicht gerade würdig war. Takashi würde wohl lieber in seinem gelben Büschen oder in den Sesseln der Sauna seines dauerbesoffenen Vaters liegen. Da bohrten sich ihm wenigstens keine Sprungfedern in seinen dünngepolsterten Hintern. Jetzt grinste Takashi ihn auch noch so unschuldig an. Makoto wusste nicht, wie lange er das noch aushalten sollte, ohne sich zu vergessen. „Mako-chan sieht heute echt fertig aus.“ „Mako-chan hätte auch eigentlich längst Feierabend,“ knurrte Makoto und seine Stimme wurde langsam immer lauter, „Aber nein, irgend so ein Vollidiot, der eine Steckdose mit seiner pseudorussischen Freundin verwechselt haben muss, musste ja unbedingt vor meiner Nase einen pseudofranzösischen Balletttänzer totprügeln!“ „Weeeeeeeer?“ fragte Takashi mit weit offenen Mund und Augen, ohne dabei das naive Grinsen zu verlieren. Hätte er den Mund noch ein Stück weiter geöffnet, wäre ihm wohl die Sabber übers Kinn gelaufen. „Takashi!“ brüllte Makoto ihn jetzt an und die Hand rutschte ihm aus und fuhr schallend über Takashis Gesicht, das nun endlich etwas passender dreinschaute. Auch seine heitere Haltung verwandelte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in eine eher Niedergeschlagene. Takashi liebte Schläge, nur „Mako-chans“ taten irgendwie weh. „Mako-...“ “Nein.“ „Ich hab noch gar nichts gesagt,“ schmollte der weiß-blonde Wurm, dessen Gesicht im Schatten des Bettes über ihm gruselig finster wirkte, „Bleibst du noch ein bisschen?“ Nichts würde Makoto lieber tun, als bei Takashi zu bleiben und ihn gegen Haftrichter, Yokoyama und alle anderen zu verteidigen, aber länger hielt er es nicht mehr aus. Er musste hier weg. Es wirkte alles so unwirklich. Er hockte da, in einer Zelle, gegenüber sein bester Freund, den er soeben verhaften musste und gleich in einer vermutlichen Todeszelle zurücklassen würde. Ihm wurde immer übler, immer schwindliger, und er setzte sich neben Takashi aufs Bett, eher er mit dem Gesicht vorwärts gekippt und zwischen Takashis Beinen gelandet wäre – und belohnen wollte er Takashi nicht auch noch. Und prompt ließ Takashi sich seitlich an Makotos Schulter sacken und schmiegte seinen Kopf an Makotos Hals. Seine Haare kitzelten Makoto im Ohr, im Nacken, pieksten in sein linkes Auge und stanken nach Haarlack. Der Junge hatte Sorgen... Haare stylen – fürchterlich, mit Verlaub – und Leute verprügeln. Das würde ihm hier nichts bringen. Während er für seine Löwenmähne und die redegewandten Fäuste dort draußen dreihundert Mann zu Füßen hatte, hatte er hier genau ein verkalktes Klo, ein quietschendes Doppelbett, einen Mülleimer und ein Kellerfenster. Der Schimmel an den Wänden kam Bonus. „Ne, Mako-chan, wenn ich hier wieder rauskomme, trittst du dann endlich den G-Boys bei?“, fragte Takashi unbekümmert, während er sich Makotos Handabdruck von der Wange rieb. „....“ „...bei?“ „Also, weißte...“ „...beeeeeeeiiiiiiiiii?“ Warum auch nicht. Es würde die G-Boys bald ohnehin nicht mehr geben und wenn es Takashi glücklich machte, war dieses kleine Versprechen nicht viel. „Warum auch nicht... ihr könntet einen Erwachsenen gebrauchen, mit einer Knalltüte wie dir als Boss.“ Takashi grinste. Auch Makoto musste kurz grinsen bei dem Gedanken, ihm nach jahrelangem Quengeln endlich das Ja-Wort gegeben zu haben. Das Grinsen verging ihm so schnell, wie es gekommen war und er wurde brutal auf den betonharten Boden der Tatsachen zurückgeholt, als er spürte, wie neben ihm ein dünner Arm versuchte, hinterm Rücken hervorzukommen, wohl um Makoto wieder einmal zu nahe zu kommen. Früher hätte er hämisch gelacht, wenn Takashi in Handschellen versucht hätte, ihn zu begrabschen, doch nun war es nur mehr herzzerreißend, diesem knochigen Arm beim Zappeln zuzusehen. Auch die Handgelenke hatten bereits ihre Spuren von den Schellen, auch, wenn man es im schummrigen Licht der Zelle und im Schatten des Hochbetts, kaum sehen konnte. Die hatte Makoto ihm angelegt. Im Gegensatz zu Takashi, war er es nicht gewohnt, Männern händchenzuhalten und hatte sich so beim Anlegen der Handschellen verschätzt und sie viel zu eng gestellt. Bei Takashis dünnen Ärmchen war es aber auch zu leicht, sie zu weit zu stellen. Makoto beschloss, noch ein wenig bei seinem Freund zu bleiben, auch, wenn er wohl bald den Mülleimer aus der fernen rechten Ecke der Zelle brauchen würde. Er konnte sich einfach nicht dazu bringen, aufzustehen und zu gehen und hinter sich seinen langjährigen besten Freund für immer zurückzulassen. Stunden vergingen und Makoto merkte, was für ein Fehler es war, nicht gleich gegangen zu sein. Der gefesselte, müde, unschuldig dreinschauende Takashi, der mittlerweile mit dem Kopf auf Makotos Schoß schlief, fühlte sich an, wie tausend Tonnen Blei, die ihn lähmten, festhielten. ‚Wenn ich jetzt gehe...’ Es war, als würden seine Füße Wurzeln schlagen. Wann würde er jemals wieder aufstehen oder sich wenigstens bewegen? Wie lange verharrte er schon in dieser lebenden Totenstarre? Und plötzlich ging die Tür auf. Der plötzliche Lichteinfall und der Luftzug, der durch die Tür hineinkam, trafen den benebelten Makoto wie ein Schlag und er konnte sich gerade noch die Hand vor den Mund pressen und sein Abendessen daran hindern, auf Takashis wirres blondes Haar niederzuprasseln. „Majima, raus hier, Schluss für heute.“ Yokoyama, wie immer eiskalt, gnadenlos und jeglichen Taktes beraubt, schien Makotos Muskeln allein durch seine Präsenz zu stimulieren und wie ferngesteuert hob er vorsichtig Takashi von seinem Schoß und ließ ihn sanft aufs Bett fallen. Der kleine König nuschelte etwas von „...ko-chan“, was Makoto sich zu verstehen weigerte, und schlief eingerollt weiter. Dem Gemälde fehlte zur Vervollständigung nur noch, dass Takashi sich den Daumen in den Mund schob – was er gelegentlich sogar tat. Vorsichtig löste Makoto die Handschellen und Takashi griff sofort seine Füße. Denn auf die musste er ja aufpassen. ’Wenn ich ihn nur gleich hier, im Schlaf, erschießen könnte...’ Scheiß Yokoyama. Kapitel 2: Folge dem Geschrei ----------------------------- Zehn Tage waren seit Takashis Verhaftung vergangen und seitdem hatte Makoto ihn nicht mehr gesehen. Zwar packte ihn mehrmals täglich die Lust, ihn zu besuchen, aber es würde alles nur schwerer machen. Für Makoto. Takashi selbst war der Typ, der bei jedem Besuch ganz aus dem Häuschen war und hätte sich wohl sehr gefreut. Nur heute hatte Makoto gerade nichts Besseres zu tun und beschloss, Takashi in dem Gefängnis zu besuchen, dem er eine Woche zuvor anvertraut/zugemutet wurde. Er hatte schon die wildesten Stories über die Prozeduren und Praktiken in diesem Gefängnis gehört und einer wie Takashi, der jeder noch so besonnen Person die Besinnung rauben konnte, war ein potentieller Kandidat für diverse Strafen und Schikanen. Wäre er nicht so bestialisch stark, wäre er wohl auch ein beliebtes Ventil. Wer vergreift sich nicht gern an solchen Schmachbräten, die allem Anschein nach schwul und obendrein ständig fröhlich sind. Während er seine Dienstmarke und seinen Ausweis am Eingang vorlegte, stellte sich Makoto das Bild vor, wenn Takashi sich zum Pinkeln anstellen müsste. In Reih und Glied zu stehen, war vom G-Boys King viel zu viel verlangt. Wie lange es wohl dauern würde, bis man es entweder aufgab, ihn zum Geradestehen und auf drei zu pinkeln zu zwingen, oder aber bis Takashi beschließen würde, in den Mülleimer, oder in einem Akt feinster Akrobatik, aus dem Fenster zu pinkeln? Einen Tag. Genau einen Tag sollte es dauern. Aber das konnte Makoto noch nicht wissen, als er den Gang des vierten Stocks entlang in Richtung Zelle vierhundertneunundzwanzig lief. In Krankenhäusern wurden die Zahlen vier, zweiundvierzig und neun bei Zimmernummern streng gemieden, weil ihnen negative Bedeutungen nachgesagt wurden. Bei einem Todeskandidaten wohl weniger dramatisch. Shi-ni-ku – tolerant übersetzt „leidend sterben“. Shiniku, shiniku, shiniku, die zahl wurde zum Rhythmus, einem Beat, zu dem er bei anderen Gelegenheiten vielleicht getanzt hätte. Das Gebäude wirkte von innen sehr viel größer, als von außen. Dies lag vielleicht an den Galerien, in die das Innere des Gefängnisses eingeteilt war. Jedes der fünf Stockwerke war eine viereckige Galerie, von der aus man auf die anderen herab oder hinaufsehen konnte und in jedem der Stockwerke hörte man die Schritte der Leute auf den anderen auf dem Gitterrost, der einen soliden Boden ersetzte. Nur in den Zellen selbst war der Boden aus Beton. Im Stil glich das Gefängnis eher einem amerikanischen Gefängnis als einem Japanischen. Nur die Größe der Zellen war, typisch für japanische Gefängnisse, höchst bescheiden. „MAKOTOOOO!!“ Er brauchte nicht länger die Zellennummern zu lesen, um zu wissen, wo er hinmusste. Als er seinen Namen zum zweiten Mal hörte, blieb er – und für einen kurzen Moment auch sein Herz – abrupt stehen. Wenn Takashi ihn bei seinem richtigen Namen nannte, ohne ein –chan anzuhängen, bedeutete das meist nichts Gutes. Das letzte Mal, dass Takashi ihn so genannt hatte, wirbelte er einen beinahe bewusstlosen Makoto durch die Gegend und deformierte sein Gesicht in einen rot-lila-schwarzen Klumpen. Wenn man das Endresultat mit irgendeinem externen Körperteil hätte vergleichen können, dann wohl eher mit einem allergiegeplagten Hodensack als mit einem Gesicht. So langsam bewegte er sich eindeutig an den herkömmlichen Zellen vorbei und das Geschrei schien trotzdem nicht näher zu kommen. Hatte Takashi sich etwa im Klo eingeschlossen? Wobei so ein Missgeschick für Takashi längst kein Grund gewesen wäre, Makoto beim vollen Namen zu nennen. Dafür konnte Makoto doch auch nichts. Es dauerte etwas, bis Makoto die Essenz der Sache zu hinterfragen begann, nämlich: wie konnte Takashi überhaupt wissen, dass Makoto da war und ihn hören konnte? Irgendwann kam ihm ein Wärter entgegen und Makoto beschloss, ihn nach dem Weg zu fragen. “Ach, die Zelle ist zur Zeit leer. Er ist in der Hogobo-Zelle eingesperrt, folgen Sie dem Geschrei bis zum Ende des Ganges. Seien Sie vorsichtig, er ist gefährlich.“ ‚Sagt einer, der offensichtlich noch keine von Takashis Launen abgekriegt hat,’ dachte Makoto sarkastisch und bedankte sich höflich für den Hinweis. Und was ist eigentlich eine Hogobo-Zelle? Er sollte es bald genug herausfinden, hing doch neben der zugehörigen Eisentür eine „Gebrauchsanweisung“. Laut dieser war dies eine Art Sicherheitszelle für Insassen, die eine Gefahr für sich und andere waren. Er steckte den Schlüssel, den man ihm gegeben hatte, ins Schlüsselloch und machte sich auf eine Reihe von Schlägen und Tritten gefasst. Als Mann akzeptierte er die Wut und die Strafen, die ihm gebührten. Schließlich war er es gewesen, der Takashi verhaftet hatte. Er biss die Zähne zusammen, kniff die Augen zu und hoffte, dass es schnell vorbei sein würde. Nichts kam. Als er die Augen wieder öffnete, sah Makoto in seiner ängstlich geduckten Haltung nur etwas Graues am Boden der dunklen Zelle, in der es nicht gerade angenehm roch. Er wollte das Licht anschalten, fand aber keinen Schalter. Als er die Tür hinter sich wieder öffnete und so Licht von außen hereinließ, musste er mit Schrecken feststellen, dass es nicht einmal eine Lampe gab. Stattdessen konnte er endlich die graue Gestalt auf dem Boden als Takashi identifizieren. Oder das, was von ihm übrig war. Das einzige, das noch Farbe hatte, war sein hochrotes Gesicht, besonders die verheulten Augen. Er hatte in den zehn Tagen bereits sichtlich abgenommen und sein Haar konnte sich vor lauter Fett kaum noch aufrecht halten. Er war oben-ohne und trug nur eine graue Hose mit Schlitz zwischen den Beinen, der das Fehlen des Klos zu erklären schien. Um den Bauch trug er einen viel zu eng geschnallten Ledergurt, an den seine Hände, ebenfalls mit Ledergurten gefesselt, gebunden waren. Die für Takashi ungewöhnlich steife Haltung erklärten zwei Stahlringe im Boden, die seine Füße hinter ihm festhielten. Takashi mochte ja eine Gefahr für sich selbst und vor allem für andere sein, aber hätte es nicht gereicht, ihn in eine Einzelzelle zu stecken, wie es für Todeskandidaten ohnehin üblich war? „GLOTZ NICHT UND HOL MICH HIER RAUS!!“ Makoto fuhr vor Schreck zusammen, als Takashis mittlerweile heisere Stimme die Stille zerriss. Der entthronte König fixierte seinen Freund und Henker mit roten, nassen Augen und wäre, wenn er gekonnt hätte, wohl auf ihn losgegangen. „Wie,“ stotterte Makoto, um das glühendheiße Eis zu brechen, „Wie lange, ich meine, sitzt du hier schon... so?“ „RIECH MAL, DANN WEISSTES!“ Makoto verzog das Gesicht. Es roch nicht nur penetrant nach Schweiß, das bisschen Wasser, das Takashi zu trinken bekam, musste auch irgendwann wieder raus. Das letzte, was Makoto jetzt brauchte, war ein weiterer Grund, sich von Takashi fernzuhalten und diesen damit nur noch weiter auf die Palme zu bringen, aber schon als Kind fasste Makoto prinzipiell keine Hosenpinkler an. Und ehe er sich versah, hockte er sich vor Takashi und legte einen Arm um seine schlaffen Schultern. Takashi kippte ein Stück weit in Makotos Brust, gerade so weit, wie die Fußschellen und vor allem, die Pfütze auf dem Boden, ihn ließen. Und begann, bitterlich zu heulen. Makoto wusste nicht mehr, ob die Nässe in seinen Armen Schweiß oder Tränen waren, er wusste nur, dass seine Pose äußerst unbequem war und der Pissgeruch seine Nase stach. Dank Takashis kontaktfreudiger Natur, konnte Makoto seine Gemütszustand anhand der Spannung in seinen Muskeln und dem Rhythmus seines Atems einschätzen. Allmählich wurden seine Muskeln schlaff, sein Atem ruhiger und langsamer. Er schien sich zu beruhigen. Sein Gesicht war noch immer glühend heiß, und das würde es wohl auch noch eine Weile bleiben. Takashi war ein geborener Hitzkopf, schlimmer noch, ein brodelnder Vulkan. Und auch, wenn Takashi ein verhältnismäßig kleiner, leichter Vulkan war, fiel es Makoto langsam schwer, das Gleichgewicht zu halten und er versuchte, Takashi sanft und ohne abweisend zu wirken, etwas nach hinten zu drücken. Was ein Fehler war. Ob er wollte oder nicht, Takashi schien es auch in gefesseltem Zustand nicht möglich zu sein, seine Körperteile allesamt bei sich zu behalten und seine Zähne hatten sich irgendwann heimlich in der Krawatte von Makotos Uniform verbissen und, wie zur Beruhigung, unbemerkt auf ihr herumgekaut. Und an genau dieser Krawatte zog er Makoto mit sich nach hinten weg; Makoto konnte gerade noch eine „Wasserlandung“ verhindern. Nun lagen sie da. Die Krawatte hing schlaff zwischen Takashis Lippen, quer über ihm lag der viel schwerere Makoto und stöhnte über die „lästige“ Situation, in der er schon wieder war. Die Fußschellen waren dazu gemacht, den Gefangenen auf den Knien ausharren zu lassen und sogar der gelenkige Takashi empfand es so langsam als äußerst schmerzhaft, auf angewinkelten Beinen zu liegen. „Geh runter,“ keuchte er schwach und bekam einen leichten Hustenanfall. Seine Kehle war trocken und rau, er hätte nicht so viel schreien sollen. „Haben sie dir mal’n Arzt geschickt?“ fragte Makoto, während er sich von Takashi runterquälte und sich hinter ihm an die Wand setzte, schön weit weg von der feuchten Stelle am Boden. „Was für’n Arzt denn,“ stöhnte Takashi müde und schien sich nicht wirklich zu scheren. „Einen Psy... chologen... chiater... Du weißt schon, Seelenklempner.“ „Wozu? Weiß doch eh jeder, dass ich gaga im Kopf bin.“ „Ich hab mal mit Kazunori gesprochen, der meint, wenn die sehen, dass du wirklich unberechenbar bist, wirkt sich das straflindernd aus.“ „Unberechenbar, straflindernd? Seit wann das?“ „Ach, du weißt schon. Na ja, dass du halt nix dafür kannst und die dir nicht die Verantwortung geben können, für das was du tust.“ „Unzurechnungsfähig. Dein Wörterbuch hat sich schon immer auf ‚lästig’, ‚ätzend’ und ‚Hikaru’ beschränkt, Makoto.“ „Hikaru! Genau! Siehste, die haben sie nämlich auch nur in die Klapse gesteckt, anstatt in den Knast! Weil die auch diese Rechenschwäche hat! Irgendwie mit dem Tiger und dem Pferd.“ Takashis Körper zuckte kurz. War das ein Lachen? „Jedenfalls,“ fuhr Makoto fort, „Wenn du einem Psychiater beweisen kannst, dass du krank bist und nichts dafür kannst, wenn du Leute zusammenschlägst, dann könnte man dir helfen. Jemanden, der bei einer Tat nicht von Geistern besessen war, kann man auch nicht dafür bestrafen, verstehst du?“ „Falsch,“ stöhnte Takashi, der immer noch in einer sehr unbequemen Haltung vor Makotos Füßen lag, „Nichts dafür können tut man eben, wenn man von Geistern besessen ist.“ „Hä?“ „Geistesgegenwärtig, mit ‚ä’. Damit ist der eigene Geist gemeint, keine Hirngespenster.“ „Gespinste.“ „Egal.“ Egal war auch aller guter Rat. Wo sollte Makoto innerhalb der nächsten sechs Monate, die Takashi vom Galgen trennten, einen Psychiater finden, der erstens vom Gericht ernstgenommen und zweitens für jemanden wie Takashi plädieren würde. Wer brauchte Takashi schon? In ganz Bukuro war er nur als Anführer einer dreihundert Mann starken Jugendbande bekannt, den jeder dritte Bürger gerne von der Bildfläche verschwinden sähe. Takashi mochte nicht so aussehen, aber seine Kontakte und sein Einfluss beschränkten sich nicht auf ein paar hundert jugendliche Nichtsnutze, auch die Yakuza kannte ihn. Welcher Arzt würde für jemanden wie Takashi seine Karriere riskieren? „Ich komm gleich wieder.“ „Wohin gehst du?“ Eine Antwort bekam Takashi nicht, als Makoto ihn bei offener Tür zurückließ. An der „Rezeption“ angekommen, sprach er den Beamten an. „Takashi Andoh, zur Zeit in der Hogobozelle, hat sich beruhigt und kann wieder in eine normale Zelle umgesiedelt werden.“ „Die zwei Wochen sind noch nicht vorbei,“ murmelte der Beamte desinteressiert und blätterte weiter in einem Magazin, das Makoto von sich aus nicht identifizieren konnte. „Welche zwei Wochen? Hören sie, der ist völlig fertig, der kann gar nicht mehr rumtoben.“ „Machen’s doch grad, was Sie wollen,“ nuschelte der Mann und warf Makoto einen Schlüssel zu. „Tun’s ihn da rein.“ „Danke.“ Mit motziger Miene schlurfte Makoto zurück zur Hogobozelle. Was für Leute arbeiteten hier? War es so egal, was mit den Insassen passierte? Als er kam, war Makoto nicht einmal nach seinem Dienstausweis gefragt worden, er hatte ihn von sich aus vorgelegt. Er hätte genau so gut ein Cosplayer sein können, der mit Sprengstoff bewaffnet, einen Ausbruch organisieren kam. Was gar keine so schlechte Idee war. Doch erst einmal wollte er Takashi wieder auf die Beine helfen – buchstäblich. Er merkte kaum, wie sich die einst kalten Fußschellen, die längst seine Körperwärme angenommen hatten, von seinen Knöcheln lösten. Auf wackligen Beinen stand er auf, wankte nach rechts, dann nach vorne, nach links und plumpste auf seinen dünnen Hintern. „Mako-chan,“ kam es kleinlaut von unten. „Was los?“ „Heute ist zwar kein offizieller Waschtag, aber wenn ein Polizist es anordnet?“ „Duschen? Gute Idee.“ Er war erniedrigend, der Weg zu den Duschen. Nicht alle Türen waren aus Eisen, es gab auch Gittertüren und durch diese, gafften andere Insassen Takashi an, wie er seinen Spießrutenlauf ablegte. Wie ein Tier im Zoo, trafen ihn die neugierigen Blicke, denen er schutzlos ausgeliefert war. Seine Hände waren zwar inzwischen wieder frei und ohne den Gurt konnte er auch endlich wieder richtig atmen, aber diese Hose... Allmählich wurde die zellenlose Wand länger und der Duschraum kam in Sicht. Makoto konnte sich nicht erklären, wie jemand, der vor wenigen Minuten noch weinend am Boden lag, plötzlich immer kühler und lässiger zu werden schien. Er stolperte vor Schreck beinahe über seine eigenen Füße, als Takashi mit einem Kampfschrei – oder war es ein Freudenschrei – den Duschraum enterte, sich im Lauf die Hose vom Leib riss und sofort den nächsten Hahn aufdrehte. „KALT!“ „Der mit dem roten Punkt dürfte warmes Wasser sein, du Depp,“ rief Makoto ihm aus sicherer Entfernung zu. Er hatte heute morgen bereits geduscht. Das tat er zwei mal die Woche, genau wie die Insassen hier. Hinter ihm konnte er das Prasseln der Dusche und das Klatschen von nassen Füßen auf dem Boden hören. Das Geschrei, die Tränen, die Wut und der Gestank von vor nicht einmal zehn Minuten, schienen plötzlich vergessen. Aber für wie lange? Kapitel 3: Von Affen und BMWs ----------------------------- Mit einem tiefen Seufzer ließ Makoto sich auf sein Bett fallen. Für heute war er fertig mit sich und der Welt und das lag nicht nur an seinem Besuch bei Takashi. Seit er Polizist war, war seine Mutter stolzer denn je und jedes mal, wenn er in Uniform nach hause kam, präsentierte sie ihn stolz der Kundschaft: „Das ist mein Makoto, ist er nicht hinreißend? So groß und Polizist! Wenn er nur nicht impotent wäre!“ – anstrengend war seine Mutter schon immer, aber dass es so ausarten würde, nur weil er jetzt Gesetzeshüter war, hätte Makoto sich nie träumen lassen. So lag er nun auf seinem Bett, mit einer ungesicherten Waffe am Gürtel, und starrte ratlos an die Decke. Als er Takashi wieder in seine gewohnte Zelle gebracht und sich verabschiedet hatte, hatte er ihm noch versprochen, ihm innerhalb der nächsten vierzehn Tage einen Psychiater aufzutreiben, der ihn als unberechenbar, nein, unzurechnungsfähig erklären und vor dem Galgen retten würde. Wie immer, war Makoto sehr vorsichtig mit seinem Versprechen gewesen, aber er kannte Takashi nun schon seit gut fünfzehn Jahren. Der Junge hatte die unangenehme Art, jedes noch so unsichere Angebot als heiliges Versprechen zu sehen und schwer enttäuscht zu sein, wenn man sich nicht daran hielt. Aber wie sollte er innerhalb von zwei Wochen einen Psychiater finden, der den König der G-Boys aus dem Knast holen würde? Woher sollte er überhaupt so viel Geld holen? Schließlich wollte kein anständiger Bürger jemanden wie Takashi auf freiem Fuß sehen und die besten Chancen gab es da noch mit viel, viel Geld. „Der Affe könnte...“ Der „Affe“, wie Makoto den geplagten Fujio Saitou noch immer nannte, musste kräftig niesen. Seine Kollegen des Hanezawaclans wünschten ihm Gesundheit. „Irgendjemand muss mich grad Affe genannt haben“, schniefte er, während er sich die Nase rieb. „Ich bring ihn um.“ Und da ging auch schon sein Handy. „Ja?“ „Affe?“ „Wer spricht da? Und nennen Sie mich nicht Affe... ah... Makoto?“ „Wer sonst? Alles okay?“ „Was willst du? Ich dachte, du willst mit der Yakuza nichts mehr zu tun haben?“ „Na ja, du bist ne Ausnahme. Ich bräuchte deine Hilfe.“ „Andoh’s Verhaftung?“ „Wie immer gut informiert, typisch Yakuza.“ „Du solltest öfter die Zeitung lesen,“ lachte Saitou, „Die Sache stand am nächsten Tag in den Schlagzeilen!“ „Ganz toll,“ murmelte Makoto sarkastisch, „Aber Takashi ist mein bester Freund. Kann man da nichts machen?“ „Du sprichst mit der Yakuza, natürlich kann man da was machen. Hast du schon einen Plan oder so?“ „Na ja,“ meinte Makoto, „Ich dachte, man könnte ihn vielleicht von einem Psychiater als unzurechnungsfähig erklären und in eine Anstalt umsiedeln lassen.“ „Die Todesstrafe wäre damit sicherlich aufgehoben, aber willst du, dass sie ihn ans Bett fesseln und mit Psychopharmaka zudröhnen?“ „Das sehen wir dann. Ich brauch erst mal den Psychofritzen, dann ist er zumindest aus der Todeszelle raus, weißt du?“ „Und damit ein Psychiater sich überhaupt mit Andoh befasst, brauchst du natürlich Geld, stimmt’s?“ „Ähm...“ Makoto schielte verlegen zur Seite. Wenigstens kam Fujio von selbst darauf und er musste nicht mehr darum bitten. „Und du meinst, das bringt was?“ hakte Fujio noch einmal nach. „Wie..?“ „Ich meine, du kennst ihn besser, aber er macht mir nicht den Eindruck, als ob man mit ihm ernsthafte Gespräche führen könnte. Würde er mitarbeiten?“ „Affe,“ begann Makoto, doch der Adressat unterbrach ihn. „Nenn mich nicht Affe! Willst du unser Geld, ja oder nein?!“ „Es geht hier um sein Leben. Das müsste sogar Takashi langsam kapiert haben. Außerdem...“ „Mh?“ „Außerdem... als ich vorhin bei ihm war, war er kurz davor, wahnsinnig zu werden. Die haben ihn auf dem Boden angekettet und ihn so tagelang ohne Essen und ohne Klo ausharren lassen. Ein zweites Mal hält der das nicht durch.“ „Ich schau, was sich in Sachen Geld machen lässt. Schau du dich schon mal nach einem Psychiater um. Was ist eigentlich mit Hikaru?“ „Hika...“ Das war’s. Makoto hatte einen seiner seltenen Geistesblitze. Der Tiger und das Pferd! „Die müsste doch einen Guten kennen. Schließlich hätte man sie auch wegen Anstiftung zu Mord verknacken können, stattdessen sitzt nur Yamai.“ „Ich ruf dich zurück, ich verlass mich auf dich mit dem Geld!“ Fujio musste schmunzeln als Makoto sich hektisch verabschiedete und auflegte. Er wusste: wenn Makoto plötzlich so hektisch wurde, war es jedes Mal der erste Schritt zu großen Dingen. In dem Moment, wo Makoto auflegte, kamen die Pläne immer erst richtig ins Rollen. Rollen tat er, wie gewohnt in einem dicken BMW, der einst Yokoyama gehörte. Er war unterwegs zu der Psychiatrie, in der Hikaru einsaß. Unterwegs raste er an einigen jener Orte vorbei, an denen er bis vor Kurzem noch mit Takashi die Zeit totgeschlagen hatte. Es war seltsam. Er hatte oft mit Takashi zusammengesessen, sogar wenn er im Dienst war; geredet, dasselbe Brot gegessen und ganz vergessen, dass sie sozusagen Jäger und Gejagter waren. Im Gegenteil, wenn Makoto Wind davon bekam, dass die Polizei wieder einmal etwas gegen die G-Boys plante, erfuhr Takashi es immer sofort. Es hatte sich überhaupt nichts verändert zwischen den beiden. Und Makoto schwor sich, dass es auch so bleiben sollte. In der Psychiatrie angekommen, fragte er sofort nach dem behandelnden Psychiater von Hikaru Shibusawa. Man bat ihn, einen Moment zu warten und Makoto setzte sich auf einen der quietschgelben Stühle im Warteraum, der aussah wie das Wartezimmer eines Kinderarztes. Die Wände waren weiß, die Stühle gelb und die Tische weiß mit roten Tischbeinen. In einer Ecke hing ein Fernseher an der Wand und die großen Fenster waren vergittert. Der Mann, der wenig später vor ihm stand, war nicht nur imposant, er sah sehr intelligent aus und hatte ein charismatisches Gesicht. Makoto wurde anders als er sich an einen ganz ähnlichen Mann erinnerte, der ebenfalls imposant, intelligent und charismatisch war: Yokoyama. ‚Reiß dich zusammen,’ befahl Makoto sich im Stillen, ‚Das is nicht Yokoyama. Das hier is der Typ, der Takashi aus der Scheiße holen soll. Bleib cool. Lächeln. Lächeln, du Idiot!’ „Makoto Majima-kun?“ fragte der Arzt und streckte Makoto, der mangels Übung eher furchteinflößend dreingrinste, die Hand entgegen. „Yamashita mein Name, ich bin für Fräulein Hikaru Shibusawa zuständig. Sie erzählt viel von Ihnen. Sie hatten nach mir gefragt?“ Kühl wie Yokoyama war er auch noch. „Ähm...“ Makoto räusperte sich und nahm erneut Anlauf. „Macht Hikaru irgendwelche Fortschritte? Ich meine, sie ist hier nun schon seit einem Jahr, oder?“ „Aller Anfang ist schwer,“ antwortete Yamashita, „Aber das Wichtigste ist, dass sie sich öffnet und über das Problem redet. Dann kann ich auch überlegen, wie ich ihr helfen kann. Und das tue ich, sie redet mit mir.“ „Können Sie auch...“ „Hm?“ „Nein, das ist so, mein Freund hat da ein Problem...“ „Warum kommt er dann nicht direkt zu mir? Dann könnte ich ihm viel besser helfen. Oder hindert ihn eben dieses Problem daran?“ „Ähm ja... ist etwas lästig... das ist so, wie Sie sehen bin ich bei der Polizei...“ „Sehe ich,“ nickte der Arzt. „Und?“ „Und ich musste ihn vor Kurzem verhaften.“ „Aha. Und warum?“ „Na ja, er hatte da einen Rivalen, und der hatte ihn wieder mal provoziert... denk ich mir... is das lästig...“ „...und?“ „Na ja, ihm ist die Hand ausgerutscht. Und der andere, na ja, er ist leider seinen Verletzungen erlegen...“ Hier musste Yamashita einmal tief durchatmen. Mit so einem „Problem“ hatte er nicht gerechnet, obwohl Makotos Freunde es ja so an sich zu haben schienen, gelegentlich Leute umzubringen. War Makoto die Quadratwurzel allen Übels? „Und jetzt, wo ist dieser Freund jetzt?“ „Im Knast,“ seufzte Makoto und lehnte sich so weit in seinem Stühlchen zurück, dass sein Hintern beinahe abrutschte. „In der Todeszelle.“ „Ach,“ staunte Yamashita, „War es kein Totschlag?“ „Nein, ich war dabei, es war volle Absicht... Na ja, aber Kyoichi hat ihn halt schon seit Jahren provoziert und...“ „Kyoichi? Der Name sagt mir was.... Der war doch vor Kurzem in der Zeitung... Ja stimmt, Kyoichi Ozaki, Chef der Black Angels, vom Chef der G-Boys getötet! Nein! Jetzt sagen Sie nicht, dieser Chef der G-Boys, King oder wie der sich nennt, ist besagter Freund?“ „Mann, is das jetzt lästig,“ murmelte Makoto und kratzte sich am Hinterkopf, „Öh, ja, doch, genau der... Takashi Andoh... Aber wissen Sie, eigentlich ist der ganz okay!“ „Aber sicher doch. Und wie soll ich ihm helfen?“ „Wissen Sie, er ist eigentlich nicht bösartig. Er hat nur solche Momente, wo er einfach durchdreht. Ich dachte, vielleicht will er das ja gar nicht. Also...“ „...kommen Sie zu mir, damit ich ihn für unzurechnungsfähig erkläre und ihn so vor dem Tod bewahre?“ „Ähm... ja, also nein, also... ja ungefähr so, ja!“ „Also, wissen Sie...“ „Ich weiß,“ unterbrach Makoto ihn lauter als gewollt, „Ich weiß, da könnte ja jeder kommen, aber Takashi ist wirklich, na ja, wie soll ich sagen, ein großes Kind... Wir bezahlen Sie natürlich auch! Ich hab draußen nen BMW stehen und...“ Yamashita verzerrte gequält das Gesicht. BMW gut und schön, doch er hatte diesen Takashi bereits in den Medien gesehen und wirklich bösartig sah der tatsächlich nicht aus. Er hatte eher etwas von einem Welpen, der mit unschuldigem Blick die teure Ledergarnitur zerpflückte. Aber war das genug, um einen Mörder aus der Schlinge zu ziehen? Wollte Yamashita das überhaupt? So unschuldig dieser Takashi auch dreinschauen mochte, er war ohnehin kein unbeschriebenes Blatt, die Medien berichteten von Diebstahl, Kontakten zur Yakuza, Körperverletzung – mal mehr, mal weniger schwer – Wiederstand gegen die Staatsgewalt, Behinderung von Ermittlungen, Beleidigung, Erpressung, Folter, Freiheitsberaubung, Vandalismus, Entführung, Oyajigari*, Bandenkriege, Schlägereien, die Liste war endlos lang – und nun auch noch Mord. Mit so viel Dreck am Stecken brauchte der Bengel keinen Psychiater sondern die Freundschaft des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Mindestens. Und Letzteres sagte er auch Makoto, bevor er ihn hinausbegleitete. “Tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann Ihnen hierbei nicht helfen.“ ----- *Jagd auf ältere Männer um diese zu verkloppen und auszurauben. Traurig, dass es dafür schon ein Wort gibt.... Kapitel 4: Schlaflied --------------------- Toll. Das war wirklich ganz toll. Den ganzen Tag hatte Makoto damit verbracht, einen Psychiater für Takashi zu finden, und der, der sich am besten geeignet hätte, ließ ihn gnadenlos fallen. Mistkerl. Mistkerl, Mistkerl, Mistkerl, so ein gottverdammter Mistkerl! Es war eh Yokoyamas Wagen, so störte Makoto sich nicht weiter daran, dass er in seiner Wut gelegentlich Mülleimer, Leitplanken und andere Objekte streifte und so den Lack ruinierte. Der Lack dieses BMWs war zur Zeit Makotos geringste Sorge. Es war bereits dunkel und er fuhr ohne Licht. Auch das Licht war momentan nicht sein Problem. Zuhause angekommen, wollte Makoto direkt wutschnaubend in sein Zimmer verschwinden, doch schon an der Haustür fing ihn ein äußerst seltener Besucher ab. „Makoto,“ brummelte Tetsu, Takashis Vater, „wo ist mein Bengel? Ich werd das Gefühl nicht los, dass du was weißt!“ Hatte der arme Mann etwa noch nicht mitbekommen, was passiert war? Es stand immerhin in allen Schlagzeilen und die Kundschaft musste doch auch getuschelt haben? „Makoto,“ mischte sich nun auch noch seine Mutter mit ungewohnt ernster Stimme ein, „Sag ihm, was los ist. Er wartet schon seit über einer Stunde.“ „Hätten’s mich mal angerufen,“ murrte Makoto. „Ich will das nicht am Telefon bereden. Meinem Bengel ist doch irgendwas passiert, oder? Spuck’s aus, Makoto!“ Makoto stöhnte, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Wagen. Genervt sah er Takashis angetrunkenen, in Unterwäsche gekleideten Vater an und forderte ihn auf, einzusteigen. „Ich bring Sie nach hause.“ Noch ehe sie in der Sauna angekommen waren, hatte Makoto ihm alles erzählt. Nur nicht, was Takashi ab hier erwartete. Der arme senile Mann sah jetzt schon gequält genug aus. Mit hängenden Schultern schlurfte er ins Haus und grüßte seine verstorbene Frau. “Liebling, ich bring Makoto mit. Takashi hat Mist gebaut.“ Im Vorraum der Sauna angekommen, ließ Tetsu sich seufzend in einen der grünen Sessel fallen, in denen bis vor Kurzem noch sein „Bengel“ einen Obstsalat in sich hineingeschaufelt hatte. „Bekommt er im Gefängnis wenigstens ordentlich zu essen?,“ fragte er, nachdem er eine Weile Takashi beim Kauen mit offenem Mund zugesehen hatte, bis er verblasste und verschwand. „Du weißt, er mag keine toten Tiere essen. Und allzu scharfe Sachen mag er auch nicht. Den Reis isst er nur mit Kompott oder so! Am liebsten...“ „Ich fürchte, das ist im Knast etwas lästig,“ unterbrach Makoto ihn, „Soweit ich weiß, gibt’s da vor allem Reis und Fisch.“ „Ach so... dann sag denen, dass sie ihm statt Fisch eingemachte Kirschen oder so geben sollen. Dann isst er den Reis auch auf.“ „Eingemachte Kirschen..?“ Wenigstens saß er bereits weich, sonst wäre er wohl umgefallen und hätte sich was gebrochen, bei dem, was Makoto sich da anhören musste. War dieser Mann sich überhaupt darüber im Klaren, wo sein Sohn war und warum? War es ihm etwa egal, dass sein geliebter Bengel, auf den er trotz – oder gerade wegen? – Allem immer so stolz war, nun ein Mörder war? Und überhaupt, so, wie Makoto Takashi das letzte Mal vorgefunden hatte, dachte der wohl auch an andere Dinge als an eingemachte Kirschen und hätte sich bestimmt auch über eine getrocknete Sprotte gefreut. „Makoto, sag mir ehrlich, was wird aus ihm?“ Da war sie, die Frage, die Makoto nicht hören wollte. Was aus ihm wird? Gehängt wird er werden, in spätestens sechs Monaten. Die Hände am Rücken gefesselt und mit einem Tuch um die Augen. Allein, in einem dunklen Raum, und niemandem, der davon erfahren wird, um um ihn zu weinen. „Ich muss dann mal...“ „Ich hab dich gefragt, was aus meinem Takashi wird, Makoto.“ „Das...“ „Sie müssen ihn nicht zu sehr verwöhnen. Er wird auch kalten Reis essen, wenn er nur wiederkommt...“ „Das ist... also, das...“ „Weißt du, seit seine Mutter nicht mehr da ist, ist er mein Ein und Alles.“ Musste das jetzt sein? Das Letzte, was Makoto jetzt noch brauchte, war, dass seine Emotionen mit ihm durchgingen. „Wenn Takashi hier durch die Bude hüpft, ist es, als würde die Sonne in meine schummrige Sauna scheinen. Nicht nur wegen seiner gelben Mähne.“ „Ich weiß, was Sie meinen,“ seufzte Makoto, „Takashi hat so ’ne Art. Irgendwie wird alles lebendig, wenn er da ist. Auch, wenn er manchmal lästig ist.“ „Und jetzt ist er weg und alles ist trübselig.“ ‚Er kommt auch nicht mehr wieder,’ dachte Makoto, während er einen erbitterten Kampf gegen den Kloß in seinem Hals führte. „Weißt du, seit er dreizehn war, war er immer wieder in den Medien. Seitdem guck ich keine Nachrichten und lese auch keine Zeitung mehr. Ich bin stolz auf meinen Jungen und will es auch bleiben. Was andere über ihn berichten, geht mich nix an. Es gehört viel dazu, dreihundert Mann um sich zu scharren und herumzukommandieren. Er hat mit seinen G-Boys viel Mist gemacht, aber er hat auch viel Gutes getan. Weißt du noch, der kleine Hiroki, der von seinem großen Bruder entführt wurde? Die G-Boys haben den Kleinen damals gefunden. Ironischerweise war es dieser Kyoichi, der den Wagen gefunden hat. WA 9135 war es doch, oder?“ „Eben dieser Kyoichi, also das ist so, das... also wegen Kyoichi...“ „Weißt du, als es damals zum Schluss eskaliert ist und Takashi von diesem Mädchen in die Blase gestochen wurde... das war schon ein Schock für mich, zu erfahren, dass mein Junge auf der Intensivstation liegt und beatmet wird. Und dann kam er, Wochen später, im Rollstuhl heim und konnte nicht ohne fremde Hilfe pinkeln. Weißt du, das war alles schlimm, aber überrascht hat’s mich nicht. Es musste eines Tages so kommen. Nein, überrascht hat’s mich nicht... also Makoto, sag mir, was ist mit meinem Takashi? Was wird jetzt aus ihm? Geht es ihm gut? Sag mir die Wahrheit.“ Er hätte dem resoluten Blick in Tetsus Augen nicht nachgeben sollen. Er hätte ihn anlügen sollen. „Sorry, ich weiß auch nicht mehr, als was ich ihnen gesagt hab.“ – warum konnte er das nicht? Warum musste er ihm unbedingt auf die Nase binden, dass sein Sohn bei ihrer letzten Begegnung, an den Boden gefesselt, ausgetrocknet und hysterisch, in einer verpissten Zelle auf den Strick wartete, weil er lachend einen alten Kameraden totgeprügelt hatte und die letzte Hoffnung ein Psychiater war, der ihm nicht helfen wollte? Egal, wie fest er aufs Gaspedal trat und wie laut er das Radio aufdrehte, irgendwie konnte er immer noch, weit von der Sauna entfernt, Takashis gebrochenen Vater weinen hören. Er konnte ihn noch immer laut heulen, fluchen und Takashis Namen rufen hören. Und je weiter Makoto sich entfernte, desto lauter wurde es. Er bekam schon Halsschmerzen davon. Erst gegen Mitternacht, als er längst zuhause in seinem Bett lag, machte seine Mutter ihn endlich darauf aufmerksam, dass es nicht mehr Tetsu, sondern er selbst war, der da so laut und kläglich um seinen Freund weinte. Irgendwann, mit einer Nase voller Rotz, pochenden Kopfschmerzen und klebrigen Augenlidern, schlief er ein. Weit, weit von Majima Fruits entfernt, hallten Beschwerden über Lärm durch die finsteren Gänge des Gefängnisses. Aus Zelle vierhundertneunundzwanzig, in die Takashi von Makoto wiedereingesiedelt wurde, kam zwar kein Geschrei, dafür genug Gepolter, um die ganze Etage senkrecht im Bett stehen zu lassen. Nervös lief Takashi auf den neun Quadratmetern hin und her, warf sich auf sein Futon, krabbelte darunter, warf es an die Tür und sich selbst hinterher. Trat gegen Wände, schlug sich selbst auf die Schenkel, tat alles, um nur nicht stillstehen und seinen unbändigen Bewegungsdrang unterdrücken zu müssen. So viele Kalorien, wie er in den letzten Stunden am Verbrennen war, konnte er während seines gesamten Aufenthalts nicht zu sich genommen haben. Als ein Wärter entnervt die Tür aufriss um Takashi zu korrigieren – um diese Urzeit musste man immerhin in einer bestimmten Haltung im Bett liegen – schob dieser sich gerade auf der Seite liegend über den Boden und schob wie eine Katze den Kopf über die Fläche, als wollte er sich überschlagen. Es wäre ihm sogar um ein Haar gelungen, hätte der Wärter ihn nicht an der Gürtelschlaufe seiner Hose gepackt und auf die Beine gezerrt. Was er bitter bereuen sollte, denn Takashis Bewegungsdrang kam eine Fresse zum Einschlagen gerade recht. Nur hatte Takashi nicht damit gerechnet, dass der Wärter bewaffnet war und lag, noch ehe seine Faust zum zweiten Mal das Gesicht des Mannes treffen konnte, schon wieder am Boden. So machte das keinen Spaß. Aber er war sich sicher: Makoto würde ihn hier schon bald rausholen. Makoto war noch immer der Klügste, Stärkste, Beste und Einflussreichste in ganz I.W.G.P., zumindest in Takashi’s Fantasie. Der wahre Makoto war strohdoof, motzig, ungeschickt und immer auf die Hilfe anderer angewiesen, aber das war nebensächlich für Takashi. In eben diesem Glauben an Makoto, ließ Takashi sich von dem aufgebrachten Wärter bis aufs Futon treten, wo er von der Decke fast erstickt wurde und zappelte sich in den Schlaf. Noch ein paar mal schlafen, dann läge er sicherlich wieder auf dem weißen Plüschbezug seines Minibusses. Da war er ganz sicher. Kapitel 5: Gedanken an Angst und Angst vor Gedanken --------------------------------------------------- Musik dröhnte aus einem Ghettoblaster und ein paar Jugendliche, deren Mutter sie schon fast hätte sein könne, hopsten im Takt dazu. Verschränkten die Arme, kratzten sich die Läuse aus der Mähne und versohlten sich selbst den Hintern. Tanzen, so nannte man das in gewissen Kreisen. In ähnlichen Kreisen wurde man auch vom Küssen schwanger, so wusste Jessie. Auch andere Dinge wusste sie inzwischen. Alle wussten es. Alle dreihundert angeblich aufgelösten G-Boys wussten es, doch keiner von ihnen konnte viel mehr tun als zu fluchen. Wenngleich sie sich teilweise nicht entscheiden konnten, worüber sie fluchen sollten. Über die Polizei, die einen Mörder auf frischer Tat ertappt und verhaftet hatte? Über das Gesetz, das auf diese Weise aus Japan ein halbwegs sicheres Land machte? Über Makoto, der gezwungen war, Takashi festzunehmen? Über Yokoyama, der auch nur seinen angeblich beendeten Job getan hatte? Über Kyoichi, der es gewagt hatte, Takashi – mal wieder – zu provozieren? Oder war es letztlich doch Takashi, auf den man wütend sein sollte? Hätte es denn nicht gereicht, Kyoichi eine Gabel oder diesmal halt in Gottes Namen einen Löffel ins Fleisch zu rammen und ihn mit Käsesocken ins Gesicht zu treten, wie in guten alten Zeiten? Musste er wegen dieser Ballerina für Arme unbedingt die Höchststrafe riskieren? „Wann er wohl wieder rauskommt,“ quengelte der dicke Wacky, der in letzter Zeit weniger Appetit zu haben schien als sonst. „Gibt’s auf Mord nich lebenslänglich?“ fragte Kenken, ohne eine Antwort zu erwarten, aber Kon antwortete dennoch. „Doch, das sind glaub ich, fünfundzwanzig Jahre.“ „Das is Holland, du Idiot,“ blökte Kenken ihn an. „Lebenslänglich hier bedeutet vierhundertdreiundsechzig Jahre.“ „Das ist Amerika, du Nullhirn,“ fauchte Endanger. Er war wie immer gelassen-hitzig. „Lebenslänglich, was heißt das wohl, überlegt mal! Bis du irgendwann nen Herzinfarkt kriegst, von den anderen Knackis kaltgemacht wirst oder dich am Bettlaken aufhängst, das ist lebenslänglich. So lang, wie du eben lebst. Güte...“ „Ja aber das heißt doch...“ „Ja, Wacky, das heißt es. Er kommt nie wieder raus!“ Auf Endangers letzte Worte folgte eine bedrückte Stille. Seufzend schob er sein Bandana über seinen kahlen Kopf hin und her. Das hätte er sich vielleicht sparen sollen. Doch wahrscheinlich wussten sowieso alle, wie die Dinge tatsächlich standen. Wenn es sich nicht gerade um besondere „Staatsfeinde“ handelte, machte man Todeskandidaten und deren Hinrichtungsdatum selten publik und so war die Todesstrafe kein wirkliches Thema beim Volk. Ohne Schlagzeilen über neue Hinrichtungen ließ es sich leicht totschweigen und verdrängen und auch die G-Boys dachten keine Sekunde daran, dass ihr King gehängt werden könnte. Keine Sekunde dachten sie daran, während kein anderer Gedanke sie im Stillen so sehr beschäftigte. Jessie saß noch immer allein am Rand des Brunnens und starrte das unterm Nachthimmel funkelnde Wasser an. Wie in einem Magisches Auge Buch, kristallisierten sich langsam Bilder aus der Wasseroberfläche heraus. Bilder von ihr und Takashi, wie er quer durch Ikebukuro hopste, rannte, kullerte und teils sogar fast flog. Egal, wie oft er sie verletzt haben mochte, indem er sie nicht wieder erkannte oder sich nachts lieber mit Makoto traf, als endlich mal mit und nicht nur an sie geschmiegt, zu schlafen. Auch, dass er sich gelegentlich an andere Mädchen verkaufte, um Geld für alle anderen als für Jessie zu sammeln, konnte sie ihm verzeihen. Dass sie nur Zungenküsse von ihm bekam, wenn er mit seiner Zunge das Essen aus ihrem Mund klauen wollte, konnte sie auch gerade noch so hinnehmen. Nur eines würde sie ihm nie verzeihen: wenn er nicht bald wiederkäme. „Gratzka nietschki bushekla masch-masch?“ „Hä..?“ Genervt drehten sich die drei ausländischen Männer um, um zu sehen, wer da Russisch für Arme mit ihnen sprach. Vor ihnen stand ein Hungerhaken, ganz in weiß, mit einer entsetzlichen Frisur. Er kaute mit leerem Mund, wobei er kamelähnliche Mundbewegungen machte. Seine Schultern hingen schlaff in einem viel zu großen Holzfällerhemd und er zappelte wie ein Fisch an Land. „Lassloski die Frauschniek bitte?“ Einer der Männer spuckte in den Matsch, der alles war, was Tokio bezüglich Schnee von Petrus bekam und ließ von der zitternden Frau ab. Außer ihm, der Frau und seinen beiden Kollegen und nun auch dieser... Kackbratze, war die Gasse leer. Die Weihnachtseinkäufe fanden alle draußen auf den großen Boulevards und Fußgängerzonen statt und die Weihnachtsmusik, die aus allen Läden hallte, übertönte auch schon mal eine um Hilfe schreiende Frau – wobei es dazu nicht viel brauchte, hatte doch Unrecht wer schreit. Nur schien es doch noch Leute zu geben, die sich auch zu Weihnachten nicht für Markenartikel und Glühwein zu interessieren schienen und sich lieber an den kleinen Dingen erfreuten – kleine Gassen, kleine Delikte, kleine Schlägereien... „Hör zu, du Kackbratze,“ knurrte der andere Mann, der die Frau grob an der Schulter festhielt, „Das hier ist unser Problem. Sie schuldet uns Geld und will es sich partout nicht abarbeiten. Das geht so nicht, verstehst du?“ „Niiiii-et!“ „Geh spielen, wenn du heute Abend noch mit deiner Mama den Christbaum schmücken willst,“ grölte der Dritte. „Hab keine Mama. Kann ich also hier bleiben,“ grinste der Junge frech und schon flogen die Fetzen. Über vier Jahre war es nun her, dass Takashi sich eine halbrussische Prostituierte zu Weihnachten und ihr ein neues Leben geschenkt hatte. Es war Liebe, oder zumindest Belustigung, auf den ersten Blick. Er hatte keine Reife und sie keinen Sex Appeal. Perfekt. Außerdem war ihr russischer Akzent lustig. Als er an dem Abend mit ihr nach hause kam – vorher hatte er ihr noch eine große rote Geschenkschleife auf den Kopf gebunden, ohne dabei zu merken, dass sie eine Perücke trug – fiel seinem Vater die leere Flasche aus der Hand. Sein Bengel hatte endlich eine Freundin, wenn auch eine viel Ältere. Die weder klug, noch hübsch und schon gar nicht elegant war. Also genau das Richtige für einen jungen Mann, an den man, mal von kampfsportlichen Fertigkeiten abgesehen, keine hohen Ansprüche stellen durfte. Tetsu hatte an dem Abend vor Freude geweint. Jessie auch. Takashi wiederum hatte den Rest des Abends halb auf Jessies Schoß verbracht, sich kiloweise Gebäck reingeschaufelt und ihr, in ihr Decolleté krümelnd, immer wieder seine Liebe gestanden: „Ich liebe dich. Nein, trotzdem! Und immer noch!“. Und wieder weinte Jessie, diesmal jedoch nicht vor Freude. Alles wies darauf hin, dass sie diese Weihnachten, zum ersten Mal seit Jahren, allein verbringen würde. Die Jungs würden sie wohl einladen, zur Not mit Gewalt, aber das war nicht dasselbe. Ohne Takashi, die „Kackbratze“, wie die Zuhälter ihn damals nannten ehe er sie zu Klump schlug, wäre es einfach nicht dasselbe. Während sich in Ikebukuro mehr als dreihundert Leute um ihn sorgten, lag Takashi ganz allein im Bett und hatte herzlich wenig davon. Es war kalt. Japan war nicht gerade ein Heizungsparadies, aber der Sommer war vorbei und wenigstens ein bisschen hätten sie das Gefängnis heizen können. So beschloss er, zu tun, was er die ganze Zeit schon unbewusst tat und fing an, sich warmzustrampeln. Wenn er so weiter machte, würde auch bald wieder ein Wärter kommen, um ihn in Pose zu prügeln. Den könnte er dann k.o. schlagen und als Wärmflasche zweckentfremden. Dachte er, während er völlig zu vergessen schien, dass man es bereits geschafft hatte, ihn zu überwältigen und in die Hogobozelle zu sperren. Eine Stunde später. Irgendwo zwischen Hogobozelle, Wärmflasche und Makoto hatten sich seine Gedanken zu einem wirren Knäuel verstrickt, aus dem er nun nicht mehr herauskam. So lag er schweigend und vorschriftgemäß auf dem Rücken und starrte an die Decke, ohne dass er sie sehen konnte. Als endlich nach und nach Wärmflasche und Hogobozelle verblassten, blieb nur noch Makoto. Den hatte er damals angelogen. Oder vielleicht doch nur sich selbst? So genau wusste er es nicht mehr. Nur, dass die Heiterkeit damals nach seiner Verhaftung, eine Lüge war. Er wusste schon damals ganz genau – zumindest glaubte er das jetzt – wie ernst seine Lage war. Ob er nur unter Schock stand wegen dem, was er gerade getan hatte, oder ob er auf Makoto keinen „uncoolen“ Eindruck machen wollte, wusste er nicht mehr. Diese ungewohnt ruhige Nacht war gefährlich. Sie gab seinem Kopf alle Zeit und Ruhe der Welt, um der Realität ins Auge zu sehen. Der Realität, dass Makoto nur ein kleiner Wachtmeister war, der kaum den Einfluss von einem Yokoyama oder Yoshioka hatte. Der etwa so viel Hirn hatte, wie ein Koikarpfen und der bei Weitem nicht über die Kontakte verfügte, die Takashi aus der Bredouille ziehen könnten. Sicher, der Hanezawa Clan. Aber noch war Fujio nicht der Chef und dieser war Makoto nach seinem Versagen bei der Rettung seiner Tochter, nichts schuldig. Und Makoto selbst, auf eigene Faust? Bei dem Gedanken zog Takashi das besorgte Gesicht einer Mutter, deren Bengel sich mal wieder übernommen hatte. In all den Jahren, die Takashi Makoto nun schon kannte, war Makoto zwar ein hervorragender Problemlöser, aber niemals, wirklich niemals, war er das ohne fremde Hilfe. Viel fremde Hilfe und meistens die von Takashi selbst. Und letzterer konnte ihm gerade nicht helfen, sondern brauchte eben diese Hilfe. Und sonst? Masa? Der Dorftrottel? Denpa? Was konnte der schon, außer Leute abhören? Shun? Ach nein, der war ja tot. Als Takashi sich damals aus Wut über seine Ermordung sofort auf die Krähen gestürzt hatte, hatte er im Eifer des Gefechts schon schnell vergessen, weshalb er eigentlich so aufgebracht war. Dass da ein toter Junge aus einem Spind seiner Sauna gefallen war, war schnell Nebensache geworden. Natürlich waren da immer noch die G-Boys, immerhin dreihundert Mann. Auf Befehl ihres Königs hätten die wohl tatsächlich sofort das Gefängnis geentert. Aber er konnte keine Befehle mehr erteilen. Er konnte höchstens warten und hoffen, dass Makoto mal wieder vorbeischaute und ihn bitten, das ganze in die Wege zu leiten. Und ihn niemals wieder sehen, sollte die Aktion schief gehen und sich herausstellen, dass Makoto sein Komplize war. Zwei Stunden später. Irgendein Insasse schrie nach seiner Frau, ein anderer befahl ihm recht freundlich, die „scheiß Fresse, du Arschloch“ zu halten. Ein Wärter bat laut um Ruhe und weckte damit vier weitere Insassen, die nun auch zu motzen begannen. Noch eine Stunde später. Sein Denkstoff war Takashi ausgegangen. Das Thema Makoto hatte er ganze vier mal durchgekaut, angefangen beim ersten geteilten Brötchen, über den ersten, mit Fäusten erwiderten Kuss und die wüste Schlägerei beim Entscheidungskampf, bis hin zu diversen Ausbruchs- und anderen Fantasien. Die Entstehungsgeschichte der G-Boys und die erste Begegnung mit Jessie waren ebenfalls längst abgehakt und sein Vater war noch nie ein großes Thema gewesen. Er hatte zwischendrin auch an Essen gedacht – Strawberry Parfait, Obstsalat, Möhren, Schokolade, die er kaum aß, weil er davon Pickel bekam. Als die Sehnsucht nach all diesen Dingen ihn jedoch zu überwältigen drohte, musste er das Thema schnell wechseln und sich mit dem Thema „Frauen, die seit zehn Tagen nicht geduscht haben“ den Appetit schnell wieder verderben. Doch auch dieses Thema musste er abbrechen, denn diese ungeduschte Frau nahm mehr und mehr Makotos Gestalt an und da war es dann auch egal, ob gewaschen oder nicht, der „Appetit“ kam wieder anklopfen. Und so lag er nun da, mit einem hohlen Kopf voller Gedanken, die miteinander um seine Aufmerksamkeit zu kämpfen schienen. Jetzt, wo alle positiven Gedanken durchgelutscht waren, kamen die Negativen und die Realität: die Chancen, diesen Ort noch einmal lebend zu verlassen, waren verschwindend klein. Wie fühlte es sich eigentlich an, mit einem engen Strick um den Hals über dem Boden zu hängen und zu ersticken? Oder würde der Ruck ihm sofort das Genick brechen? Was war wohl besser - ein langsamer Tod, während dem man noch ein bisschen leben konnte, oder wenn es schnell und schmerzlos vorüber geht? Würden sie ihm noch ein paar letzte Worte erlauben oder sogar einen letzten Wunsch erfüllen, sofern machbar? Was wäre das überhaupt? Letzte Worte? Vielleicht „Bukuro über alles!“ oder „Ich wäre dann der King gewesen“? Was wäre wohl ein würdiger letzter Wunsch? Sie würden ihm wohl kaum einen Strawberry Parfait an den Galgen bringen? Vielleicht, dass sie seinem Vater ausrichten sollten, dass er ihm dankbar ist, ihn in die Welt gesetzt zu haben? Oder einfach einen bestimmten Polizisten beiwohnen zu lassen, um ihn ein letztes Mal zu sehen? Aber konnte er ihm das antun? Wäre es ihm nicht zu „lästig“? Takashi hatte sich schon einmal sterben sehen. Bis heute wusste er nicht genau, warum er dem kleinen, wehrlosen Mädchen damals nicht einfach ausgewichen war, anstatt sich von ihr ein Butterflymesser in die Blasse rammen zu lassen und sie dafür noch zu umarmen. Aber schon öfters fragte er sich, ob es nicht vielleicht doch eine sadomasochistische Seite an ihm gab. Als er kurz darauf zusammenbrach und nicht wusste, ob er Schmerzen hatte oder überhaupt nichts mehr fühlte und zitternd in Makotos Armen seinen letzten Wunsch an Makoto äußerte, so konnte er sich erinnern, hatte er geweint. Aber ob es die Schmerzen, der Stress der letzten Tage oder die Angst vor dem Tod war, das wusste er nicht mehr. Obwohl – wenn er an diesen Tag zurückdachte, schien alles so viel finsterer und dumpfer als es wirklich gewesen war, wie in einem Alptraum. Er hatte sich oft eingeredet, keine Angst vor dem Tod zu haben. Schließlich sah er ihm doch so oft ins Auge, hatte Leichen gesehen und sich gelegentlich in lebensgefährliche Situationen gestürzt. Doch in solchen Momenten dachte er gar nicht an die Risiken und den Tod. Erst, als er vor ihm stand um ihm die Hand zu reichen, bemerkte er ihn. Ob das nun ein Messer in der Blase oder ein bevorstehender Galgen war – wenn er mal in sich reinhorchte, konnte er sein tiefstes Inneres vor Angst schreien hören. Nachträglich für damals, und noch lauter für das, was ihm noch bevorstand. Er spürte eine Spannung im ganzen Körper, doch als er sie löste, befreite er so auch die von der Spannung unterdrückte Angst. Wie eine schwarze, stickige Wolke umhüllte sie ihn und ließ seinen ganzen Körper erzittern. Auf welche Seite er sich auch drehte, wie eng er sich auch einrollte, sie wich nicht von seiner Seite. Sein Zittern schüttelte zwar das letzte bisschen Bettwärme von ihm ab, doch die Angst klebte weiter an ihm. Kroch seine Wirbelsäule auf und ab, pochte in seinem Ohr und kitzelte seine Augenbrauen. Die eigene Stimme, mit der er sich ablenken wollte, schien sich zu fürchten und blieb stumm. Mucksmäuschenstill. Auch die Wanduhr mit den leuchtenden Digitalziffern wollte ihn nicht trösten, denn sie versprach noch vier weitere Stunden, die er allein mit seiner Angst verbringen würde, wenn er nicht bald einschlief. Und das wollte ihm einfach nicht gelingen. Kapitel 6: Der Gürtel der Wahrheit ---------------------------------- Sechs Uhr. Noch anderthalb Stunden bis man offiziell das Recht hatte, die Augen zu öffnen und etwas anderes als die Decke zu sehen. Nicht, dass Takashi nicht schon die ganze Nacht damit verbracht hätte, alle menschenmöglichen Haltungen einzunehmen, aber nach einer schlaflosen, von Angst geplagten Nacht gleich wieder auf Befehl pinkeln zu müssen, war grausam. Doch das war längst nicht alles, worauf Takashi sich „freute“, während er äußerlich starr, jedoch innerlich völlig aufgewühlt, an die noch immer tiefschwarze Wand starrte. Er „freute“ sich auch darauf, dass er erst gestern geduscht hatte und für Neulinge im „Eingewöhnungsprozess“ nur alle zehn Tage Waschtag war. Nicht, dass er schon wieder aus allen Poren triefte, aber noch neun Tage warten..? Und wie lange wollten sie ihn noch in Einzelhaft halten? Irgendeine Gesellschaft würde er doch irgendwann bekommen? Wer es sein würde, war gar nicht so wichtig. Dies brachte ihn auf einen ganz anderen Gedanken. Ob Yamai wohl auch hier einsaß? Gequält kniff Takashi die Augen zu und warf sich auf die Seite, als plötzlich das Licht angeschaltet wurde. Der Lichtschalter war draußen angebracht, damit die Insassen nicht selbst entscheiden konnten, wann sie Licht wollten und wann nicht. Durch das kleine Fester in der Eisentür erschien ein Auge, das erst forschend, dann nur noch forsch, in seine Zelle lugte und im nächsten Augenblick flog die Tür auf und zwei Wärter packten ihn am Schlafittchen und rissen ihn aus den Federn, obwohl es gerade erst halb sieben war. Mangels Schlaf schon wieder – oder noch immer – hellwach, sah Takashi sie etwas zu direkt an und bekam dafür sofort eine schallende Backpfeife. In Takashi zog sich alles zusammen. Schon am frühen Morgen geschlagen zu werden, ohne zu wissen, wofür, das hasste er. Gegen Mittag war das was anderes, aber vor zehn durfte man das nicht. Sein Vater hatte ihn zwar auch regelmäßig verprügelt, ob im Bett, bei Tisch oder in der Badewanne, ob mit einem Schuh oder der flachen Hand, aber bei dem wusste Takashi zumindest halbwegs, warum und dass der Mann es – irgendwo, irgendwie – doch aus Liebe zu ihm tat. Hart aber herzlich, so waren sie in Familie Andoh angeblich schon seit Generationen. Hier war alles hart, aber keineswegs herzlich. Einer der beiden Männer drückte Takashi an die Wand, während der andere die winzige Zelle ausräumte, als gäbe es noch viel auszuräumen. Ungerührt sah er seinen einzigen persönlichen Gegenstand – sein Unterhemd – zur Tür raus segeln. Die Kette hatte Makoto ihm bereits bei seiner Verhaftung abgenommen, damit er damit keinen Mist machte, denn sogar Takashi konnte in Extremsituationen auf dumme Gedanken kommen. Gedanken – daran hatte er eine ganze Nacht verschwendet und jetzt war sein Kopf so leer wie die Zelle, an deren Wand er stand. Jetzt bemerkte er auch andere Dinge. Ein seltsames Gefühl von Hunger und Müdigkeit machten sich in ihm breit und ihm wurde schlecht. Sein Kopf wurde immer leichter, bis er schließlich den Rest seines schmächtigen Oberkörpers mit sich hinunter und gegen die Wand riss. Mit letzter Kraft versuchte er, seine schweren Augenlieder offen zu halten und begann sogar zu hoffen, noch eine gescheuert zu kriegen um wach zu bleiben. „Tschul’gung..?“ Moment, wozu machte er überhaupt den Mund auf? Plötzlich, ganz ungewollt, erwischte er sich dabei, wie er doch tatsächlich um eine zweite Ohrfeige bitten wollte und machte den Mund schnell wieder zu. „Was?“ fuhr einer der Wärter ihn an, während er draußen das Futon faltete und feinsäuberlich zwischen den Beinen des kopfstehenden Tisches verstaute. „Äh...“ Wirklich, was? „Äh... zieh ich um oder so?“ „Du,“ lachte der Mann, der ihn noch immer gegen die Wand drückte, „Du bleibst hier! Wir dachten nur, so nervös wie du die letzte Nacht rumgezappelt hast, könntest du ein bisschen Ruhe gebrauchen. Leere Räume sind da genau richtig!“ „Das passiert eben, wenn man sich nicht benehmen kann. Du hast doch ein Regelheft gekriegt, tja, hättest das mal gelesen,“ kam es sarkastisch vom Flur, wo seine „Decke“, ein armes, vergilbtes, nach Schweiß stinkendes Stück Stoff, in einem Knäuel auf dem Futon landete. Regelheft? So viel musste aus seiner Zelle gar nicht entfernt werden, als dass Takashi etwas hätte übersehen können. Sicher hätte er es gelesen, wenn er denn eines bekommen hätte. Nicht aus Interesse, sondern um sich zu beschäftigen. Was konnten das wohl für Regeln sein? Er beschloss, die Wärter direkt zu fragen und tat somit wieder etwas, das er sich hätte sparen können. „Ich will’s mal so sagen,“ erklärte ihm einer der beiden, „Die nächsten drei Monate wirst du nicht viel falsch machen können.“ Mit diesen Worten zwangen sie ihn mitten in der Zelle in die Knie und mit einem Klaps auf den Hinterkopf, fügte einer der beiden noch hinzu: „Jedes Mal, wenn wir reinkommen und dir eine schlagen, hast du ne Regel gebrochen. Ich glaube, auf diese Weise lernen Typen wie du leichter.“ Mit seiner typischen Engelsgeduld ließ Takashi sich in die richtige Haltung schlagen, treten, stoßen, reißen und schütteln, bis er schlussendlich mit dem Gesicht zur Tür auf dem Boden kniete. Er wartete noch darauf, irgendwann noch ganz andere Körperteile zu spüren zu kriegen, denn so oft wie während seinem noch relativ kurzem Gefängnisaufenthalt, wurde er noch nie grundlos geschlagen. Wenn sie so etwas taten, taten sie bei Zeiten bestimmt noch ganz andere Dinge. Irgendwie vergaß er, zu blinzeln und vor seinen Augen verschwamm alles. War es der Hunger? War es die Erschöpfung? Oder die Angst vor dem, was noch bevorstand, von der die beiden Wärter ihn bis vor wenigen Sekunden noch abgelenkt hatten? Einer der beiden Wachen zog einen Schraubenzieher und entfernte die Metallplatte, die Takashi vorher schon verdächtig vorgekommen war. Es handelte sich um eine etwa zehn mal zehn Zentimeter große Platte, die über der Tür einfach sinnlos an die wand geschraubt schien. Als besagtes Stück Metall nur knapp neben ihm scheppernd zu Boden fiel, starrte Takashi in ein einzelnes rotes Auge, das ein paar Mal aufleuchtete und dann grün wurde – das Zeichen, dass die Überwachungskamera nun betriebsbereit war. „Wir sehen, was du treibst. Wenn du dich auch nur einen Millimeter von der Stelle bewegst, Freundchen...“ „Du solltest uns dankbar sein! So können wir dir helfen, die Regeln einzuhalten,“ grinste der andere und fügte etwas leiser hinzu: „Und wir können auch nicht mehr alles mit dir machen. Hast du ein Glück, dass wir unsere Befehle ausführen müssen.“ Was auch immer er damit meinen mochte. Die Eisentür schloss sich, das Licht ging aus und er war wieder allein. Für wie lange, drei Monate? Dabei merkte er doch schon nach kaum zehn Minuten, warum diese starre Sitzhaltung als Strafe betrachtet wurde. Seine Kniekehlen verkrampften sich, es tat weh, aber die Kamera ließ ihn nicht aus den Augen. Was wohl mehr wehtat, den Krampf auszusitzen oder ihn zu lösen und dafür einen Tritt zu kassieren? Seine Augen wurden immer schwerer und drohten, jeden Moment zuzufallen. Aber würde es auffallen? Takashi konnte durchaus im Sitzen schlafen! Je nach dem, was man ihm erzählte, auch im Stehen! Schlafen... Kaum eine Minute später lag er da. Gegen Mittag wachte er wieder auf und seine Augen bewegten sich langsam hin und her, als wollte er die Umgebung inspizieren: er lag überraschend weich, der Raum war hell und keineswegs so muffig und stickig wie die Zelle und seine Rückenschmerzen von all den ungewohnten Haltungen waren längst nicht mehr so schlimm, wie als er das letzte Mal wach war. Das musste es sein, man hatte ihn hingerichtet! Er war im Himmel! „Mama?“ Die hätte er jetzt eigentlich treffen müssen. Seine Hand tastete die Luft um sich herum ab und eine andere, größere Hand, fing sie. Irgendetwas an seinem Handrücken stach ihn. „Sorry, dass ich nicht deine Alte bin,“ nuschelte ihn eine vertraute Stimme von der Seite an. Neben ihm stand nicht seine Mutter, sondern jemand, der sich ganz ähnlich um ihn kümmern „durfte“. Makoto. „Du bist ja Mako-chan,“ quakte Takashi leise, halb enttäuscht, halb überrascht und vor allem erschöpft. „Bist du etwa auch tot?“ „Hä??“ Makoto sah ihn einigermaßen blöd an und fühlte seine Stirn. Fieber hatte er keins. Das waren dann wohl typische Takashi-Blödeleien, die er da von sich gab. „Alter, du liegst auf der Krankenstation, bist zusammengeklappt. Wie lange haben die dich schon fasten lassen?“ „Ach so,“ seufzte Takashi, der nun doch nicht erfahren sollte, wie es im Himmel so war, „Weiß nicht... drei, vier Tage vielleicht?“ Makoto traute seinen Ohren nicht. Vier Tage? Hatte Takashi also bereits gehungert, als er ihn das letzte Mal besucht hatte? „Warum hast du nix gesagt, du Idiot?“ Takashi zog eine Schnute und spielte die beleidigte Leberwurst. Man sah seinen Augen an, dass er innerlich grinste. „Ja, aber weil doch...“ „Weil was?“ blökte Makoto ungeduldig zurück. „Na ja, du warst plötzlich da und da war ich abgelenkt...“ Makoto verdrehte entnervt die Augen. Er hasste kleine Kinder, warum musste ausgerechnet sein engster Freund sich ständig wie eines benehmen? „Erzähl mir nicht, ich hab dich von drei Tagen fasten abgelenkt, verarschen kann ich mich selber!“ Takashi warf sich plump auf die Seite und drehte Makoto einen knochigen Rücken zu. „Aber wenn’s halt so is...“ Auch Makoto wandte sich vom Bett ab und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Sein Mund schob sich von einer Seite seines Gesichts zur anderen, als kaute er auf ein paar Worten, ehe er sie aussprach. Takashi wiederum, fummelte in alter Gewohnheit an seinen Lippen, als überlege er noch, sich den Daumen in den Mund zu schieben. Während die Finger seiner linken Hand noch immer mit seinen Lippen spielten, schlich sich seine Rechte langsam von hinten an Makoto heran, griff seinen Gürtel und ruckte ein paar mal daran. „Du, Mako--au!“ Jetzt musste er sich doch wieder zu Makoto und damit seiner rechten Hand umdrehen, von der er einen fiesen Schmerz spürte. „Merkst’ das jetzt erst?“ „Was is das..?“ Er war verkabelt. „Infusionen, damit du nicht sofort wieder einklappst.“ Takashi verzog das Gesicht. „Infu... iiih, nein, tu die raus! Ich hasse Spritzen!“ „He... hey, lass das!“ Makotos Hand triefte und Takashi erstickte fast an ihr. Nur so hatte er verhindern können, dass Takashi sich die Spritze und den Schlauch mit den Zähnen abmontierte, denn die steuerten geradewegs darauf zu. „Lass die Schwester machen. Und sowieso, lass los, du..!“ „Iff will niff...“ „Dann mach doch grad, was du willst,“ schnaufte Makoto und wandte schon mal seinen Blick von seiner in Takashis Schlund gefangenen Hand ab. Doch kaum guckte er weg, ließ Takashi auch schon los und sein Mund verabschiedete sich mit einem frechen Kuss von Makotos nassen Hand. Stattdessen klammerte sich jetzt die verkabelte, zittrige Hand erneut an Makotos Gürtel. Makoto sah ihn fragend an. Was sollte er nur mit diesem Kerl anfangen, der scheinbar immer dann, wenn er etwas Wichtiges zu sagen zu haben schien, albern wurde? Der ihm so nahe kam, wie kein anderer und dabei noch so treudoof dreinschaute? „Mako-chan, was hast du heute noch so alles vor?“ „Hö?“ Grummelnd wischte er seine Hand an Takashis Matratze ab. „Hmm... nach hause fahren, essen, pissen, schlafengehen.“ „Praktisch,“ murmelte Takashi müde, während er seinen Kopf noch tiefer ins Kissen zu schmiegen versuchte, „Kannst du alles hier machen. Außer nach hause fahren.“ Makoto schluckte einen Seufzer. Da waren sie wieder, Takashis lästigen Ansprüche. An sich war es ja kein Problem, dies alles hier zu tun, als Polizist konnte er bleiben, solange er wollte. Aber warum wurde Takashi wieder so... so... „Sag mal, Takashi, warum bist du eigentlich immer so... so...“ „So..?“ „Na ja, so eben. So wie jetzt. So.“ „Dein Gürtel fühlt sich halt gut an, ist das ein Verbrechen?“ Diesen Gürtel, so schwor sich Makoto, würde Takashi bald noch intensiver zu spüren bekommen, wenn er sich nicht bald auskotzte. „Seit wie viel, fünfzehn? Seit fünfzehn Jahren kennen wir uns jetzt schon, aber ich mein manchmal immer noch, du sprichst nicht nur mit Jessie Russisch!“ „Wir sprechen kein Russisch miteinander.“ „Aber mit mir oder was!?“ fuhr Makoto ihn an und wirbelte herum um ihn anzublitzen, wobei Takashis Hand eher grob von seinem Gürtel gerissen wurde. „Was willst du, Takashi, was?! Und weißte, das is nicht erst hier, dass du so komisch bist, du bist immer so, wenn wir allein sind!“ „Mako-chan is doof,“ nuschelte Takashi mit geschlossenen Augen in sein Kissen. „Für das, was du bisher geleistet hast, bist du wirklich ziemlich doof. Aber wofür hast du mich und alle anderen, die für dich mitdenken.“ Makoto war kurz davor, auf den Gürtel zurückzukommen. Takashi hatte recht, er war so dumm wie ein Fass Öl, nein, dümmer noch, wie eine Türklinke! Aber eben deshalb flehte er Takashi doch gerade an, es ihm schön idiotensicher zu erklären! „Setz dich doch,“ bat Takashi plötzlich an und rutschte ein Stück zur Seite. Makoto stöhnte und setzte sich in der Hoffnung, dass Takashi nun endlich den Mund aufmachen würde. „So, ich sitze.“ „Seh ich auch so. Was machst du da mit der Gürtelschnalle?“ „Ich überlege nur, ob ich ihn nicht ausziehen und dich damit verprügeln soll. Hey.. hey, was zum..?“ Vorsichtig, um sich die Infusion nicht endgültig aus der Ader zu reißen, drehte Takashi sich auf den Bauch und atmete tief durch. „Bitte sehr.“ „Häää?“ „Wenn Mako-chan es so machen will, dann bitte.“ „Wenn ich... hä? Das mit dem Gürtel, also, das war’n Scherz, äh... wenn ich was so machen will??“ Takashis Zeigefinger zupfte an Makotos Gürtelschlaufe und das blonde Scheusal, die Augen noch immer zu, grinste verlegen. „Du,“ stammelte Makoto, gleichzeitig hochrot und kreidebleich, mit verkrampfter Miene, „Du... das... also das, ja, das, also, das is’n Missverständnis!“ „Du kapierst ja doch noch was. Bist doch gar nicht so doof, Mako-chan.“ Das war zu viel für Makotos zartes Gemüt. Sein gutgläubiges Ich brüllte: das ist ein Witz! Der verarscht dich nur wieder! Wie in der Sauna, wo er dich ab und zu angrabscht, wie im Minibus, als er dir plötzlich durch die Haare fuhr, wie bei jeder Streitigkeit, wo er so furchtbar verletzlich auf dich reagiert und wie bei jeder Begegnung, bei der er dich anstrahlt wie Atommüll! Alles nur Verarsche. Kein Zweifel. Dass es sich dabei meistens um ernste Gelegenheiten handelte, bei denen sie beide auch zufällig so ziemlich allein waren, war Nebensache. Nebensache, absolute Nebensache. Makoto wusste nicht, ob er das glauben oder besser verdrängen sollte. „Takashi...“ „Scherz.“ „Hä?“ „War ein Scherz.“ „Du Arschloch...!“ „Das mit dem Gürtel. Bitte nicht damit hauen.“ Allmählich fand sich Makoto mit zuckender Nase damit ab, dass es doch nicht alles „Verarsche“ war, während Takashis Hand sich seine schnappte und Takashi sein Gesicht an sie schmiegte und einschlief. Kapitel 7: Fruchtlose Einsicht ------------------------------ Wie Takashi da so im Bett lag und im Schlaf noch immer seine Hand umklammerte, wurde Makoto noch trübseliger als er ohnehin schon war. Er war gekommen, um sicherzugehen, dass Takashi immer noch in der Zelle war, in die er ihn zuvor geschickt hatte und nicht wieder in einer Pisslache am Boden angekettet dahinsiechte. Gefunden hatte er ihn dann tatsächlich in der erhofften Zelle, bewusstlos. Bis zur gefängniseigenen Krankenstation musste er zwar einige Treppen steigen, doch viel schwerer als ein Mädchen war das Häufchen Elend, das da über seiner Schulter hing, nicht mehr. Takashi war nie ein Schwergewicht gewesen, doch konnte Makoto sich erinnern, dass der Junge zumindest schwer genug war, um ihn mit etwas Geschick von den Füßen zu reißen. Nicht von den Füßen gerissen, dafür aber mächtig aus den Socken gehauen, hat ihn nun die Sache mit dem Gürtel, beziehungsweise das, was dahinterstecke. Dass Takashi auch seine männlichen Freunde liebevoll „–chan“ nannte, war zwar seltsam, aber noch lange kein Verdachtsmoment, schließlich war dies Takashi, der unter dem Einfluss eines senilen Vaters aufwuchs. Kämen da nicht unzählige ungeschickte Annäherungsversuche und diese ständige Aufopferung für Makoto hinzu. Sein Gewissen begann, ihn zu quälen. Hätte er seinem immerhin besten Freund vielleicht ein bisschen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, vielleicht ein bisschen besser hingehört, anstatt alles, was Takashi tat, als Alberei abzutun, hätte er vielleicht so manches verhindern können. Schließlich war Takashi zwar immer schon ein Scheusal gewesen, doch mit Makotos Beziehung zu Hikaru und dem daraus entstandenen Zeitmangel, war er immer heftiger geworden. Bis er eines Tages, an einem heißen dreiundzwanzigsten Juni zweitausend, schließlich ausrastete und Makoto seinen eigenen Schmerz mehr als hautnah spüren ließ. Sie hatten sich schon öfter geprügelt und die Ereignisse der letzten Zeit hatten natürlich auch Takashi belastet, aber trotzdem – ihn so außer sich zu sehen, war für Makoto und auch alle anderen, neu. In der Öffentlichkeit so zu schreien, zu heulen und scheinbar ohne jegliche Selbstkontrolle auf einen Freund einzuschlagen, war etwas sehr, sehr Untypisches für den fröhlichen Schlägertypen Takashi, der sich von Freunden sonst nahezu alles anstandslos gefallen ließ. Der fröhliche Takashi – der doch so auffällig überreagierte, bei allem, was Makoto tat. Der arme Takashi, der sich ausgerechnet in einen nichts registrierenden Vollidioten verlieben musste. „Tut mir leid,“ stotterte Makoto und wollte dem schlafenden König neben ihm noch mehr sagen, bekam aber plötzlich kein Wort mehr raus, als ihm auf ein mal Tränen übers Gesicht liefen. Takashi konnte ja nichts dafür, aber alles, was er von Makoto wollte, war immer irgendwie zu viel verlangt. Auf Befehl schwul zu werden, war tatsächlich nicht drin, aber so manches Mal hätte Makoto etwas taktvoller, hilfsbereiter sein können. Wie ein echter Freund eben. Nicht wie ein Schmarotzer, der sich nur dann meldete, wenn er Takashi brauchte und herummeckerte, wenn er mal gebraucht wurde. Ja, hätte er Takashi von Anfang an mehr, oder zumindest eine faire Freundschaft gegeben, hätte Takashi sich vielleicht nicht nach mehr gesehnt, sehnt man sich doch immer nach dem Unerreichbaren. Endlich ließ Takashi seine Hand los und rollte sich auf die andere Seite. So, wie er sich im Schlaf immer einrollte, blieb jedes Mal viel Platz für Gesellschaft. So war er eben. Gesellig. Großes Auto, großes Haus, großes Herz – überall da, wo er Leute unterbringen konnte, war immer ein Platz frei. Ob er selbst dabei zu kurz kam? Wohl kaum, denn nie zuvor hatte Makoto Takashi so erbärmlich erlebt, wie seit er in Einzelhaft dahinvegetierte. Makoto stand auf und ging zur Tür. Er erwischte sich dabei, wie seine Beine ihn aus dem Zimmer, den Flur entlang und das Gebäude hinaus tragen wollten und blieb mit einer unnötig großen Bewegung stehen. Dann tat er, wofür er eigentlich den Raum verlassen hatte und sah nach, ob die Luft auf dem Flur rein war. Jemand schien die Treppe hinauf zu kommen und er huschte zurück in den Raum und schloss ab. Wieder an Takashis Bett angekommen, war er richtig froh, dass man ihn die letzten Nächte so gequält hatte, denn der Junge schlief so fest wie nie zuvor, jetzt, wo er in Makotos Gesellschaft und somit in Sicherheit war. Ein wenig hinterhältig kam er sich schon dabei vor, Takashi in eben dieser „Sicherheit“ so nahe zu kommen, aber er musste es einfach. Als Makoto das graue Hemd, das hier Vorschrift war, über Takashis Kopf zog, nieste dieser im Schlaf. Das Hemd stank und hätte schon länger eine Wäsche gebrauchen können. Was unter dem Hemd zu Vorschein kam, ließ Makoto erstarren. Takashis Rücken war voller blauer Flecken und teilweise waren die nicht gerade klein. An wieder anderen Stellen musste er sich selbst blutig gekratzt haben, was an dem schmutzigen Hemd gelegen haben konnte. Takashi war empfindlich. Vorsichtig holte Makoto nun auch seine Arme aus dem Hemd und warf es an die Tür, um es später in die Wäsche zu geben. An der Türklinke blieb es hängen. Irgendwann begann das Licht, das durch das vergitterte Fenster des Raumes kam, wärmer zu werden. Irgendwo hinter dem Gefängnis musste gerade die Sonne untergehen. Es war ein so schönes Licht, das diesen kalten Raum gleich freundlicher wirken ließ. Makoto öffnete das Fenster um auch etwas frische Luft hereinzulassen. Der sanfte Windstoß, der ihm durchs Haar strich, kitzelte auch Takashi, der sich im Halbschlaf die Nase rieb und langsam die Augen öffnete. Am Fenster sah er Makoto stehen, oder zumindest sah er seine von hinten beleuchtete, fast schwarze Silhouette. „Du bist ja immer noch da,“ murmelte er erleichtert während er sich an der Rückenlehne hochzog, um sich zu setzen, „Hast du nichts anderes zu tun... als mich im Schlaf auszusehen, wie ich sehe..?“ „Ich hab den ganzen Tag frei, Hamaguchi war mir noch was schuldig.“ „Ha, gibt’s den auch noch,“ lachte Takashi. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er den mickrigen Polizisten gelegentlich ziemlich gequält und lächerlichgemacht hatte. „Ja,“ lachte Makoto, „Ich hab ihn während der Arbeitszeit im Puff erwischt und damit ich das schnell wieder vergesse, übernimmt er heute für mich.“ „Und was hast du da gemacht?“ „Sei ruhig, schlaf weiter.“ „Mako-chan,“ sagte Takashi plötzlich mit ernster Miene, „Ist schon gut. Du musst dir keine Vorwürfe machen.“ „Vorwürfe?“ „Ich kenn dich lang genug um es dir anzusehen. Du machst dir doch Vorwürfe, weil du mich hierher gebracht hast.“ „...“ „Brauchst du nicht,“ lächelte er traurig, „Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Aber ehrlichgesagt, so auf Kyoichi einzuschlagen, hat mich irgendwie mächtig erleichtert.“ „Das hat’s doch schon immer, und nicht nur bei Kyoichi.“ „Auf ihn einzuschlagen und zu wissen, dass der sich bald nicht mehr bewegen wird. Makoto, auch wenn wir Freunde sind, das Gesetz gilt auch für mich. Ich sitz hier schon ganz richtig. Also hör auf, dir wegen mir ’n Kopf zu machen. Ich komm schon klar damit.“ Makoto sah ihn wehmütig an. „Das sieht man. Erst find ich dich schreiend in deiner Pisse angekettet, heute liegst du ohnmächtig, halbverhungert und von Wunden übersäht auf dem Boden. Du kommst wirklich wunderbar klar.“ „So wird mit Typen wie mir halt umgegangen,“ grinste Takashi selbstironisch. „Nur weil du mich magst, krieg ich noch keine Sonderbehandlung.“ Als er das „du mich magst“ aussprach, hörte es sich für einen kurzen Moment an, als hätte er einen Kloß im Hals. „Trotzdem,“ seufzte Makoto, „Tu mir den Gefallen und benimm dich, ich will dich nicht wieder so sehen. Wenn du dir das selbst nicht wert bist, tu’s für... äh, Jessie.“ „...äh, Jessie...?“ wiederholte Takashi forschend und sah Makoto fragend an. „Für mich, du scheiß Idiot,“ fuhr Makoto ihn an, „Tu’s für mich! Da, da hast du’s! Gott nee, bist du mal wieder lästig, ey!!“ „Hmmm, Mako-chan ist aber plötzlich verlegen!“ „Halt die Klappe.“ Klatsch bekam er Makotos Handrücken an den Kopf. Takashi grinste, wobei er mehr aussah wie ein Hund, der die Zähne bleckte als wie ein lustig grinsender Bengel. Er liebte es einfach, Makoto solche kleinen Emotionsausbrüche zu entlocken und er konnte diese Aufheiterung gut gebrauchen. Noch mehr liebte Takashi es, ihn seinetwegen verlegen zu sehen. Insgeheim wusste er, dass seine Gedanken und Gefühle für Makoto eine Art Strohhalm waren, an den er sich klammerte. Das war schon immer so gewesen, seit sie sich kannten. Makoto war zwar ohnehin sichtlich größer und kräftiger als Takashi, doch irgendwie war er in Takashis Erinnerung immer noch großer. Eine Art Festung, hinter der er sich verstecken konnte, ein Fels in der Brandung, der immer standfest zu ihm hielt. Na ja, meistens. Und gelegentlich eine verständnisvolle Klagemauer, an der er alles auslassen konnte. Noch eine ganze Weile schwiegen sie sich betreten an, bis Takashi bemerkte, dass kein Licht von draußen mehr hereinkam. „Solltest du nicht bald nach hause gehen?“ „Hm? Ah... schon, is aber kein Problem. Kann auch noch hier bleiben.“ „Was war eigentlich mit dem Arzt? Nix geworden?“ Makoto seufzte. „Nein, nix. Ich hab das Gefühl, der wollte nicht mal wirklich zuhören. Kaum hab ich gesagt, wer du bist, war’s das.“ „Ich bin berühmt!“ „Wenn’s dich glücklich macht, bitte...“ Für einen Sekundenbruchteil glaubte Makoto zu sehen, wie Takashi das Gesicht verzog. Er wusste, dass auch für Makoto irgendwann die Besuchszeit vorbei sein würde. Auch in Uniform war es äußerst ungewöhnlich, Besuch bei den Gefangenen übernachten zu lassen. Nur konnte Takashi sich nicht entscheiden, was leichter fiel: es für heute schnell und schmerzlos enden zu lassen oder noch eine Weile diese Betretenheit ertragen? Jene Betretenheit führte seinen Blick auf seinen Schoß und zu seiner noch immer verkabelten rechten Hand und seine Linke begann, mit der Spritze und dem daran montierten Schlauch zu spielen. „Lass das,“ murrte Makoto. „Mir is langweilig. Und ich hab Hunger. Bist du nicht gekommen, um mich zu unterhalten?“ Makoto musterte Takashi mit verschränkten Armen und ging zum Bett. Er schien stabil zu sein, sollte auch ohne den Tropf auskommen. Er nahm Takashis noch immer ziemlich kalte Hand und wollte gerade vorsichtig die Spritze herausziehen, als er plötzlich eine andere Hand im Genick spürte, die ihn an den Haaren packte und herunter auf die Matratze riss. Von der Spritze konnte er nur noch einen Widerstand spüren als ob sie auf etwas hartes traf, dann verschwand sie irgendwo zwischen seinem Bauch und Takashis Hand. Mit der anderen Hand hielt Takashi Makoto noch immer im Genick und drückte ihn allmählich immer weiter runter bis er fast auf ihm drauflag. „Hey, spinnst du oder was is los??“ schrie Makoto, „Was, wenn ich dir jetzt die Spritze durch den Knochen gerammt hätte, hä?!“ „Mir doch egal,“ flüsterte Takashi, wie er die umgeknickte Nadel in seiner Hand völlig zu ignorieren schien. „Diese Nadel ist nicht mein Problem, oder?“ Das konnte Makoto nur bestätigen, die Nadel war das geringste Problem. Er lag quer über Takashi, der ihn mit einem ziemlich groben Nackengriff über sich festhielt. Für solche Sachen schien er immer genug Kraft zu haben, auch, wenn er nicht mal mehr stehen konnte. Übung macht den Meister und so hat auch Takashi über die Jahre gelernt, dass Makoto doch noch ein bisschen Taktgefühl oder zumindest eine gewisse Angst vor ihm hatte und, wenngleich er nicht direkt nachgab, ab einem gewissen Punkt nicht mehr deutlich abweisend reagieren konnte. Denn Makoto wusste: wenn er sich jetzt losreißen würde, würde er den ohnehin schon gepeinigten Takashi womöglich kränken. Und das nutzte Takashi nun schamlos aus. Ohne den Schmerz in der rechten Hand weiter zu beachten, befreite er nun auch diese und Makoto hatte das Gefühl, von einem Ringer erdrückt zu werden. „Mako-chan,“ flüsterte Takashi in einem etwas unheimlichen Ton in Makotos Ohr, an dem er nun mehr als nah genug war, „findest du es nicht etwas gemein, hier aufzukreuzen und dich mir vor der Nase rumzuwedeln, während ich mit einem Tropf ans Bett gefesselt bin? Wenn du die Leute schon besuchen kommst, dann bring ihnen was mit. Und wenn du schon nichts mitbringst, dann biet dich gefälligst selbst an!“ „Takashi,“ keuchte Makoto, „Du weißt ganz genau, dass das nich drin is!“ „In dir ist vieles nicht drin. Kein Hirn, keine Hilfsbereitschaft, keine Einsicht, dafür aber Yakisoba und Hikaru bis es zu den Ohren rausquillt!“ Makoto konnte Takashis feuchten Atem im Gesicht spüren, so nah war er ihm. Selten war ihm eine Situation so unangenehm gewesen und Takashi schien nun auch noch auf sein Gewissen wirken zu wollen und ihn mit seinen Gefühlen zu erpressen. Wäre er doch bloß schon früher gegangen. Er hätte wissen können, dass Takashi sich wieder so etwas einfallen ließe, nur hätte er nie geahnt, dass er so weit gehen würde. Er konnte sein eigenes Herz in seinen Ohren pochen spüren und ihm wurde schwindelig. „Takashi,“ sagte er plötzlich mit resoluter Stimme, nachdem er ein mal tief durchgeatmet hatte, „Lass mich los.“ Keine Antwort. „Lass mich sofort los oder ich gehe.“ „Versuch’s doch, wenn du kannst,“ flüsterte Takashi zickig zurück und sah ihm herausfordernd in die Augen. „Dann behalt ich mir deine Haare als Souvenir.“ Um seine Worte zu untermauern, packte Takashis linke Hand noch fester zu und Makoto glaubte, seine ganze Kopfhaut würde einreißen. „Ich kann einiges,“ knurrte Makoto, „Wenn du mich nicht bald loslässt, wirste dein blaues Wunder erleben, Takashi.“ „Das will ich sehen!“ grinste Takashi und mit einem Ruck und einem gezielten Stoß in Makotos Brust, warf er ihn auf den Rücken und saß nun obenauf. Dass er sich dabei die verbogene Spritze aus der Hand riss, schien ihn nicht weiter zu kümmern und er beugte sich zu Makoto hinunter und rammte ihm einen höchst unzarten Kuss auf die Lippen. Makoto machte ein Geräusch, das bei offenem Mund wohl „Scheiße“ gewesen sein könnte, verstummte aber, als Takashi die Gelegenheit dreist ausnutzte und ihm die Zunge in den Mund steckte. Makotos Gesicht war hochrot, er konnte kaum atmen und starrte nur mit riesigen Augen auf dieses blonde Scheusal über ihm, dessen Zunge gerade seine Mundhöhle erforschte. Als die Gänsehaut sich auch unterhalb seiner Leistengegend bemerkbar machte, schien es bei Makoto zu klingeln. „SCHEISSE, HÖR AUF!!“ Keiner von beiden wusste so recht, was geschah, als sie beide vom Bett stürzten, wo Makoto schmerzhaft auf der Seite landete und Takashi noch ein Stück über den Boden glitt bis auch eher mit einem verschreckten Blick am Boden lag. Von seinem linken Mundwinkel floss Blut und seine ganze linke Gesichtshälfte schmerzte wie schon lange nicht mehr. Hechelnd sah er auf. Aus seiner Bauchlage konnte er nicht viel ausmachen. Er sah das Bettgestell, dahinter irgendwo den untersten Teil eines Medizinschranks, Fußleisten und daneben die Tür. Zwischen ihm und dem Bett lag der Tropf, der in dem Gerangel umgefallen sein musste, etwas weiter rechts endete auch der Schlauch, an dem eine zerschundene, blutverschmierte Spritze hing. Erst der Anblick dieser Spritze schien Takashi an die vorhergegangenen Momente zu erinnern und er sah langsam zu seiner zitternden rechten Hand hinüber. Als er sah, in welchen Zustand er sie gebracht hatte, bemerkte er erst den Schmerz, der schon die ganze Zeit da gewesen war. An der Stelle, wo die Spritze umgeknickt war, war seine Haut eingerissen und verklumptes Blut quoll heraus. Sein Blick wanderte von seiner Hand wieder über den Boden, dem er nun wieder genauso nah war, wie heute morgen. Verschwommen konnte er zwei Beine, weiter rechts ein hellblaues Hemd und ganz am Ende seines Blickfeldes, Makotos verstörtes, wütendes und knallrotes Gesicht sehen. Auch er war völlig außer Atem und mied Takashis direkten Blick, fixierte ihn aber dennoch wie ein Büffel, der einen hungrigen Löwen im Auge behalten musste. Erst jetzt erwachte Takashi aus seiner „Eskapade“ und realisierte, was er da eben getan hatte. „Ma... Mako...“ „Das reicht.“ Wacklig richtete Makoto sich auf, stolperte, fing sich am Bettgestell ab und hielt sich die Hüfte. Als er wieder zu Atem kam, ließ er das Bett los, ging zur Tür, wo er das Hemd von der Klinke riss und hielt es hoch, ohne sich zu Takashi, der noch immer entgeistert da lag, umzudrehen. „Das wollte ich vorhin in die Wäsche bringen. Weiß nicht, was mich hier so lang aufgehalten hat, ich lass dir ein Neues besorgen. Auf Wiedersehen.“ Erst als die Tür mit einem scharfen Geräusch ins Schloss fiel, konnten Takashis Ohren Makotos Worte verwerten. „Auf Wiedersehen“ – dieser formelle Ton war äußerst schmerzhaft in seiner Brust. Sein Mund öffnete sich wie von allein, als ob er etwas sagen wollte und er richtete sich wankend auf indem er sich am Griff der Schublade eines Medizinschränkchens hochzog. Noch immer verwirrt von seinem eigenen Handeln und von Hunger und Durst geschwächt, torkelte er zur Tür und aus dem Zimmer, den Flur hinunter. Er konnte Makotos Schritte im Treppenhaus hören. Sie waren schwer, aber schnell. So schwer, dass sie Takashi selbst zu verlangsamen schienen und so schnell, dass sie sich immer mehr von ihm entfernten. In seinem Zustand konnte er Makoto nicht einholen. „Makoto,“ rief er schweratmig die Treppe hinunter, ohne ihn sehen zu können. „Makoto, warte!“ Alles um ihn herum begann, sich zu drehen und ein kalter Schweiß brach in seinem Gesicht aus. Alles wurde unscharf, dumpf und hell und ihm wurde schlecht. Dabei konnte er Makoto keine anderthalb Stockwerke tiefer die Treppen absteigen hören! Er musste es einfach schaffen, er musste ihn einholen. Er beugte sich übers Geländer um Makoto orten zu können, sah tatsächlich seine Schulter und seine Hand auf dem Geländer. Er war nur wenige Stufen vom Erdgeschoss und damit vom Ausgang und von seinem Dienstwagen entfernt. All das registrierte Takashis immer leichter werdender Kopf nur noch sporadisch. Ein paar Stufen schaffte er noch, bis er schließlich wie betäubt zusammenbrach, mit den Knien auf der Treppenkante aufschlug und die letzten Stufen bis zum ersten Stock hinunterstürzte, wo er halb ohnmächtig und mit blutenden Knien liegen blieb. Schemenhaft konnte er weiter unten Makoto durch die Glastür gehen sehen. Nicht ein einziges Mal drehte er sich um. Die blutenden Beine auf der Treppe und der von blauen Flecken übersäte Oberkörper im Gang, fielen Takashi erneut die feuchten Augen zu. In den letzten Sekunden, in denen er noch bei Bewusstsein war, hoffte er, sie würden sich nie wieder öffnen. Kapitel 8: Gesellschaft ----------------------- Das einzige, das er spürte, als er unter den Armen gepackt und vom Boden hochgezerrt wurde, war, dass sein Gesicht nicht mehr auf dem kalten Steinboden lag und dass man ihn von der Tür, durch die er Makoto nicht hatte einholen können, wegbrachte. Irgendwann wurde er auf einen Stuhl gedrückt und seine Hände wurden jeweils an eines der hinteren Stuhlbeine, gerade oberhalb der Sitzfläche, gebunden. “Was hast du auf dem Flur gemacht?“ Er konnte die Stimme nur dumpf wahrnehmen. Was irgendwelches Personal ihm zu erzählen hatte, interessierte ihn im Moment nicht. Gedanklich stolperte er noch immer die Treppen hinunter, hinter Makoto her, während er in Wirklichkeit nur vor sich hinstarrte. Zwischen seinen Beinen konnte er unscharf einen dunkelgrauen Betonboden erkennen. Der Boden der Krankenstation war mit grünem Linoleum belegt, er musste wieder in irgendeiner Zelle oder zumindest einem weniger angenehmen Raum des Gefängnisgebäudes sein. Makoto war also tatsächlich gegangen und hatte ihm seinem Schicksal überlassen. „WAS DU AUF DEM FLUR VERLOREN HAST, FRAG ICH DICH!!!“ brüllte ihn die verschwommene Gestalt vor ihm erneut an. Er war Makoto hinterhergelaufen, den er kurz zuvor mit einer unmöglichen Nummer aufgebracht und vergrault hatte, für die er sich gern entschuldigt hätte, wenn er auch nicht so recht wusste, wie... und warum. „Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, zu antworten wenn man dich was fragt?“ knurrte der Wärter ihn an und verpasste seiner rechten Gesichtshälfte einen Abdruck, der zu dem auf der Linken passte. Es tat nicht wirklich weh. Was wehtat, war, wie ihn dieser Schlag an den erinnerte, den er zuvor nicht ganz zu unrecht von Makoto kassiert hatte. Während der Wärter weiter auf ihn einredete, drohte Takashi allmählich an dem Kloß, der in seinem Hals immer dicker wurde, zu ersticken. „Na gut,“ gab der Mann irgendwann nach, „Wenn du nicht mit mir reden willst, dann schweig doch grad den Boden an, scheint dir ja Spaß zu machen!“ Er verließ den stickigen Raum und warf die Eisentür ins Schloss. Als Takashi endlich allein war und aufatmen konnte, konnte er sich nicht länger zusammenreißen und brach in Tränen aus. Hätte er die Hände nicht hinterm Rücken gefesselt gehabt, hätte er sich wohl selbst geschlagen. Was war bloß – wieder – in ihn gefahren? Warum musste er so impulsiv sein? Es hatte ihm bisher nur Ärger gebracht. Vom Rollstuhl ins Gefängnis, wo er dann seinen besten Freund ein für alle mal abgeschreckt hatte. Aber zum Einsehen von Fehlern war es nun zu spät. Aus Fehlern zu lernen, war ohnehin nie seine Stärke gewesen. Er kannte Makoto. Wenn der eingeschnappt oder wütend war, mied er den „Feind“ eine Zeit lang. Tage vergingen, Tage, in denen Takashi nichts von Makoto hörte. Apathisch ließ er sich von den Wachen herumschubsen und schikanieren, ihm war alles egal. Noch mehr als den Mord an Kyoichi, bereute er den „Mord“ an seiner Freundschaft mit Makoto. Es schien ihm alles zu entgleiten, sogar die Gedanken an Jessie und die G-Boys wurden immer blasser, immer unwichtiger. Was sollte er sich auch Sorgen um sie machen? Sie kamen schon klar, jetzt, wo er sie nicht mehr in irgendwelche krummen Dinger verwickeln konnte. Zwar hatte er einst Endanger als potentiellen Nachfolger erwähnt, doch ob der sich dieser Rolle tatsächlich würdig fühlte, war zweifelhaft. Er hatte zwar „Jawoll!“ gebrüllt, aber wer täte das nicht angesichts einer solchen Ehre? Die Ehre, einen Idioten zu vertreten... Teilnahmslos starrte er auf die nassen Kacheln vor seiner Nase, an denen das lauwarme Wasser tropfenweise hinunterlief und sich zwischen seinen Füßen im Abfluss zu einem kleinen Strudel sammelte. Der Duschraum war voll, so beachtete niemand seine klägliche Gestalt, die schon seit etwa drei Minuten bewegungslos und schlaff unterm Duschkopf stand und das Wasser auf sich niederprasseln ließ. Irgendwo im Hinterkopf erinnerte er sich daran, dass vor seiner Nase ein Block Seife lag und seine Hand steuerte lustlos darauf zu. Das glitschige Ding flutschte durch seine Finger und fiel auf den Boden, wo es ein Stück weit nach links rutschte. Noch zwei Minuten, bis er, ob eingeseift oder nicht, wieder herauszitiert werden würde. Irgendein glitschiges Objekt rammte seinen Knöchel und kaum interessiert, sah er auf den Boden, um es zu identifizieren. Es war ein Fuß. Wenige Zentimeter davon entfernt, lag das Stück Seife, das er zuvor hatte fallen lassen. Noch anderthalb Minuten. „Andoh,“ fuhr der am Boden liegende Mann ihn an, während er sich aufrappelte und erneut ausrutschte, „Findest du dich witzig, hä!?“ Takashi wusste nicht, was er darauf antworten sollte und ignorierte den Kollegen. „Ey Andoh,“ grölte es aus einer rechten hinteren Ecke, „Yamaguchi hat dich was gefragt! Ob du dich witzig findest!“ Takashi verzog das Gesicht. Noch eine Minute. Noch etwa dreißig Sekunden, bis irgendwelche Wachen die fünf nackten Männer von ihm runterzerren und sie allesamt zurück in ihre Zellen schleifen würden. Irgendwie hatte sich aus Takashis Schweigen eine Art Schlägerei ergeben, jedenfalls sah es von außen so aus. Takashi wusste nicht, wieso er sich für das Fallenlassen einer Seife hätte entschuldigen sollen und so stürzten sich kurz nacheinander Yamaguchi, Saejima, Arata, Eda und Kawada auf ihn, stolperten über ihre eigenen Füße und die der anderen, rutschten aus, kollidierten miteinander und brachen so in einem Sechs-Mann-Knäuel auf dem nassen Boden zusammen, wo sie zwar vor allem auf Takashi, aber im Chaos auch auf einander einschlugen. Hier rutschte eine nasse Faust auf einen eingeseiften Brustkorb ab, dort trat ein Fuß das eigene Gesäß. Ganz unten im menschlichen Haufen lag Takashi, erstickend, ertrinkend, zerquetscht und ohne den Bewegungsraum, den er brauchte, um kräftig ausholen zu können. Die Durchsage, die das Ende der Duschzeit ankündigte, ertönte aus wasserdichten Lautsprechern und übrig blieb Takashi, der nach Luft schnappend unter der noch immer laufenden Dusche lag. Das Wasser, das an einer Seite in seinen Mund hineinlief, lief an der anderen Seite wieder heraus und es dauerte ein wenig, bis er sich verschluckte und so endlich wieder in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Als sein Hirn die Umgebung wieder als solche registrierte, musste er kurz grinsen. Hätte er etwas schneller reagiert, anstatt sich unter den anderen Männern begraben zu lassen, hätte er die Gelegenheit wunderbar ausnutzen können, um sich mal wieder so richtig auszutoben. Während er etwas ungeschickt aufstand, ausrutschte und mit der Schulter an die Duschmontur schlug, nahm er sich vor, in zehn Tagen, beim nächsten Duschen, wieder ein Stück Seife fallenzulassen. Noch immer unwillkürlich grinsend, betrat er den Umkleideraum, wo ein frischer Anzug auf ihn wartete. Doch auch ohne Schweißgeruch sahen die graue Hose und das graue Hemd reichlich ausgetragen aus. „Na Andoh,“ rief Yamaguchi ihm zu, „Tut das blöde Grinsen nicht langsam weh? Komm her, ich wisch’s dir von der Visage!“ „Sekunde,“ grinste Takashi und trocknete sich flüchtig ab, ehe er in die Gefängniskluft schlüpfte. Dann wandte er sich wieder Yamaguchi zu. „Tut mir leid, dass du auf meiner Seife ausgerutscht bist. Nächstes Mal treff ich höher, versprochen.“ „ANDOH!“ Und schon kam die Fortsetzung des Sechs-Mann-Knäuels, mit dem Unterschied, dass Takashi diesmal stehen blieb und die anderen fünf es waren, die auf verschiedenste Arten und Weisen mit dem Boden kollidierten. Immer wieder standen einige von ihnen auf und andere mischten sich ein, teils um auch mal irgendwo draufhauen zu können, teils, um die Streithähne auseinander zu bringen, und mit jedem Schlag, den Takashi austeilte, wurde sein Gesicht röter. Das Grinsen hatte sich bereits nach dem dritten Tritt ins Vierte Gesicht gelöst, dafür leuchteten Takashis Augen nun mit einer Wut, die er seit gut anderthalb Jahren nicht mehr verspürt hatte. Wieder ging Kawada auf ihn los, holte zum Schlag aus und konnte nur noch stöhnen, als sein Hinterkopf die Kante des Spinds traf. In seiner blinden Raserei merkte Takashi kaum, wie er irgendwann unter den Armen gepackt wurde und mit Tritten zwischen die Füße „gegangen wurde“. Auch die zwei gehässigen Augen, die ihn aus einer fernen Ecke des Umkleideraums anblitzten, bemerkte er nicht. „Was gibt das denn?“ fragte ein Wärter die zwei Kollegen, die ihm auf dem Flur mit Takashi entgegenkamen. „Andoh ist wieder mal ausgerastet,“ antwortete der Eine, „Wir bringen ihn in die Hogobozelle.“ „Schon wieder? Da war er doch vor Kurzem erst. Das Ding verliert seinen Reiz, er soll sich nicht dran gewöhnen.“ „Also zurück in die gewohnte Zelle?“ „Hmmm... Wann kommt der Chef noch mal aus dem Urlaub zurück?“ „In drei Wochen, wieso?“ „Bis dahin können wir hier also noch unseren Spaß haben,“ grinste der Mann. „Kommt mit, ich weiß, wo wir ihn unterbringen. Andoh, ich hab gehört, du liebst Gesellschaft?“ Allein am Blick konnte Takashi schon erkennen, dass der Mann alles andere als nette Gesellschaft meinte. Das Paar Augen, das Takashi zuvor in der Umkleide angeblitzt hatte, starrte gerade die graue Zellenwand an, während das zugehörige Paar Ohren die Schritte mehrerer Personen vernahm, die sich der Zelle näherten. „Chihuahua,“ rief einer der drei Wärter, „Wir haben Gesellschaft für dich, guck mal, wer hier kommt!“ „Vertragt euch,“ lachte der andere, während der Dritte Takashi in die Zelle stieß und die Tür zuschlug. Takashi kam aus dem Schweigen nicht mehr heraus. Ein anderer hätte wohl geschrieen, aber was gab es da für Takashi noch zu schreien? Die Tatsache, die da über einen Meter achtzig groß mit verschränkten Armen vor ihm stand, würde sich durch alles Geschrei nicht ändern. „Hunden sollte man nicht in die Augen starren, das scheinst du zu wissen, was, Takashi?“ „Hunde sollten vor allem ihrem Führer gehorchen.“ „Solange der seiner Rolle würdig ist, vielleicht.“ „Was heißen soll..?“ Yamai musste prusten. „Sieh dich doch mal an, sieht so ein Führer aus? Einer, der sich King nennen lässt?“ „Wie sieht ein Führer, der sich King nennen lässt, denn deiner Meinung nach aus?“ „Ganz anders.“ „Lass mich raten. Dunkelbraune Haare, schwarze Lederhose und tuntiges Lächeln?“ „Zum Beispiel. Aber den hast du ja beseitigt, hab ich gehört.“ „Tja,“ lächelte Takashi bitter, „Es reicht halt nicht, über eins-achtzig und stark zu sein. Das hab ich dir und Kyoichi schon hundert mal bewiesen.“ „Bis zum Galgen haste’s geschafft, gratuliere,“ spottete Yamai, nicht ganz zu unrecht. Takashi ignorierte diese Provokation bewusst. „Jetzt haben wir ja alle Zeit der Welt, uns auszusprechen, was, Yamai-chan?“ „Außer, dass du ab sofort nicht mehr zu tief schlafen solltest, hab ich dir nix zu sagen.“ „Doch,“ meinte Takashi, „Du hast mir nie gesagt, warum du mich mit allen Mitteln fertig machen wolltest.“ „Zwei Gründe,“ sagte Yamai und setzte sich breitbeinig auf das Futon, das an der Wand unterm Fenster lag. „Erstens: du spielst falsch. Ich hab dich offen herausgefordert und du hast gekämpft wie ein Feigling.“ „Gewonnen hab ich trotzdem.“ „Weil du angegriffen hast, als ich mich noch am vorbereiten war.“ „Tja,“ grinste Takashi schulterzuckend. „Dass man dir das übel nimmt, hättest du dir denken können.“ „Du hättest mich trotzdem besiegen können, wenn du nicht blind um dich geschlagen, sondern mal gezielt zugelangt hättest. Das reicht mir nicht als Argument, mir Drogenhandel und Geschäfte mit der Yakuza anzuhängen. Dann kommt noch der Angriff auf die Pflegerin hinzu, zu dem du Shun gezwungen hast. Das hat du auch auf unser, also auf mein Konto gehen lassen.“ Yamai lachte verbittert. „Das hatte nix mit dir zu tun, glaub mir. Kana Matsui war ihr ein Dorn im Auge und Shun musste sowieso verschwinden, weil er zu viel von ihr gesehen hat.“ „Ihr,“ wiederholte Takashi forschend, „Meinst du Hikaru-chan?“ „Genau die. Und dich konnte sie auch nicht leiden.“ „Ich brech nun mal die Herzen aller Mädchen,“ seufzte Takashi sarkastisch. „Guck mal in den Spiegel, du Idiot. Du bist der letzte, für den Hikaru sich interessieren würde! Aber du hast Makoto zu sehr beansprucht, er hat mehr Zeit mit dir verbracht, als mit ihr.“ „Hat er das?“ Takashis Miene wurde finster. „Jo, ab und zu hat der sich mal zehn Minuten freigenommen, um mich um irgendwelche Gefallen zu bitten, um mit mir über Hikaru zu reden, um mich anzuschreien, mich zu provozieren und mich zu verhaften.“ Yamai sah Takashi mit immer größeren Augen an. Der Blonde wurde immer lauter. „Stimmt schon, ab und zu hat er Hikaru kurz beiseite gelassen um mich dran zu erinnern, dass ich ihm auf den Geist gehe! Wenn hier einer auf den anderen eifersüchtig sein sollte, dann--“ Takashi stockte. Diese „uncoole“ Seite, diese Eifersucht, wollte er eigentlich allerhöchstens Makoto zeigen, aber ganz sicher nicht Yamai. „Jedenfalls,“ räusperte er sich, „Hikaru-chan hatte keinen Grund, auf mich eifersüchtig zu sein. Im Gegenteil, meistens ging’s Makoto doch drum, sich um ihre Probleme zu kümmern, wenn er zu mir kam. Und dann wurdet ihr beide endlich verhaftet, es hätte alles perfekt sein können.“ „Was soll der vorwurfsvolle Ton,“ lachte Yamai hämisch. „Du bist nicht wegen Hikaru oder mir verhaftet worden!“ Takashi verzog wütend das Gesicht und blitzte die Wand neben sich an. Er musste aussehen, wie ein schmollendes Mädchen, das sich selbst eher in die Scheiße hinein als aus ihr heraus gezetert hatte. Yamai war dumm, doch tatsächlich schaffte er es, das, was Takashi sagte, gegen ihn zu verwenden und ihn als Idioten dastehen zu lassen. Sogar Nullhirne wie Yamai waren gerissener als er, wenn es darum ging, einen Feind zu schikanieren. Und mit diesem Nullhirn musste er nun für ungewisse Zeit diese zehn Quadratmeter kleine Zelle teilen? Sie fixierten sich noch eine ganze Weile, bis Takashis Gesicht sich sehr zu Yamais Unbehagen entspannte. Was genau hatte Takashi von Yamai zu befürchten? Egal, wie Yamai ihm bisher das Leben auch schwergemacht haben mochte, meist hatte Takashi doch zuletzt gelacht – und wie. Und egal, was Yamai sich jetzt einfallen ließ – Takashi war sich sicher, er würde wieder das letzte Lachen haben. Kapitel 9: Frische Luft ----------------------- Ratlos fuhr Makoto sich durch sein nasses Haar. Hatte er überreagiert? War es falsch gewesen, Takashi in dem Zustand allein zurückzulassen? Irgendwelche Krankenpfleger oder Gefängniswärter haben sich sicher um ihn gekümmert, nur wie? Während er sich den frischgeduschten Hintern abtrocknete, begann er sich trotz der Wäsche immer dreckiger zu fühlen. Und wieder erwischte er sich dabei, Spucke zu sammeln, um sie auszuspucken. Irgendwie hatte er noch immer Takashis nach nichts schmeckende Zunge im Mund. Irgendeine Freundin, mit der er diesen Geschmack hätte neutralisieren können, hatte er auch nicht. Es wurde höchste Zeit, dass Hikaru, so lästig sie auch sein mochte, entlassen wurde. Der Geschmack von Takashi verblasste, als er sich plötzlich selbst ankotzte: Hikaru hat seine Freunde ermorden lassen und er wollte sie wiedersehen, hegte nie einen Groll gegen sie. Und Takashi? Was hatte der ihm getan? Ihn geküsst, was nicht wirklich eine Geste von Feindseligkeit war. Auch, wenn es lästig war, nahm er sich vor, Takashi dieser Tage zu besuchen und die Sache aus der Welt zu schaffen. Noch immer starrten Takashi und Yamai aneinander vorbei. Gelegentlich trafen sich ihre Blicke, flüchtig als wollten sie nur kurz sichergehen, dass der andere sich noch an derselben Stelle befand. Yamai stöhnte und stand auf. Takashi ließ sich nichts anmerken. Dies wurde schwierig, als Yamai sich unter dem Vorwand, es sei zu warm hier drinnen, das graue Hemd aufknüpfte und über den Kopf zog. Was darunter zu Vorschein kam, hatte nichts mehr mit dem Schwächling zu tun, mit dem Takashi vor etwa zwei Jahren den Boden gewischt hatte. Yamai musste die „Schonzeit“ ohne Takashis Tyrannei genutzt haben und der Yamai der nun vor ihm stand, ließ Takashi zweifeln. Dieser „neue“ Yamai hatte eher die Muskeln eines Rottweilers als die eines Dobermanns. Takashi musste sich ernsthaft überlegen, ob er diesen Mann weiterhin piesacken wollte. Die Tür öffnete sich und ein Wärter schickte beide hinaus auf den Hof. Yamai warf sich das Hemd über und grinste Takashi im Vorbeigehen an. Resolut aber unauffällig nahmen Takashi und Yamai, draußen angekommen, sofort Abstand voneinander und mischten sich unters Volk. Es schien erstaunlich viele Ausländer zu geben, was womöglich mit der Grund war, weshalb das Gefängnis immer mehr an „Japanischkeit“ verlor, was die Einrichtung betraf. Irgendwie amüsierte Takashi der Gedanke, hier womöglich auf Ali zu treffen. Anstatt Ali, begegnete ihm ein Deutscher. In nahezu akzentfreiem Japanisch bat dieser ihm Haschisch an, doch Takashi lehnte freundlich ab. Er blieb seinen Prinzipien treu: bekifft wirken, ohne es zu sein, er war ein Meister dieser Kunst. „Hey du,“ sprach ihn plötzlich ein Japaner an. „Du bist neu hier, oder? Die lassen dich hier erst nach einer Eingewöhnungszeit zu den anderen, du bist seit ungefähr vier Wochen hier, oder?“ „Ungefähr, ja,“ erwiderte Takashi und vergrub die Hände in den Taschen. „Du siehst die Typen da hinten, oder? Das is meine Bande, die sind alle voll okay.“ „Oder?“ Der andere lachte verlegen. „Wenn du willst, nehm ich dich auf. Du bist hier doch ganz allein, oder?“ „Danke,“ sagte Takashi und verbeugte sich recht höflich, „Aber ich hab ihm Führen mehr Übung als im Nachlaufen. Ich würde euch sicher nur enttäuschen.“ „Bloß keine Bescheidenheit oder was,“ nörgelte der andere und ging zurück zu seiner Clique. Takashi winkte ihm freundlich hinterher und verstand nicht, warum die Leute um ihn herum ihn so seltsam ansahen. Er mochte es nicht immer zeigen, aber auch Takashi hatte einen gewissen Stolz. Und ein Gefängnis änderte nichts an der Tatsache, dass er einst den Befehl über dreihundert Mann hatte. Nicht einmal über seine Leiche würde er sich als Unterhund rekrutieren lassen – wenngleich er sich weigerte, seine eigenen Jungs als Unterhunde zu bezeichnen. Und immer noch starrten die Leute ihn so seltsam an, als sähen sie ein Unheil auf ihn zukommen, das nur er selbst nicht sehen konnte. „Hey du!“ „Ja bitte?“ Wieder stand jemand hinter ihm, diesmal ein etwas zappeliger Afroamerikaner. „Der Typ da eben,“ flüsterte er Takashi ins Ohr, „Das war Ryuji Matsuura, der Boss der größten Gang hier.“ „Aaah,“ grinste Takashi, „Gut zu wissen. Das heißt, die größte Gang auf diesem Hof besteht aus... vier... sechs, sieben... zwwww... ölf Mann? Ein Grund zur Sorge weniger, danke.“ Der Schwarze schüttelte den Kopf. „Du kapierst wohl nicht,“ flüsterte er etwas lauter, „Ich weiß nicht woher, aber die Typen haben Messer! Sobald die Wachen wegsehen, hast du eins davon im Rücken!“ „Woooow, wie in Amerika!“ „Ich mach keine Witze, Alter!“ „Ich hab schon soooooo viele Messer pariert, so viele können die in ihrer gesamten Haftzeit nicht sammeln. Oh, eins weniger!“ „Hä...?“ Mit leicht verwundertem Blick zog Takashi das Messer aus seinem Hemd, wo er es noch gerade hatte abfangen können, ehe es seinen Rücken traf. Mit der anderen Hand umklammerte er das Handgelenk des Täters, der wie versteinert hinter ihm stand. Wie in einem Walzer wirbelte Takashi herum, ohne das Handgelenk loszulassen und lächelte ihn gefährlich an. „Solche Sachen gehören nicht hierher, meinst du nicht? Gehörst du zu Oder-chans Bande?“ Der andere bekam keinen Ton heraus und Takashi sah an ihm vorbei und zu Matsuuras Bande hinüber, die am Zaun stand und die Szene beobachtete. „Weißt du, ich komm hier eh nicht mehr lebend raus, ich kann also machen was ich will. Ändert nix an meiner Lage. Und du, hast du vor, hier noch mal lebend rauszukommen?“ Die Seelenruhe, mit der Takashi ihn lächelnd zu Boden drückte, ließ dem Mann das Blut in den Adern gefrieren. Hilflos sah er nach hinten, wo seine Kameraden ihn aus den Augenwinkeln beobachteten. Sie hatten eindeutig nicht die Absicht, ihm zu helfen. Stattdessen sammelte sich ein immer größer werdendes Publikum um die drei herum und der Afro zog es vor, sich unauffällig in diese Gruppe verschwinden zu lassen. Bis vor wenigen Minuten war ihm dieser Strohkopf mit dem unschuldigen Lächeln und dem kindlich großen Kopf noch sympathisch gewesen, doch jetzt machte vor allem dieses Lächeln ihm Angst. Auf den ersten Blick hätte er nie gedacht, dass dieser Bengel den Mut und die Kraft hätte, einen von Matsuuras Bande mit wenigen Handgriffen festzunageln. Perplex beobachtete er nun, wie Takashi sich breitbeinig auf den Mann unter ihm setzte und sich zu ihm hinunterbeugte, um ihm einen eisigen Kuss auf die Lippen zu drücken. “Richte Oder-chan von mir aus, dass mich nur eine Bande interessiert und die ist erstens fünfundzwanzig mal größer als seine und zweitens bin ich da der Kopf, nicht der eingekniffene Schwanz. Haben wir uns verstanden? Haben wir! Wunderbar!“ Das eiskalte Lächeln. Dieses wilde Funkeln, das seine schwarzen Augen so endlos tief wirken ließ. Dieser nicht übertrieben starke Griff, mit dem er ihn am Boden hielt. All diese unauffälligen Dinge ließen Takashi so furchterregend, so überlegen, so sadistisch erscheinen. Als er endlich aufstand und sich gemütlich neben ihn auf den Asphalt setzte, verlor der junge Mann keine Sekunde und rappelte sich vom Boden auf und verschwand in der Menge, die sich wieder aufzulösen begann. Nahezu paranoid drehten sich manche zu Takashi um, um sicherzugehen, dass er noch brav da saß. Das tat er. Er schien sich überhaupt nicht darum zu kümmern, dass er soeben der halben Bevölkerung des Gefängnisses Angst und Schrecken eingejagt hatte. Er saß einfach nur da, im Schneidersitz, und spielte mit seinen Fingern. Für Takashi war solches Imponiergehabe keine große Sache und viel wichtiger schien für ihn im Augenblick die frische Luft zu sein, die er nun seit einer Ewigkeit wieder genießen konnte. Mit einem Plumpsen ließ er sich auf den Rücken fallen und sah nahezu verliebt in den blauen, von Schäfchenwolken bestickten Himmel. „Du..?“ „Hm?“ Der Afro stand wieder über ihm und sah ihn besorgt an. Er war ungefähr so alt wie Takashi und ebenfalls eher schmächtig. Auf dem Kopf hatte er nur ein paar dünne Rastazöpfe. „Das war wirklich cool! Hast du irgendwo Karate gemacht oder so?“ „Karate? Also wenn, dann nur Kickboxen.“ „Klasse!“ Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Aber das eben hatte doch nix damit zu tun, oder?“ „Nee, das lernste mit der Zeit. Hatte schon öfter mit Messern zu tun. Und mit wem hab ich die Ehre?“ “Ich? Benjamin. Benji für dich.“ „Takashi und hinter dir.“ „Hä?“ Benji küsste den Boden und ein sehr viel kräftigerer Afro packte ihn, hart aber herzlich, am Schlafittchen, stellte ihn auf die Füße und zerrte ihn zurück in die Ecke des Hofes, aus der er gekommen war. Dort konnte Takashi noch mehr Ausländer sehen, die scheinbar alle nichts mit den Eingeborenen zu tun haben wollten. Er würde nie verstehen, wofür manche Leute ausgerechnet nach Japan kamen. „Die meisten finden cool, was du da eben getan hast,“ sagte plötzlich ein älterer Mann zu Takashi, ohne bei ihm stehen zu bleiben. „Und sie finden es mindestens genauso dumm. Ab sofort bist du hier wirklich allein.“ „Wie meinen?“ Der Mann blieb ein paar Meter vor Takashi stehen. Ohne sich zu ihm umzudrehen, fuhr er fort. „Matsuura mag ein Taugenichts sein, der Taugenichtse um sich scharrt um sich aufzuplustern, aber sein Feind will hier trotzdem keiner sein. Du hast dich soeben zu seinem Feind erklärt, niemand wird hier noch so töricht sein, mit dir gesehen werden zu wollen.“ „Sehen wir dann.“ „Was du sehen wirst, Bengel,“ murmelte der Alte, „Ist der Asphalt, an dem dein eigenes Blut klebt.“ „Hab ich schon öfter gesehen. Kann ich vertragen.“ „Dummkopf,“ nuschelte er und schüttelte den Kopf. „Dummkopf, Dummkopf, Dummkopf...“ „Angenehm, Takashi.“ Der Alte drehte sich seufzend zu Takashi um, warf ihm einen verzagten Blick zu und ging. Eine Durchsage ertönte und die Gefängnisinsassen wurden zurück in ihre Zellen geschickt. Noch einmal drehte Takashi sich zu Matsuura und seiner Gang um und zog eine Augenbraue hoch. Was sollte er von diesen Idioten zu befürchten haben? Als er sich in Richtung Zelle begab, sah er nicht, wie jemand anders sich zu Matsuura gesellte... Von der frischen Luft aufgeheitert, ließ Takashi sich wieder in seine Zelle sperren. Dort wollte er sich gerade beide Futons ausrollen um sich darauf breitzumachen, als ihm einfiel, dass er jetzt mit Yamai zusammen wohnte und ihm nur eines der beiden Futons gehörte. Yamai kam herein und sah etwas stutzig auf das ausgebreitete Futon, dann hinüber zu Takashi. „Mach was du willst, wirst sehen, was du davon hast.“ Takashi sah und fühlte. Zwei Wärter kamen herein und mit vereinten Kräften rissen sie Takashi das Futon unterm Hintern weg und er landete ziemlich rau auf dem Steinboden. „Bis acht Uhr wird nicht rumgelegen,“ fuhren sie ihn an. „Aufstehen, mit dem Gesicht zur Wand, bis acht!“ Takashi gehorchte achselzuckend. Solange sie keine Videokamera installierten, konnte er sich sowieso gleich wieder setzen, sobald die beiden Wärter draußen waren. Warum er in der Einzelzelle überwacht wurde, während man ihn und Yamai unbeaufsichtigt allein ließ, war ihm ein Rätsel. In West Ikebukuro saß Makoto seufzend auf einer Steinbank. Neben ihm saß Masa, der ihn gequält ansah. „Du solltest seine Hoheit King endlich mal besuchen, weißt du?“ „Ich will ja,“ stöhnte Makoto, „Aber nach dem, was vorgefallen is, is das dermaßen lästig...“ „So ist er eben. Aber... aber wenn, weißt du, wenn er nicht mehr rauskommen sollte, also ehe er, du weißt schon, solltest du das aus der Welt schaffen. So willst du das doch nicht enden lassen?“ „Ich weiß,“ stöhnte Makoto noch lauter, „Ich weiß, und ich hab noch ein paar Monate, um das zu begradigen, also sei du nich auch noch lästig!“ „Ein paar Monate? Sagt wer?“ „Hä? Nein, also es heißt doch, sechs Monate Knast und dann Hinrichtung.“ „Makoto!“ „Ha?“ „So sollte es zwar sein, aber weißt du denn gar nichts?!“ Makoto sah Masa verwirrt an. Der Blonde wirkte auf einmal sehr aufgebracht, wie er plötzlich aufstand und herumfuchtelte, als er mit Makoto sprach. „Sechs Monate sind Standard, aber in Wirklichkeit hängt das nur von denen ihren Launen ab! Wenn die beim Essen beschließen, dass sie zum Nachtisch jemand hängen sehen wollen, dann tun die das! Jeden Moment, sogar jetzt, kann einer zu Takashi-san in die Zelle kommen und sagen, ‚Komm mit, du bist hier fertig’ und das war’s! Nicht mal die Familie wird unterrichtet!“ Makoto schwieg ihn schockiert an. Wenn Masa recht hatte, konnte Takashi längst tot sein. Das bedeutete nicht nur, dass er sich sehr bald mit Takashi versöhnen musste, sondern auch, dass ihm wenig bis keine Zeit blieb, ihn dort rauszuholen. Es war paradox. Obwohl er soeben einen guten Grund bekommen hatte, sich ans Werk zu machen, kurbelten Masas Worte seinen Tatendrang auf null herunter. Denn was er jetzt auch tat, es konnte zu spät sein. Das war vorher zwar auch nicht anders, aber da wusste Makoto das noch nicht, glaubte, er habe Zeit und könne ruhigen Geistes an die Sache herangehen. Damit war es jetzt vorbei. „Soll ich dir deine Uniform holen gehen?“ „Hä?“ „Polizisten sind auch Nachtbesuche gestattet.“ „Was soll das denn bringen,“ knurrte Makoto, stand auf und ging. Im tiefen Inneren hoffte er, dass es irgendwie ohne sein Zutun ein Ende fände, irgendeins. Ein Ende, von dem er irgendwann beiläufig erfahren und nicht weiter darüber nachdenken würde. Hauptsache, diese Quälerei hätte bald ein Ende. Masa konnte Makotos Gedanken anhand seiner Haltung lesen und schüttelte traurig den Kopf. Konnte ein Mensch Gefangener seiner eigenen Bequemlichkeit werden? „Wenn..,“ schrie Masa ihm stotternd hinterher , „Wenn du... wenn du im Knast sitzen und auf den Tod warten würdest, wo Takashi dich reingebracht hätte, hätten die G-Boys längst das Gebäude gestürmt! Ach, was red ich? Takashi hätte dich gar nicht erst verhaftet! Er hätte dich ins Auto gezerrt, versteckt und den Mord der Yakuza angehängt! Er hätte... er hätte... Makoto! Und du sollst der Held von Ikebukuro sein?! Überleg mal, wer dir dazu verholfen hat!! Du bist total... du bist echt scheiße!!“ Als Antwort trat Makoto einen Mülleimer aus seiner Halterung und verschwand in Bukuros Nachtleben. Kapitel 10: Nacht ----------------- Takashi wurde allmählich müde vom ständigen Aufstehen und Hinsetzen. Jedes Mal, wenn er im Gang Schritte hörte, stellte er sich, wie angeordnet, mit dem Gesicht an die Wand. Yamai saß auf dem Boden, was erlaubt war, solange er es sich nicht bequem machte. Noch etwa eine halbe Stunde bis acht. Yamais innere Uhr war bereits auf das Gefängnis geeicht und fast zeitgleich mit der Ankündigung der Nachtruhe, rollte er sein Futon aus und legte sich hin, mit dem Rücken zu Takashi. Die Luke in der Tür öffnete sich und ein Wärter erlaubte Takashi, schlafen zu gehen. Das Licht ging aus und Takashi reckte sich murrend und seufzend auf dem Futon. Irgendwann rollte er sich mit einem lauten Seufzer, der Yamai stöhnen ließ, ein und gab Ruhe. Irgendwann in der Nacht, wie lange er bis dahin geschlafen hatte, wusste er nicht, wurde er ziemlich grob geweckt. Eine Hand packte ihn an der linken Schulter, die andere unterm Arm. Auf der anderen Seite fasste eine Hand sein Handgelenk und die andere griff ihn beim Schopf. Gemeinsam zogen die beiden Männer ihn aus der Zelle. Hinter ihnen fiel die Tür mit einem dumpfen Knall ins Schloss, ein Knall, der in seinem Kopf wiederhallte, bis er von einer Stimme unterbrochen wurde. „Du bist denen hier lang genug lästig gewesen, wird Zeit, dass du verschwindest.“ Müde und verwirrt, konnte er die Stimme nicht identifizieren, aber die Worte ließen ihn aufhorchen. Ja, kein Zweifel! „Mako... chan..?“ Keine Antwort. Er sah zu dem anderen Mann hinüber, der ihn links begleitete. Schemenhaft konnte er auf dem dunklen Korridor Yamai erkennen, der ihn grinsend ignorierte. Takashi wollte gerade wieder zu dem anderen hinsehen, als sich vor ihnen eine Tür öffnete. Noch immer war es dunkel um ihn herum, er konnte kaum etwas erkennen. Außer, dass er noch im Gebäude sein musste. „Is zwar lästig,“ sprach die immer vertrauter werdende Stimme rechts neben ihm, „Aber dich hier zu behalten, wäre noch viel lästiger.“ „Mako-chan? Mako-chan, bist du’s wirklich? Das ging ja schnell, aber wieso kommt Yamai-chan auch mit?“ „Ich,“ antwortete Yamai an Makotos Stelle, „Ich wollte bloß deinen Abgang nicht verpassen, Takashi.“ Yamai schlug die Tür hinter ihnen zu und Takashi konnte außer sich selbst, Makoto und Yamai keine weiteren Personen im Raum feststellen. Auch, wenn er kaum etwas erkennen konnte, erschien ihm der Raum reichlich klein und es schien, bis auf die Tür, durch die sie gekommen waren, keine Türen und Fenster zu geben. Vor ihm konnte er ein großes Objekt ausmachen, sehr groß dafür, dass es mitten in einem so kleinen Raum stand. Und er wurde geradewegs darauf zu geführt. Seine nackten Füße stießen auf eine kleine Treppe, die er von den beiden anderen hinaufgeführt wurde. Er zählte genau dreizehn Stufen. „So Takashi,“ sagte Makoto und stellte sich vor ihn. Mit gewohnter Kraft schlug er ihm die Hände auf die Schultern. „Du bist hier fertig. Yamai?“ „Geht klar,“ antwortete dieser und Takashi spürte seine Hände, wie sie ihm etwas über den Kopf zogen. Als er registrierte, dass das, was Yamai ihm umlegte, ein Strick war, war es zu spät und ungläubig sah er den Schatten vor sich, Makoto, an, der seine Hände festhielt. „Mako-chan..?“ „So leid’s mir tut, Takashi, aber irgendwann is auch meine Geduld mit dir am Ende.“ Mit diesen Worten sprang er von dem Podest, das nur als doppelter Boden für den Galgen diente. Takashis Blick versuchte verzweifelt, ihm zu folgen, als plötzlich hinter ihm ein Hebel umgelegt wurde und eine der Bodenfliesen des Podests, die unter seinen Füßen, heruntergeklappt wurde. An seinen letzten Gedanken konnte er sich schon nicht mehr erinnern, als ihm förmlich der Boden unter den Füßen weggerissen wurde und die Schlinge um seinen Hals sich in Sekundenschnelle zuzog. Alles um ihn herum wurde schwarz, dann weiß, dann verschwand es völlig und mit einem verblassenden Gedanken an den Freund, der ihn heute nacht verraten sollte, gab er auf. „Na Takashi, wie fühlt sich das an, hä?“ Speichel lief ihm übers Kinn und kalter Schweiß und Tränen flossen ihm über die Augenlider. Seine Arme kribbelten, fanden nicht die Kraft, sich zu heben. Um sie zu steuern, fehlte seinem Gehirn der nötige Sauerstoff. Benebelt realisierte Takashi, dass er nur im Traum gehängt wurde und sein Hals nicht von einer Schlinge, sondern von zwei kräftigen Händen, denen rechts ein Finger fehlte, zugedrückt wurde. Yamai saß auf seinem Bauch, hatte nicht die Absicht, sich dabei leicht zu machen. „Haste was Schönes geträumt, na? Hat Makoto dich gehängt? Das wird er auch, im übertragenen Sinne, aber vielleicht komm ich ihm zuvor, was meinst du, Takashi?“ Takashi konnte nicht klar denken und schnappte verzweifelt nach Luft. Seine Augen zitterten und eine Gänsehaut breitete sich auf seinem ganzen Körper aus. Mit der wenigen Kraft, die ihm blieb, versuchte er, Yamai das Knie in den Rücken zu schlagen, aber auch seine schwachen Beine konnten nur kläglich unter der Decke zappeln. Yamai grinste, als er Takashis knochigen Hände spürte, wie sie sich an seine eigenen klammerten und abgekaute Nägel versuchten, sich tief genug in sein Fleisch zu bohren, um ihn zum Loslassen zu zwingen. Doch Yamai war Schlimmeres von Takashi gewohnt und dieses hilflose Gezappel unter ihm war weit davon entfernt, ihn zu beeindrucken. Im Gegenteil. Auch im Dunkeln konnte Takashi Yamai grinsen sehen. Wie eine Hyäne, die sich auf das verlassene Löwenjunge stürzte und keine Eile hatte, es zu töten, ehe sie es fraß. Sollte er aufgeben? Takashi war es nicht gewohnt, zu unterliegen und wusste nicht, wie er mit einer solchen Situation umgehen sollte. Sein Bewusstsein nahm ihm die Entscheidung ab, als es ihn im Stich ließ und sein Körper unter Yamai erschlaffte. Takashi spürte nicht mehr, wie Yamai scheinbar nicht vorhatte, von ihm runterzugehen und ihn in Ruhe schlafen oder sterben zu lassen. Stattdessen schien er seinen Triumph über den „King“, seinen ersten, genießen zu wollen und sorgte dafür, dass auch Takashi diese Niederlage nicht so schnell vergessen, geschweige denn verarbeiten würde. Während der Alptraum für Takashi erst begann, ging für Yamai ein langjähriger Traum in Erfüllung: vor seiner Hinrichtung wollte er nichts lieber sehen, als einen am Boden kriechenden Takashi. Mitternacht, und seine Bauchuhr erinnerte ihn an die Nachtrunde. In etwa zehn Minuten musste ein Wärter an ihrer Zelle vorbeikommen und er beschloss, sich den Rest für später aufzuheben. Er stand auf und betrachtete sein „Werk“, das schlaff, wie erschossen, im zerwühlten Futon lag. “Hier braucht man nun mal keinen King, Takashi,“ lachte er leise und stieß Takashis Kopf mit dem Fuß an. Als der Nachtwächter durch die Luke schaute, sah er nur zwei friedlich schlafende Männer, die sich überraschend gut zu vertragen schienen. Er hätte damit gerechnet, dass diese Nacht schlaflos zu ende gehen würde, er kannte die Vorgeschichte der beiden, war die Geschichte der G-Boys, der Black Angels und des notorischen Verräters Yamai doch zur Legende geworden. Es hätte ihn nicht überrascht, beim Blick durch die Luke eine Schlägerei oder gar einen Mord oder andere Grässlichkeiten zu sehen. Schulterzuckend und leicht enttäuscht über diese langweilige Entdeckung, zog er weiter. Das Erwachen war grausam für Takashi. Alles tat ihm weh und ihm war so schlecht wie nie zuvor. Sein Gesicht war feucht von Tränen und Speichel, der ihm bis zum Kinn hinunterlief. Im Rachen und in der Nase plagte ihn das widerwärtige Gefühl, das man nur hatte, wenn kurz davor das durch die Nase kam, was normalerweise durch den Mund erbrochen wird. Vom Husten wurde es nicht besser, der Geschmack von Galle breitete sich dadurch nur in seinem Mund aus. Endlich schaffte er es, die verklebten Augen zu öffnen und er erinnerte sich an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Es dauerte etwas, bis er Traum von Wirklichkeit unterscheiden konnte und sich bewusst wurde, dass nur Yamai ihm zu Leibe gegangen war. Und wie. Vorsichtig drehte er sich um. Neben sich sah er Yamai stehen, der sich die Hose zuknüpfte und das Hemd über den Kopf zog. Es war Tag und jeden Moment musste ein Wärter kommen, der die beiden aufs Klo und dann in die Kantine schicken würde. „Yamai, Andoh, raus,“ tönte es auch schon durch die Luke und die Tür öffnete sich. Der Wärter warf einen flüchtigen Blick auf Takashi, der noch immer im Bett lag und ein Loch in die Luft starrte. „Was ist mit Andoh?“ „Ach,“ lächelte Yamai höflich, „Der muss gestern was Falsches gegessen haben. Hat sich im Schlaf übergeben und kommt einfach nicht hoch. Ich glaube, Sie lassen ihn besser liegen, sonst behindert der doch nur den Verkehr.“ Wortlos drehte der Wärter den beiden den Rücken zu und zitierte Yamai heraus um die Tür hinter ihm abzuschließen. Takashi blieb allein zurück, was er jedoch kaum registrierte. Alles, was er mitbekam, war das verschwommene Bild vor seinen Augen und wie dreckig es ihm ging. Seine Kehle wurde von einem unerträglichen Hustenreiz geplagt, aber wer legte schon Wert darauf, die eigene Magensäure auf der Zunge zu haben? Er versuchte, den Husten zu schlucken, verschluckte sich dabei und bekam so endgültig einen Hustenanfall. Klapprig stützte er sich auf seine Arme und versuchte, alles möglichst schnell auszuspucken. Er kam vom Regen in die Traufe, als der Anblick des gelblichen Schleims zwischen seinen Händen seinen Brechreiz verschlimmerte. Doch in der Zelle gab es nicht einmal einen Rinnstein, wo sollte er es rauslassen? Es war Mittag, als sich die Tür zu seiner Zelle öffnete. Zuerst bekam Takashi es gar nicht wirklich mit. Er hatte seinen bescheidenen Mageninhalt bis hinter die Zähne kommen lassen und wieder sorgfältig hinuntergeschluckt, um sich dann wieder hinzulegen und den Tag möglichst passiv vorbeistreichen zu lassen. „Hey!“ Desinteressiert sah er auf. Vor ihm stand Makoto, wie immer in Uniform. Takashis Augen wurden weiter und für einen kurzen Moment sah er Makoto an, als wollte er ihm weinend um den Hals fallen, doch dann versteinerte sein Gesicht und Makoto blickte in dieselben wilden, glühenden Augen, in die er schon einmal gesehen hatte, als er Takashi zum ersten Mal hier besuchen kam. Schweigend richtete Takashi sich auf. In der hintersten Ecke der Zelle setzte er sich, lehnte den Kopf an die Wand und fixierte Makoto aus den Augenwinkeln, mit einem Blick, den Makoto nicht deuten konnte. „Ist dir mal wieder langweilig? Brauchste Unterhaltung?“ „Hä? Ähm, Takashi, wegen letztens...“ „Lass gut sein, geh einfach nach hause.“ „Takashi...“ „Draußen bist du zu mir gekommen, um mich rumzukommandieren, jetzt kommst du nur noch, um dich über mich lustig zu machen. Ehrlich Makoto, wenn du glaubst, dass du mir so einen Gefallen tust, lass es. Bleib einfach weg. Wenn ich nur an dich denke, kann ich mir wenigstens aussuchen, wie ich dich erlebe. Verpiss dich.“ „Takashi,“ versuchte Makoto sich Gehör zu verschaffen doch Takashi sah weg. „Verpiss dich!“ „Takashi...“ „Danke,“ keifte Takashi, ohne Makoto anzusehen, „Jetzt kann ich mir meinen Namen endlich wieder merken! Solche Sachen vergisst man hier schon mal, wirklich, vielen Dank, dass du mich dran erinnerst, dass ich einen Namen habe!“ „Ta...“ Makoto merkte, wie er sich lächerlich vorkam, jetzt, wo er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sein momentanes Vokabular sich auf „Takashi“ zu beschränken schien. „Äh, ich würde die Sache gerne aus der Welt schaffen, weißt du...“ „Ach?“ Takashi sah ihn neugierig an, aber irgendwie wirkte diese Neugier eher ironisch. „Wenn du schon dabei bist, die Zeit zurückzudrehen, dreh sie doch bitte auf den vierten März 1987, kurz vor elf.“ „Hä?“ „Kurz nach elf bin ich im Sandkasten auf die Nase gefallen und du hast mich ausgegraben. Dreh die Zeit ein bisschen weiter zurück, damit ich einen Bogen um den Spielplatz und meine Begegnung mit dir machen kann, ja?“ Makoto starrte Takashi fassungslos an. Nicht nur schien dieser Typ das Gedächtnis eines Elefanten zu haben, so dumm, nicht zu merken, wie sehr ihn diese Bemerkung verletzen sollte, war Makoto nun doch nicht. Er versuchte, es zu verbergen, aber Takashi traf schon immer da, wo es am meisten wehtat. Jetzt ging er also schon so weit, seine Begegnung und damit seine langjährige Freundschaft mit Makoto zu verfluchen. So endlos nett und witzig, wie Takashi „normalerweise“ war, genauso grausam und gemein konnte er sein, wenn man es unbedingt darauf anlegte. Makotos Miene verfinsterte sich. Er hätte zwar damit rechnen können, trotzdem war er nicht gekommen, um sich von Takashi beleidigen zu lassen. Erst, als er sich zu Takashi auf den Boden setzte um ihn am Kragen zu packen und anzuschreien, erkannte er, wie schlecht er wieder einmal aussah. Takashi kam ihm zuvor. „Und eh du dumm fragst, die haben mich mit Yamai hier eingesperrt. Hab geträumt, dass ihr beide mich erhängt. Bin aufgewacht und war froh, dass es nur ein Traum war, bis ich dann gemerkt hab, dass Yamai dabei war, mich zu erwürgen, wie Rika-chan.“ Makoto verging auf einmal jede Lust, Takashi anzufahren. Und wieder herrschte dieses bedrückende Schweigen im Raum. Takashi stank nach Kotze und sah auch so aus, das war das einzig Interessante in diesen vier Wänden, womit Makoto seinen Geist beschäftigen konnte. Wie egoistisch er doch wieder war. Hatte Takashi wirklich gänzlich Unrecht, wenn er Makoto vorwarf, dass dieser ihn nur aus eigenem Interesse aufsuchte? Auch jetzt, in genau diesem Moment, ertappte sich Makoto bei äußerst egoistischen Denkweisen. So fand er zum Beispiel, dass es reichte, dass er den lustigen, sympathischen Takashi so schnell nicht wiedersehen würde und deshalb ebenso gut für immer verschwinden konnte. Dass auch Takashi selbst wohl lieber herumalbern und in der Sauna seines Vaters abspannen würde, anstatt sich selbst immer weiter herunterzuwirtschaften, dieser Gedanke kam ihm erst später. Dass Takashi hier der Leidtragende war, darauf kam er erst über Umwege. Allmählich wurde die Stille durch Takashis müden Atem unterbrochen. „Makoto,“ ächzte es plötzlich aus Takashis Ecke. Makoto sah nahezu erschrocken auf. „Das, was ich neulich gesagt hab, das nehm ich zurück. Ich hab’s zwar verdient, im Knast zu sitzen, aber das hier, das hab ich nicht verdient. Auch wenn’s vielleicht total lästig ist...“ „...hättest du doch gerne, dass ich mir weiter den Arsch aufreiße, um dich hier rauszuholen?“ Takashi nickte, ohne seinen Kopf über seine Knie, zwischen denen er ihn verbarg, zu heben. „Das is wirklich mega lästig,“ seufzte Makoto. Mit einem verlegenen Grinsen rutschte er rüber und setzte sich neben Takashi. „Aber ohne deine Lästigkeiten wär’s ja auch langweilig.“ Verlegen legte er einen Arm um Takashis Schulter. Er wollte sich für seinen Abgang neulich entschuldigen, leider fiel es ihm schwer, das Thema aufzugreifen. Grund zur Sorge bestand jedoch nicht mehr: an Takashis Gesicht war deutlich zu erkennen, dass er allein Makotos Anwesenheit brauchte, um das Ganze zu vergessen und so ertrug er es mit einem Seufzen, als Takashi sich wieder extrem eng an ihn zu schmiegen begann. Es stimmte, was man ihm nachsagte: trotz allem Gemecker, Makoto liebte lästige Dinge und Menschen. Kapitel 11: Vom Tresen bis zum Tor und nicht weiter --------------------------------------------------- „Wo is Yamai jetzt?“ wollte Makoto wissen. „Weiß nicht,“ stöhnte Takashi, „Wollen dich vielleicht nicht stören und haben ihn solange woanders untergebracht.“ „Und warum stinkst du nach Kotze?“ „Das könnte daran liegen, dass ich mich im Schlaf übergeben habe,“ erklärte Takashi zynisch. Schon die ganze Zeit fixierte er eine Falte im Bezug des Futons zwischen seinen Füßen. „Ich lass dich umsiedeln, versprochen.“ „Zu wem diesmal? Matsuura?“ „Wer?“ „Nichts,“ hustete Takashi, als er versuchte, den Schleim in seinem Hals zu lösen. „Was is letzte Nacht sonst noch passiert?“ fragte Makoto besorgt. Takashi war so abwesend. „Du meinst, außer, dass ich mich gleich zwei mal hab sterben sehen? Nichts, dass ich wüsste.“ „Sicher?“ hakte Makoto nach. Takashi konnte ihn nicht anlügen. „Steh mal auf.“ „Mako-chan,“ grinste Takashi gereizt, „Wenn du darauf anspielst, nein, mir tut der Hintern nicht weh, so was würd ich merken.“ „Woran du immer gleich denkst,“ lachte Makoto. „Aber Yamai trau ich so was zu.“ „Dafür bin ich mit einem komischen Geschmack im Mund aufgewacht...“ Makoto verzog angewidert das Gesicht, was Takashi sofort bemerkte. „Nicht so komisch. Ganz anders. Mako-chan, ich glaub, du brauchst mal wieder ne Freundin.“ „Wie weißt du eigentlich, wie so was schmeckt?“ „Na ja,“ grinste Takashi verschmitzt, „Du hast gelegentlich einen sehr festen Schlaf, Mako-chan...“ „HA!?“ „Ist doch nur Spaß,“ konnte Takashi den armen Makoto gerade noch vor einem Herzinfarkt bewahren. Ganz besorgt sah er Makoto an, als wäre er schon dabei, um sein Leben zu röcheln. Makoto gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Komm mit, wir gehen dir ne neue Zelle besorgen. Mal wieder.“ „Tut mir leid,“ hieß es am Empfang, „Aber alles ist voll, darum haben wir ihn ja auch zu Yamai umgesiedelt.“ „Aber warum ausgerechnet zu Yamai,“ fragte Makoto ungläubig, „Jeder weiß doch, was die beiden für eine Geschichte haben!“ „Majima-san,“ seufzte der Beamte, „Dies ist eine Strafvollzugsanstalt. Hier herrschen nicht dieselben Zustände, wie da draußen in Ikebukuro.“ „Ach nein!?“ fuhr Makoto den Mann an und schlug mit der Faust auf die Theke, „Und was is das hier, hä!?“ Wütend packte er Takashi ein wenig zu grob am Kragen und zerrte ihn nach vorn, wo er in die Theke krachte und ihn ansah, wie ein getretener Hund. Als er Takashis Kinn anhob, wurden die Handabdrücke auf seinem Hals sichtbar und der Beamte sah verwundert auf. “Nanu, was ist denn das?“ „Tun Sie doch nicht so blöd,“ knurrte Makoto, „Yamai hat versucht, ihn umzubringen! Dass das passieren würde, hätten Sie eigentlich wissen können! Sie haben’s gewusst, geben Sie’s zu!“ „Wissen Sie, Majima-san,“ seufzte der Mann arrogant und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „Wir sind voll. Da müssen wir schon mal Kompromisse eingehen und Prioritäten setzen. In erster Linie geht es uns darum, die Insassen, die eines Tages wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen, zu schützen und auf ihre Entlassung vorzubereiten. Die anderen...“ „Die anderen,“ unterbrach Makoto ihn in einem furchterregend ruhigen Ton, „Die Todeskandidaten sind eh bald abgehakt und je eher sie euch die Arbeit abnehmen und sich gegenseitig umbringen, desto besser..?“ „Wissen Sie...“ „Ich weiß einiges, und trotzdem versteh ich’s nicht! Heute morgen war doch ein Wärter bei denen in der Zelle, wollen Sie mir weismachen, dass der nicht gesehen hat, was Takashi da am Hals hat!?“ „Es ist nicht Aufgabe unserer Wärter, die Gefangenen auf blaue Flecken zu untersuchen.“ „Was ist denn die Aufgabe eurer Wärter,“ fuhr Makoto ihn an, „Außer Schikane und Gewalt hab ich noch nicht viel mitgekriegt von dieser Aufgabe! Und Sie? Was machen Sie hier den ganzen Tag? Sitzen auf ihrem fetten Arsch und zucken mit keiner Wimper, wenn ich hier mit einem Typen ankomme, der zwei fette Handabdrücke aufm Hals hat!“ „War das alles, was Sie mir sagen wollten?“ „Das war noch lange nicht alles, Sie...“ Mit einem selbstgefälligen Lächeln stand der Mann stand auf, kehrte Takashi und dem kochenden Makoto den Rücken und verschwand in einem Raum, zu dem eine Tür neben dem Schalter führte. Als er nach einer Viertelstunde noch nicht wieder herauskam, gab Makoto das Warten auf und kletterte über die Theke. „Was machst du?“ fragte Takashi leise, um Makoto nicht zu verraten. „Gucken, wie die Zellen belegt sind,“ murmelte Makoto, während er eine Mappe nach der anderen überflog, in der Hoffnung, auf ein Verzeichnis der Zellen und ihrer Insassen zu stoßen. Was er fand, ließ ihn stutzen: es war mehr als genug Platz vorhanden, um Takashi woanders unterzubringen. „Ich könnte dich hier, in Zelle dreihundertsechs unterbringen, das is ne Einzelzelle, oder bei Yagami in Zelle vierundneunzig, das scheint mir ein ganz Harmloser... Takashi?“ „Mmh..?“ Takashis Mund hing halb offen und ihm lief die Sabber an der Seite herunter. Er sah mehr als nur müde aus, wie er sich schlaff auf den Tresen stützte und den Kopf zwischen die Arme baumeln ließ. Seine Knie beugten sich immer mehr und Makoto konnte ihn gerade noch auffangen und sachte auf den Boden setzen und an die Theke lehnen. Als Makoto seine Wange fühlte, war diese eiskalt und feucht. Hilflos sah er sich um, konnte aber bis auf Sitzmöbel und die Theke, die aus seiner momentanen Perspektive alle riesig wirkten, nichts Brauchbares entdecken, einen Wärter zum Beispiel. Sein Blick schweifte im Raum umher und plötzlich wurde er von einem grellen Licht geblendet. Er drehte sich dem Licht zu und geriet beinahe genauso ins Schwitzen wie der benommene Takashi neben ihm. Das Licht kam von draußen, knallte durch die riesige vierfache Glastür in den Raum. Eine Glastür, die tagsüber nicht abgeschlossen war, hielten sich hier doch normalerweise keine Gefangenen auf. Keine fünfzig Meter weiter, jenseits des hohen Elektrozauns, stand sein Dienstwagen geparkt. Er nuschelte sich irgendetwas von „Lästig“ in den Kragen und verpasste Takashi eine schallende Backpfeife. „Aufstehen,“ murmelte er. „Los, reiß dich zusammen!“ Takashi sah ihn mit müden Augen an als wolle er nur wissen, wofür er jetzt schon wieder geschlagen wurde. „Nun steh auf,“ knurrte Makoto und legte sich Takashis linken Arm um die Schulter und zerrte ihn auf die Beine. „Tragen werd ich dich nicht, musst schon selber laufen.“ Takashi riss sich, wie befohlen, zusammen und schaffte es tatsächlich bis wenige Meter vor dem Einfahrtstor. Die frische Luft verfehlte ihren Zweck und verpasste Takashis erschöpftem Kreislauf einen zusätzlichen Schlag und Makoto musste ihn mit aller Kraft zum Tor zerren. „Kann ich ihnen helfen?“ Innerlich fluchend, drehte Makoto sich um. Hinter ihm stand derselbe Mann, der ihm schon an der Rezeption so sympathisch gewesen war. Wie sollte Makoto sich jetzt verhalten? Was gab es für plausible Erklärungen für das, was er gerade tat? „Äh... nein, wissen Sie, ich hab eigentlich die Anweisung bekommen, Andoh in eine andere Anstalt zu bringen, wenn mir hier weitere Missstände auffallen, und...“ „Missstände?“ fragte der Mann verdutzt, „Was für Missstände? Ich hab ihnen doch schon erklärt, dass kleine Handgreiflichkeiten in jeder Haftvollzugsanstalt zum Alltag gehören und wir nicht viel dagegen unternehmen können...“ “Und dass sie voll sind, obwohl über zweihundert Betten frei sind, dass Todeskandidaten sich gegenseitig umbringen dürfen und dass Sie sich ihren Stundenlohn durch ihre reine Anwesenheit sichern?“ „Nun beruhigen Sie sich aber mal wieder...“ Makoto war weit davon entfernt, sich zu beruhigen und hätte er nicht fünfzig Kilo Ohnmacht im Arm hängen gehabt, hätte er diesen Mann wohl zusammengeschlagen. Sein Verstand sagte ihm zwar, dass er sich nun genau überlegen sollte, was er sagte weil er angesichts der Situation durchaus Besuchsverbot verhängt bekommen könnte, aber sein Herz raste vor Wut, er war schweratmig und seine Gesichtsmuskulatur zuckte, als wolle er den Mann vor ihm anschreien. Widerwillig wandte er das Angermanagement, das Takashi ihm einst beigebracht hatte, an und beruhigte seine Atmung, bis sein Gesicht abkühlte und seine Muskeln sich entspannten. Leicht verärgert schielte er auf Takashi hinunter. „Ruhigbleiben und nichts tun“, „Die Wut einfach ausschalten“, all das waren einst seine Worte gewesen. Nur er selbst schien sich nicht daran zu halten. Es bedurfte all seiner Willenskraft, sich zusammenzureißen und seine Worte und seinen Ton zu mäßigen. Er war hier eindeutig der Verlierer und musste jetzt zusehen, dass die Opfer sich in Grenzen hielten. „Dass ich vorhin etwas lästig wurde,“ stammelte Makoto, „Also, dafür, Entschuldigung. Ich finde nur nicht richtig, wie das hier gehandhabt wird und frage mich, ob es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe, Andoh woanders unterzubringen oder zumindest die jetzige Zelle zu überwachen, solange Yamai noch mit ihm da drin wohnt?“ Er kam sich wirklich erbärmlich vor. Jeder Idiot, ja sogar der Beamte selbst, wusste, wer hier eindeutig im Unrecht war. Allein schon die Sache mit dem Platzmangel ließ Makoto implodieren. Doch es gab nun einmal Ungerechtigkeiten, zu deren Bekämpfung man sich ihnen nur beugen konnte. Mit Takashi zu fliehen, wie er es gerade unüberlegt versucht hatte, kam nun jedenfalls nicht mehr in Frage. Doch er war immer noch bedeutend größer als sein Gegenüber und der Name Makoto Majima war auch hier nicht unbekannt. Die beiden versuchten einander mit aller Macht zu imponieren, ohne dabei zur Tat zu schreiten. Einer der beiden musste aber irgendwann aufgeben. „Na schön,“ gab der arbeitsfaule Wärter irgendwann nach, „Ich habe mich vorhin mit Kollegen beraten und ich denke schon, dass wir ihn woanders unterbringen können. Helfen Sie mir, ihn wieder reinzubringen?“ Schweren Herzens übergab Makoto Takashi, der kaum etwas davon mitbekam, wieder dem Gefängnispersonal und war nur froh, dass sein Entführungsversuch nicht aufgeflogen war. Er hatte gar keine andere Wahl, als ihnen zu glauben, als sie ihm versprachen, Takashi sofort untersuchen zu lassen und ihn baten, sich nun wieder seiner Arbeit zuzuwenden. Er wollte sich gerade anschnallen, als sein Handy, noch immer mit „Born to be wild“, klingelte. „Ja, Makoto?“ „Ich bin’s,“ antwortete Fujio Saitou am anderen Ende, „Sag mal, wo bist du grad?“ „Ich bin grad im Knast fertiggeworden, wieso?“ „Ach so,“ nuschelte Fujio, „Weil, dann hätte ich vielleicht wichtige Infos für dich und vor allem für Takashi.“ „Was?“ Makoto klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter um den Wagen anzuwerfen. „Erinnerst du dich an Hebi, Tendoukais Drogendealer?“ „Ach, der mit dem widerlichen Zischen, der den Leuten Speed in den Ar-“ „Ja, genau der,“ unterbrach Fujio ihn, als Makotos Gedächtnis einen etwas zu heftigen Höhenflug erlebte, „Hatte Takashi was mit seiner Verhaftung zu tun?“ „Hä?“, sagte Makoto, etwas verwirrt, „Nein, soweit ich weiß, nicht. Die wollten ihn auf Ali hetzen, aber er hat abgelehnt.“ „Hat er dir aus dem Hintergrund geholfen?“ „Nein, er hat sich völlig rausgehalten. Das war ihm ne Nummer zu riskant.“ „Gut,“ meinte Fujio erleichtert, „Der und sein Laufbursche, den ihr damals gefilmt habt, sitzen nämlich beide im selben Knast wie Takashi.“ Makoto fuhr beinahe gegen einen Müllcontainer. „Sag so was doch gleich!“ „Ich hab’s auch erst jetzt erfahren. Hab mich ein bisschen kundiggemacht, mit wem Takashi da alles rechnen muss. Dass Yamai da auch ist, weißt du bestimmt schon?“ „Ja, das weiß ich und das ist das Problem. Der is heut nacht auf ihn losgegangen. Die haben mir versprochen, ihn umzusiedeln, aber ich weiß nicht...“ „Versuch, das Ganze im Auge zu behalten,“ sagte Fujio und spielte nervös mit seinem Schnürsenkel, „Ich weiß nicht, ob’s von den Ausländern oder den Wachen ist, jedenfalls machen Hebi und sein Unterhund, Matsuura oder so, auch im Knast noch Geschäfte.“ „Matsuura?“, fragte Makoto alarmiert, als er das Steuer wieder nur knapp umreißen und dem Eismann ausweichen konnte. „Wieso, is was mit dem?“ „Takashi meinte irgendwas von einer Bande, in die ein Matsuura ihn integrieren wollte.“ „Das ist gar nicht gut,“ grübelte Fujio, „Das ist wirklich schlecht. Sie haben Takashi also schon im Visier...“ Kapitel 12: Yakisoba mit Speed ------------------------------ „Willkommen“, quietschte die mehr als reizend gekleidete, aber höchst unattraktive Kellnerin, als er das Café betrat, „Sind Sie allein?“ „Nein, ich bin mit zwei Freunden verabredet.“ Er setzte sich an den Vierertisch in der hinteren Ecke des Ladens und sah ungeduldig aus dem Fenster. Hier war er schon lange nicht mehr, aber er konnte sich noch gut an die alten Zeiten erinnern. An genau diesem Tisch sah er oft Takashi und Jessie, wie sie sich ihre nahezu endlos dehnbaren Mägen vollschlugen. Während Jessie noch ein wenig Struktur in ihrer Ernährung hatte – Vorspeise, Hauptgang, Nachtisch, Kaugummi – graste Takashi meist nur die Dessertkarte ab. Er bekam längst keinen Durchfall mehr von den für normale Menschen unverträglichen Kombinationen aus Eiscreme, Pfannkuchen, Saft, Cremetorte,... Meist stand der treue Endanger neben ihrem Tisch und starrte, wie es sich für einen Bodyguard gehörte, vor sich ein Loch in die Luft. Gelegentlich würde er an Takashis Handy gehen und es seinem King ans Ohr halten, damit dieser die Hände zum Essen frei hatte. Takashi ließ es sich damals immer sehr gut gehen und lebte gern über seine Verhältnisse, wurde dabei aber niemals hochnäsig oder egoistisch. Makoto bekam allmählich gar nichts mehr mit, wie er so in seinen Erinnerungen versank und in ihnen zu ertrinken drohte. Wie eine Welle, die ihn nicht an die Oberfläche zurückschwimmen ließ, unterbutterten sie ihn, füllten wie ekliges Salzwasser seine Kehle und zerrten ihn auf den kalten, dunklen Meeresgrund hinab. „Yo!“ Völlig verschreckt fuhr er hoch, seine starren Augen bekamen ihren Glanz zurück und mit hängender Kinnlade starrte er den nun wirklich nicht imposanten jungen Mann an, der da vor ihm stand. „Fu... Affe..!“ „Nenn mich nicht so! Warst wohl in deinen schmutzigen Gedanken versunken?“ „Red keinen Scheiß,“ murrte Makoto, als sein Herz sich wieder beruhigte. Das einzig Schmutzige an seinen Gedanken war Takashis Mund, der von Schokoladeneis verschmiert war, das Jessie ihm nahezu mütterlich abwischen würde. „Kazunori noch nicht da?“ „Der müsste jeden Au... da is er ja.“ Wie immer schüchtern hinter einer gewaltigen Mähne versteckt, kam Kazunori dahergeschlurft. Verlegen grinsend setzte er sich neben Makoto und fuhr seinen Laptop hoch. „Hebi und Matsuura soll ich suchen, stimmt’s?“ „Zuverlässig wie immer“, rief Makoto und schlug dem armen Kazunori auf den Rücken. Kazunori wiederum schlug beinahe auf der Tastatur auf und machte sich an die Arbeit, während Makoto und Fujio sich über die beiden Drogendealer unterhielten. „Ryuji Matsuura, sechsundzwanzig,“ begann Fujio, „War uns schon länger bekannt. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr hat er hier und da Hasch gedealt, später auch Speed, Extasy und anderen Mist. Als er einmal fast erwischt wurde, hat er beschlossen, unter dem Schutz größerer Fische zu dealen und kam so irgendwie an Hebi. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“ Makoto nickte. „Leider hätten sie Hebi und Matsuura getrennt inhaftieren sollen,“ seufzte Fujio und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, „Die beiden lernen aus ihren Fehlern nur, wie man noch hinterhältiger wird und irgendwer steckt denen weiterhin Stoff zu.“ „Ah!“ kam es plötzlich von Kazunori, „Gefunden!“ „Zeig her,“ drängte Makoto sich auf und stützte sein Gewicht mit der linken Hand auf Kazunoris knochigen Schoß. „Hier“, ächzte Kazunori genervt, „Tendoukai.“ „Hab ich’s mir gedacht“; flüsterte Saitou, „Die müssen einen ihrer Männer ins Gefängnispersonal eingeschlichen haben. Personal wird nicht gefilzt.“ „Kannst du herausfinden, wer genau?“, fragte Makoto Kazunori, wobei er sich auch auf Fujio bezog. „Wenn ich an die Personalliste komme, könnte man vielleicht was finden, aber das wird ziemlich gefährlich.“ „Is ja gut“, meckerte Makoto, „Ich bezahl’s.“ „Lass dich nicht verarschen“, flüsterte Fujio, quer über den Tisch gebeugt, Kazunori viel zu laut zu, „Makoto kann an mehr rankommen, als du denkst. Der läuft nur so schäbig rum, damit man ihn nicht ausraubt.“ „Ey Affe, das hab ich gehört!“ „Wie auch immer“, räusperte Fujio sich, ohne auf „Affe“ einzugehen, „Tendoukai und Hebi mögen den Hanezawa-Clan und seine Freunde nicht. Zu unseren Freunden zählst du, Makoto, und natürlich deine Kontakte. Und Yamai mag dich genauso wenig, Takashi hasst er. Wir müssen damit rechnen, dass er sich mit Hebi und Matsuura zusammentut und Takashi ganz tief in der Scheiße sitzt.“ Makoto lehnte sich nervös zurück und verzog das Gesicht. Lästige Zeiten standen vor der Tür, das spürte er. Plötzlich fiel im etwas ein. „Sagt mal, hat einer von euch jemals Speed genommen?“ „Wenn schon, dann fragt man so was leise, Makoto,“ lächelte Fujio, ratlos über so viel Taktlosigkeit, typisch Makoto. „Aber ich hab das ein, zwei mal genommen, aber nicht viel.“ „Wie lang blieb dir der Nachgeschmack im Mund?“ „Im Mund? Ich hab das geschnieft, aber manche schlucken’s... Wieso?“ „Na ja, als ich das letzte Mal bei Takashi war, ging’s ihm ziemlich mies. Er hatte sich im Schlaf übergeben und über einen komischen Geschmack gejammert. „Also weißte,“ lachte, „Dafür reicht’s, kurz vorm Schlafengehen zu viel zu essen oder wenn du gesoffen hast. Das kommt dir dann durch den Mund, durch die Nase und sogar über die Tränen wieder raus und schmeckt echt widerlich.“ „Danke!“, fuhr Makoto ihn an, „So genau wollt ich’s gar nicht wissen! Und woher soll Takashi so spät noch was zu essen oder Alkohol herkriegen, hä!?“ „Stimmt auch wieder“, lachte Fujio, amüsiert über Makotos heftige Reaktion. „Wer sagt eigentlich, dass es unbedingt Speed war?“, fragte Kazunori. „Nur, weil Hebi damals mit Speed erwischt wurde, heißt das noch lange nicht, dass das das Einzige ist, was er hat.“ Makoto rieb sich das Kinn. Letztendlich konnte Takashi also auch verschluckte Aspirintabletten erbrochen haben. Doch solange die Möglichkeit bestand, dass Yamai mit Hebi und Matsuura gemeinsame Sache machte, konnte er gefährlichere Substanzen nicht ausschließen, schließlich war da auch noch Takashis Zustand an dem Tag. „Hey, Saitou,“ meinte Makoto nachdenklich und Fujio sah ihn verdutzt an. Nicht Affe? „Gibt’s keine Möglichkeit, ihn einfach rauszuholen? Müsste die Yakuza ihn nicht freikaufen können oder so? Ich meine, es ist doch eigentlich egal, was ihm da passiert, wenn er da bleibt, bringen sie ihn früher oder später eh um.“ Kazunori und Fujio schwiegen betreten. Makoto hatte zwar recht, aber „einfach rausholen“ war längst nicht so einfach. Könnte man jeden Gefangenen einfach freikaufen, würden Gefängnisse ihren Zweck verfehlen. Saitou ging nicht weiter auf Makotos Frage ein, notierte sie sich aber im Gedächtnis, um sie im Clan zur Sprache zu bringen. „Ich glaube“, meinte Fujio, als er merkte, dass Makoto allmählich eine Antwort wollte, „Das Wichtigste ist erst mal, Takashis Hinrichtung zu verzögern. Solange wir uns darüber keine Sorgen machen müssen, stehen uns alle Möglichkeiten offen.“ Makoto stöhnte. Ja, die Hinrichtung. Das Wort wollte er eigentlich aus seinem Vokabular, seinem Gedächtnis und seinem Leben streichen. Was für ein Gesicht Takashi wohl machen würde, während er die dreizehn Stufen besteigt? Was wären wohl seine letzten Worte? Würde er sich wehren? Es war nicht Takashis Art, sich verdienten Strafen zu widersetzen. Wahrscheinlich würde er wieder alles mit einem Lächeln über sich ergehen lassen. Er warf einen kurzen Blick auf Kazunoris Bildschirm. Er schien nicht vorzuhaben, sich hier und jetzt in die Datenbank des Gefängnisses einzuhacken, was Makoto verstehen konnte. Notfalls würde er ihm einen zweiten Laptop besorgen, um ihm möglichst viel Anonymität zu versichern. Nach der vierten Portion Yakisoba mit Mayo, verabschiedete sich Makoto von seinen zwei Freunden, die ebenfalls getrennte Wege gingen. Auf dem Nachhauseweg beobachtete Makoto einige G-Boys auf der anderen Straßenseite, die ihn zwar bemerkten, aber nicht grüßten. Erst dachte er, sie seien wütend auf ihn wegen der Verhaftung ihres Kings, doch je mehr er begegnete, desto auffälliger wurde es: nicht Makoto, sondern die G-Boys selbst schienen sich irgendeiner Schuld bewusst. Welche Schuld, das konnte und wollte Makoto jetzt nicht erforschen. Es regte ihn nur irgendwie auf, die Jungs wie die Ratten an ihm vorbeihuschen zu sehen. Irgendwann griff er in eine kleine an ihm vorbeirennende Gruppe und pflückte sich einen Gelben heraus. Zu seiner großen Überraschung war es Nishtie. „Warst du nicht bei den Black Angels,“ fragte Makoto überrascht. „Was soll das,“ keifte Nishtie ihn an und zappelte so sehr, dass er Makoto seine Dreadlocks übers Gesicht peitschte. „Lass los!“ „Ich wollte euch nur sagen, dass ihr ruhig reden könnt, wenn ihr mir was zu sagen habt.“ „Hä!?“ Genervt ließ Makoto ihn los und schubste ihn grob zurück in seine Gruppe, wo er Mohican auf die Füße trampelte. Der sah Nishtie kurz irritiert an und sah dann betreten rüber zu Makoto, der kopfschüttelnd weiterging. „Hat er was gemerkt?“, fragte Mohican Nishtie, doch der zuckte mit den Schultern. „Glaub nicht. Da kommt eh so schnell keiner drauf, und der doch erst recht nicht!“ Kapitel 13: Frühstück unter alten Freunden ------------------------------------------ Und wieder vergingen drei Tage, die für Takashi extrem langsam und unangenehm waren. Er wurde weder umgesiedelt, noch wurde die Zelle überwacht. Morgens kam er kaum ohne Schläge vonseiten der Wärter aus dem Bett, weil er abends so lang wie möglich versuchte, wach zu bleiben, um sich vor weiteren Übergriffen seitens Yamai zu schützen. So hatte er es ganze dreiundfünfzig Stunden geschafft, wach zu bleiben, bis ihm schließlich die Knie wegsackten und er so fest schlief, dass Yamai erst recht leichtes Spiel hatte, was auch immer das für ein Spiel sein mochte. Jedes Erwachen war für Takashi die reinste Tortur, jedes mal klebte um seine Augen, Nase und Mund der Geruch von Kotze und auch auf dem Kissen und dem Laken waren gelbliche, übelriechende Flecken. Er versuchte, es mit einem Lächeln wegzustecken, doch sein Dauergrinsen war schon länger am Zerfallen... „Andoh, Yamai, raus,“ tönte es wieder und diesmal zwang Takashi sich, ohne „Hilfe“ aufzustehen. Auch das Hinfallen gelang ihm von ganz allein. Grinsend zog Yamai ihn hoch und aus der Zelle heraus. Die Geste wirkte nahezu freundschaftlich. Auf dem Flur dann der tägliche Trott im Gänsemarsch mit all den anderen. In der Frühstückskantine angekommen, wollte Takashi sich wie gewohnt von Yamai entfernen, doch der griff ihn erneut und zog ihn mit sich. An einem weit vom Eingang entfernten Tisch setzten sie sich und Takashi blickte Matsuura in die Augen. „Na, Andoh,“ spottete Matsuura, „Ich hab gehört, du schläfst in letzter Zeit nicht besonders gut?“ „Danke der Nachfrage,“ erwiderte Takashi bissig und gähnte, „Ich hab halt eine Hundehaarallergie, ne, Yamai-chan?“ Yamai ging ausnahmsweise nicht auf die Provokation ein und Takashi ahnte nichts Gutes. „Wenn du das Gefühl kriegst“, fuhr Matsuura fort, ohne sich um die Spannung zu kümmern, die die Luft zwischen Yamai und Takashi knistern ließ, „Dass du mehr brauchst, komm zu mir. Geld wirst du wohl keins haben, aber an Orten wie diesen, kann man sich auch anderweitig nützlich machen.“ „Wenn ich mehr wovon brauche“, forschte Takashi misstrauisch. „Ach“, lachte Matsuura, „Manchmal schläft man einfach besser, wenn man selbst bestimmen kann, wann und wie viel man nimmt, oder?“ Obwohl sie in einer Ecke saßen, schienen sie plötzlich im Mittelpunkt des Kantinengeschehens zu stehen, als Takashis Fuß mit einer Brachialgewalt gegen die Tischplatte trat und sie auf der anderen Seite in Matsuuras Taille rammte. „Ey Andoh“, tönte es aus der Masse, „Vermisste die Hogobo?“ Ohne ein Wort zu sagen, stand Takashi auf, zog eine neugierige Augenbraue hoch und stieg auf den Tisch. Yamai stand schon mal vorsorglich auf und ging etwas zur Seite. Das war auch gut so, denn die heiße Misosuppe, die kurz zuvor noch vor Matsuura vor sich hingedampft hatte, war plötzlich in Takashis Hand. Takashi spielte gelegentlich mit dem Essen. Der Blondschopf hockte sich vor Matsuura auf den Tisch und lächelte ihn frostig an. „Matsu-chan“, säuselte er, „Ich glaub, wegen ein paar Brandblasen von heißer Suppe kriegt man hier keinen Arzt.“ Matsuuras Aufschrei hallte durch den Saal als die Suppe sich zischend auf seinem Schoß ausbreitete. Es dauerte nicht lange, bis es zwischen seinen Beinen zu schmerzen begann. „Matsu-chan, eigentlich müsste jemand, der zeitgleich mit mir in Bukuro gewütet hat, das wissen: Takashi Andoh nimmt keine Drogen. An mir hast du keinen Kunden, außer, du verkaufst Streit? Sag mir wie viel und ich kauf dir einen ab...“ Niemand kümmerte sich um Matsuura, der noch immer mit den Schmerzen der Suppe im Schoß kämpfte und sich nicht entscheiden konnte, ob er wimmern oder fluchen sollte. Seltsamerweise mischte sich kein Wärter ein, oder war es nur eine Frage der Zeit? Takashi setzte sich auf den Tisch, der ihm zu gefallen schien, und zog die Knie an die Brust. Vorsichtig nahm er Matsuuras Hose zwischen die Fingerspitzen und zog den Stoff von seinen Schenkeln, an denen er klebte. „Jetzt sieht’s aus, als hättest du Suppe gepinkelt“, lachte Takashi, „Aber wenn du magst, kann ich dich auch Blut pissen lassen.“ Matsuura antwortete nicht und grinste Takashi hämisch an, als der plötzlich von hinten eine vierfingrige Hand ins Gesicht bekam, die seinen Kopf rückwärts runterdrückte und in die Tischplatte schlug. Benommen sah er auf und sah, leicht verwackelt, Yamai über sich. Wie immer, wenn er auf dem Rücken lag, versuchte er, den Gegner hinter sich ins Gesicht zu treten, doch Matsuura schien sich wieder erholt zu haben und saß auf einmal auf seinen Beinen, während Yamai seine knochigen Hände festhielt. „Was soll man mit dir bloß anstellen“, grinste Yamai, „Matsuura, lassen wir ihn so richtig zappeln, wenn er das doch so gern tut, oder hat’s sich ausgezappelt?“ „Zappeln lassen bis er um Gnade winselt, oder?“, schlug Matsuura vor und die Mitglieder seiner Bande, die sich allmählich um den Ort des Geschehens versammelten, stimmten zu. „Ich hätte die Suppe gern gegessen, bis um sechs gibt’s nichts anderes.“ „Warum hast du sie dann stehen lassen, damit ich sie dir überkippe?“, fragte Takashi, noch immer sprudelnd vor Selbstbewusstsein. Er war sich sicher, sich auch hier rausholen zu können. Yamai war zwar zum Testosteronmonster mutiert, doch seine Unsicherheit schien dadurch nicht behoben und Takashi war sich ziemlich sicher, ihn nach wie vor mit einem „Buh“ einschüchtern zu können. Er hatte ohnehin nicht die Angewohnheit, auf die Größe des Gegners zu achten. „Du legst dich immer wieder mit den Falschen an“, meinte Yamai, „Du bist wie diese kleinen Schoßhunde, gehst den Großen keifend an die Gurgel und wunderst dich, wenn sie dich zerfetzen.“ „Kleine Hunde kläffen doch eh am Lautesten, oder?“, lachte Matsuura, dessen Hand sich auf die Suppe eines Kollegen zu bewegte, „Ich hab mal gehört, das liegt daran, dass ihre Herrchen sie unterschätzen und ihre Erziehung vernachlässigen.“ „Jetzt wo du’s sagst“, sagte Yamai belustigt, „Sein Alter scheint tatsächlich nicht viel zu taugen. Bedient die Kunden in Unterwäsche und merkt nicht mal, wenn man ihm ne Leiche unterjubelt!“ Bei dieser Bemerkung verzog Takashi wütend das Gesicht und versuchte, sich zu befreien um Yamai an seinen Worten ersticken zu lassen, doch leider unterlag er hier der vereinten Kraft zweier Männer, die ihre Freizeit mit Training verbrachten anstatt, wie er, sich zwischen Strafen und Hungern auf die faule Haut zu legen. So langsam begann Takashi, es zu bereuen, sich immer nur auf seine rohe Kraft verlassen zu haben, anstatt sie durch Kampfsport und Fitness zu formen. Er würde es sich niemals eingestehen, doch im Moment sehnte sein tiefstes Inneres sich wieder nach Einzelhaft mit „Frühstück ans Bett“. Und vielleicht auch ein bisschen Mako-chan. Er merkte, wie es um ihn herum enger und chaotischer wurde, als sich immer mehr Leute um den Tisch versammelten. Über ihm warf eine Neonröhre ihr eiskaltes Licht auf das Geschehen. Unter den Zuschauern waren auch seine „Seifenopfer“ und natürlich Matsuuras Clique, alles keine Freunde. Angesichts einer solchen Obermacht konnte Takashi sich nur noch tot stellen und biss die Zähne zusammen, als er es diesmal war, dem die heiße Suppe ins Gesicht gekippt wurde. So fühlte sich das also an. „Ich will dich schreien hören“, fuhr Matsuura ihn an und schlug ihm in den Magen, „Los, schrei endlich!“ Als Matsuura endlich die Fäuste wehtaten, legte er eine Pause ein. Obwohl Takashis Bauch unter dem grauen Hemd schon rot und blau sein musste, vergoss dieser keine Träne und den Gefallen, zu schreien, tat er seinem Gegner erst recht nicht. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass nichts so zum Weitermachen und immer fester zuschlagen antörnt, wie die Schreie des Gegners. Wenn Matsuura also nicht gerade nekrophil war, war Totstellen die beste Lösung. Yamai, der noch immer Takashis Hände festhielt, ließ sich davon nicht abschrecken und auf sein Winken drängelte sich ein dicklicher Mann mit einem fürchterlichen Gebiss und langen, schon lange nicht mehr nachblondierten Haaren durch die Menge. „Wen haben wir denn da“, zischte Hebi lustig, „Wenn das mal nicht der Bengel ist, dem ich damals fünfmillionen Yen geboten hab, um den Iraner zu fangen!“ Er kramte in seinen Taschen und holte ein kleines durchsichtiges Tütchen heraus, das zur Hälfte mit einem weißen Pulver gefüllt war. Als er damit über Takashis Gesicht herumwedelte, wurde dem einiges klar. Das musste man ihm im Schlaf also eingeflößt haben. Das erklärte auch seinen miesen Zustand in letzter Zeit. Takashi kochte vor Wut, gleichzeitig zitterte er vor Angst. Was war das für ein Zeug? War er schon drauf und dran, süchtig zu werden? Was, wenn er eines Tages nicht mehr aufwachen würde? Seit jeher fürchtete er Drogen als ein Gift, das den Menschen unbemerkt von innen zerfrisst. Und er bekam es bereits regelmäßig im Schlaf, wenn er hilflos ausgeliefert war. Allein der Gedanke... „Sag mal“, fragte Hebi, noch immer mit dem Tütchen über Takashis Nase, „Bist du nicht auch der Freund von Majima, der kleine Hurensohn, der mich hierher gebracht hat?“ „Doch“, antwortete Yamai, „Und Makoto kommt ihn regelmäßig besuchen, wenn er allein ist.“ „Wenn du allein bist, so so“, säuselte Hebi und zischte wie eine Natter. „Was macht ihr denn so alles, wenn ihr allein seid, hmm? Ich darf doch sicher auch mal, du süßes kleines Dreckluder, du.“ „Mal’s dir selbst aus“, blökte Takashi Hebi patzig an. Das hätte er nicht tun dürfen. Er öffnete seinen Mund weit genug, damit Hebi den halben Inhalt des Beutels direkt hineinkippen konnte. Noch ehe Takashi es ausspucken konnte, presste Hebi ihm seine ungewaschene Hand auf den Mund und hielt ihm die Nase zu. Er konnte nur noch schlucken und hoffen, dass es ein Scherz war, dass das nur Backpulver war. Nur noch dumpf bekam er mit, wie um ihn herum gelästert und gegrölt wurde. Nicht nur Yamai schien ihn noch von „draußen“ zu kennen und jetzt, wo die lachende Hyäne hilflos im Dreck lag, konnten die Geier sich endlich trauen, sie zu zerpflücken. Vor seinen Augen begann alles, zu verschwimmen und ihm wurde ganz heiß. Das Neonlicht an der Decke über ihm begann zu flackern, was aber nur er wahrzunehmen schien. Der Raum wechselte von stockdunkel zu grellweiß, hell, dunkel, hell, dunkel. War es seine Einbildung oder löste sich die Neonröhre allmählich aus ihrer Fassung? Es schien nur ihn zu kümmern, während die anderen ihn mit einzigartigen Gebissen angrinsten und ihre Erfahrungen mit dem „King“ in Ikebukuro austauschten. Yamais Hand machte immer wieder die Runde, jeder wollte sehen, was sich das blonde Aas da geleistet hatte. Mit geröteten, flimmernden Augen konnte Takashi sehen, wie Yamai seinen gestutzten Finger nahezu stolz präsentierte. Hier, im Gefängnis, spielte alles, was Takashi ihm einst angetan hatte, in seinem Vorteil: blond, zierlich, Gerüchten zufolge schwul und als sonniger Mensch bekannt, war Takashi das perfekte Mobbingopfer. Ein ehemals unbesorgter Rebell, der nur Höhenflüge erlebte und jedem frech die Zunge herausstreckte, lag nun hilflos, von Suppe verbrannt und auf dem besten Weg, süchtig zu werden, unter seinen ehemaligen Opfern als Frühstücksbeilage auf dem Tisch und war körperlich und geistig nicht mehr imstande, auch nur um Hilfe zu schreien – was er ohnehin nie getan hätte. „Wen haben wir denn da?“, kam es aus der Menge und die Männer drehten sich zu einem Mann Ende dreißig um. Er trug eine Brille und kurzes Haar. „Saotome“, grüßte ihn einer der anderen, „Du bist spät dran, guck mal, was wir hier Schönes haben. Willste dem nicht mal sein Gebiss korrigieren?“ „Ach“, verdutzte sich der Mann als er einen Blick auf den zitternden Takashi warf, der vor ihm auf dem Tisch lag, „Bist du auch endlich hier! Was hat die so lang gebraucht, dich zu fangen? Erinnerst du dich an mich, oder wenigstens an meine Nase?“ „Kennen Sie Tensai Bakabon?“ „Hä?“ „Der Wachtmeister in Bakabon, wissen Sie, der hat nur ein Nasenloch! Wollen Sie auch so sein wie Honkan?“ „Ich weiß nichts...“ „Wollen Sie wie Honkan aussehen?“ „Was weiß denn ich!?“ „Sie wollen also?“ „Nein!“ Das Geräusch, als das Skalpell durch das Fleisch, das seine Nasenlöcher trennte, schnitt, besorgte sogar den Härtesten der G-Boys eine Gänsehaut und Takashi selbst schien für wenige Sekunden von seiner eigenen sadistischen Tat geschockt. Doch immerhin bestand die Möglichkeit, dass dieser Zahnarzt Makotos Freundin auf dem Gewissen hatte und da war eine Nase ein kleines Opfer. Außerdem war ihm langweilig. Dieses „kleine Opfer“ sollte Takashi teuer zu stehen kommen. Wäre Yokoyama damals nicht dazwischengegangen, hätte Makoto den Mann wohl getötet doch jetzt gab es weder Yokoyama, noch Makoto, die sich einmischen könnten. Saotome griff in seine Hemdentasche und zog ein Plastikmesser, wie es hier zum westlichen Essen ausgeteilt wurde. Sarkastisch tätschelte er seinen Strohkopf und zauste ihm furchterregend liebevoll durch die blonden Strähnen. „Irgendwie niedlich, wenn du so brav da liegst... Mein Skalpell müsstest du noch haben“, meinte er, „Also bleibt mir nur das hier. Ich fürchte nur, es tut ein bisschen mehr weh, mit den ganzen Plastikzacken...“ Takashis Herz raste und seine Augen bewegten sich hektisch hin und her, als wären auf der Suche nach einem Ausweg. Seine Hände zitterten so sehr, dass Yamai sie kaum festhalten konnte und so ließ er sie los. In seinem Zustand konnte Takashi unmöglich die Kraft aufbringen, sie zu benutzen. Saotome ließ sich Zeit. Er hatte noch immer Alpträume von dem Abend. Wie dieser Junge, zwischen brennenden Mülltonnen, hinter ihm hockte, ihn von hinten umarmte und das Skalpell unters Augenlied schob... Lange hatte er davon geträumt, Takashi eines Tages dieselben Ängste ausstehen zu lassen und jetzt war dieser Traum endlich wahrgeworden. „Was haben Sie ihm eigentlich gegeben, dass er so zittert und hechelt?“ „Koks“, grinste Matsuura, dem es auf Takashis dünnen Beinen zu gefallen schien, „Aber nur ein bisschen.“ „Ein bisschen“, lachte Saotome, „Von ‚ein bisschen’ wird man high, der da hat ja jetzt schon Krämpfe!“ „Ein bisschen jeden Tag“, räumte Matsuura verlegen ein. „Ich nehm das selbst nicht, woher soll ich wissen, was zu viel is?“ „Dummkind!“, zischte Hebi, lachte und schlug Matsuura auf den Hinterkopf. „Richtig dosiert is das, wenn du high wirst und große Dinge vollbringst; zu viel is, wenn du stattdessen einen auf Epileptiker mit Paranoia machst. Guck dir dein Versuchshäschen genau an, zu wenig? Zu viel?“ „Häschen“, prustete Matsuura und musste feststellen, dass er tatsächlich ein bisschen zu großzügig mit der Dosierung gewesen war. Saotome schüttelte nur den Kopf über so viel betäubungsmitteltechnisches Unwissen und wandte sich wieder Takashi zu, der sich noch immer an sein Ego klammerte und nicht um Hilfe rief, solange er das noch konnte. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass er nicht mehr bei Verstand war und gar nicht mehr um Hilfe rufen konnte, als das Plastikmesser sich zwischen seine kalten Lippen schob und die gezackte Kante sich seinem Mundwinkel näherte. „Kennst du Ichi the Killer?“, fragte Saotome hämisch, doch Takashi blickte nur starr vor sich hin, „Ach, du verstehst wohl gar nicht mehr, was ich sage? Jedenfalls gibt es da einen Mann namens Kakihara, der hat sich die Mundwinkel bis zu den Ohren erweitern lassen... Willst du auch so aussehen wie Kakihara? Vom Charakter seid ihr zwei euch sehr ähnlich. Zwei blondierte kleine Analakrobaten mit sadistischen Neigungen, die eine Bande brauchen, um sich stark zu fühlen und hinterher so tief fallen, dass man nicht mal mehr den Aufprall hört.“ Mit diesen Worten zog er das stumpfe, gezackte Messer durch Takashis Fleisch und Takashi sah in dieselben sadistischen Augen, in die der Zahnarzt über ihm einst sehen musste. Als das Blut über seine linke Gesichtshälfte, den Kiefer entlang und an seinem Ohr vorbeifloss, gab er der Wirkung der Droge endgültig nach und akzeptierte das Echo dessen, was er einst lachend in den Wald gebrüllt hatte. Yamai und Saotome hatten guten Grund, ihn quälen zu wollen und je mehr er sich dem widersetzte, desto schlimmer würde es werden. Seine blau angelaufenen Lippen färbten sich dunkelrot von dem Blut, das nicht gerinnen wollte, seine Augen verloren ihren Glanz und sein ganzer Körper erschlaffte. Seine Schmerzgrenze war endgültig überschritten, mehr Demütigungen konnte er nicht einstecken, ohne wahnsinnig zu werden. Lieber starb er vorher. Eine Klingel ertönte und die Frühstücksgesellschaft wurde aufgelöst. Lachend wandten die Männer sich von Takashi ab, einige schlugen ihn noch im Gehen, spuckten ihn an - einer verfehlte nur knapp seinen Mund - und ein paar zeigten grinsend zwischen seine Beine, die Hose war an den Innenschenkeln bis zu den Knien nass. Seit dem Angriff vor gut einem Jahr, verkraftete seine Blase nicht mehr viel, schon gar keine Schläge. Eine ganze halbe Stunde hatte sich die Hälfte der Gefangenen damit amüsiert, einen hilflosen Insassen mit Kokain und Messern zu traktieren, doch keinen der anwesenden Wärter hatte das interessiert. Allein, zitternd, schweißgebadet und mit dem Geschmack von Eisen im Mund, lag er noch immer auf dem Tisch und seine glasigen Augen sprachen Bände des Schweigens. Ein Hustenanfall schüttelte ihn so heftig, dass ihm die Knochen wehtaten und das Blut in seinem Mund vermischte sich mit Schleim aus seinem Rachen. Zu erbrechen gab es nicht viel, seine Streitlust hatte ihn immerhin ums Frühstück gebracht und für den Rest des Tages war ihm der Appetit nun wirklich verdorben. Kapitel 14: Horrortrip im Wäschesack ------------------------------------ „Andoh!“, brüllte ein Wärter vom Eingang der Kantine aus, „Schlafen kannste im Bett, sieh zu, dass du aufstehst!“ Keine Antwort. Genervt ging der Mann hinüber zu dem Tisch, der den Putzkräften diesmal besonders viel Arbeit versprach. Blut, Suppe und Schweiß vermischte sich am einen Ende mit ausgerissenen Haaren und Spucke, am anderen Ende klebte – wieder mal – eine nasse Hose. „Oh Mann“, ächzte der Wärter und sah hilflos auf Takashi herab. „Und ich soll mich hier jetzt drum kümmern, oder was?“ Er drehte sich um und verließ die Kantine. Etwa zehn Minuten später kam er mit Yamai zurück und stieß ihn grob durch die Kantine bis zu dem Tisch, auf dem Takashi sich inzwischen eingerollt hatte und sein Gesicht in seinen Armen verbarg, wie ein Boxer, der sein Gesicht vor Schlägen schützte. „Das ist doch dein Bettnachbar?“, fuhr der Wärter Yamai an, „Dann kümmer dich drum! Nimm ihn mit in die Zelle oder bring ihn ins Klamottenlager damit er sich umzieht, mir scheißegal, aber kümmer dich drum.“ Yamai tat wie ihm befohlen und „kümmerte sich drum“, indem er Takashi am Kragen packte, vom Tisch zerrte und auf den Boden fallen ließ. Von seinem Meter fünfundachtzig aus wirkte Takashi wirklich winzig, wie er da auf dem Boden lag. So hatte Yamai ihn nie zuvor gesehen und hätte er sich nur halb so stark an ihn geklammert, hätte sein Hass auf den „King“ sich wohl verflüchtigt. Mit geringem Kraftaufwand gelang es ihm, Takashi hochzuziehen und aus der Kantine zu zerren. Im Wäschelager angekommen, stellte er Takashi neben der Tür ab, wo er auf einem Schmutzwäschesack zusammenbrach. Yamai sah zu ihm um und lachte. Nicht spöttisch, nur belustigt über Takashi, wie er in letzter Zeit ein Weltmeister im Torkeln und Stürzen zu werden schien. Nun gut, also doch spöttisch. „Was is deine Hosengröße, Takashi?“ Keine Antwort. Mit ein paar kleinen Größen in der Hand, ging er zurück zu Takashi und hockte sich vor ihn. Er winkte kurz mit der Hand vor Takashis Gesicht hin und her um sicherzugehen, dass er nicht gleich einen Ellenbogen an die Schläfe bekam und beschloss, dass er es wagen konnte. Takashis starren Augen zuckten nicht einmal. Nahezu todesmutig knüpfte Yamai die graue Baumwollhose auf und zog sie Takashi vom Leib, vorsichtig, um nicht an die feuchte Stelle zwischen den Beinen zu kommen. Angewidert hob er die Hose auf und kontrollierte die Größe: vierunddreißig. Von diesem Hintern hätten zwei in die Hose gepasst, die er ihm als erstes anprobieren wollte und er ging zurück zum Regal, um ein kleineres, nein, sehr viel kleineres, Modell zu suchen. Er war kurz davor, sich Makotos „Lästig, lästig, lästig, Scheiße is das lästig“ anzugewöhnen. Zumal er sich fragen musste, für wen die Situation erniedrigender war? Für Yamai, der seinem ehemaligen König und Tyrannen den Krankenpfleger spielen und ihm die nasse Hose wechseln musste? Oder für Takashi, der zum Pflegefall seines ehemaligen Unterhundes und Mobbingopfers herabsank? Vielleicht waren sie hiermit sogar quitt? Er tat etwas, das er nicht oft tat: nachdenken. In einem Zustand, der irgendwo zwischen wachen und schlafen lag, tasteten Takashis von Angstschweiß nassen Hände krampfhaft seinen Hals ab, als wolle er einen zu engen Kragen ausdehnen. Seine Füße bewegten sich orientierungslos über den Boden, als suche er Halt. Er stöhnte und ächzte, als ob er bereits am Galgen baumelte. Dabei lag er doch so weich und bequem in Bauchlage auf einem prallen Wäschesack? Yamai, mit einer Hose Größe sechsunddreißig, dem Kleinsten, was er finden konnte, sah Takashi zu, wie er qualvoll gegen die vom Kokain verursachten Wahnvorstellungen kämpfte. Für einen eingefleischten Drogengegner, der so brutal zur Einnahme gezwungen wurde, musste dies der reinste Horrortrip sein. Yamais Gedanken begannen, sich zu verstricken: sollte er allmählich Mitleid bekommen oder noch eins draufsetzen? Hier, allein im schummrigen Wäschelager, hatte er die Hosen an – im wahrsten Sinne des Wortes. Unentschlossen ging er wieder zu Takashi hin, hockte sich vor ihn und musterte ihn gründlich. „Los, mach doch“, stöhnte Takashi plötzlich und Yamai fuhr vor Schreck zusammen. „Du willst mir doch was. Na los, tu dir keinen Zwang an!“ Setzte die Paranoia bereits ein oder lag Takashi nicht ganz falsch? Tatsächlich hatte Yamai große Lust, seinem ehemaligen Anführer die neue Rangordnung ein für alle mal klarzumachen und das, mit der größten Demütigung, die es gab. Seine rechte Hand machte sich selbstständig und bewegte sich auf Takashis knochige Hüfte zu. Gleichgültig starrte Takashi an Yamai vorbei, während Yamais Blick sich allmählich auf Takashis nackten Unterleib fixierte. Plötzlich zuckte seine Hand zurück und Yamai stierte sie erschreckt an. Sofort richtete er sich auf, warf Takashi die Hose hin und atmete erleichtert auf, als sie alles bedeckte, was er da gerade so beunruhigend lustvoll angestarrt hatte. „Was mach ich hier“, murmelte er kopfschüttelnd und setzte sich an der gegenüberliegenden Wand auf einen der vielen grauen Baumwollsäcke. Anziehen musste Takashi sich die Hose schon selber. Eine von den Wärtern – wieder einmal – vergessene halbe Stunde verstrich, bis Yamai endlich kapierte, dass Takashi sich diese Hose so schnell nicht selbst anziehen würde. Der hatte ganz andere Sorgen, wie er, in einem Horrortrip gefangen, Gefahren ins Auge sah, die Yamai von der Realität aus nicht sehen konnte. Yamai hatte noch nie einen Horrortrip, nahm auch nur selten etwas Speed, mehr nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, was Takashi gerade durchmachte. Unter Takashi gab allmählich der Boden, nein, der Wäschesack nach und er merkte, wie er immer tiefer im nach viel zu lang getragener Herrenwäsche stinkenden Stoff versank. Er liebte es, in ein weiches Kissen zu sinken, bis er nicht mehr über den Rand sehen konnte, doch dieser Sack schien etwas zu weich, der Rand etwas zu hoch. Über sich begannen die Stofffalten, sich zu schließen, es wurde immer dunkler. Eine zitternde Hand streckte sich dem verschwindenden Licht entgegen, wollte sich und ihren Besitzer aus dem Sack herausziehen, doch dieser schloss sich nach oben und öffnete sich nach unten hin, wo Takashi immer tiefer und tiefer versank. Wie Muskeln in einem Schlund, presste der Sack ihn tiefer in sich hinein. Die Schmutzwäsche im Sack schien zu merken, dass er viel zu leicht war und so schlängelten sich Ärmel und Hosenbeine um seine Glieder und zogen ihn mit sich in die nach Schweiß stinkende Tiefe. Er wollte schreien, was ein Hemd merkte und ihm mit den Ärmeln knebelte. Als er versuchte, sich das Hemd aus dem Gesicht zu reißen, merkte er, dass seine eigenen Ärmel miteinander verknotet waren und er seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Immer tiefer sank er hinab in ein schwarzes Loch, das keinen Boden kannte. Irgendwann viel er in etwas, das sich wie zwei starke Arme anfühlte und drehte seine ängstlichen Augen zu seinem Retter um, doch Matsuura lachte nur. So langsam füllte sich die Schmutzwäsche mit ihren Besitzern: Matsuura, Hebi, Saotome, Yamai und alle anderen waren plötzlich um ihn herum erschienen und ihre finsteren, fast schwarzen Gesichter setzten sich nur durch in einem Grinsen gebleckte Zähne und böse funkelnde Augen ab. Er fühlte ihre kalten Hände, wie sie ihn packten und sich um ihn zu streiten schienen: wer durfte ihn als erstes malträtieren? Seine Finger versuchten verzweifelt, von innen den Knoten in den Ärmeln zu lösen, gruben sich in den Stoff, der immer röter wurde. Das einzige, das seine Finger aufzureißen vermochten, war sein eigenes Fleisch. Plötzlich, endlich, stießen seine Füße auf Boden und er ließ sich fallen. Aus seiner Rückenlage sah er nach oben, wo er hergekommen war. Es war so finster, der Sack musste sich längst über ihm geschlossen haben. Das erklärte auch den Sauerstoffmangel. Hustend und keuchend warf er sich von einer Seite auf die andere, doch wohin er auch kriechen mochte, Luft war entweder überall oder nirgends. Nirgends. Eine erschütternde Lähmung namens Todesangst machte sich in ihm breit, kroch ihm bis in die Glieder, jagte ihm ein ekelhaftes Kribbeln durchs Knochenmark und wie er auch zappelte, sie ließ ihn nicht los, war die einzige, die noch zu ihm hielt, die ihn festhielt, als die anderen Männer um ihn herum ihn auf den Bauch drehten und das Gesicht in den Boden drückten. Eine Hand griff seine Kniekehle und hob sein Bein an, doch die Panik lähmte ihn. Plötzlich, als sein Gesicht schon nass und verheult war, fühlte er, wie sich ein Seil um seinen Bauch spannte und ihn langsam, vorsichtig, hochzog, bis er für die anderen außer Reichweite war. Das Hemd löste sich von seinem Mund und allmählich fühlte er auch den Sauerstoff zurückkommen. Scheinbar galt hier eine umgekehrte Physik und je höher man stieg, desto dicker wurde die Luft? Noch immer gab es über ihm kein Licht, keinen sichtbaren Ausgang, aber er merkte, wie er hochgezogen wurde, immerhin. Das Seil war schon alt, die Faser kratzte um seinen Bauch. Es wurde immer enger, es drückte so sehr, dass er kaum atmen konnte. Das Seil schien dies zu merkten und löste sich gerade genug, um ihn bis unter die Arme durchrutschen zu lassen. Endlich sah er ein winziges Licht über sich und eine Hand, die sich durch die Öffnung des Sacks quetschte. Es war eine rechte Hand, aber zu seiner Beruhigung hatte sie fünf Finger. Seine eigenen Hände waren noch immer in den verknoteten Ärmeln gefangen, so konnte die Hand über ihm ihn nur am Fußknöchel packen, wie auch immer sie da auf einmal rankam. Kopfüberhängend, blickten Takashis nassen, roten Augen in die seines Retters. Das schulterlange, fransige braune Haar und das genervte Gesicht, das alles gehörte zu Makoto. Mit bebender Stimme bat Takashi ihn, ihn hier schnell rauszuholen und Makoto nörgelte nicht einmal, als er ihm den Gefallen tat. Das Seil verschwand und Takashi baumelte unbequem aber in Sicherheit, in Makotos Hand. Der Boden befand sich nur noch wenige Zentimeter unter seinem Kopf, es war auch nicht mehr so dunkel. Im Gegenteil, es war so grell, dass ihm der Kopf schmerzte. Eine Taube flog an ihnen vorbei um sich auf das Brötchen, das jemand hatte fallen lassen, zu stürzen. Matsuura und die anderen waren verschwunden, stattdessen versammelte sich mehr und mehr Gelb um sie herum. Zwar stand alles kopf, aber auch umgekehrt konnte Takashi Jessie, Endanger und die anderen ausmachen. Da stand sogar sein Vater, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich anzuziehen, ehe er in Ikebukuro West Gate Park spazieren ging. Die Tränen seiner Angst verwandelten sich in Tränen der Erleichterung und er nickte nur, als Makoto ihm vorwarf, wieder einmal extrem lästig zu sein. Makoto deutete das Nicken als Einverständnis, ihn fallen zu lassen und sein Schrei verlor sich in einer zugeschnürten Kehle, als der Boden unter ihm sich wieder öffnete und er sich mit dem Strick, der ihn zuvor gerettet hatte, um den Hals überschlug und zappelnd und mit heraushängender Zunge in einer schwarzen Leere hing. Seine Augen konnten nicht einmal mehr die Finsternis wahrnehmen, als sie ihm so weit herausragten, dass er es spüren konnte. Über ihm schloss sich das Loch und wieder war die Todesangst seine einzige Gesellschaft. Das Seil hatte nicht die Gnade, ihn zu töten, es schien ihn genau da festzuhalten, wo man den Tod am deutlichsten spüren konnte. Zwei starke, aber zarte Hände griffen seine Füße und das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes hing an ihm, ruckte an ihm, damit der Strick sich noch fester zuzog. Langsam kletterte Kyoichi an Takashi hoch und schlang seine Arme und Beine wie eine Würgeschlange um seinen zierlichen Körper. Takashi spürte, wie die Haut an seinem Hals einriss und jede Sehne, jeder Muskel, unter Kyoichis Gewicht zu reißen begann. „Leistest du mir Gesellschaft, Takashi-kun?“ Yamai wusste sich keinen Rat mehr. Seine Arme waren kaum stark genug, um Takashi daran zu hindern, sch selbst die Finger so zuzurichten. Seine dürren Hände waren blutverschmiert, Hautfetzen klebten an Stellen, wo sie nicht hingehörten, als hätte er versucht, sich aus unsichtbaren Fesseln zu befreien. Seine Beine traten in alle Richtungen aus, er streckte sich, um sich dann wieder zusammenzuziehen und immer wieder schrie er vor Angst und Schmerzen, die Yamai nicht nachvollziehen konnte. Speichel floss ungehindert aus seinem Mund, weil er es nicht zu schaffen schien, ihn zu schließen. Mit aller Kraft hielt Yamai seine blutigen Hände fest und drückte sie hinter Takashis Kopf in den Wäschesack, damit er sich nicht weiter verletzen konnte und legte sich quer über ihn um ihn festzuhalten, bis er sich wieder beruhigen würde. Dass er dabei ein Knie, dem er inzwischen mangels Geduld und mit viel Mühe eine Hose übergestreift hatte, in die Seite bekam, merkte er kaum. Mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel sah er Takashi an, der schreiend und zappelnd unter ihm lag und unter furchtbaren Wahnvorstellungen zu leiden schien. Die Erinnerung an den Spaß, den es ihm einst gemacht hatte, Takashi zu schikanieren, schien plötzlich so fern und er verlor jede Lust, diesen jämmerlichen Wurm noch weiter zu quälen. Dieses vertraute Pochen, das auf so geheimnisvolle Weise ein Gefühl der Geborgenheit bei ihm auslöste, er liebte es. Genau aus diesem Grund hatte er sich immer so gern an Jessie geschmiegt, seinen Kopf an ihre Brust gelegt und ihrem Herzschlag zugehört. Es war einfach so beruhigend. Es gab sogar Momente, in denen sie so seine Wut besänftigen konnte: sie hätte ihn einfach beim Schopf gepackt, herumgewirbelt und sich seinen Kopf mit einer Brachialgewalt gegen die linke Brust gerammt, bis dieser Dickschädel abkühlen würde. Auch jetzt spürte er, wie sein eigener Herzschlag sich beruhigte und das Zittern nachließ. Sein Schweiß trocknete allmählich und sein Körper entspannte sich. Nur diese grauenvollen Kopfschmerzen mochten ihn nicht so recht verlassen. Der Boden unterm Hintern fühlte sich diesmal überzeugend echt an und auch seine Füße mussten nicht länger nach Halt suchen. Er lag wieder – aus der Realität betrachtet „noch immer“ – auf den Wäschesäcken im Wäschelager, hier gab es weder Seile, noch gewalttätige Schmutzwäsche. Allmählich spürte er auch die Hand im Hinterkopf, die sein Ohr an diesen unbekannten Herzschlag drückte und die andere, linke Hand, die seine Rechte am Handgelenk festhielt. Hatte er jemanden angegriffen? Erst jetzt spürte er die durchaus realen Schmerzen, die er sich selbst zugefügt haben musste, als er versucht hatte, aus einer imaginären Zwangsjacke auszubrechen. Langsam, vorsichtig, öffnete er die Augen. War dies eine weitere – äußerst kuriose – Halluzination oder lag er tatsächlich halb auf Yamai, der seinen Kopf an sich drückte und seine Hand hielt? Kapitel 15: Bequeme Lügen ------------------------- Takashi hatte kaum mitbekommen, wie er aus eigener Kraft zurück in die Zelle gegangen war. Sein Kopf war noch immer nicht klar, im Gegenteil, Yamais Zärtlichkeit hatte ihn zusätzlich verstört. Aber nun saß er da auf seinem Futon und glotzte durch ein paar zerzauste schwarz-blonde Strähnen hindurch ein Loch in die Luft. Er wich nicht aus, als Yamai sich neben ihn setzte und ihm einen Arm um die Schulter legte. „Takashi“, begann er unbehaglich, „Ich glaub, ich bin dir eine Entschuldigung schuldig. Dass du keine Drogen verträgst, haben sie von mir.“ Takashi sah ihn kurz an, schien sich aber nicht wirklich zu kümmern. „Und ich, ich hab’s von Makoto.“ Das ließ Takashi aufhorchen. Yamai grinste innerlich. In dem Zustand konnte er ihm alles weismachen. Die guten Vorsätze, Takashi nicht länger zu quälen, waren längst vergessen. „Weißt du, wenn Makoto dich besuchen kommt, wartet er erst immer kurz an der Rezeption auf mich. Die Drogen gibt er dann mir, damit ich sie an Hebi und Matsuura weitergebe, so verdächtigst du ihn nicht. Makoto meint’s nicht so gut mit dir, wie er vielleicht tut.“ Takashi kämpfte verbissen gegen die Zweifel, die Yamai ihm da gerade einredete. Doch sein Verstand war benebelt. Verzweifelt versuchte er, das gleichgültige Grinsen zu behalten, doch es begann, immer stärker zu zucken. „Er ist dich leid“, fuhr Yamai fort, „Findest du es nicht komisch, dass er dich ohne Mätzchen verhaftet hat, nur weil Yokoyama dabei war? Normalerweise geht er doch sofort auf ihn los, anstatt wegen ihm seine Freunde zu verraten. Erinner dich mal, wie sehr Makoto Yokoyama verachtet hat! Meinst du, der war der Grund, weshalb Makoto dich verknackt hat?“ Takashi wollte sich die Ohren zuhalten, aber seine zerschundenen Hände konnten sich nicht oben halten und so musste er es sich anhören, was Yamai da über Makoto erzählte. „Überleg doch mal! Immer, wenn du ihn brauchtest, war Makoto bei Hikaru, obwohl er sich doch immer beschwert hat, wie lästig sie ist? Sie war nicht seine große Liebe, sondern seine große Ausrede, um dich im Stich zu lassen!“ Sein Verstand schrie ihn an, Yamais Worten nur ja keinen Glauben zu schenken. Leider wurde der Verstand, der noch nie Takashis stärkste Eigenschaft war, vom Kokain, das ihn noch immer von der Realität trennte, übertönt und Takashi spürte ein Ziehen in der Brust, eines, das er kannte. Er hatte es oft gespürt, wenn Makoto ihn fallen ließ. Er hatte es gespürt, als Makoto nicht darauf einging, als er ihm erzählte, dass man ihm nach dem Leben trachtete, hatte es gespürt, als Makoto, mit einem Black Angels Anhänger um den Hals, ihm seinen Beistand verweigerte. So oft und öfter, hatte Makoto ihm schon das Herz gebrochen. Um des lieben Friedens willen und um sich nicht unnötig zu quälen, hatte er diesen Schmerz immer wieder unterdrückt und sich ein Grinsen aufs Gesicht gemalt, nein, mit Nadeln festgesteckt. Yamai streckte seinen linken Arm aus und griff Takashis Kopf, um ihn an sich heran zu ziehen. Ein triumphales Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus, als er spürte, wie Takashi sich dieser falschen Geborgenheit überließ und sich widerstandslos weitere böse Lügen über Makoto einreden ließ. „Wenn du willst, beschütz ich dich vor ihm. Und vor allen anderen. Wir haben bisher zusammengearbeitet, er wird mir weiterhin vertrauen. Alles, was ich im Gegenzug von dir verlange, ist ein bisschen Abwechslung...“ Abwechslung, was für Abwechslung? Wie sollte er ihn „abwechseln“? Es war Takashi auch eigentlich egal, als sich eine fürchterliche Übelkeit in ihm breit machte. Hätte er nicht in Yamais Armen gelegen, wäre er wohl gestürzt, so schwindelig war ihm plötzlich. Yamai hatte es tatsächlich geschafft, fast fünfzehn Jahre inniger Freundschaft mit wenigen Worten in eine Lüge zu verwandeln und Takashi ein Gefühl völliger Verlassenheit einzuflößen. Nach seinem Vater und Jessie – und der längst abgehakten Cathy - war Yamai tatsächlich der erste Mensch, der ihn so liebevoll in den Arm genommen hat. Von Makoto konnte er eine solche Geste nicht so schnell erwarten und so gab er den Kampf um den Glauben an Makoto auf und ließ Yamai gewähren. Yamai war sein neuer – sein einziger – Freund. Yamai hoffte nur, dass diese Illusion sich nicht zusammen mit der Wirkung des Kokains verflüchtigen würde. Takashis Rache könnte sonst furchtbar sein. Der Tag verstrich schneller und aufregender als gewohnt. Im Rausch, wenn er diesen gewähren ließ, erlebte Takashi eine ganz neue Realität. Er betrachtete Yamai auf einmal von einer ganz anderen Seite: während er früher, trotz des frappanten Größenunterschieds, auf ihn herabgeschaut hatte, schaute er jetzt zu ihm empor. Er war groß, muskulös, ruhig. Außerdem sah er weiß Gott nicht schlecht aus. Yamai war alles, was ein Mann sein musste, um Geborgenheit und Kraft auszustrahlen. Zumindest sah er für Takashi nun so aus. Zwei starke Arme, die ihn daran hinderten, sich selbst zu verletzen, ein Herz, das schlug, um ihn zu beruhigen und genug Körperkraft, um ihn vor sich selbst und anderen zu schützen. Nachdem er Takashi genügend Misstrauen gegen Makoto eingeredet hatte, hatte es nicht lange gedauert, bis Takashi sich ihm völlig unterwarf und ihn mit sehnsüchtigen Augen, die einen neuen Strohhalm suchten, an den er sich klammern konnte, ansah. Er ließ sich alles gefallen, diese menschliche Nähe durfte noch so aufdringlich, noch so intim und noch so brutal sein, solange diese beiden Arme ihn nur nicht losließen. Nun lag er da, in Yamais starken Armen und seine zerschundene Hand spielte mit seinen feuchten Lippen und fühlte an der verkrusteten Wunde, die Saotome ihm am Mund zugefügt hatte. Ein seltsames aber irgendwie angenehmes Kribbeln, das er bis in die Ohren spürte, begleitete ihn schon seit Stunden. Sein Gesicht glühte, doch die Scham, von der diese Röte kam, vermischte sich mit dem Verlangen nach mehr Gründen, sich zu schämen. Yamai schien zu schlafen und auch Takashi hatte nicht vor, noch einmal aufzustehen und sich aus dieser Geborgenheit zu befreien. Ungefähr so hatte er es sich einmal mit Makoto vorgestellt: sich ihm den ganzen Tag gefügig hinzugeben um dann irgendwann in seinen Armen einzuschlafen, das war der Traum, den er immer mit viel Mühe unterdrückt hatte, wenn er mit Makoto allein war. Doch Makoto war abgehakt, Yamai war seine neue Fantasie, nein, seine neue Wirklichkeit, deren Nachgeschmack noch immer in seinem Mund klebte. Yamais linkes Bein lag schräg über ihm und war ein weiteres Argument, liegen zu bleiben. Außerdem tat ihm der Hintern wirklich grausig weh. Sechs Uhr und die Tür ging auf. Noch immer lag Takashi in Yamais Armen, von denen einer unter seinem Hemd steckte. Der Wärter verzog erst das Gesicht, grinste dann. „Na, Köter“, lachte er, „Hast ‘ne Hure gefunden, was? Lässt mich auch mal?” Yamai schien nicht ganz so tief zu schlafen, stand auf, schloss seinen Kuhstall und blieb keine zehn Zentimeter vor dem kleineren Mann stehen. „Lass deine dreckigen Finger von ihm“, knurrte er und pustete dem Wärter ins Gesicht. „Der gehört mir, kapiert?“ Der Wärter kapierte, informierte die beiden, dass es Abendessen gab und sah zu, dass er Land gewann. Yamai war ein imposanter Mensch. Takashi sah nicht, wie Yamai grinste. Es konnte ihm reichlich egal sein, wer noch alles mit Takashi schlief, AIDS hatte er wahrscheinlich sowieso schon und wenn nicht, würde er doch gehängt. Allerdings war es immer nützlich, Takashi das Gefühl zu geben, bei ihm sicher zu sein und den fehlgeprägten Welpen so an sich zu binden. Takashi schien schnell zu lernen: im Knast half Selbstständigkeit und eine große Klappe nicht, hier ließ man sich besser von Stärkeren beschützen, anstatt sie zu provozieren. Sanft stieß er Takashi an und forderte ihn auf, mit ihm essen zu gehen. Takashi lächelte verlegen und stand auf, was ihm nicht gerade leicht fiel. Yamai half ihm auf die Beine. In der Kantine angekommen, trafen sie einige seltsame Blicke. Hatte der Wärter etwas gesagt? Ein paar der Männer grinsten, als sie Takashi beim „Laufen“ zusahen. Im Gefängnis gab es nun mal kein Gleitmittel, wie viele von ihnen bereits am eigenen Leib erfahren hatten. Als Takashi sich dann aber freiwillig neben Yamai setzte und völlig sorglos sein Abendessen – kalter, ungewürzter Reis mit einem traurigen Fisch, dessen Augen ähnlich glasig waren, wie Takashis - in sich hineinschaufelte, glotzten sie ihn nur noch mit hängenden Kinnladen an. Ein ängstliches Tier frisst nicht in der Gegenwart des Feindes, das wusste jeder. Nur den Fisch ließ er liegen, als er seinen Teller zur Seite schob und mit einem Seufzer den Kopf auf die Arme legte. Yamais linker Arm streckte sich über Takashis Kopf, um den Fisch, den nur Takashi von ihm trennte, zu stibitzen und die anderen Männer sahen fassungslos zu, wie Takashi nicht einmal zuckte. „Hey, hey“, stammelte Matsuura Hebi an, „Ich dachte, der war voll auf dem Horrortrip, oder? Das is jawohl eher wie frischverliebt, oder was!“ „Du kapierst nix, was?“, zischte Hebi und fuhr sich durch das fettige Haar. „Yamai hat ihn aus dem Horrortrip rausgeholt, aber high is der Kleene immer noch. Wenn einer total fertig ist, musst du ihn nur high machen und ihm dann ein bisschen Süßholz raspeln, so kriegste fast jeden!“ „Meinst du, ich krieg den auch mal?“ „Frag Yamai, ist seine Hure!“, lachte Hebi und mehr zu sich selbst als zu Matsuura murmelte er: „Aber der is wirklich niedlich mit seinen großen Augen und den blonden Zotteln... Den will ich mir auch mal reinziehen...“ Irgendwann in der Nacht wurde Yamai von einem Husten geweckt, der nicht sein eigener war. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, konnte er Takashi erkennen, der sich mit den Armen aufstütze und sich im Bett übergab. Er bemerkte Yamai und seine Augen funkelnden ihn zornig an. Das weiße Unterhemd gab ihm etwas vom „alten“ Takashi zurück, dem „gefährlichen“ Takashi von Ikebukuro. „Alles okay?“, fragte er mit gespielter Besorgnis, „Soll ich jemanden rufen?“ „BLEIB MIR VOM LEIB!!“ brüllte Takashi ihn an und Yamai verzog alarmiert das Gesicht. War er also wieder nüchtern? „Hey hey, nur die Ruhe“, versuchte Yamai, ihn zu beschwichtigen und kroch zu ihm rüber. „Ich tu dir nichts.“ Takashi stieß seine Hand weg und sprang auf. Er war fest entschlossen, Yamai auf Distanz zu halten – oder ihn umzubringen. Er versuchte, ruhig zu bleiben, sich nichts anmerken zu lassen, aber dafür war Yamai – und er selbst, was viel schlimmer war – zu weit gegangen. Er bebte vor Wut und Ekel über sich selbst. Im Dunkeln konnte Yamai Kratzer auf Takashis Armen und Beinen erkennen, die er sich selbst zugefügt haben musste. „Ich krieg deinen Schweiß einfach nicht von mir runter“, stammelte Takashi und unterdrückte einen erneuten Brechreiz, „Ich stinke nach dir, mein eigener Mund schmeckt nach dir, wie konnte ich nur...“ „Jetzt beruhig dich mal wieder“, lachte Yamai, „Keine Droge der Welt wirkt so lange, wie du mir nur einen geblasen hast!“ Für diese Bemerkung bekam Yamai einen Tritt ins Gesicht, den er gerade noch mit dem Arm abfangen konnte. Takashi wollte das linke Bein wieder auf den Boden bringen, um diesmal mit dem Rechten anzugreifen, doch Yamai hielt ihn am Knöchel fest. „Überleg dir jetzt genau, was du tust, Takashi-chan. Wenn du dich bewegst, brichst du dir den Knöchel und dann muss ich dich nicht mehr erst zudröhnen.“ Trotzig zog Takashi seinen Fuß zurück und signalisierte seinem Gegenüber so, dass er ihn bedenkenlos loslassen konnte. Und sofort sprang er ihn an, um ihm einen Kinnhaken zu verpassen, doch auch den konnte Yamai abwehren und ehe er sich versah, lag Takashi wieder unter Yamai, der seine Hände hinter seinem Rücken festhielt. Jetzt fühlten sich die siebzig Kilo Mann auf ihm nicht mehr so gut an. „Du kannst mich nicht mehr besiegen“, lachte Yamai, „Nicht in deinem Zustand. Find dich endlich damit ab, deine Ära ist vorbei. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten packte Yamai Takashi am Schopf und leckte ihm übers Gesicht, ehe er ihn losließ und ihm sorglos den Rücken zudrehte um sich wieder hinzulegen. Takashi blieb noch lang aufgebracht mitten in der Zelle liegen und war so damit beschäftigt, sich zu verfluchen, dass er keine Zeit mehr zum Schlafen fand. Am nächsten Morgen erschien Yamai allein zum Frühstück. Erst eine Viertelstunde später kam Takashi in die Kantine, wo er sofort von spöttischem Gelächter und gemeinen Zurufen empfangen wurde. „Schlampe“, „Arschficker“ sowieso, aber auch originellere Ausdrücke wie „Hundewichser“ und „Wärmflasche mit Wichsfüllung“ fielen. Scheinbar ungerührt winkte er ein Primo-Zeichen und nahm sein Tablett mit an einen leeren Tisch. Lustlos stocherte er im Reis herum, bekam keinen Bissen runter. Warum sollte er auch? Bald würde er eh gehängt werden. Essen war entweder Überleben oder Genuss. Kalten Reis konnte man kaum genießen und überleben musste er hier auch nicht wirklich: Makoto hatte ihn im Stich gelassen, stattdessen hatte er gestern den halben Tag lang artig für Yamai die Beine breitgemacht und sich dabei auch noch wohlgefühlt. Er hatte sich somit zum Gespött des ganzen Knasts gemacht. Er konnte hören, wie sie hinter seinem Rücken tuschelten und Yamai ausfragten, wie „die platte Schlampe“ denn so war, was „sie“ taugte, für wie viel Gramm er „sie“ vermieten würde und ob man „sie“ schlagen oder nur anlächeln musste, damit „sie“ schluckte. „Durch die Haare wuscheln reicht“, hörte er Yamai spotten und wieder schluckte er den Mageninhalt, der seinen Rachen empor kroch und teils aus Substanzen bestand, die weder in den Magen, noch in den Enddarm gehörten. Seine Hände begannen zu zittern. Ängstlich sah er sie an: war er süchtig, war dies eine Entzugserscheinung? Oder war es nur seine endlose Wut und die Erniedrigung? Erst jetzt merkte er, wie er schon die ganze Zeit ein gewisses Verlangen nach einem neuen Rausch hatte. Jetzt, wo es endlich seine Aufmerksamkeit hatte, ließ es ihn nicht mehr los und mit der Absicht, sich abzulenken, stand er auf und drehte sich zu den anderen um. Er setzte noch schnell ein falsches Lächeln auf, das er mit Gewalt auf den Lippen hielt. Er ging rüber zu dem Tisch, an dem Yamai und ein paar andere saßen, die sich gerade von ihm Takashis Schreie, Quieken, und Seufzer beim Sex nachahmen ließen und sich vor Lachen kaum halten konnten, als Yamai ihnen glaubhaft schilderte, dass Takashi zur lauten Sorte gehörte. „Oooh jaaa“, stöhnte es plötzlich theatralisch neben Yamai und ein Fuß stampfte auf dem Tisch, genauer gesagt in Yamais Reis, auf. Mit einem bösen Lächeln stand Takashi mit einem Fuß auf dem Boden und einem Fuß im Reis, neben Yamai und die fröhliche Tafelrunde verstummte. „Wie ihr seht, kann ich mich wieder ganz gut bewegen“, warnte er. Innerlich fluchte er über die starken Schmerzen, die diese Pose verursachte und hoffte, dass keine Blutflecken auf seiner Hose zu sehen waren. „Wer was von mir will, wartet lieber, bis man mir wieder das Essen vergiftet hat oder so.“ „Nanu“, tönte einer unbeeindruckt, „Yamai, hast du dir ne Domina angelacht, oder was?“ „Nein, nein“, winkte Yamai ab, „Im Gegenteil, der freut sich, wenn du ihn so richtig rannimmst!“ „Ist das so“, grinste ein anderer, der sich Takashi von hinten genähert hatte und ungeniert seinen Hintern betatschte. Eine Gänsehaut ließ Takashis Miene zucken und seine Haare richteten sich auf. „Dürfen wir ihn dir mal entwenden, Yamai?“ „Für ein achtel Gramm bläst er dir einen“, versprach Yamai, ohne Takashi um seine Meinung zu fragen. Um so überraschter war er, als Takashi, wenn auch mit einem äußerst betretenen Gesicht, sich neben Yamai auf die Bank setzte und mit zitternden Händen die Hose des Mannes griff. Es wäre auch zu untypisch, wenn Takashi einem Verlangen widerstünde. „Der ist ja voll lieb“, entzückte sich der Mann und winkte Hebi zu, „Hey, krieg ich ein Gramm Schnee?“ „Wenn ich ihn auch mal krieg, gibt’s zwei“, zischte Hebi zurück und schickte Matsuura mit einem Gramm Kokain hinüber zu Takashi. Der schüttete sofort die Hälfte davon auf den Tisch und voller Selbsthass zog er es durch die Nase ein. Er konnte nicht mehr anders, der Drang war wie damals, wenn er einen unerträglichen Heißhunger auf Zucker bekam und so lange deprimierte und auf Leute einschlug, bis er endlich etwas Süßes zwischen die Zähne bekam. Nur schlimmer. Viel schlimmer. Es fühlte sich an, als hätte man ihn in ein eisernes Korsett gesteckt, das sich immer enger zuzog und nur eine Nase voll Koks schien das Korsett noch lockern zu können. Er war nervös, aggressiv, kurz davor, den Verstand zu verlieren. Er brauchte es. Der Mann nahm Takashi am Handgelenk und verließ die Kantine. Dem Wärter, der ziemlich verdutzt darüber war, den sonst so bockigen Takashi schlaff und hängenden Hauptes an der Hand eines Fremden daherschlurfen zu sehen, sagte er, Takashi müsse sich übergeben und er brächte ihn aufs Klo. Das tat er auch. Im Klo angekommen, setzte er sich auf die Schüssel und befahl Takashi, in die Knie zu gehen. Bei Takashi fing die Droge allmählich an zu wirken und so hatte wenigstens sein Körper Lust auf diesen Gräuel. Der Mann packte ihn bei den Haaren und schüttelte ihn durch. „Jetzt mach schon, oder bin ich dir zu alt?“ Als Takashi gerade nachgeben wollte, klopfte es an die Klotür. „Aufmachen!“ „Tut mir leid, der Kleine kriegt’s nicht richtig raus!“ „Red keinen Scheiß“, rief der Wärter, dem die beiden schon am Ausgang der Kantine aufgefallen waren, „Ihr seid keine kleinen Mädchen, die zusammen aufs Klo müssen! Und wieso setzt du dich vor ihm auf das Klo, in das er kotzen soll, hä? Los, raus!“ Leise fluchend, zog der Mann sich die Hose wieder hoch. Takashi ließ er auf dem Boden sitzen. Als er über ihn stieg, stieß er ihm mit dem Knie an den Kopf, kam aber nicht auf den Gedanken, sich zu entschuldigen. Wütend drängelte er sich an dem Wärter vorbei, doch der packte ihn im Gesicht und schlug ihn rabiat mit dem Hinterkopf gegen die Tür des benachbarten Klos. „Perverse Drecksau“, knurrte Makoto und stieg über den am Boden liegenden Mann in die Klokabine, in der Takashi saß und niedergeschlagen auf den Boden schaute. „Hey, Takashi. Ich hab mich mit Saru und Kazunori unterhalten. Was die dir hier geben...“ „Kokain, na und?“, murmelte Takashi gleichgültig, „Was bringt’s dir, dass zu wissen? Hast du nichts zu tun oder kommst du deine Impotenz behandeln lassen? Das musst du über Yamai regeln, der ist ab sofort mein Zuhälter.“ „Hä?“ Takashi drehte sich zu Makoto um, ohne aufzustehen. „Die letzten Tage hab ich viel gelernt. Und ich konnte es erst überhaupt nicht glauben, aber sag mal... du kümmerst dich doch sonst nicht um Yokoyama-sans Meinung, warum hast du dich so verpflichtet gefühlt, mich zu verknacken, bloß weil der dabei war?“ Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand Takashi auf und ging an Makoto vorbei, dem er noch ein Primo-Zeichen zuwinkte. Makoto sah ihm fassungslos nach, wie er die Toiletten verließ und den Flur entlang zurück in die Kantine ging. Er folgte ihm heimlich und traute seinen Augen kaum, als er sah, wie Takashi, scheinbar wieder völlig high, sich mit dem Gesicht zu Yamai auf dessen Schoß setzte und Makoto über Yamais Schulter einen provokanten Blick zuwarf. „Makoto!“, rief Yamai ihm zu, „Du siehst doch, dass der nix mehr von dir will! Lass ihn in Ruhe, ich hab ihm alles über dich erzählt! Da fällt mir ein, Makoto... Hikaru und Takashi kommen beide zu mir, wenn sie von dir enttäuscht sind, ich glaub, ich könnte bald eine Anlaufstelle für von Makoto Majima enttäuschte Leute eröffnen!“ „Du eröffne nur dein Testament“, blökte Makoto ihn an und eilte zu ihm hinüber um ihn sich vorzuknüpfen, doch Takashi wollte nicht von Yamais Schoß hinuntergehen. Im Gegenteil, seine Hände strichen durch Yamais halblanges schwarzes Haar und er schmunzelte Makoto an, als wolle er sagen: du wirst hier nicht mehr gebraucht. Makotos Kinnlade hing so tief wie nie zuvor, als er das Schauspiel vor seiner Nase verfolgte. Er betete innerlich, dass das Ganze nur eine Nummer war, die Takashi da abzog und dass der Junge wusste, was er tat, dass Yamai es war, der hier veräppelt wurde. Yamai legte eine tröstende Hand auf Takashis Kopf, der sich genüsslich in diese Hand hineindrückte, wie eine Katze. Als Takashi dann auch noch begann, an Yamais Unterlippe zu knabbern, platzte Makoto der Kragen. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Saal. Das konnte er sich beim besten Willen nicht länger reinziehen, ob Takashi nun unter Drogeneinfluss handelte, oder ob er es tat, um ihn zu beleidigen, das war einfach zu viel. Er war gekommen, um ihn zum Arzt zu bringen und das Drogenproblem anzusprechen, außerdem hatte er sich für einige Dinge der Vergangenheit entschuldigen wollen. All das erschien ihm nun so wahnwitzig, so lächerlich. Als die Tür mit einem Krachen zuflog, glaubte Takashi für einen kurzen Moment, einen ähnlichen Laut in seiner linken Brust zu hören, doch er achtete nicht weiter darauf und arbeitete weiter fleißig daran, jeglichen Selbstrespekt zu verlieren. Kapitel 16: Der Stand der Dinge ------------------------------- Es dauerte kaum einen Monat, bis die ganze Abteilung Takashi nicht nur auswendig kannte. In der Kantine, in der Dusche, auf den Toiletten, nirgends war er noch sicher und schien es auch nicht sein zu wollen. Sogar einige Wärter hatten Gefallen an ihm gefunden und mit einem, der hier nicht mehr lebend rauskommen würde um sie zu verpfeifen, konnte man es ja machen. Das Objekt der Begierde schien endlich eine Beschäftigung gefunden zu haben: prügeln konnte er sich hier nicht mehr so gut, wie draußen. Die meisten Männer wollten keinen Streit. Mit mehr Feinden als Anhängern, konnte er hier auch keine Bande mehr aufrichten, um sich Schlammschlachten mit anderen zu liefern. Von früh bis spät futtern konnte er auch nicht mehr und von morgens bis abends von einem Partner zum anderen zu wechseln, war nicht nur sehr berauschend, irgendwie schien es ihn zu beruhigen, seinen „Platz“ zu kennen. Ganz unten, ein Platz, den ihm so schnell keiner streitig machen würde und der ihm auch wenig Denkarbeit machte. Neuland. Zwei, drei mal hatte einer der vom Aussterben bedrohten pflichttreuen Wärtern ihn zum Arzt gebracht, damit der sich um die Verletzungen kümmerte, die Takashi dabei immer wieder davontrug, denn zärtlich war hier nur der alte „Opa Hige“ zu ihm. Ansonsten wurde er, sofern er keine Regeln brach, weitgehend sich selbst, oder besser, den anderen Insassen, überlassen. Nur ein einziges Mal war Makoto ihn nach dem Vorfall in der Kantine noch besuchen gekommen. Es hatte ihn viel Disziplin gekostet, Takashi zu begegnen, doch wieder stieß er auf einen sehr kalten Empfang und wurde, nach ein paar herablassenden Worten, ignoriert. Lange hatte er darauf gehofft, Takashi wieder so fröhlich und gesellig unter die Leute gehen zu sehen, wie er es einst von ihm gewöhnt war, doch angesichts der Umstände, konnte Makoto sich nicht recht für ihn freuen. Nach einer Ernüchterung wenige Tage nach Makotos letztem Besuch, war er von einer Depression heimgesucht worden, die ihn so weit brachte, dass er versuchte, sich das Leben zu nehmen. Als ein ehemals lustiger Mensch, der bisher nie über Selbstmord nachgedacht hatte, stellte er sich zum Glück recht ungeschickt an und holte sich nur einen blauen Hintern, als der Knoten im Bettlaken, an dem er sich erhängen wollte, sich öffnete und ihn auf den Betonboden plumpsen ließ. Gelähmt vor Schmach, hatte er sich von Yamai in den Arm nehmen lassen und wenig später lag er auch schon wieder high unter ihm und die ganze Etage konnte ihn laut um mehr winseln hören. Was waren sie doch neidisch auf Yamai. Kaum ein anderer Insasse hatte einen so jungen, niedlichen Zellengenossen, der noch dazu so willig war. Makoto saß entnervt in seiner Polizeibox, aus der er gerade wieder einen Besoffenen verjagt hatte, der sich nicht recht entscheiden konnte, ob er nun Gondawara oder Aminaka hieß. Ächzend fasste er sich an den Kopf und wollte nur noch nach hause – oder Gondawara hinterher, um sich mit ihm zu besaufen. Kurz vor Gondawaras Antanzen war er von Takashis Selbstmordversuch unterrichtete worden, war aber nicht weiter darauf eingegangen. Er hatte gehofft, dass Takashi so vielleicht wieder „normal“ werden würde, doch der Mann am Telefon sagte ihm gleich: der Bengel sei mittlerweile wieder „so geil wie eine Türklinke“. Auf seine Bitte, gewisse Insassen auf Drogen zu kontrollieren, wurde ihm nur erklärt, dass Drogen in dieser renommierten Institution völlig undenkbar wären. Sein Handy klingelte. „Makoto?“ Es war Kazunori, etwas eingeschüchtert von Makotos heftigen Reaktion, als der ans Telefon ging. „Ich hab rausgefunden, wer den Stoff ins Gefängnis schmuggelt und wa...“ „Mir doch egal“, motzte Makoto ihn an, „Ich bin raus aus der Sache, ich misch mich da nicht mehr ein! Soll ich gar nicht! Takashi hat’n neuen Freund gefunden!“ Mit diesen Worten legte er auf und knallte das Handy auf den Schreibtisch. Den Knall konnte man bis auf die andere Straßenseite hören. Schüchtern kam Hamaguchi hinzu um Makoto abzulösen. Ohne ein Wort zu sagen, stand dieser auf und marschierte davon. Hamaguchi sah ihm verdattert nach, wollte etwas sagen, doch als Makotos Fuß zwei Fahrrädern das Fliegen beibrachte, beschloss er, dass er das Recht zu schweigen hatte und alles, was er jetzt noch sagen würde, von Makoto gegen ihn verwendet werden könnte. Hamaguchi war stolz, einen Kollegen wie Makoto zu haben, doch gleichzeitig fürchtete sich der winzige Gendarm vor ihm. Zu recht. Nach ein paar hundert Metern blieb Makoto stehen. Wo wollte er überhaupt hin? Bei Hamaguchis Ankunft hatte er die Flucht ergriffen, scheinbar, um nicht mit ihm über seinen Kummer reden zu müssen. Und jetzt? Links abzubiegen, brächte ihn nach hause, rechts in die Sauna – der letzte Ort, an dem er jetzt sein wollte – und geradeaus ging es zur Bowlingbahn. Nun hatte er die Qual der Wahl: sich von seiner Mutter einen Vortrag über seine Impotenz halten zu lassen, war nun wirklich kein verlockender Gedanke. In der Sauna würde Takashis Geist um ihn herumspuken und dann war da sein armer geknickter Vater. Der letzte, dem er begegnen wollte! In der Bowlingbahn musste er mit Kaoru, ein paar G-Boys, schlimmstenfalls mit Masa rechnen. Und der würde ihm dann wieder Vorhaltungen über seine Auffassung von Freundschaft gegenüber dem armen, armen Takashi machen. Kurz, ehe er die Bowlingbahn erreichte, blieb er stehen: musste er sich überhaupt zwischen einem dieser drei Orte entscheiden? Konnte er sich nicht einfach zu einem Penner auf die Parkbank setzen? Welch grandiose Idee! Sofort suchte er sich einen gemütlich wirkenden alten Mann, fand auch einen. Er bog noch schnell in einen Conbini ein um eine Flasche Wodka zu besorgen. „Ist neben ihnen noch ein Platz frei, Onkel?“ Der Penner sah Makoto etwas verdutzt an. Wenn sich ein Polizist zu einem setzte, bedeutete das meist nichts Gutes. Doch wie Makoto sich mit einem Ur-Seufzer neben ihn auf sein Stück Pappe sacken ließ, verflog dieses Misstrauen. „Sagen Sie, Onkel“, begann Makoto und streckte dem Mann die Flasche hin. „Is das eigentlich normal, dass diejenigen, die sich deine besten Freunde schimpfen, alle so furchtbar lästig sind?“ „Lästig?“, fragte der Alte zwischen zwei Schlucken und gab Makoto die Flasche zurück. „Also, zuerst“, seufzte Makoto und wischte sich den Mund ab, „Zuerst war da dieses Mädchen, wissen Sie, die war von Anfang an lästig. Die dachte, nur weil ich mal ein bisschen nett zu ihr war, wären wir verheiratet und dann, dann hat sie alle umbringen lassen, die zwischen uns kommen könnten.“ „Au weia!“ „Wird noch besser, wird noch besser. Sie hatte irgendwie so was mit 'nem Tiger und 'nem Pferd. Und irgendwie so ne zweite Dingsbums, also, jedenfalls hat diese zweite Dingsbums unsere Freunde umbringen lassen. Und sie selbst wusste das nicht mal, verstehen Sie?“ „Nur Bahnhof. Junge, im Dienst solltest du nicht so viel trinken!“ Mit diesen Worten leerte der alte Mann die Flasche um drei weitere Züge. „Und genau der Typ, der das alles für sie getan hat, also, der unsere Freunde umgebracht hat, der sitzt jetzt im Knast.“ „Mit dem Tiger und dem Pferd?“ „Weiß ich doch nicht“, fuhr Makoto ihn angetrunken an. „Aber es hätte alles so schön sein können, ohne ihn, mein ich. Aber nein, alle machen sie sich von mir abhängig, Makoto hier, Mako-chan da... Lästig, sag ich ihnen, lästig!“ „Also, weißt du, junger Mann“, lachte der Alte, „Freunde sind nun mal keine Hunde. Einen Hund kannst du ins Körbchen schicken und mit einem Knochen abfertigen, der bleibt dir auch so treu, aber Freunde, Freunde wollen sich im Notfall auf dich verlassen können.“ „Ich kann mich auch auf sie verlassen“, motzte Makoto. „Sie sich auch auf dich?“ „Aber mein anderer Kumpel“, lenkte Makoto ab um sich die Frage des Mannes nicht weiter durch den Kopf gehen lassen zu müssen, „Der is jetzt auch im Knast. Und eh sie fragen, ja, den hab ich dahin gebracht. Bin ich jetzt ein schlechter Freund? Der hat jedenfalls auch einen kaltgemacht, aber das war halb so wild. Und wissen’s was? Wissen’s was? Die beiden konnten sich nie ausstehen, dieser andere Typ und mein Kumpel, und auf einmal haben die was miteinander! Vor meinen Augen, ja?“ Der Penner sah ihn mitfühlend an und drückte ihm die Flasche ans Herz. „Und wen hat der jetzt umgebracht? Auch einen Liebesrivalen?“ „Nee, eine Ballerina“, gluckste Makoto. „Mein lieber Schwan!“ „Nein, nicht der sterbende Schwan. Tchaikovsky.“ „Bidde?“ „Tchaikovsky, da hat der immer drauf getanzt. Aber jetzt hat’s sich ausgetanzt und ich vermiss den Typen echt nicht. Wo der auch auftauchte, wurde alles lästig!“ „Oh nein“, rief der Penner entsetzt aus, „Ich mochte den Bengel! Ich hab ihm immer gern zugesehen, wenn der abends auf Tchaikovsky tanzte, war mal was anderes als ewig diese Schlägereien. Oh nein...“ „Was, kannten Sie den, Onkel?“ „Ja aber sicher! Der hat hier vorgestern noch so schön getanzt! Ach, wie schrecklich, wie schrecklich...“ Der arme alte Mann konnte aufhören, seinen Kopf zu schütteln, denn Makoto nahm ihm die Arbeit ab und schüttelte ihn kräftig durch. „Wie bitte?!“ „Ja, der hatte hier jeden Sonntag getanzt...“ „Wie sah der aus?!“, fuhr Makoto ihn unbeherrscht an. „Ach, wie schon... groß, schlank, ganz in schwarz mit halblangen schwarzen Haaren, sehr gepflegt, ich glaub, der war schwul, aber das ist doch kein Grund...“ Jetzt wusste Makoto, wo er hinwollte. In der Bowlingbahn würde er noch am ehesten auf Endanger treffen. Er drückte dem Mann die Flasche in die Hand und weg war er. Der Penner freute sich, jetzt nur noch die Flasche ohne ihren motzigen Anhang zu haben. In der Bowlingbahn wurde er als erstes von Masa begrüßt, der ihm wie immer, wenn er mit Makotos Verhalten unzufrieden war, eine Szene machte. Makoto ignorierte ihn einfach und ging zu Kaoru an den Tresen. „Weißt du, wann die G-Boys das letzte mal hier waren?“, wollte er wissen. „Welche G-Boys?“, fragte Kaoru sarkastisch und füllte weiter ihre Bestellliste für neue Schuhe und Kegel aus. „Es gibt nur noch Endanger, Wacky, Kenken und Daisuke. Und Jessie.“ „Wieso, was is passiert?“ „Die anderen hab ich nicht mehr gesehen, gelb scheint aus der Mode zu sein.“ „Und Kyoichi?“ „Hä?“ Kaoru sah ihn an, als sei er nicht mehr bei Trost. „Irgendwas stimmt hier nicht, ich muss Endanger und die anderen sprechen.“ „Da kann ich dir leider nicht helfen“, murmelte Kaoru, noch immer mit der Liste beschäftigt. „Ach, wunderbar, wirklich, super!“, kläffte Makoto und drehte sich um, um auf eigene Faust zu suchen. Dabei prallte er gegen einen kleinen, schnell übersehenen jungen Mann und Endanger sah ihn leicht genervt an. „Ach, dich hab ich gesucht. Ich muss mit dir reden.“ „Makoto-san“, sagte Endanger, noch immer respektvoll zum besten Freund seines Anführers, „Es gibt tatsächlich was, worüber wir uns unterhalten müssen. Komm mit.“ Makoto folgte ihm nach draußen, wo Daisuke, Wacky und Kenken neben dem gelben Minibus warteten. Kenken öffnete die Tür zum Kofferraum und alle kletterten hinein. Endanger setzte sich hinters Steuer und warf den Motor an, Makoto setzte sich neben ihn. „Ich weiß, das klingt absurd“, begann Endanger, „Aber das Verschwinden der G-Boys oder genauer gesagt, das Verschwinden gelber Kleidung, scheint mit den Black Angels zu tun zu haben.“ Makoto rieb sich nervös das Kinn. „Wir dachten erst, Kyoichi hätte einen Nachfolger ernannt gehabt, aber vorgestern Abend kamen Tom und Kon zu mir und meinten, sie hätten Kyoichi tanzen sehen.“ Kapitel 17: Opa Hige -------------------- Nach der Ursache fragte keiner, doch jeder merkte, wie Takashi allmählich umgänglicher und braver wurde. Es war angenehm. Sehr angenehm. Denn auch, wenn die Wachen es liebten, Insassen zu schikanieren, so wollten sie doch nicht bei jedem Mucks springen müssen. Nun durfte Takashi sich auch in den freien Stunden frei bewegen, zumindest innerhalb der dicken Mauern des Gefängnisses. So durfte er auch andere Insassen besuchen. Besonders gern war er bei Opa Hige. Opa Hige war bereits seit vor Takashis Geburt hier. Angeblich hatte er seine Schwägerin ermordet, doch diejenigen Knastbrüder, die sich mit Menschenkenntnis brüsteten, bestanden darauf: dieser Mann konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Klapprig war er schon in jungen Jahren gewesen, dazu schrullig und etwas ängstlich. Die ersten fünf Jahre seiner Haft hatte er in einer Viererzelle verbracht, dort wurde er jedoch so schikaniert, dass man ihn letztendlich in eine Einzelzelle umsiedelte. Hier konnte er ungestört seinen Hobbies nachgehen: er las gern Bücher, besonders solche, die von der Schönheit der Natur oder Aspekten des menschlichen Seins handelten, und ließ sich davon – und von der Einsamkeit – zu Haikus inspirieren, die er dann in seinem orangenen Notizblock niederschrieb. Takashi mochte ihn. Er war nicht stolz darauf, hier als Koksschlampe bekannt zu sein und Opa Hige war ihm als einziger aufgefallen, der nicht jedes Mal, wenn Takashi seine Zelle verließ, mit den anderen mitspottete. Er würde ihn nur traurig ansehen und sich dann wieder seinen Tätigkeiten widmen. Immer öfter ließ er sich von Takashi „entlöhnte“ Gesellschaft leisten und er erinnerte sich noch gut an das erste Mal: Takashi hatte krampfhaft versucht, witzig zu wirken, trug dadurch jedoch nur zu seiner eigenen Erbärmlichkeit bei. Unbeeindruckt hatte Opa Hige ihn aufgefordert, sich zu ihm zu setzen und ihm beim Schreiben Gesellschaft zu leisten. So saß Takashi auch heute wieder bei dem alten Hige an dessen kleinen Tisch, auf dem ein alter, zerzauster Pinsel in einem schmutzigen Tintenbehälter stand. Takashi war Higes Inspiration für viele Haikus. Warum, das wusste er nicht. Anfangs hatte Takashi gelacht, doch nun saß er artig am Tisch, stützte seinen Kopf auf seine Hände und sah gespannt zu, wie Opa Hige den Pinsel nahm und einsatzbereit übers Papier hielt. Jeden Moment würde der Pinsel landen und einen ersten schwarzen Strich ziehen. Nach zehn Minuten stand das Haiku auf Papier. Takashi versuchte, die nicht gerade schön geschriebenen Kanji zu entziffern. „Unbe... unbe.. rechenbar? Unberechenbar....“ „Unberechenbar“, räusperte Opa Hige sich pikiert. War seine Handschrift so unleserlich? „Unberechenbar wie ein Haiku, in aller Einfachheit fasziniert mich die Sonne.“ „Komisches Haiku“, lachte Takashi, doch insgeheim wusste er, dass es wohl eher an seiner eigenen Allgemeinbildung haperte, denn die Schule war für ihn oft nur eine Gelegenheit gewesen, Schlaf nachzuholen. Opa Hige sah ihn amüsiert an. „Weil ein Haiku unberechenbar ist“, erklärte er, „Und trotzdem einfach. Und bei aller Einfachheit fasziniert es mich. Aber ein halbes Kind wie du, versteht so was sicher noch nicht. Auch die Einfachheit kann faszinieren, wenn man sie lässt. Es muss nicht alles aus Hollywood kommen, um zu unterhalten.“ „Und die Sonne?“ „Die Sonne, mein Junge, braucht man zum Leben und um sich wohl zu fühlen. Wie ich meine Haikus.“ „Aaaha“, nickte Takashi und zeigte wissend auf Opa Hige, „Hab verstanden!“ „Ach, wirklich?“, fragte Hige sarkastisch und schmunzelte. Die Sonne war groß, rund, gelb und heiß, und vor sich hatte der alte Mann auch etwas in der Art: groß, rund, gelb – na ja, Blond mit schwarzem Ansatz - und hitzig. Der Besitzer dieses Kopfes war unberechenbar und doch simpel. So sah er Takashi. „Bub“, seufzte Hige, „Du erinnerst mich an meinen Enkel. Der müsste jetzt so in deinem Alter sein. Das mag gemein klingen, aber ich freue mich, dass du hier bist.“ „Das hat wirklich was Fieses an sich“, nickte Takashi. Dann lachte er: „Fragt sich nur, wie lange noch.“ „Darüber mag ich nicht nachdenken. Solange du nicht tot bist, lebst du und solange du lebst, solltest du nicht ans Sterben denken. Sieh mich an, ich warte jetzt schon seit dreiundzwanzig Jahren auf meine Hinrichtung, die ein halbes Jahr nach meiner Einweisung hätte sein sollen.“ Bei diesen Worten verließ Takashi sein Grinsen und er sah Opa Hige ungläubig an. Wie konnte ein Mensch es so lange an einem solchen Ort aushalten? Takashi war doch schon nach wenigen Tagen wahnsinnig geworden. Opa Hige merkte Takashi an, was der gerade dachte. „Für einen hyperaktiven Spinner wie dich muss es hier schrecklich sein, aber ich mag die Ruhe, die Abgeschiedenheit. So kann ich nachdenken und den ganzen Tag in meinen Gedanken versinken.“ „Onkelchen, sind Sie nie einsam?“ „Nicht, seit die Sonne in meine Zelle scheint.“ „Ich muss blöd sein, nix kapisch! Die Sonne scheint doch fast immer!“ Opa Hige gab Takashi einen liebevollen Klaps auf die Schulter und sparte sich weitere Erklärungen. Er wartete noch kurz, bis die Tinte getrocknet war und legte sein Notizbuch zur Seite. Dann beugte er sich rüber zu Takashi und griff seine Hände, die eigentlich seine haarige Sonne stützen sollten. „Auch, wenn ich dich auf diesem Weg kennengelernt habe“, sagte er, „Willst du nicht versuchen, wieder von dem Zeug wegzukommen? Ehe es dich ganz zerstört?“ „Wie soll ich das machen?“, lachte Takashi traurig und sah auf seine von Opa Higes leidenschaftlich gedrückten Hände. „Immer, wenn es aufhört zu wirken, tu ich alles für mehr!“ „Und wenn du sie bittest, dich wieder in Einzelhaft zu tun? Oder zu mir? Wenn du keine Gelegenheit mehr kriegst, da dran zu kommen, kommst du vielleicht ganz schnell davon los.“ „Sogar die Polizei hat die schon aufgefordert, mich von Yamai zu trennen, na und? Die spinnen hier alle, die wollen gar nicht, dass hier alles gesittet abläuft.“ „Die Polizei? Ach, dieser stattliche junge Mann mit dem bösen Blick? Ich weiß nicht, was ihr für eine Beziehung habt, aber er scheint dich sehr zu mögen.“ Takashi lächelte traurig. „Dachte ich auch immer, aber irgendwie, wissen Sie, eigentlich zeigt er davon nicht viel. Er war nie da, wenn ich ihn brauchte, dann verhaftet er mich auch noch. Ich weiß ja, er ist halt ungeschickt, aber irgendwie ist er zu anderen immer netter. Liegt vielleicht an mir, vielleicht bin ich wirklich lästig?“ Die letzten Wort bekam Takashi nur mühsam heraus, als ihm plötzlich Tränen über die eingefallenen Wangen liefen. Mutlos ließ er den Kopf hängen und schluchzte. Der alte Hige hatte die praktische, doch zugleich lästige Gabe, die Leute auch ohne Worte zu verstehen. Er hatte Takashi bereits durchschaut, als er diesen mit einem sorglosen Grinsen hinter einem Amerikaner hatte hertrotten und um die Ecke verschwinden sehen. Sein Mund konnte noch so breit grinsen, wenn seine leuchtenden Augen die Tränen kaum halten konnten. Kein anderer hatte sich die Mühe gemacht, in Takashi hineinzusehen, anstatt nur in ihn hineinzustoßen, was wiederum jeder freiwillig und gern tat. Wie zur Belohnung, kam nur Opa Hige in den Genuss eines warmen Lächelns und eines lebendigen Körpers, der nicht nur wie tot dalag und sich machen ließ. Bei diesem alten Mann, der nur etwas Warmes im Arm halten wollte, konnte Takashi für kurze Zeit vergessen, was Yamai ihm alles eingeredet und angetan hatte, was aus seiner Freundschaft mit Makoto geworden war und dass jeder Wärter, der zu ihm in die Zelle kam, ihn zum Galgen führen konnte. Bei Opa Hige durfte er noch er selbst sein, das hatte er am Anfang hart aber herzlich gelernt: grinsend und an jeder Hand ein Primo, hatte er bei Opa Hige im Türrahmen gestanden und gesagt: „Moin! Ich bin Takashi, zehn Jahre alt und ab null komma sechs schluck ich!“. Opa Hige war, im Gegensatz zu allen anderen, nicht sofort aufgesprungen, um Takashi an den Haaren in die Knie zu reißen und ihn mehr schlucken zu lassen, als ihm lieb war. Da hatte er gesessen, da an seinem kleinen Tisch, und Takashi einen trübseligen Blick zugeworfen. Ein Blick voller Mitleid. „Junge“, hatte er geseufzt, „Verschon mich mit deinem fürchterlichen Schauspiel, du erreichst nicht mal das Niveau der Theatergruppe meiner Schule.“ Anfangs hatte er ihm noch etwas zugesteckt, doch irgendwann kam Takashi umsonst, ohne es zu merken. Opa Hige. Ein netter alter Mann, der als Einzelgänger bekannt war, war für Takashi zu einer seltsamen Mischung aus Onkel und Freund geworden. Er konnte schon immer gut mit allen Menschen auskommen, doch nie im Leben hätte Takashi gedacht, sich so gut mit einer so viel älteren Person mit einem völlig anderen Hintergrund zu verstehen. Immerhin hatte dieser Mann den Zweiten Weltkrieg und die Bombe miterlebt, hatte nicht das Glück, eine sorglose Jugend in der Sonne Ikebukuros zu verbringen. Takashi hatte ein gewisses Vorurteil gegenüber Zeugen des Zweiten Weltkriegs: er hatte bisher immer geglaubt, diese Leute seien humorlos, finster, verbittert und stünden der heutigen Jugend völlig verständnislos gegenüber. Doch Opa Hige verstand ihn besser, als manch ein Makoto. „Ach Gottchen“, brummte Opa Hige, als Takashi sich noch immer nicht beruhigte, „Ist ja gut, ist ja gut, Junge, was machst du auch für Sachen...“ Takashi hatte noch genau vierzig Minuten bis zum Abendessen. Bis dahin musste er zusehen, dass er seine Tränen trocknete. Aus Rücksicht auf den alten Mann, aß er meist allein, um die auf ihm lastende Aufmerksamkeit der anderen nicht auf den wehrlosen Alten zu übertragen. Es passte sicherlich vielen nicht, dass der Mann den Jungen einerseits zu monopolisieren versuchte und andererseits nichts dafür tat – schließlich wollten Yamai und Hebi an ihm verdienen. Es war offensichtlich, dass Opa Hige Takashi so zu beschützen versuchte. Nur diesmal schien es anders und Takashi sah besorgt mit an, wie Hige sich nicht abhängen ließ und sich demonstrativ neben ihn setzte, als sie zum Abendessen in die Kantine kamen. „Sie wissen schon, dass Sie sich gerade Feinde machen?“, lachte Takashi entsetzt. „Kind, ich bin fünfundsechzig und zum Tode verurteilt, ob durch Schläge, den Galgen oder Herzinfarkt, ist doch egal.“ „Wenn Sie meinen, Opa...“ Wenig später kam ein Wärter herein, sah kurz zu Opa Hige hinüber und flüsterte dann seinem Kollegen etwas zu, der darauf eine ernste Miene zog. Takashi sah besorgt hin und her zwischen Opa Hige und den Blicken der anderen. Zur Not würde er eingreifen, doch wie viel Kraft hatte er noch? Nach so vielen Jahren plötzlich auf diesen Alten loszugehen, das würde wohl so schnell keiner, und doch, in letzter Zeit spielte hier alles verrückt, schien es kein Gesetz und keinen Anstand mehr zu geben. Benjamin, der Afroamerikaner, hatte sich inzwischen aus Angst Matsuuras Bande angeschlossen und kein Wort mehr mit Takashi geredet. Es hätte ihn kaum gewundert, wenn im nächsten Moment jemand aufspringen und einen anderen mit dem Plastikmesser erstechen würde. „Hige!“, tönte es von der Tür, kurz ehe das Abendmahl beendet war. Ein Wärter winkte ihn zu sich. „Iss ruhig meinen Teil auf, Junge“, lächelte Hige. „Und halt die Ohren steif.“ Mit diesen Worten stand Opa Hige auf, seufzte schwermütig und ging zur Tür. Takashi sah ihm leicht verwirrt hinterher und rieb sich geistesabwesend die Schulter, die der Alte kurz zuvor noch so herzhaft umarmt hatte, als wolle er sichergehen, dass er ihn noch dort fühlen könnte. Eine gute Stunde verging, doch der alte Hige kam nicht zurück. „Andoh, kommst du mal mit?“ Takashi sah auf, vor ihm stand ein Wärter. Gleichgültig folgte er ihm und war angenehm überrascht, als der Mann ihn nicht zum Klo, sondern in Opa Higes Zelle brachte. Doch wo war Opa Hige? Auf dem Tisch lag das Buch, das er zuletzt gelesen hatte – „Geständnis einer Maske“ von Yukio Mishima - und sein Haikublöckchen. „Er hat uns gebeten, dir diese zwei Sachen zu geben.“ Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit und zitternd kniete er sich an den Tisch zu Opa Higes Sachen. „Wieso bittet er Sie darum? Wir sehen uns jeden Tag, überhaupt, warum will er die Sachen nicht mehr?“ „Es war sein letzter Wunsch. Er wurde vor einer Viertelstunde gehängt.“ Kapitel 18: Neuer Mut --------------------- Seit Opa Higes Tod hatte Takashi kein Wort gesprochen. Es war so plötzlich geschehen. Im einen Moment saß er noch neben ihm und aß zu Abend, im nächsten stand er ganz normal auf, ging ganz normal aus der Kantine... So banal, so ohne Abschied, so undramatisch sollte dieser gute Mensch also sterben? War seine Existenz so unwichtig? Er hatte mit Takashi nie über seine „Tat“ geredet, hat sie weder gestanden, noch geleugnet, doch irgendetwas passte nicht: Opa Hige hatte einfach nichts von einem Mörder. Hatte er den wahren Täter gedeckt? Oder gefiel es ihm hier tatsächlich? Nun sollte Takashi es nie erfahren. Doch es war nicht nur der Verlust dieses liebenswerten alten Mannes, der ihm solch angenehme Gesellschaft geleistet hatte. Es weckte erneut diese schreckliche Angst in ihm, die Angst vor der Ungewissheit: morgen, in einer Stunde, nein, genau in diesem Moment, konnte die Tür aufgehen und ein Wärter würde vor ihm stehen um ihn zum Galgen zu führen. Er konnte noch sechzig Jahre vor sich haben, es konnte aber auch eine halbe Minute sein. Trübselig blickte Takashi auf das Notizbuch in seinen Händen. Er hatte es, genau wie das Buch, von Opa Hige geerbt. Es war so ungerecht: es waren kaum zehn Tage vergangen und schon sprach keiner mehr über ihn. Opa Hige hatte es nie gegeben, so schien es. Dabei hatte er vor zehn Tagen noch mit ihnen allen zu Abend gegessen. Dafür hatte er ihnen, die sie ihm nichts zu sagen hatten, nicht den kleinsten Nachruf, ein ganzes Buch hinterlassen. Ein Buch voller Haikus, so sinnlos sie teils auch sein mochten. Dieser fünfhundert Seiten dicke orangene Block erzählte dreiundzwanzig Jahre seines Lebens, nicht nur in Worten, auch in Schweigen, denn jedes Haiku war mit einem Datum versehen und es gab Monate, in denen ihm nichts eingefallen war. Erst kurz nachdem Takashi gekommen war, fing er an, wirklich häufig zu schreiben. Erst wöchentlich, dann irgendwann täglich, sogar mehrmals täglich. Schlaffe Hände blätterten ziellos durch den Block, da fiel ihm ein ungewöhnlich direktes Haiku auf, das keinerlei Metaphern zu verwenden und explizit an Takashi gerichtet schien: Der traurige Clown, Die Augen röter wie der Mund, Ach, es zerreißt mir das Herz. Auch Takashis Herz schmerzte. Nicht vor Selbstmitleid. Schon damals hatte der alte Hige ihn also bemerkt, schon damals hatte er gesehen, wie es in Takashis Innerem Aussah. Er biss die Zähne zusammen, unterdrückte die Tränen, als er den Block an seine Brust drückte. Wie hatte er das Kokain und die daraus entstandene Prostitution gehasst, immer wieder sich selbst und jeden einzelnen „Freier“ verflucht. Doch so absurd es ihm auch vorkam, dafür, dass er so dazu kam, diesem guten Menschen ein wenig Gesellschaft leisten und ihm „die Sonne“ in die Zelle scheinen lassen zu können, war er irgendwie fast dankbar. Er blätterte noch ein wenig in dem Block vor und zurück, bis ihm eine am Pappboden des Blöckchens festgeklebte Seite auffiel. Ganz schwach konnte Takashi auf der Rückseite normale, nicht Haiku-formatierte Schrift feststellen, größtenteils sogar Hiragana. Vorsichtig versuchte er, die Seite zu lösen. Irgendwann verlor er die Geduld. Seine abgekauten Nägel waren hierfür einfach nicht geschaffen. Er riss die Seite einfach an der Leimung heraus. Und wieder zog sich in ihm alles zusammen, denn wieder schienen sich Opa Higes Worte an ihn zu richten. „Takashi, Junge, hör mir zu. Wenn du diesen Brief findest, heißt das wohl, dass ich nicht mehr hier sein kann um ihn dir selbst vorzulesen. Um dir gleich eine Frage zu beantworten, die ich dir von den Augen ablesen konnte: ich habe meine Schwägerin nicht getötet. Mein Enkelsohn, an den du mich nur vom Alter und der fürchterlichen Frisur her erinnerst, muss es getan haben, denn er schob alles mit viel Gebrüll und Hysterie auf mich. Es war so erbärmlich, ihn so zu erleben, dass ich ihn nie wieder sehen wollte und hier, im Gefängnis, bin ich wohl am weitesten von ihm getrennt. Aber genug davon. Du bist der Enkelsohn, den ich in dem anderen undankbaren Balg nie hatte und dank dir, konnte ich mich wenigstens für kurze Zeit wie ein echter „Opa“ fühlen, der seinen Enkel mit seinem schrulligen Geschwätz langweilt, ihm Geschichten erzählt und ihm auch mal was hinter die Löffel gibt. Du musst in einem sehr liebevollen (wenn auch etwas verschrobenem) Umfeld aufgewachsen sein, du bist ein guter Junge und es ist mir unbegreiflich, wie du hier landen konntest. Versprich mir: befreie dich von diesen schrecklichen Drogen. Du siehst aus wie ein Dickschädel, du kannst, wenn du nur willst! Ich will in Frieden ruhen und mir keine Sorgen um dich machen müssen. Und ich bin ein geduldiger Mensch, ich will lange, sehr lange, auf dich warten. Mindestens noch einmal fünfundsechzig Jahre! Und jetzt, genug geschwallt. Ich weiß ja, du kannst nicht stillsitzen, brauchst Aufregung. Vielleicht interessiert dich das: dieses Gefängnis hat ein Rauchmeldesystem, das mindestens so alt sein muss, wie ich. Ist dir aufgefallen, dass die Wärter hier nicht rauchen? Auch die Küche scheint in einem anderen Gebäude oder einem Anbau zu sein. Vor fünfzehn Jahren hat sich hier mal ein Wärter eine Zigarette angesteckt und schon gingen die Sirenen los. Weil wir hier doch noch einen ganz kleinen Schritt von den deutschen KZs entfernt sind, will man uns nun aber nicht verbrennen oder ersticken lassen, also öffnet sich nach 120 Sekunden Feueralarm automatisch alles. Die Zellen, der Haupteingang; nur das Tor bleibt zu. Aber du siehst ganz sportlich aus und wenn du vom Kokain wegkommst, kommst du bestimmt wieder in Form und müsstest problemlos über den Zaun kommen. Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist ein Feuerchen, aber dir fällt bestimmt was ein. Tja, ich kenne dieses Gefängnis so gut wie meine Westentasche, immerhin hatte ich viel Zeit, die ich irgendwie rumkriegen musste. Beobachten, das macht Spaß und inspiriert. Hohoho... Und jetzt sieh zu, dass du diesen Brief verschwinden lässt und dich in Brandstiftung übst. Nüchtern. Mach’s gut, Junge Eikichi Nishijima, dein Opa Hige PS Der junge Polizist verdient eine neue Chance.“ Eine Träne kullerte seine Nase entlang und tropfte von der Nasenspitze auf den Betonboden, über dem er, wie ein Futon in der Mitte gefaltet, kniete und den Brief mit Händen und Zähnen festhielt, als hinge sein Leben daran. Das tat es auch in gewissermaßen und er dankte Opa Hige von ganzem Herzen für diesen neuen Lebensmut. Es war fast fünf und Yamai musste jeden Moment mit der Arbeit im Wäschelager fertig werden. Takashi hatte schon einen Plan, wie er an Feuer kommen konnte. Ein Streichholz genügte, denn es gab durchaus beheizte Räume im Gefängnis und wo eine Heizung war, da war auch Gas... Kapitel 19: Große Pläne ----------------------- „Yamai-chan!“ Yamai blickte verdutzt auf, als er, mit der Arbeit fertig, hereinkam. Was war das für ein beängstigend warmer Empfang? Dass er das noch erleben durfte! Doch dann kam er ins Stutzen: wie konnte Takashi schon wieder high sein? Oder immer noch? Nein, das war zu lang, er hatte seit gestern abend nichts bekommen. Er musste nüchtern sein. Und trotzdem so... fröhlich? Er schien ganz der Alte, wie er da auf allen Vieren auf dem Futon kniete und Yamai verschmitzt anlächelte. Yamai ging schon mal in Abwehrpose, denn normalerweise hatte Takashi einst so gelächelt, wenn kurz darauf die Fäuste flogen. Er ließ den Jungen nicht aus den Augen, als der aufstand und auf ihn zukam. „Yamai-chaaaan“, quakte er, schlang seine Arme um Yamais Hals und zog den Rest seines Körpers an ihm hoch, um Yamais Hüfte mit den Beinen zu umklammern. „Wa... was..?“, stammelte Yamai verunsichert, als er sich nach hinten beugte, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. „Yamai-chan, der wievielte ist heute?“ „Hä? Was weiß ich, der zwanzigste September oder so...“ „Stimmt, ich hatte ja erst im April Geburtstag... schenkst du mir trotzdem was?“ „Was willst du?“, fragte Yamai skeptisch, doch Takashi war drauf und dran, ihm den Kopf zu verdrehen, wie er seinen Unterleib an Yamais Bauch rieb. „Ich will keinen Schnee mehr“, flüsterte Takashi Yamai ins Ohr, „Du kannst mich auch so haben, ich will dafür nur ein paar Streichhölzer oder ein Feuerzeug dafür.“ „Hä??“ „Aber Yamai-chan, was ist denn daran so schwer?“ Um sein Anliegen zu verdeutlichen, warf Takashi sich, noch immer an Yamai geklammert, zur Seite und brachte ihn so zu Fall. Noch ehe Yamai aufstehen konnte, setzte Takashi sich frech auf seinen Schritt und beugte sich zu ihm herunter. Als seine Lippen Yamais berührten, flüsterte er ihm sein Anliegen noch einmal feucht und überdeutlich direkt in den Mund: „Von vorne, von hinten, oral, Plural, morgens, mittags, abends, und ganz, ohne mit diesem widerwärtigen Hebi teilen zu müssen. Für ein Feu. Er. Zeug. Das kannst du doch, oder? Stell dir vor, der King, dein williger Sklave, ganz ohne Drogen, gib’s zu, seit Jahren willst du nichts anderes.“ Da war was dran und Yamai grinste so breit, dass seine gesprungenen Lippen einrissen. Takashi kümmerte sich sofort darum, indem er das Blut aufleckte und sich drauf und dran machte, Yamais Oberkörper zu massieren. Es dauerte nicht lange, bis Yamai die passive Haltung satt war und sich wie eine Python um Takashi schlang, bis der sich von seiner Kraft allmählich erdrückt fühlte. Aber das machte nichts, solange Yamai nur seinen Teil der Abmachung erfüllte. Wenig später, nein, viel später, lag Takashi mit einem hinterhältig-zufriedenem Grinsen in Yamais Armen; dass ihm hinten alles schmerzte und vorne alles klebte, war halb so schlimm. Ihm war zwar kotzübel, doch falls er Yamai halt auf die Brust speien sollte, würde der ihm sicher verzeihen. Yamai war dumm und Dummheit war eine unheilbare Krankheit. Er konnte sich noch so selbstbewusst dranstellen, sich noch so viele Muskeln antrainieren, worin auch immer er Takashi überlegen sein mochte, was die Intelligenz betraf, so lachte Takashi auch weiterhin von oben auf ihn herab – wenn er dazu in der Verfassung war. Während er den salzig-schäbigen Geschmack immer wieder mit viel Spucke schluckte, überlegte Takashi, ob er Yamai nicht einfach seine Pläne offenbaren sollte, um seine Motivation, ihm Feuer zu besorgen, anzuspornen. Schließlich wäre das auch in seinem Interesse. Andererseits – was, wenn Yamai den Plan dann allein ausführen und Takashi zurücklassen würde? Auch das wäre in seinem Interesse, nicht aber in Takashis. „Yamai-chan“, krächzte Takashi müde, „Ich weiß, wen wir bitten können, uns das Feuerzeug oder die Hölzchen zu besorgen. Makoto würde das bestimmt machen, meinst du nicht?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Yamai zweifelnd, „Der ist doch nicht gerade zuverlässig, oder? Ich frag Kazanosuke, der besorgt auch das Koks.“ „Eben weil Makoto dumm ist, will ich ihn darum bitten. Außerdem is der Raucher und würde nicht auffallen, falls man ihn damit erwischen sollte. Kaza-chan arbeitet hier schon lange, der weiß, warum hier kein Feuer erlaubt ist. Vergiss den. Bitte den nur, Makoto herzubitten, mich nimmt der nicht ernst. Sag, er soll Makoto ausrichten, dass ich mich entschuldigen und mit ihm über mein Testament reden will, dann kommt er bestimmt.“ „Hm...“ „Machst du das?“ Mit einer Schnute, wie sie entzückender kaum sein konnte, zog Takashi einen Finger über Yamais Wange. „Bitte, bitte“ auf Schlampensprache. Makoto kam. Aufgrund des Wortes „Testament“ sogar ganz ohne Extraeinladung. Diesmal wurde er schon direkt hinter der Panzerglastür von Takashi empfangen, denn der hatte mal wieder „Freigang“ – oder war es „Freiergang“?. „Mako-chaaaan!“, quakte er, rannte auf den erschrockenen Makoto zu und bremste nur ganz kurz vor ihm. Mit zwei hocherhobenen Primo-Zeichen und einem verlegenen Lächeln. „Takashi“, staunte Makoto, „Du siehst viel besser aus als letztes Mal.“ „Letztes Mal“, juchzte Takashi fröhlich, „Da war ich nicht ganz klar. Aber jetzt is wieder alles paletti, was treibt Bukuro?“ „Öh... wie immer... obwohl, Takashi, wegen Kyo...“ „Ich hab mich blöd benommen, Mako-chan“, unterbrach Takashi ihn, ohne sich für Makotos Anliegen zu interessieren. „Kannst du mir noch mal verzeihen? Soll doch nicht im Streit enden.“ Enden... Makoto grinste verlegen und rieb sich den Nacken. Natürlich verzieh er ihm, so wie er auf die Dauer jedem alles verzieh. Umso verdatterter blickte er drein, als Takashi das sofort als einen Freibrief wertete, Ansprüche zu stellen. Typisch Takashi, ganz der Alte! Lästig... „Feuer? Bist du vom Koks auf Crack umgestiegen, oder was?“ „Nein, nein“, lachte Takashi, „Aber weißt du, Ben-chan, der Neger der aussieht wie ich, der hat totale Entzugsprobleme und es würde ihm wirklich helfen, wenn du ihm ein paar Zigaretten und ein Feuerzeug besorgen könntest. Über mich, dir vertraut er vielleicht nicht. Ben-chan ist ein Angsthase, weißt du? Aber bring’s heimlich mit, Rauchen ist hier verboten!“ Was interessierte Makoto dieser Ben-chan? Auch das Interesse an Ben-chan interessierte Makoto nicht und wenn es Takashi so wichtig war, war das wohl nicht zu viel verlangt. „Na, Takashi“, begann Makoto zögerlich, „Wolltest du mit mir nicht über dein... dein... dein Testament..?“ „Testament?“, prustete Takashi, als hätte er soeben einen wirklich guten Witz gehört, „Nö, was redest du denn da?“ „Ääh? Aber dieser Wärter, der mich angerufen hat, meinte doch, dass du darüber..?“ „Ach so, stimmt! Na ja, ich dachte, das wäre der sicherste Weg, dich hierher zu kriegen!“ „Du bist so ein Arschloch, Takashi... Weißte, schon am frühen Morgen deprimier ich total deswegen und dann war das nur ein Scherz?“ „Mako-chan, du deprimierst wegen mir?“ „Schon immer.“ „Mako-chan, du bist so süß!“, lachte Takashi und der ihm von Yamai eingeflößte Hass schien vergessen. Erst recht, als er Makotos Antwort hörte. „Du auch“, lachte der und rieb sich verlegen die Nase. „Noch mal?“, blinzelte Takashi etwas perplex. „Nein, ich meine, wenn dir die Haare so vor die Augen hängen...“ „Hmm...“ Makoto wurde unbehaglich. Musste Takashi immer auf allem herumreiten, was er gern schnell abhaken würde? Doch wie lästig Takashi auch schon wieder sein mochte, Makoto konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Ein bisschen grob drehte er Takashi vom Eingang weg und ging mit ihm in seine Zelle. Yamai war gerade wieder hinausgeschickt worden. „Geständnisse einer Maske?“ „Ach das“, meinte Takashi, als Makoto das Buch entdeckte, das Opa Hige ihm hinterlassen hatte, „Da geht’s um einen Typ, der sich nicht traut, aus sich herauszugehen, weiß aber nich, was ich damit anfangen soll...“ „Hmm, ich glaub schon“, murmelte Makoto, als er den Klappentext überflog. „Ach übrigens, ich hab was für dich.“ „Feuer!“ „Nein“, schnaubte Makoto beleidigt. Wollte denn niemand glauben, dass er auch unaufgefordert nett sein konnte? „Da.“ Makoto zog etwas aus seiner Hose – nicht etwa aus der Hosentasche – doch es war, Gott sei Dank, keine Mayonnaise. Das kleine Tütchen mit dem bräunlichen Inhalt flog Takashi an die Stirn und Takashi betrachtete es skeptisch. „Mako-chan“, seufzte er, „Du kannst’s kaum erwarten, mich einen jämmerlichen Junkietod sterben zu sehen, ne? Reicht das Koks nicht, dass du mir jetzt Heroin bringst?“ „Idiot“, fuhr Makoto ihn an, „Riech mal dran! Ich dachte, der nackte Reis is nicht grad berauschend für einen Keksefresser wie dich.“ „Riecht nach Weihnachten“, quakte Takashi melancholisch, als er sich die Zimt- und Zuckermischung, an der er etwas zu stark gerochen hatte, von der Nase rieb. War es der Reiz, den das Zimt auslöste, dass seine Augen plötzlich so feucht waren? „Du, hör mal, Takashi“, meinte Makoto ernst und nahm Takashi das Tütchen, mit dem er nur noch zu spielen schien, weg und steckte es ihm in die Hemdentasche, aus der er ein anderes Tütchen sofort unbemerkt herauszog und konfiszierte. „Ich weiß nicht, was alles passiert ist, aber lass dich nicht verarschen.“ „Meinst du Yamai-chan?“ „Unter anderem. Ich weiß nicht, was du mit dem Feuer vorhast, aber dieser Ben-chan is doch ne Lüge, oder? Ich meine, hier herrscht absolutes Rauchverbot.“ „Kannst du mich hier rausholen?“ „....“ “Eben.“ Makoto wusste zwar nicht, was genau Takashi mit dem Feuerzeug vorhatte, aber hatte er das Recht, ihn zu stoppen? „Mann! Wart, bis zum Essen!“ „Mh?“ Genervt pflückte Makoto Takashis Finger aus dessen Mund. Er musste den ganzen süßen Mist ja sehr vermisst haben. Hoffentlich gab es hier einen guten Zahnarzt. Aber vielleicht lenkte ihn das wenigstens von den Drogen ab. Makoto kannte sich nicht aus, aber jemand wie Takashi, der schnell das Interesse an den Dingen verlor und etwas Neues suchte, würde sich wohl entweder ganz davon befreien oder tiefer versumpfen. Grinsend stand er vor Takashi, noch immer mit seinem Finger in der Hand. Die Situation wurde immer alberner, wie sie da standen. „Mako-chan, weißt du“, sagte Takashi plötzlich sehr nachdenklich, „Ich muss mich für so vieles entschuldigen, dass ich nich weiß, wo ich anfangen soll.“ „Dann lass es.“ „Yamai-chan hat mir alles mögliche eingeredet, und weißt du, er kann ja eigentlich sagen, was er will.“ „Kann er.“ „Aber dass ich ihm geglaubt hab, is ganz allein meine Schuld...“ „Was geglaubt?“ „Sachen, die er über dich gesagt hat. Weißt du, wenn ich dich nicht kennen würde, wär ich vielleicht sogar von selbst auf manches davon gekommen.“ „Zum Beispiel?“ „Dass du mich... dass du mich gern verhaftet hast, dass du...“ Makoto merkte, wie Takashi die Worte nur mühselig an einem Kloß im Hals vorbeibekam und unterbrach ihn. „Du Idiot“, lachte er, „Du warst doch sicher wieder high, als der dir die ganze Scheiße eingeredet hat. Takashi sah ein, dass Makoto keine Entschuldigungen, nur anderes Verhalten, wollte und gab es auf. „Setz dich doch.“ „Nicht auf Yamais Futon, mach Platz. Was haben die hier eigentlich Futons auf Betonböden? Futons gehören auf Tatamis, Mann...“ Beide grinsten verlegen vor sich hin, wie sie da saßen und ratlos auf den Boden glotzten. Makoto rieb sich die Nase, Takashi kratzte sich am Kopf, wie in alten Zeiten, wenn beide etwas Unangenehmes zu sagen hatten. „Du hast vorhin irgendwas von Kyoichi gesagt?“ „Hä? Ach so... ja... nein... ähm, das is wahrscheinlich reine Spinnerei, aber angeblich haben den schon einige tanzen sehen.“ „Vor oder nach seinem Ableben?“ „Nach.“ „Bukuro sieht Gespenster. Und mich, hat mich jemand gesehen?“ „Nein.“ „Dabei war ich viel berühmter“, quengelte Takashi eingeschnappt und grinste. „Du hast dich nicht zufällig sehr zurückgehalten?“ „Nee, aber so ganz fertig war ich mit ihm auch nicht, als du dazwischengegangen bist.“ „Hä?“ „War mir in dem Moment egal, ob der schon abgenippelt war oder nicht, ich wollte erst seinen Schädel brechen hören.“ „Hast du irgendwas brechen hören?“ „Nicht wirklich, aber was soll die Fragerei?“ „Nichts“, stöhnte Makoto und lehnte sich an die Wand. Ihm war plötzlich ganz komisch zumute. Falls Kyoichi tatsächlich am Leben sein sollte, würde er ihn eigenhändig umbringen, so viel stand fest. Na ja, nicht wirklich. Irgendwann hielt Makoto es nicht mehr aus, wort- und tatenlos neben Takashi zu sitzen und mehr an Kyoichi zu denken, als an das zerzauste Etwas neben ihm, das schon wieder mit dem Finger in die Hemdentasche wanderte. Mit der eindringlichen, von einer Umarmung betonten Bitte, sich wieder zusammenzureißen, verabschiedete Makoto sich und versprach ihm, ihm dieser Tage das Feuer zu besorgen. „Was machst du heute Abend noch?“, fragte Takashi neugierig und Makoto, ohne sich umzudrehen, antwortete: „Ich geh zu einer Ballettaufführung.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)