Der Bulle und der König von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Der Gürtel der Wahrheit ---------------------------------- Sechs Uhr. Noch anderthalb Stunden bis man offiziell das Recht hatte, die Augen zu öffnen und etwas anderes als die Decke zu sehen. Nicht, dass Takashi nicht schon die ganze Nacht damit verbracht hätte, alle menschenmöglichen Haltungen einzunehmen, aber nach einer schlaflosen, von Angst geplagten Nacht gleich wieder auf Befehl pinkeln zu müssen, war grausam. Doch das war längst nicht alles, worauf Takashi sich „freute“, während er äußerlich starr, jedoch innerlich völlig aufgewühlt, an die noch immer tiefschwarze Wand starrte. Er „freute“ sich auch darauf, dass er erst gestern geduscht hatte und für Neulinge im „Eingewöhnungsprozess“ nur alle zehn Tage Waschtag war. Nicht, dass er schon wieder aus allen Poren triefte, aber noch neun Tage warten..? Und wie lange wollten sie ihn noch in Einzelhaft halten? Irgendeine Gesellschaft würde er doch irgendwann bekommen? Wer es sein würde, war gar nicht so wichtig. Dies brachte ihn auf einen ganz anderen Gedanken. Ob Yamai wohl auch hier einsaß? Gequält kniff Takashi die Augen zu und warf sich auf die Seite, als plötzlich das Licht angeschaltet wurde. Der Lichtschalter war draußen angebracht, damit die Insassen nicht selbst entscheiden konnten, wann sie Licht wollten und wann nicht. Durch das kleine Fester in der Eisentür erschien ein Auge, das erst forschend, dann nur noch forsch, in seine Zelle lugte und im nächsten Augenblick flog die Tür auf und zwei Wärter packten ihn am Schlafittchen und rissen ihn aus den Federn, obwohl es gerade erst halb sieben war. Mangels Schlaf schon wieder – oder noch immer – hellwach, sah Takashi sie etwas zu direkt an und bekam dafür sofort eine schallende Backpfeife. In Takashi zog sich alles zusammen. Schon am frühen Morgen geschlagen zu werden, ohne zu wissen, wofür, das hasste er. Gegen Mittag war das was anderes, aber vor zehn durfte man das nicht. Sein Vater hatte ihn zwar auch regelmäßig verprügelt, ob im Bett, bei Tisch oder in der Badewanne, ob mit einem Schuh oder der flachen Hand, aber bei dem wusste Takashi zumindest halbwegs, warum und dass der Mann es – irgendwo, irgendwie – doch aus Liebe zu ihm tat. Hart aber herzlich, so waren sie in Familie Andoh angeblich schon seit Generationen. Hier war alles hart, aber keineswegs herzlich. Einer der beiden Männer drückte Takashi an die Wand, während der andere die winzige Zelle ausräumte, als gäbe es noch viel auszuräumen. Ungerührt sah er seinen einzigen persönlichen Gegenstand – sein Unterhemd – zur Tür raus segeln. Die Kette hatte Makoto ihm bereits bei seiner Verhaftung abgenommen, damit er damit keinen Mist machte, denn sogar Takashi konnte in Extremsituationen auf dumme Gedanken kommen. Gedanken – daran hatte er eine ganze Nacht verschwendet und jetzt war sein Kopf so leer wie die Zelle, an deren Wand er stand. Jetzt bemerkte er auch andere Dinge. Ein seltsames Gefühl von Hunger und Müdigkeit machten sich in ihm breit und ihm wurde schlecht. Sein Kopf wurde immer leichter, bis er schließlich den Rest seines schmächtigen Oberkörpers mit sich hinunter und gegen die Wand riss. Mit letzter Kraft versuchte er, seine schweren Augenlieder offen zu halten und begann sogar zu hoffen, noch eine gescheuert zu kriegen um wach zu bleiben. „Tschul’gung..?“ Moment, wozu machte er überhaupt den Mund auf? Plötzlich, ganz ungewollt, erwischte er sich dabei, wie er doch tatsächlich um eine zweite Ohrfeige bitten wollte und machte den Mund schnell wieder zu. „Was?“ fuhr einer der Wärter ihn an, während er draußen das Futon faltete und feinsäuberlich zwischen den Beinen des kopfstehenden Tisches verstaute. „Äh...“ Wirklich, was? „Äh... zieh ich um oder so?“ „Du,“ lachte der Mann, der ihn noch immer gegen die Wand drückte, „Du bleibst hier! Wir dachten nur, so nervös wie du die letzte Nacht rumgezappelt hast, könntest du ein bisschen Ruhe gebrauchen. Leere Räume sind da genau richtig!“ „Das passiert eben, wenn man sich nicht benehmen kann. Du hast doch ein Regelheft gekriegt, tja, hättest das mal gelesen,“ kam es sarkastisch vom Flur, wo seine „Decke“, ein armes, vergilbtes, nach Schweiß stinkendes Stück Stoff, in einem Knäuel auf dem Futon landete. Regelheft? So viel musste aus seiner Zelle gar nicht entfernt werden, als dass Takashi etwas hätte übersehen können. Sicher hätte er es gelesen, wenn er denn eines bekommen hätte. Nicht aus Interesse, sondern um sich zu beschäftigen. Was konnten das wohl für Regeln sein? Er beschloss, die Wärter direkt zu fragen und tat somit wieder etwas, das er sich hätte sparen können. „Ich will’s mal so sagen,“ erklärte ihm einer der beiden, „Die nächsten drei Monate wirst du nicht viel falsch machen können.“ Mit diesen Worten zwangen sie ihn mitten in der Zelle in die Knie und mit einem Klaps auf den Hinterkopf, fügte einer der beiden noch hinzu: „Jedes Mal, wenn wir reinkommen und dir eine schlagen, hast du ne Regel gebrochen. Ich glaube, auf diese Weise lernen Typen wie du leichter.“ Mit seiner typischen Engelsgeduld ließ Takashi sich in die richtige Haltung schlagen, treten, stoßen, reißen und schütteln, bis er schlussendlich mit dem Gesicht zur Tür auf dem Boden kniete. Er wartete noch darauf, irgendwann noch ganz andere Körperteile zu spüren zu kriegen, denn so oft wie während seinem noch relativ kurzem Gefängnisaufenthalt, wurde er noch nie grundlos geschlagen. Wenn sie so etwas taten, taten sie bei Zeiten bestimmt noch ganz andere Dinge. Irgendwie vergaß er, zu blinzeln und vor seinen Augen verschwamm alles. War es der Hunger? War es die Erschöpfung? Oder die Angst vor dem, was noch bevorstand, von der die beiden Wärter ihn bis vor wenigen Sekunden noch abgelenkt hatten? Einer der beiden Wachen zog einen Schraubenzieher und entfernte die Metallplatte, die Takashi vorher schon verdächtig vorgekommen war. Es handelte sich um eine etwa zehn mal zehn Zentimeter große Platte, die über der Tür einfach sinnlos an die wand geschraubt schien. Als besagtes Stück Metall nur knapp neben ihm scheppernd zu Boden fiel, starrte Takashi in ein einzelnes rotes Auge, das ein paar Mal aufleuchtete und dann grün wurde – das Zeichen, dass die Überwachungskamera nun betriebsbereit war. „Wir sehen, was du treibst. Wenn du dich auch nur einen Millimeter von der Stelle bewegst, Freundchen...“ „Du solltest uns dankbar sein! So können wir dir helfen, die Regeln einzuhalten,“ grinste der andere und fügte etwas leiser hinzu: „Und wir können auch nicht mehr alles mit dir machen. Hast du ein Glück, dass wir unsere Befehle ausführen müssen.“ Was auch immer er damit meinen mochte. Die Eisentür schloss sich, das Licht ging aus und er war wieder allein. Für wie lange, drei Monate? Dabei merkte er doch schon nach kaum zehn Minuten, warum diese starre Sitzhaltung als Strafe betrachtet wurde. Seine Kniekehlen verkrampften sich, es tat weh, aber die Kamera ließ ihn nicht aus den Augen. Was wohl mehr wehtat, den Krampf auszusitzen oder ihn zu lösen und dafür einen Tritt zu kassieren? Seine Augen wurden immer schwerer und drohten, jeden Moment zuzufallen. Aber würde es auffallen? Takashi konnte durchaus im Sitzen schlafen! Je nach dem, was man ihm erzählte, auch im Stehen! Schlafen... Kaum eine Minute später lag er da. Gegen Mittag wachte er wieder auf und seine Augen bewegten sich langsam hin und her, als wollte er die Umgebung inspizieren: er lag überraschend weich, der Raum war hell und keineswegs so muffig und stickig wie die Zelle und seine Rückenschmerzen von all den ungewohnten Haltungen waren längst nicht mehr so schlimm, wie als er das letzte Mal wach war. Das musste es sein, man hatte ihn hingerichtet! Er war im Himmel! „Mama?“ Die hätte er jetzt eigentlich treffen müssen. Seine Hand tastete die Luft um sich herum ab und eine andere, größere Hand, fing sie. Irgendetwas an seinem Handrücken stach ihn. „Sorry, dass ich nicht deine Alte bin,“ nuschelte ihn eine vertraute Stimme von der Seite an. Neben ihm stand nicht seine Mutter, sondern jemand, der sich ganz ähnlich um ihn kümmern „durfte“. Makoto. „Du bist ja Mako-chan,“ quakte Takashi leise, halb enttäuscht, halb überrascht und vor allem erschöpft. „Bist du etwa auch tot?“ „Hä??“ Makoto sah ihn einigermaßen blöd an und fühlte seine Stirn. Fieber hatte er keins. Das waren dann wohl typische Takashi-Blödeleien, die er da von sich gab. „Alter, du liegst auf der Krankenstation, bist zusammengeklappt. Wie lange haben die dich schon fasten lassen?“ „Ach so,“ seufzte Takashi, der nun doch nicht erfahren sollte, wie es im Himmel so war, „Weiß nicht... drei, vier Tage vielleicht?“ Makoto traute seinen Ohren nicht. Vier Tage? Hatte Takashi also bereits gehungert, als er ihn das letzte Mal besucht hatte? „Warum hast du nix gesagt, du Idiot?“ Takashi zog eine Schnute und spielte die beleidigte Leberwurst. Man sah seinen Augen an, dass er innerlich grinste. „Ja, aber weil doch...“ „Weil was?“ blökte Makoto ungeduldig zurück. „Na ja, du warst plötzlich da und da war ich abgelenkt...“ Makoto verdrehte entnervt die Augen. Er hasste kleine Kinder, warum musste ausgerechnet sein engster Freund sich ständig wie eines benehmen? „Erzähl mir nicht, ich hab dich von drei Tagen fasten abgelenkt, verarschen kann ich mich selber!“ Takashi warf sich plump auf die Seite und drehte Makoto einen knochigen Rücken zu. „Aber wenn’s halt so is...“ Auch Makoto wandte sich vom Bett ab und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Sein Mund schob sich von einer Seite seines Gesichts zur anderen, als kaute er auf ein paar Worten, ehe er sie aussprach. Takashi wiederum, fummelte in alter Gewohnheit an seinen Lippen, als überlege er noch, sich den Daumen in den Mund zu schieben. Während die Finger seiner linken Hand noch immer mit seinen Lippen spielten, schlich sich seine Rechte langsam von hinten an Makoto heran, griff seinen Gürtel und ruckte ein paar mal daran. „Du, Mako--au!“ Jetzt musste er sich doch wieder zu Makoto und damit seiner rechten Hand umdrehen, von der er einen fiesen Schmerz spürte. „Merkst’ das jetzt erst?“ „Was is das..?“ Er war verkabelt. „Infusionen, damit du nicht sofort wieder einklappst.“ Takashi verzog das Gesicht. „Infu... iiih, nein, tu die raus! Ich hasse Spritzen!“ „He... hey, lass das!“ Makotos Hand triefte und Takashi erstickte fast an ihr. Nur so hatte er verhindern können, dass Takashi sich die Spritze und den Schlauch mit den Zähnen abmontierte, denn die steuerten geradewegs darauf zu. „Lass die Schwester machen. Und sowieso, lass los, du..!“ „Iff will niff...“ „Dann mach doch grad, was du willst,“ schnaufte Makoto und wandte schon mal seinen Blick von seiner in Takashis Schlund gefangenen Hand ab. Doch kaum guckte er weg, ließ Takashi auch schon los und sein Mund verabschiedete sich mit einem frechen Kuss von Makotos nassen Hand. Stattdessen klammerte sich jetzt die verkabelte, zittrige Hand erneut an Makotos Gürtel. Makoto sah ihn fragend an. Was sollte er nur mit diesem Kerl anfangen, der scheinbar immer dann, wenn er etwas Wichtiges zu sagen zu haben schien, albern wurde? Der ihm so nahe kam, wie kein anderer und dabei noch so treudoof dreinschaute? „Mako-chan, was hast du heute noch so alles vor?“ „Hö?“ Grummelnd wischte er seine Hand an Takashis Matratze ab. „Hmm... nach hause fahren, essen, pissen, schlafengehen.“ „Praktisch,“ murmelte Takashi müde, während er seinen Kopf noch tiefer ins Kissen zu schmiegen versuchte, „Kannst du alles hier machen. Außer nach hause fahren.“ Makoto schluckte einen Seufzer. Da waren sie wieder, Takashis lästigen Ansprüche. An sich war es ja kein Problem, dies alles hier zu tun, als Polizist konnte er bleiben, solange er wollte. Aber warum wurde Takashi wieder so... so... „Sag mal, Takashi, warum bist du eigentlich immer so... so...“ „So..?“ „Na ja, so eben. So wie jetzt. So.“ „Dein Gürtel fühlt sich halt gut an, ist das ein Verbrechen?“ Diesen Gürtel, so schwor sich Makoto, würde Takashi bald noch intensiver zu spüren bekommen, wenn er sich nicht bald auskotzte. „Seit wie viel, fünfzehn? Seit fünfzehn Jahren kennen wir uns jetzt schon, aber ich mein manchmal immer noch, du sprichst nicht nur mit Jessie Russisch!“ „Wir sprechen kein Russisch miteinander.“ „Aber mit mir oder was!?“ fuhr Makoto ihn an und wirbelte herum um ihn anzublitzen, wobei Takashis Hand eher grob von seinem Gürtel gerissen wurde. „Was willst du, Takashi, was?! Und weißte, das is nicht erst hier, dass du so komisch bist, du bist immer so, wenn wir allein sind!“ „Mako-chan is doof,“ nuschelte Takashi mit geschlossenen Augen in sein Kissen. „Für das, was du bisher geleistet hast, bist du wirklich ziemlich doof. Aber wofür hast du mich und alle anderen, die für dich mitdenken.“ Makoto war kurz davor, auf den Gürtel zurückzukommen. Takashi hatte recht, er war so dumm wie ein Fass Öl, nein, dümmer noch, wie eine Türklinke! Aber eben deshalb flehte er Takashi doch gerade an, es ihm schön idiotensicher zu erklären! „Setz dich doch,“ bat Takashi plötzlich an und rutschte ein Stück zur Seite. Makoto stöhnte und setzte sich in der Hoffnung, dass Takashi nun endlich den Mund aufmachen würde. „So, ich sitze.“ „Seh ich auch so. Was machst du da mit der Gürtelschnalle?“ „Ich überlege nur, ob ich ihn nicht ausziehen und dich damit verprügeln soll. Hey.. hey, was zum..?“ Vorsichtig, um sich die Infusion nicht endgültig aus der Ader zu reißen, drehte Takashi sich auf den Bauch und atmete tief durch. „Bitte sehr.“ „Häää?“ „Wenn Mako-chan es so machen will, dann bitte.“ „Wenn ich... hä? Das mit dem Gürtel, also, das war’n Scherz, äh... wenn ich was so machen will??“ Takashis Zeigefinger zupfte an Makotos Gürtelschlaufe und das blonde Scheusal, die Augen noch immer zu, grinste verlegen. „Du,“ stammelte Makoto, gleichzeitig hochrot und kreidebleich, mit verkrampfter Miene, „Du... das... also das, ja, das, also, das is’n Missverständnis!“ „Du kapierst ja doch noch was. Bist doch gar nicht so doof, Mako-chan.“ Das war zu viel für Makotos zartes Gemüt. Sein gutgläubiges Ich brüllte: das ist ein Witz! Der verarscht dich nur wieder! Wie in der Sauna, wo er dich ab und zu angrabscht, wie im Minibus, als er dir plötzlich durch die Haare fuhr, wie bei jeder Streitigkeit, wo er so furchtbar verletzlich auf dich reagiert und wie bei jeder Begegnung, bei der er dich anstrahlt wie Atommüll! Alles nur Verarsche. Kein Zweifel. Dass es sich dabei meistens um ernste Gelegenheiten handelte, bei denen sie beide auch zufällig so ziemlich allein waren, war Nebensache. Nebensache, absolute Nebensache. Makoto wusste nicht, ob er das glauben oder besser verdrängen sollte. „Takashi...“ „Scherz.“ „Hä?“ „War ein Scherz.“ „Du Arschloch...!“ „Das mit dem Gürtel. Bitte nicht damit hauen.“ Allmählich fand sich Makoto mit zuckender Nase damit ab, dass es doch nicht alles „Verarsche“ war, während Takashis Hand sich seine schnappte und Takashi sein Gesicht an sie schmiegte und einschlief. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)