Mondscheinkinder von MangaEngel ================================================================================ Kapitel 1: Der Neue ------------------- Fakten aus dem Bericht der Fact Online zum Thema Mondscheinkinder Sie leben tagsüber hinter verdunkelten Fenstern, sie dürfen nur nachts ins Freie – denn Tageslicht bringt ihnen den Tod. Sie leiden an Xeroderma pigmentosum, einer seltenen, unheilbaren Hautkrankheit. Eine Geschichte von Kindern, die nie die Sonne sehen. Für die meisten Menschen bedeutet Sonne Freude und Leben. Diesen Kindern bringt sie den langsamen Tod. Sie leiden an Xeroderma pigmentosum (XP), einer seltenen und unheilbaren Hautkrankheit. Ein Fehler im Erbgut der so genannten Mondscheinkinder unterdrückt die Produktion jenes Enzyms, das die von ultravioletten Sonnenstrahlen verursachten Hautschäden selbstständig repariert. Sekunden im Tageslicht genügen, um ihnen schwerste Verbrennungen zuzufügen. Je mehr Sonne auf ihre fragile Haut trifft, desto rascher wachsen maligne Melanome, bösartige Tumoren. Die Kinder der Nacht leben mit einem tausendmal höheren Krebsrisiko. Bei einigen befällt der Hautkrebs auch die Augen. Sie erblinden. Ein Fünftel der XP-Patienten verlieren im Kindsalter jegliche Kontrolle über den Körper; eine seltene Form des Leidens greift das Nervensystem an. Nicht einmal eines von einer Million Neugeborenen kommt als Mondscheinkind zur Welt. Weltweit sind rund 2000 Fälle registriert. Einer von fünfhundert Menschen kann den rezessiv übertragenen genetischen Fehler weitergeben, allerdings nur, wenn er mit einer XP-Trägerin ein Kind zeugt. Selbst dann ist bloss jedes vierte Kind krank. Am meisten XP-Fälle verzeichnet Japan. Jeder Vierzigtausendste erträgt im Reich der aufgehenden Sonne die Sonne nicht. Forscher erklären die hohe Rate mit der geringen ethnischen Durchmischung. Umfassend bekannt ist XP seit nunmehr 30 Jahren, im Detail beschrieben der Krankheitsverlauf. Forscher wissen, welches Enzym den Patienten fehlt. Da man XP nun oft früher erkennt und die Kinder im Dunkeln bleiben, erreichen immer mehr Kinder wie Reymond das Teenageralter, «falls sie sich nicht vorher das Leben nehmen», sagt XPS-Gründerin Caren Mahar. Denn wenn die Kinder grösser werden und sich fragen, ob sie je eine Freundin oder einen Job finden werden, verstärkt sich ihre Verzweiflung. Der Krebs verletzt nicht nur die Seele, er raubt XP-Patienten auch mit jeder Operation ein Stück ihres Gesichts. Oft werden sie stark entstellt. Viele trauen sich auch nachts nicht mehr unter Menschen. Bisher erfolglos blieb die Suche nach einer wirksamen Arznei. Man setzt auf Stammzellenforschung oder hofft, Viren als Träger des fehlenden Enzyms in den Körper der Patienten zu jagen. Doch für die Pharmaindustrie lohnt sich bei den wenigen Opfern der enorme Aufwand nicht, ein Heilmittel zu entwickeln. «Natürlich stehen Aids oder Diabetes weiter oben auf den Prioritätenlisten », sagt eine XP-Campleiterin, «aber erklären Sie das mal der Mutter einer XP-Patientin.» ----------------------------------------- Der Neue Schwarz getönte Scheiben, dicke Vorhänge an den Fenstern, keine einzige Lampe im Kabinenraum, ein Mensch in Winterkleidung. Fast wie ein Leichenwagen fuhr der Wagen unsere Einfahrt hinauf. Ich wusste, wer drin saß und ich war stolz, dass ich ihn bekommen hatte. Ein Mensch mit einer der seltensten und tödlichsten Krankheiten der Erde – ein Mondscheinkind. Bisher hatte ich nur flüchtig etwas über diese Menschen gehört, doch dachte ich, es sei dasselbe wie eine Lichtallergie. Aber als ich erfuhr, dass ER kommen würde... Ich war verblüfft und entsetzt, was ich über diese Menschen erfuhr, welche Qualen, nein... Was für ein Leben diese Menschen führen mussten und das nur aus purem Überlebenswillen. Menschen mit Lichtallergie können bei Bewölkung hinaus. Menschen mit Lichtallergie bekommen NUR Entzündungen. Menschen mit Lichtallergie können ab und zu den Himmel bei Tag sehen. Menschen mit Xeroderma pigmentosum nicht. Selbst bei bewölkten Himmel wäre ein Schritt nach draußen, ja schon ein Blick durchs Fenster lebensgefährlich. Schwerste Verbrennungen, krebsartige Wucherungen, unheilbare Narben, Gift in Form von Licht. Drei Monate habe ich gebraucht, bis ich nach dieser Aufklärung wirklich alle Vorbereitungen getroffen hatte, um ihn nicht nur ein paar Tage meinen Patienten nennen zu dürfen. Der Wagen fuhr an und wendete. Ich hatte extra einen tragbaren Tunnel aus UV-undurchlässigem Material anfertigen lassen, um ihn absolut sicher ins Gebäude zu bringen. Die Türe öffnete sich, doch den Jungen sah ich nicht. Ich sah nur eine Person, die bereit schien, in die Arktis auszuwandern, jedoch nicht eine Person, die sich auf den Weg in eine Klinik zu machen. Dicke Handschuhe aus braunem Leder an den Händen, einen Skioverall mit passenden Stiefeln, die Kapuze übers Gesicht gezogen. Dazu eine Art Sack über dem Kopf, ein Schal über Mund- und Nasenbereich sowie eine Skibrille mit getönten Gläsern. Bei dem Gedanken, dass es heute 33°C im Schatten waren, begann ich schon fast nur vom Ansehen einen Schweißfluss meinen Rücken hinablaufen zu spüren. Doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. „Willkommen im St. Christopher Medical Hospital, Kai. Ich hoffe, ich kann dir einen angenehmen Aufenthalt garantieren.“ sagte ich und setzte mein bestes Lächeln auf, wobei ich nichtmal sicher war, ob er das durch die Brille sehen konnte. „Geben sie mir ein Zimmer ohne Fenster und ich bin zufrieden“ kam es brummig aus dem Stoffhaufen, ehe er an mir vorbeilief und das Gebäude betrat. „Verzeihen sie seine Unhöflichkeit, Mrs. Shallway. Er ist 14 Stunden unterwegs gewesen, um von den Niederlanden bis hierher gebracht zu werden und daher sehr verstimmt.“ meinte der Chauffeur fast untertänig, doch ich fing mich schnell wieder, beruhigte den Fahrer und folgte meinem neuen Patienten. Dieser stand in der Eingangshalle und sah sich anscheinend um, zumindest bewegte sich der Kopf in verschiedene Richtungen. „Bunte Wände...Ist das hier ne Klinik für Kindergartenkinder?“ Es fiel wirklich auf, dass er anscheinend schlechte Laune hatte, an sich schade, ich hatte gehofft, direkt zu Beginn einen guten Eindruck von mir und der Klinik vermitteln zu können, doch dazu schien er wohl nicht empfänglich. „Komm bitte mit, ich zeige dir dann dein Zimmer.“ sagte ich zu ihm freundlich und nach einem letzten schweifenden Blick durch die menschenleere Empfangshalle folgte er mir in den Aufzug, den ich schon runtergerufen hatte. Im dritten Stock stiegen wir aus. Ich erwartete Überraschung seitens des Neulings, doch dieser gab sie, wenn, zumindest nicht preis. Unmengen an Geld hatte es mich und auch den Staat gekostet, dass diese Etage für ihn frei begänglich war. Alle Scheiben waren getönt und UV-undurchlässig, zudem waren lange, schwere Vorhänge an den Seiten, falls einer der anderen Patienten das Fenster öffnen wollte. Abgesprochen war alles, ein paar missgestimmte Kranke musste ich umstationieren, aber alle Patienten der Etage 3 hatten diesem Projekt zugestimmt. Schließlich standen wir vor seinem Zimmer. „Hier ist dein Zimmer.“ meinte ich nur, ehe ich die Türe öffnete und ihn hineinsehen ließ. Er betrat es und sah sich bedächtig um, doch vor allem das Fenster sah er mehrmals an, als fürchte er, es könnte plötzlich durchlässig für seinen Tod sein. „Nicht schlecht, größer und hübscher als mein letztes Zimmer“ murmelte und ich konnte raushören, dass seine Laune zumindest etwas angestiegen war. „Warum sind hier zwei Betten?“ meinte er plötzlich und drehte sich zu mir um und ich konnte mir fast vorstellen, dass er mich wohl vorwurfsvoll ansah. „Du teilst dir mit jemandem das Zimmer, wir bauen zurzeit an und daher sind Einzelzimmer auch doppelt belegt. Du kannst danach gerne ein eigenes Zimmer haben, bis dahin akzeptiere dies bitte.“ Er schwieg, ich überlegte, ob es ein positives Schweigen war und entweder war es das oder er fand sich einfach mit der neuen Information ab, denn er ging zu der Türe, die ins Bad führte und schien dort weiterzupatroulieren. Ich war erleichtert, da ich gefürchtet hatte, er wolle seinen Mitbewohner sehen, denn diese Person war offensichtlich woanders und hatte vergessen, was für ein Tag heute war. Doch dann sei dem so, spätestens beim Mittagessen in der Mensa würden sie sich treffen. „Sind das Klinikhandtücher oder gehören die Bett 2?“ kam die immer noch durch den Schal verhaltene Stimme aus dem Bad. Ich musste unwillkürlich lächeln über die seltsame Art, wie er sich mit seiner neuen Situation aussetzte, ehe ich ebenfalls ins Bad trat und ihm versicherte, dass er sie frei nutzen dürfe. Kapitel 2: Die Missgeburt ------------------------- >>Warm...« Es war unvorstellbar warm hier, aber es half alles nichts, ich traute mich nicht, den Anzug auszuziehen, falls wir irgendwohin gehen würden, wo nicht diese Fenster sind. Zumindest schien diese...Schelwey? Naja, jedenfalls schien diese Direktorin sich zumindest Gedanken gemacht zu haben, wenigstens über diese Etage. Nur...Dass ich das Zimmer mit jemandem teilen soll... „Ich bin zu spät!!“ schallte es plötzlich draußen durch den Gang und ich hatte eine spontane Ahnung, dass dies wohl mein Mitbewohner sein würde. Ich verließ das Bad und sah jemanden im Zimmer stehen. Die Person stützte sich keuchend an den Knien ab, die schulterlangen braunen Haare verdeckten das Gesicht. Sie trug einen roten Kapuzenpulli und eine Jeans, sie sah an sich völlig normal aus. „Mary, du bist spät. Warst du wieder bei Tateyama?“ sagte die die Direktorin streng, als sie neben mich trat, immer noch mit diesem falschen Vertreterlächeln im Gesicht. „Tut...tut mir leid.“ antwortete die Person, die dem Namen nach anscheinend weiblich war. Sie richtete sich schließlich auf und strich sich die Haare hinter...die Ohren. Ich muss zugeben, ich erschrak zuerst, als ich ihr ins Gesicht sehen konnte. An sich wäre sie sicher ein hübsches, wenn auch etwas pummeliges Mädchen, aber...ihr Gesicht... Die rechte Hälfte sah vollkommen in Ordnung aus, sie hat Pausbacken, Mandelaugen und Ansätze eines Schmollmundes. Aber ihre linke Gesichtshälfte sah aus, als wäre das Gemälde eines hysterischen Expressionisten die Vorlage gewesen. Das Auge verschwand fast in der Augenhöhle, wobei der Schädelknochen dort eine große Beule über dem Auge gebildet hatte. Der Mund ging über in eine große Narbe oder sowas, es sah fast aus, als wäre ihr Mund bis zum Ohr eingerissen. Die Nase wirkte abgehackt, die Haut sah aus wie braunes zerknülltes Papier. Als sie mich bemerkte und mir zulächelte, verzog sich das Gesicht so stark, dass mir eine kalte Schauer den Rücken runterlief, so gruselig sah es aus. „Hallo, ich bin Mary Ashman aus Oklahoma. Freut mich, dich kennenzulernen.“ sagte sie fröhlich, worauf ich, immer noch geschockt, nur nicken konnte. „Mary, hilf ihm einräumen und zeig ihm dann bitte die Klinik. Kai, ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt.“ Wir beide nickten und die Direktorin ging hinaus und immer noch klebte das Zahnweißwerbungslächeln in ihrem Gesicht. Kaum, dass sie weg war, sprang mir Mary plötzlich um den Hals und es war nur Zufall, dass ich das Gleichgewicht halten konnte. „Das ist toll, das ist toll! Ich wollte schon so lange einen Mitbewohner haben!“ Sie hüpfte herum wie ein Schulkind und umarmte mich wieder und wieder. Irgendwann schien sie sich wieder beruhigt zu haben, aber sie lächelte immer noch fröhlich, entschuldigte sich höflich für den kleinen Jubeltanz, ehe sie vorschlug, dass wir mein Gepäck holen sollten. Das Einsortieren ging schnell, da ich nur Pullover und dicke Hosen dabei hatte neben etwas Unterwäsche. Wir bezogen mein Bett, dass links vom Fenster stand, ehe sie mich engagiert an die Hand nahm und auf den Gang führte. Wir besuchten die Mensa, das Hauptarztzimmer für allgemeine Beschwerden und das Sekretäriat. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass Mensa und Ärztin beide in Etage 3 waren, so dass ich bei Krankheit oder zum Essen nicht den Overall brauchen würde. In Etage 4 benahm sich Mary allerdings plötzlich seltsam, fast, als wäre dies ein heiliger Ort. Wir liefen den Kreisgang entlang, bis wir plötzlich bei einem Stück waren, wo alle Fenster mit Vorhängen verdeckt waren und es entsprechend dunkel dort war. Fast ehrfürchtig klopfte sie an eine die Zimmertü in der Mitte dieses dunklen Teils, trat ein und zog mich mit. Auch der Türrahmen war mit einem Vorhang verhängt, was mich kurz irritierte, doch kaum, dass ich durch diesen getreten war, befand ich mich in absoluter Finsternis. „Hallo Mary, wieder da?“ kam eine Stimme irgendwo aus der Dunkelheit. Sie war männlich und tief, aber hatte einen warmen, angenehmen Klang. „Ja, ich habe ihn sogar mitgebracht.“ kam Marys fröhliche Stimme von links. Der Mann antwortete nicht, was mir bei dieser Dunkelheit irgendwie Angst machte. Plötzlich berührte mich etwas und ich wich erschrocken zurück. „Du trägst Kopfbekleidung?“ hörte ich ihn nah vor mir und wieder berührte er mich. Ich wollte weiter zurückweichen, doch ich stand mit dem Rücken zur Wand. Ich fühlte seine tastenden Finger, sie nahmen mir die Brille und den Schal, die Kapuze und die Maske ab, ohne das ich fähig war, mich zu rühren. Schließlich berührte er meine nackte Haut, mein Gesicht, etwas, dass schon seit 3 Jahren niemand mehr getan hatte. Das Gefühl ließ mich erschaudern, es war ungewohnt, doch die sanften Fingerspitzen, die über mein Gesicht glitten, fühlten sich sehr angenehm an. Ich entspannte mich mehr und mehr, ließ die Finger mein Gesicht erforschen, bis mein Gegenüber wieder sprach. „Du bist wunderschön.“ Kapitel 3: Gelb mit drei Punkten -------------------------------- „Boah, ich bin so aufgeregt! Was, wenn er mich nicht mag? Oder mich eklig findet?!“ Ich lächelte vor mich hin und hörte mir Marys nervöse Gedankenflüge an. Wir saßen nebeneinander auf meinem Bett, beide wie immer im Schneidersitz. Es war irgendwie sehr niedlich, ihr zuzuhören, wie Freude und Angst sich bei ihr treffen und sie irritieren. „Na na, jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand. Du bist ein sehr nettes, höfliches Mädchen, eklig bist du bestimmt nicht.“ Ich hatte ganz gelassen gesprochen, Mary redete zwar nach kurzem Schweigen weiter, allerdings um einiges ruhiger und leiser. Als sie gerade zum sechsten Mal übte, wie sie sich ihm vorstellen solle, wurde mir jedoch bewusst, wie lange wir wahrscheinlich schon hier saßen. „Mary? Wie spät ist es?“ fragte ich sie und ich wusste, dass sie nun auf ihre beleuchtete Digitaluhr am linken Arm schauen würde. „16.24, wie... Argh, verdammt!“ Ich musste grinsen, als ich hörte, wie sie hastig aufstand, anscheinend gegen meinen Tisch lief, ehe sie zur Türe kam. „Sorry, ich bin zu spät. Ich erzähl dir nachher alles, ok?!“ Ich antwortete ihr nicht, ich wusste, dass sie schon aus dem Zimmer gerannt war und nur die Tür offen gelassen hatte. Mary war wirklich was besonderes. Ein wenig schusselig und mit manchmal recht ungesundem Temperament, aber einfach nur süß und ein Fröhlichmacher. Ich stand gemächlich auf und schloss die Türe, ehe ich mich auf die Fensterbank setzte und in den Raum starrte. Im Grunde starrte ich wirklich nur, denn alles war schwarz. Ich wusste, dass dieses Zimmer vollkommen dunkel war, doch auch mit Scheinwerfern im Raum wäre es schwarz – für mich. Nach einer Weile hörte ich unser Klopfzeichen und die Tür ging auf. „Hallo Mary, wieder da?“ fragte ich, als ich sicher war, dass sie im Raum war. Ich hörte Schritte, aber nicht nur von einer Person. „Ja, ich habe ihn sogar mitgebracht.“ hörte ich sie munter sagen und mein Verdacht hatte sich bestätigt. Ich stand auf und ging durch den Raum, den ich auswendig kannte. Links von Mary war mein Schrank, da konnte der Besucher also nicht sein, also stand er entweder vor der Türe oder etwas seitlich neben dem Tisch. Ich lief einfach auf gut Glück los, den rechten Arm ausgestreckt. Er würde sich sicher erschrecken und zurückweichen, aber so wüsste ich dann, wo er war. Ich ging vorsichtig in Richtung Türe und berührte ihn schließlich, oder besser eine sehr weiche Mütze, was mir doch ziemlich seltsam vorkam bei der Hitze draußen. „Du trägst Kopfbekleidung?“ fragte ich leicht verwirrt, doch mir fiel wieder ein, dass er ja wegen einem Licht-Hautproblem hier war und ich ließ weitere Fragen. Doch mir gefiel seine Kleidung nicht, ich wollte ihn „sehen“. Ich drängte ihn solange zurück, bis er an der Wand ankam und entfernte dann den lästigen Kram, der sein Gesicht bedeckte. Schließlich war alles weg und ich legte meine Hände auf sein Gesicht. Seine Haut war samtig weich und frei von Muttermalen, Pickeln oder ähnlichem. Seine Nase war schön geschwungen, ebenso seine Lippen und ich spürte die auffällig langen Wimpern. Seine Kopfform war leicht oval und in keinster Weise herb, weder ausgeprägte Wangenknochen noch ein prägnantes Kinn störten das Gesamtbild, zudem schien er lange Haare zu haben. Hätte Mary mir nicht gesagt, dass der Neue männlich war, ich hätte ihn für eine Frau gehalten. „Du bist wunderschön.“ kommentierte ich das „Gesehene“. Doch mir waren auch Narben aufgefallen. Rechts beim Kinn und die Stirn am Haaransatz. Die Haut war dort dünn wie Pergament und rau, ähnlich wie Marys Haut, nur er hatte nicht faltenartige Narben, sondern fleckige. Unmengen an Huckeln störten das Bild der ebenmäßigen Haut, doch er musste dennoch bildschön sein. „Was...Was machst du da, hör auf.“ hörte ich ihn unsicher sagen, es war auffällig leise als erwarte er, dass ich ihn schlagen würde. Sofort nahm ich die Hände weg und konnte ihn kurz erleichtert aufatmen hören. Dann spürte ich Marys Hand auf meiner Schulter, die mir, anscheinend absichtlich laut, zuflüsterte: „Ist er wirklich so hübsch?“ Ich antwortete nur mit Ja und sie kicherte und murmelte etwas vor sich hin, vermutlich erhoffte sie sich einen Blick im Hellen, um ihn ebenfalls sehen zu können. „Tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe, ich wollte nur einen Blick auf dich werfen. Hätte ich dich gefragt, hättest du vielleicht nein gesagt.“ sagte ich zu dem, vermutlich verwirrten, Jungen freundlich, der sich offenbar aufzuplustern begann, da er kurz stark Luft holte. „Natürlich hätte ich nein gesagt, wieso sollte ich mich bitte betatschen lassen! Was soll das überhaupt?!“ schrie er aufgebracht und erinnerte mich sofort an mein erstes Treffen mit Mary, die ähnlich reagiert hatte. „Wieso solltest du es nicht? Zumindest einem Blinden kannst du doch erlauben, dich mit den Fingern anzusehen, wenn er schon keine farblichen Abnormalitäten erkennen kann.“ konterte ich gelassen und er schwieg, entweder überlegend oder eingeschüchtert, vielleicht auch geschockt, ich wusste es nicht. „Du bist...blind?“ fragte er leise und meine Antwort war da. „Ja, eine Krankheit hat mir mein Augenlicht geraubt, Stück für Stück, doch an die Zeit, wo ich noch sehen konnte, erinner ich mich nicht, ich war erst drei gewesen.“ antwortete ich sachlich. Wieder kam Schweigen. „Du brauchst keine Angst vor Masa haben, er tut nichts. Er ist ganz lieb, ausserdem sehr schlau und mutig.“ lobpreiste Mary mich und ich musste lächeln. „Mary, hör auf. Nun...ähm...Wie heißt du eigentlich?“ Ich erwartete, dass Mary seinen Namen reinrief, doch auch sie schien ihn nicht zu wissen oder aber wieder vergessen zu haben, was nicht sehr unwahrscheinlich war. Unser Gegenüber schwieg, ehe er leise ansetzte. „Mein...Mein Name ist... Kai Bijnens.“ Kapitel 4: Der Mann mit der Maske --------------------------------- Ein wenig blöd fand ich es schon. Ich war, weil ich Masa so oft besuchte, schon sehr viel besser geworden im Hören, aber ich konnte trotzdem nur raten, was Masa mit dem Neuen machte. Als er allerdings sagte, dass er wohl sehr hübsch wäre, wusste ich sofort, was er gemacht hatte, er hatte ihn sich angesehen. Wenn ich daran denke, wann er mich das erste Mal gesehen hatte, muss ich heut noch lachen und zugleich schäme ich mich irgendwie. Es war jedenfalls an einem Montag, weil ich Montags immer die Sporthallendusche benutze statt die im Zimmer. Und ich war in der Umkleide, als Masa auf einmal reinkam. Ich erschreckte mich ganz doll, zumal ich bis auf meine Unterhose vollkommen nackt war. Ich weiß noch, wie er fragte, ob hier der Raum vom Turnhallenwärter wäre und ich da schon merkte, dass er anscheinend einer der Blinden war, von denen es im Moment 3 hier gibt. Ich sagte nein und erklärte, wo er hin müsse. Als er dann, anstatt rauszugehen auf mich zuging und mich anfassen wollte, hätte ich am Liebsten vor Schreck aufgeschrien, zumal ich mir nichtmal mehr sicher war, ob er echt blind war oder es nur als Ausrede benutzt hatte. Allerdings konnte ich nicht schreien, da seine Hand perfekt auf meinem Mund gelandet war. Bei dem Gedanken, er könne mich sehr wohl sehen, konnte ich mich nicht rühren, auch, wenn ich Angst hatte, dass er mehr als gucken und grapschen machen würde. Allerdings tastete er nur seelenruhig mein Gesicht ab, ging dann zur Tür zurück und meinte: „Du hast ein einprägsames Gesicht, kann ich mir bestimmt gut merken und deine rechte Gesichtshälfte gefällt mir, deine Haut ist so warm.“ Dann ging er raus und ich stand nur sprachlos da. Irgendwem hat er dann später wohl mein Gesicht beschrieben und kam so in meinen Raum und irgendwie wurden wir Freunde. Zum Glück weiß er bis heute nicht, dass er mich halbnackt in der Mädchenumkleide erwischt hatte, wer weiß, was er davon denken würde, hihi. Die Beiden unterhielten...stritten....jedenfalls redeten beide und irgendwie endete es damit, dass Masa den Neuen nach seinem Namen fragte. Ich weiß, dass die Direktorin seinen Vornamen beim Verabschieden gesagt hatte, aber er fiel mir einfach nicht mehr ein... Kai. Genau, Kai war's gewesen. Aber sein Nachname ist komisch, aber er ist ja wie Masa aus dem Ausland hierher gekommen. „Dein Name ist lustig, woher kommst du denn?“ fragte ich ihn einfach. Er schwieg eine Weile, ehe er leise mit „Belgien.“ antwortete. Belgien. Ich hatte nie viel über Belgien gehört, ausser das es irgendwo in Westeuropa war und das die Leute da so lustige blaue Kleider und Holzschuhe trugen. „Belgien? Sag mal was auf belgisch!“ meinte ich, ich war tierisch neugierig, wie sich das wohl anhören musste, doch bevor er antworten konnte, redete Masa dazwischen. „Das heißt niederländisch, nicht belgisch, hast du in der Schule geschlafen?“ „Ich mochte nur Kunst und Bio“ verteidigte ich mich, ehe ich meine Bitte wiederholte, korrigierte mich aber auf Niederländisch. „Und was soll ich sagen?“ meinte er und klang irgendwie verwirrt, vermutlich wurde er sowas bisher noch nicht gefragt oder so. Ich überlegte, ehe ich spontan den Satz „Das Haus ist schön“ nannte. „Dat huis is mooi.“ sagte er und ich fand es einfach klasse. Die Aussprache und die lustigen Wörter. „Sei vorsichtig, mich fragt sie nach einem Jahr immer noch nach Beispielsätzen.“ meinte Masa fieserweise, aber ich trat ihm dafür auf den Fuß. Der fluchte kurz, ehe er mir gegen den Hinterkopf schlug. Sowas machten wir ständig, insofern hatte ich mich schon an seine doch sehr kräftigen Schläge gewöhnt. Eine Weile war es still, irgendwie gabs nichts, worüber wir hätten reden können, bis mir auffiel, dass ich Hunger bekam. „Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber ich gehe mir jetzt ein Stück Schokokuchen holen, bevor alle weg sind!“ Ich erhielt ein Lob von Masa für meine Idee, der Neue schwieg, wiedersprach aber auch nicht, also würde er auch mitkommen. Ich ging zur Tür, öffnete sie und trat hindurch. Es war wirklich eine klasse Idee von Masa, die Vorhänge hier immer zugezogen zu lassen, wären sie nicht da gewesen, hätten meine Augen wegen der langen Dunkelheit sonst jetzt sicher ziemlich weh getan. Masa trat neben mich und dann kam Kai. Doch er war nicht mehr so dick eingepackt, er trug zwar immer noch den Overall, die Handschuhe und die Stiefel, aber das Gesicht verdeckte nur eine braune Maske, die wie ein übergestülpter Kartoffelsack aussah und nur Löcher für die Augen, Mund und Nase hatte. Er sah aus, wie ein Gefangener. Ein bunter Gefangener. Und ich und Masa waren die Wachen, die links und rechts liefen und aufpassten, dass er nicht ausbüchst und ihn nun in die Gefangenenküche bringen. In der Mensa war es leer, nur an zwei Tischen saßen ein paar Leute und halt die Bedienung hinter der Theke. Aber kein Wunder, heute war Ausgehtag und viele besuchten ihre Familien oder fuhren ins Kino oder sowas. Ich lieb direkt zur Bedienung und sah auch schon den herrlichen Schokoladenkuchen. Aber daneben war noch eine Erbeertorte und dahinter ein großer Haufen Donuts... Am Liebsten würde ich alles haben, aber man durfte sich nur eines aussuchen. Masa hatte sich nur einen Kaffee geholt und einen Schokodonut gekauft, der vermutlich für Kai war, er selbst aß Schokolade aus irgendeinem Grund nicht. Nach 'ner ganzen Weile gab ich schließlich der Erdbeertorte nach, allerdings nur, nachdem ich sicher gegangen war, dass es auch morgen Schokokuchen geben würde. Mit meinem Teller, wo noch ein Glas mit Orangensaft drauf war, ging ich zu dem Tisch neben einer der großen Stützsäulen. Kai hatte sich an den Platz direkt im Schatten der Säule ausgesucht, war klar und Masa saß links von ihm. Ich setze mich Masa gegenüber und begann einfach zu essen, bot Kai mal meinen Saft an, den er aber nicht wollte. „Sag mal, wieso bist du eigentlich hier? Ich meine, wieso genau?“ fragte Masa plötzlich. „Darüber will ich nicht reden.“ antwortete Kai schnell und klang dabei, als erinnere er sich an was schlechtes. Masa seufzte nur, ehe er dann meinte „Würdest du es erzählen, wenn wir dir unsere Geschichte erzählen?“ meinte er dann ruhig. „Genau, ist doch toll. Du gibst deine und bekommst dafür gleich zwei.“ redete ich dazwischen, wobei ich aber wegen der Erdbeere im Mund nuschelte. Kai schwieg erst, er kam mir wirklich sehr nachdenklich und ruhig vor, so oft, wie er stumm dasaß oder stand. „Am Besten, ich erzähle einfach, danach kannst du es dir ja nochmal überlegen, hm?“ Kai reagierte nicht, er nickte nicht, aber er wehrte die Möglichkeit, dass er seine Vergangenheit erzählte, auch nicht ab. Masa wartete kurz, ob dieser sich dem Vorschlag lautstark wiedersetzen würde, ehe er sich zurücklehnte, die Hände auf den Tisch gefalten und ansetzte. „Ich komme ursprünglich aus Japan...“ Kapitel 5: Das Großmamakind --------------------------- „Ich komme ursprünglich aus Japan, um genau zu sein wurde ich in Kurashiki geboren. Mein Vater ist da in einem sehr hohen Amt angestellt, meine Mutter war immer die Mustermutter und -ehefrau. Liebe bekam ich nicht, auch wenn ich sehr viel Aufmerksamkeit als Nachfolger erhielt. So hat es mir meine Großmutter erzählt, ich erinnere mich daran nicht. Denn schon nach vier Monaten bemerkte ein Arzt bei einer Regeluntersuchung meine Sehschwäche und nach ein paar weiteren Untersuchungen stellten sie fest, dass ich unter „Retinitis Pigmentosa „ leide. Jeder mit der Krankheit verlor zusehends sein Augenlicht, bis er irgendwann erblindet. Meine Eltern investierten viel Geld in meine Behandlung, die den Prozess aufhalten sollte. Doch noch bevor ich drei Jahre als war, war ich schon blind. Aus dem gepriesenen Nachfolger wurde ein unnützliches, blindes Kind. Ich wurde schon fast behandelt, als wäre ich ein Bastard und mit mir ging man um, als wäre ich geistig behindert. Ich weiß nur noch, dass meine Großmutter bei einem Besuch sagte „Wenn das Kind soviel Scham auf euch bringt, so gebt es zu mir. Ich werde ihn großziehen und niemand wird von ihm erfahren, der es noch nicht wusste.“ Sie hatte es sehr untergeben gesagt und mein Vater erlaubte es ohne Zögern und fügte noch hinzu, dass er mich niemals wieder sehen oder hören möchte, um nicht an das Unglück denken zu müssen, dass ihm mit mir angetan wurde. Meine Großmutter ging mich sofort holen, ich hatte in der Zwischenzeit durch das Gehörte zu weinen angefangen und wollte nicht mit, doch letztendlich kam ich mit und war nie wieder in dem Haus, dass mal mein Zuhause war. Meine Großmutter wohnt bei Esashi im Norden Japans, mir war es unmöglich, ebenso zu versuchen, nach Hause zu kommen. Im Grunde blieb mir keine andere Wahl, als die Situation zu akzeptieren und ich denke, dass ich es auch nur gut geschafft habe, weil ich noch so jung gewesen war. Jedenfalls war es eine ziemliche Umstellung, zumindest für meine Ohren und meine Nase, auf die natürlich ich nun natürlich stark angewiesen und fixiert war. Bei meiner Großmutter war es absolut ruhig, nur im Sommer zirpten die Zikaden und der Wind war deutlicher zu hören. Bei meinen Eltern weiß ich, dass es immer sehr laut war. Autos, Lärm, Musik, Menschengewimmel, alles dröhnte auf mich ein, dazu stank es dort sehr unangenehm, nur wenn Essen gekocht wurde, wurde es angenehm, da dort sehr starke Gewürze verwendet wurden. Bei meiner Oma roch es jedoch fast jeden Tag anders. Süße Düfte, von Pflanzen oder Bäumen. Der salzige Geruch, der von dem Meer herüberwehte, dass man laut meiner Großmutter von der Terasse aus sogar sehen kann. Und dann der Geruch von Feuer, von Holz und Stroh. Ihr Haus ist groß und hat an allen möglichen Seiten Türen nach draußen, dazu viele Zimmer. Das Haus war eines von acht Häusern, die ein Dorf bildeten. Als ich ins Schulalter kam, bezahlte mir meine Großmutter sogar eine Blindenschule, die in einer Stadt weit weg war und wo mich einer unserer Nachbarn jeden Morgen hinfuhr. Mit 12 begann ich dann, mich bei den netten Leuten da zu revangieren, indem ich auf dem Feld beim ernten half. Anfangs hatte ich zwar wegen meiner Blindheit große Probleme, doch irgendwann konnte ich es so gut wie alle Anderen dort. Meine Großmutter lehrte mich auch, mehr auf die Sinne, die ich noch hatte, zu achten. Sie selbst ist fast taub und kann insofern sicher verstehen, wie es ist, etwas eigentlich natürliches nicht zu können. Irgendwann, als ich um die 16 war, erfuhr ich, dass meine Blindheit nicht angeboren war, sondern krankheitsbedingt war. Ich informierte mich sehr lange und ausgiebig mit der Krankheit, ließ Freunde im Internet und in Büchern für mich suchen, besuchte Ärzte. Und irgendwann erfuhr ich von einem Projekt in Deutschland, wo ein Chip im Auge die Blindheit rückgängig machen kann. Er war noch nicht fertig, doch die Probanten konnten sehen, auch, wenn nicht wie ein normaler Mensch. Ich setzte mich sofort mit den Ärzten in Regensburg in Verbindung und bekam die Erlaubnis, auch Probant zu sein. Dann bekam ich die Adresse von dieser Klinik. Meiner Großmutter gefiel es nicht, dass ich wegging, aber sie hat mich gelassen, da sie vermutlich verstehen konnte, dass ich nicht wegen einer vielleicht behebbaren Krankheit ewig blind sein will. So kam ich vor zwei Jahren hierher und habe seitdem schon zweimal den Chip zur Probe eingesetzt bekommen. Irgendwann lernte ich Mary per Zufall kennen und jetzt sitze ich hier mit Kaffee und euch beiden.“ Beide hatten mir anscheinend gefesselt zugehört, da ich sie aufatmen hörte, als ich abschloss und sie sich wohl beide aus dem angespannten Zuhören in eine angenehmere Position wechselten. „Ich liebe deine Geschichte einfach, vor allem das mit den Düften!“ sagte Mary total begeistert, ehe sie weitersprach. „Jetzt will ich, jetzt will ich! Meine Geschichte ist zwar nicht so toll, aber ich will sie trotzdem erzählen!“ Sie kicherte kurz, ehe sie tief Luft holte und begann. „Ich komme eigentlich von ganz nah, ich bin aus Oklahoma...“ Kapitel 6: Der Kaktus --------------------- „Ich komme eigentlich von ganz nah, ich bin aus Oklahoma und wohne in einem großen weißen Haus mit Garten und Garage. Meine Mum arbeitet in einem Second-Hand-Shop, mein Dad ist Layoutdesigner bei 'EFM', dieser Sportzeitschrift. Ich habe auch zwei kleine Brüder, Zwillinge und einen großen Labrador. Naja, jedenfalls bin ich mit diesem Aussehen geboren worden, Missbildungen im Gesicht halt. Ein Weichtumor überm Auge, missgewachsene Nase und mein Ohr und Auge ebenfalls, mein Kiefer war benutzungsunfähig, weil er schief war und die Haut ist teilweise unausgebildet. Ein paar Wochen nach meiner Geburt wurde ich am Kiefer operiert, den Schnitt sieht man ja noch. Der Weichtumor, meine Nase, mein Ohr und Teile meiner Haut sollten auch korrigiert werden, aber meine Eltern hatten Angst, dass etwas schief ging, die Kiefernarbe war schließlich sehr unansehnlich und das im ganzen Gesicht hätte mich vielleicht noch schlimmer aussehen lassen. Darum lebe ich halt so weiter. Natürlich bemitleideten oder ärgerten mich die Anderen, aber Mum und Dad sagten dann immer, dass sie denken mir ginge es schlecht und weil mein Gesicht nicht wehtat oder ähnliches, nahm ich solche Kommentare nicht ernst. War zwar manchmal wirklich schwer, solche Leute zu ignorieren, da sie manchmal wirklich gemeine Dinge sagten. Aber dafür war ich ich meist in bestimmten Dingen besser als sie, hätte ihnen also auch gemeine Dinge sagen können, was ich aber nicht wollte, da ich nicht so böse war wie die Anderen. Mit...4, glaube ich, brachte mein Dad mir mal einen Kaktus mit. Er sagte mir, ich solle mich um ihn kümmern und ich tat es auch. Als ich sechs Jahre alt war, hatte er dann eines Tages große wunderschöne Blüten und mein Dad sagte zu mir, dass ich auch ein Kaktus war. Man mochte mich wegen meinem Aussehen nicht, weil ich nicht hübsch bin, aber wenn man etwas Zeit mit mir verbringt, bemerkt man erst, dass ich in mir auch eine schöne Blume habe. Das hatte mich ganz doll glücklich gemacht und mittlerweile habe ich schon eine richtige Kakteensammlung in meinem Zimmer. In der Schule hatte ich dann auch ein paar Freunde und als ich acht war, kamen Stan und Kyle, meine kleinen Brüderchen. Naja, ich lebte halt ziemlich normal und es passierte nie sehr viel oder sowas. Aber dann bekam ich vor ungefähr sieben Monaten Post von hier, wo mir angeboten wurde, mein Gesicht operativ zu korrigieren. Da ich kein kleines Kind mehr bin, ist die für mich gefährlicher und sie kostet sehr viel Geld, aber wie man sieht, bin ich jetzt trotzdem hier.“ Beide hatten mich, während ich gesprochen hatte, angesehen, ehe Masa den Kopf zu Kai drehte, was ich nachmachte. „Und? Erfahren wir nun auch deine Geschichte?“ fragte er freundlich und Kais Kopf senkte sich. „Warum wollt ihr das so unbedingt wissen?“ meinte er missmutig, ehe er seufzte. „Na gut... Aber ich erzähle sie nur einmal!“ sagte er und Masa wie auch ich nickten. Er seufzte wieder, ehe er die Stirn auf seine Hände stützte. „Naja, ich komme halt...aus Belgien.“ Kapitel 7: Das Mondscheinkind ----------------------------- „Naja, ich komme halt...aus Belgien. Ich lebte in Lier bei Antwerpen. Ich war ein Unfall, das Kind aus einem One-Night-Stand, bei dem meine Mutter so betrunken war, dass sie nichtmal wusste, wer mein Vater war. Sie trug mich nur aus, weil sie schon im 4.Monat war, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr und nicht mehr abtreiben durfte. Ich wurde im Krankenhaus geboren, wo man schnell meine Krankheit feststellte. Meine Mutter bekam strikte Anweisungen und hielt sich auch dran. Aber das war auch das einzig Gute an ihr. Sie ignorierte mich meist, trank viel, flirtete mit fast jedem und ließ mich mit etwas Spielzeug die meiste Zeit allein im Haus zurück. Ich weiß nicht, ob sie gearbeitet hat, ich denke mal, da Miete und Essen bezahlt wurden. Schule und Kindergarten konnte ich wegen meiner Krankheit nicht besuchen, ich war im Grunde im Haus gefangen. Alleine. Als ich um die acht Jahre alt war...kam ich ins Krankenhaus. Meine Mutter hatte mich bei einem ihrer seltenen Hausaufenthalte sturzbetrunken ohne Grund in den Garten gesperrt. Ohne Maske und Handschuhe. Ich hatte das Glück, dass meine Nachbarn nebenan von meiner Krankheit wussten und gerade grillten. Sie warfen mir die Tischdecke über und brachten mich schnell in das nächstbeste Krankenhaus. Ich musste viermal das Krankenhaus wechseln, musste alles über mich ergehen lassen, von der Intensivstation für Verbrennungs- krankheiten über Krebsvorsorge bis zur Hauttransplatation wurde ich herumgereicht, ehe ich schließlich entlassen wurde und in ein Heim für Lichtallergiker kam. Dort wars aber auch nicht besser, ich lebte dort zehn Jahre meines Lebens, doch die ganze Zeit davon nur in meinem Einzelzimmer. Essen bekam ich gebracht und an den Aktionen der Anderen konnte ich nicht teilnehmen, da sie Dinge wie Spazieren gehen bei Bewölkung machten oder bei Regenwetter in den Zoo gingen. Da ich nur in der Nacht vor der Sonne wirklich geschützt bin, konnte ich nichts mitmachen, die Nachtwanderungen im Sommer machte ich freiwillig nicht mit, da ich eh kaum jemanden aus dem Heim wirklich kannte. Jedenfalls blieb ich da die ganzen zehn Jahre. Und vor vier Monaten bekam ich dann einen Brief, der mich hierhin einlud, um an mir ein Gegenmittel für Xeroderma pigmentosum zu finden.“ Die Beiden starrten mich entsetzt an, eine ganze Weile schwiegen sie, ehe Mary vorsichtig fragte: „ Du bist hier...als Versuchskaninchen?“ Ich nickte nur schulterzuckend. „Stellt euch nicht so an, bei euch ist es doch auch nicht anders.“ Plötzlich stand Mary auf und schlug die Hände auf den Tisch. „Das ist etwas vollkommen anderes! Bei mir endet es im schlimmsten Fall mit Narben und bei Masa kann es passieren, dass sein Auge verletzt wird und er richtig erblindet! Aber wie wollen sie bei dir die Wirkung testen, sollst du sonnenbaden gehen?! Selbst wenn es nur ein bisschen verbrannte Haut ist, was, wenn du genau deswegen Hautkrebs bekommst oder sich die Wunde so sehr entzündet, dass dein Arm oder so abgenommen werden müssen?! Was du machst, ist Selbstmord!!“ Sie schrie so laut, dass die anderen Patienten sowie die Bedienung erschrocken zu uns sahen, obwohl sie wohl nicht verstanden, worüber sie redete. Ich dagegen sah Mary, wie ich finde, ziemlich ruhig an. Ich verstand voll und ganz, worauf sie hinauswollte und es war mir schon seit dem Lesen des Briefes klar gewesen, dass ich hier unter Umständen schon nach zwei Wochen tot sein könnte. Mir war aber nicht ganz klar, wieso ich dennoch hier war. Obwohl... Mein Leben lang in einem Haus gefangen. Mein Leben lang von Licht und Leben weggesperrt. Jeden Tag Schmerzen und Angst ausgesetzt. Eigentlich hätte ich schon vor zehn Jahren sterben sollen, an jenem Tag im Garten. Ich hätte dort verbrennen sollen, auf dem Weg ins Krankenhaus oder in eben diesem einfach verenden sollen. Keine Operationen, keine Vorhänge, kein Mitleid und keine Abschottung mehr. Nur ein Grab, dass auf einem Friedhof steht mit Blumen drauf, genau da, wo die Sonne am Meisten hinscheint. Ich hätte einfach wie 80% aller XP-Patienten im Kindsalter sterben sollen oder zumindest wie fast der ganze Rest mit 16 oder 17 mich demonstrativ freiwillig in die Sonne stellen sollen. Ich muss doch wahnsinnig sein, ernsthaft weiter zu leben, obwohl mir nichts, aber auch gar nichts an schönen Dingen bisher passiert war. Mary starrte mich immer noch aufgebraust an, erwartete von mir offensichtlich eine verbale Reaktion auf ihre Vorwürfe. Masa sah derweilen in unsere Richtung und schien ein wenig besorgt, sagte jedoch nichts. Ich sah wieder zu Mary und sie schien sofort zu merken, dass ich etwas sagen wollte, da sie sich sofort anspannte und mich richtig herausfordernd ansah. Ich sah ihr dagegen einfach ins Gesicht, ehe ich sagte: „Was, wenn ich Selbstmord begehen will?“ Kapitel 8: Ängste & Wünsche, Tod & Freude ----------------------------------------- Ich hörte den Beiden zu, wie sie sich stritten und das Thema gefiel mir gar nicht. Mir gefiel die Einstellung des Kleinen zwar auch nicht, aber das Mary ihn so provozierte war da doch etwas sehr übertrieben, doch ich konnte raushören, dass sie sich in eine Raserei geschrien hatte, wo man sie mit Wiederstand oder Aufhalten nur noch aufgewühlter machte. Ich wartete schweigend ab, hoffte, dass Kai irgendeine Antwort fand, die sie beruhigte, was immer diese sein möge. Er fand sie, sie blieb still, doch es war kein befriedigtes Schweigen... Er spielte mit dem Todbegriff. „Du hast keine Ahnung, was du redest, oder?“ fragte ich sachlich, versuchte, mich über solch gedankenlosen Worte nicht auch aufzuregen. „Denkst du, du hast Ahnung, wie es mir geht, ob ich vielleicht nicht doch einen Grund habe, mir den Tod zu wünschen?“ konterte und seine Stimme klang ziemlich bissig. Aber dennoch war ich überzeugt, dass er nur durch meine Frage widerspenstig war. „Nun... Wenn du so gerne sterben willst... Dann brauchst du hier nur deine Maske abnehmen und auf die Krebsgeschwüre warten. Und dann fragst du nach aktiver indirekter Sterbehilfe, schluckst das Medikament und schon ist es vorbei. Oder du stürzt dich direkt jetzt aus dem Fenster. Oder du erhängst dich nachts in deinem Zimmer. Wenn du so unbedingt Selbstmord begehen willst, dann tu es. Entgeh dem Leid eines Versuchskaninchens, denn der wird garantiert nicht schnell gehen.“ Schweigen. Beide blieben stumm, bis ich urplötzlich Mary aufschreien hörte und irgendwas laut krachend zu Boden fiel. Mary kreischte was von wegen „Bist du wahnsinnig?!“ und „Nein!“ und anscheinend hatte Kai wohl das von mir gesagte befolgen wollen. Neben mir hörte ich, dass beide sich zu kabbeln schienen. Ich nahm langsam meinen Blindenstock, ortete kurz, wo und wie die Beiden lagen und schlug kräftig da zu, wo wohl der Bein-Hintern-Bereich sein musste. Beide schrien kurz schmerzlich auf, also hatte ich wohl beide erwischt. „Hört auf mit dem Quatsch, die Leute gucken bestimmt schon.“ meinte ich nur und nach einer kurzen Pause hörte ich Stühle rücken und beide saßen wohl wieder. „Und? Fühlst du dich gut, wenn du so stur und trotzig bist?“ fragte ich in die Richtung, wo Kai zuletzt gesessen hatte. Ich hörte ein gereiztes Schnauben und musste grinsen. „Wenn ich dir sagen würde, du sollst mir von der Theke einen neuen Kaffee bringen, würdest du das auch so einfach machen?“ Schweigen. „Ich glaube dir nicht, dass du so dringend sterben willst. Ich habe mich informiert, verdammt viele in deinem Alter tun das, sie stellen sich in die Sonne und verbrennen oder sterben im Krankenhaus nach der Aktion. Du dagegen hattest gottverdammte Angst, als ich dir deine Kopfbekleidung entfernt hatte. Du hast Angst vor der Sonne, vor den Schmerzen, vor dem Tod. Du hast im Grunde durchaus einen guten Grund für diesen Wunsch. Aber er ist nicht in dir. Wenn ich dich auf einen leeren Parkplatz stellen würde bei wolkenlosem Himmel und wollte dir auch nur deinen Handschuh wegnehmen, würdest du mich im Notfalls sicher sogar beißen und treten, um mich dran zu hindern.“ Er schwieg immer noch, aber ich hörte Mary ruhiger atmen, anscheinend schlugen meine Worte bei ihm an und sein Trotz wich langsam wieder dem realistisch denkendem Kai. „Weißt du, ein Leben im Dunkeln klingt zwar schlimm, aber es kommt auch drauf an, was du draus machst. Ich bin stolz darauf, dass ich meine Augen nur wegen Dingen wie Farben vermisse, aber sie sonst nicht brauche. Ich habe mich an das Schwarz gewöhnt und werde das Sehen wohl mit Augen schließen die erste Zeit verhindern wollen, statt es zu genießen. Bei dir ist es genau gleich. Sonne ist dir nicht erlaubt, aber du hast dennoch die Nacht und mit Vorsorge sogar den Tag. Doch du siehst nur Angst und Schmerz. Wenn du sehen würdest, dass man auch mit Maske oder im Dunkeln ein Leben wie ein relativ normaler Mensch führen kann, dann hättest du gerade lauthals darüber gelacht, dass wir dir deinen Spruch geglaubt haben.“ Er seufzte und ich hörte irgendein Geräusch in Verbindung mit Kleidung, anscheinend hatte Mary ihn umarmt oder ihm die Hand auf die Schulter, die Hand oder sowas gelegt. Doch immer noch schwieg er. „Magst du Nachtwanderungen?“ fragte ich ihn einfach spontan. Keine Reaktion, aber ich war mir sicher, zumindest seine, wenn auch verwirrte, Aufmerksamkeit zu haben. „Ich habe im Radio heute morgen gehört, dass es auch heute Nacht unbewölkt ist, ausserdem solls 16°C sein. Wie wärs, wenn wir ein bisschen spazieren gehen.“ Mary begann sofort zu kichern, sie liebte sowas, auch, wenn die vorherigen mit verbundenen Augen waren, was ich dieses Mal nicht vorhatte. „Komm schon, Kai. Das wird lustig!“ versuchte Mary ihn zu begeistern und er seufzte mehrmals recht schwermütig. Ich überlegte, wie ich ihn locken könnte, was ihn vielleicht motivieren könnte, ja zu sagen. „Naja, du musst nicht. Dann gehen Mary und ich heute alleine. Aber vergiss nicht, dass du das Zimmer nicht abschließen darfst, solange sie weg ist.“ Ich hörte, wie Mary protestieren wollte, doch mit einer Handbewegung ließ ich sie verstummen. Kai hatte bei diesen Worten ein leicht wehmütiges Geräusch gemacht und zeigte mehr als deutlich, dass er entweder nicht allein im Zimmer sein wollte oder aber mit Anderen, in diesem Falle Mary und mir, etwas unternehmen wollte. Ich lehnte mich zu ihm und suchte kurz tastend seine Hand, ehe ich sie fand und in meine Hände nahm. Das Leder war angenehm weich, obwohl seine Haut viel samtiger sein müsste, wenn sie der am Gesicht gleichkam. „Wenn du mitwillst, dann sag einfach ja oder nicke, wenn du es nicht laut sagen möchtest. Keiner hat dir verboten, mit Menschen zusammen zu sein und Spass zu haben. Das bist nur du. Und du willst es dabei eigentlich doch selbst nicht, stimmts?“ Er schluckte schwer und krallte leicht in meine Hände, ehe ich Mary aufjubeln hörte und daraus wohl ein Nicken schließen konnte. Ich nickte ihm erfreut zu und streichelte ihm nochmal über den Handschuh, ehe ich sie losließ und aufstand. Als Mary mich verwirrt nach meinem Vorhaben fragte, erwiederte ich nur, dass ich in der Küche nach ein wenig Proviant für heute Nacht fragen wolle und sie begann noch erfreuter zu kichern. Mit einer recht erfreuten Stimme versicherte mir Betty, die Küchenchefin, dass ich um 18 Uhr ein Päckchen mit belegten Broten abholen könne und wir vom Abendessen befreit sein würden. Ich nickte nur, ehe ich wieder zum Tisch zurückging. Ich war zuversichtlich, diesem verschüchterten Jungen zumindest ein wenig den Gedanken von Lebensfreude näher zu bringen. Kapitel 9: Kinder der Nacht --------------------------- Masa hatte Recht. Naja, Masa hat im Grunde bisher immer mit allem Recht gehabt, aber es stimmte, der Himmel zeigte nicht ein Wölkchen. Die Sonne ging gerade blutrot unter und warf schon jetzt große Schatten. Wenn ich darüber nachdenke, dass vor einer Stunde noch richtig gefährliche Atmosphäre da gewesen war... Ich hatte mich so wahnsinnig erschrocken, als Kai aufeinmal seinen Handschuh ausziehen wollte, dass ich, statt seine Arme festzuhalten, mit ihm vom Stuhl gekippt war. Allerdings finde ich den Schlag von Masa doch etwas übertrieben, ich hatte vorhin nachgesehen und habe einen dicken roten Striemen am Oberschenkel, dessen Umgebung gerade anfängt, sich blau-grün zu färben, mäh. Ich drehte mich vom Fenster weg und sah neben mich. Kai hatte sich auf sein Bett gelegt. Obwohl er weiß, dass dieses Zimmer und auch der Gang draußen, falls wer die Türe aufmacht, für ihn ungefährlich sind, hat er immer noch Maske und Handschuhe an, nur statt den Stiefeln trägt er jetzt komische, ziemlich dick aussehende Socken. Ich fragte mich wirklich, ob man sich daran gewöhnen kann, in dicken Klamotten im Hochsommer rumzulaufen, ohne einen Sonnensti...Hm... Nee, dass geht ja nicht...Aber das er bei dem dicken Zeug nicht Austrocknet oder vor Hitze zusammenbricht, wundert mich doch ziemlich. Aber fragen mag ich ihn auch nicht... „Wenn du so weiterstarrst, tun dir gleich die Augen weh.“ Ich erschrak mich tierisch, als er plötzlich etwas sagte und sah beschämt zur Seite, dass er mein Gucken bemerkt hatte. „Tut mir leid.“ sagte ich traurig, doch er meinte nur kurz, dass es schon ok wäre, ehe er kurz laut aufstöhnte und sich unter die Maske fasste, ich konnte mir schon denken, warum. „Wieso ziehst du den Pulli und so nicht einfach aus, hier drin passiert dir doch nichts.“ fragte ich ihn und er zuckte auf, schien mich eine Weile durch die Gucklöcher seiner Haube anzusehen, ehe er sich wegdrehte. „Das geht nicht so einfach...“ meinte er missmutig und ich seufzte. Vermutlich war es so, wie das, was Masa beschrieben hatte. Er wusste, es ist alles in Ordnung, aber dennoch saß die Angst noch zu tief drin. Ich seufzte wieder, ehe ich mich auf den Bettrand setzte, aber mit dem Rücken zu ihm. „Sag mal...“, fing ich an. „Darf ich dein Gesicht vielleicht auch irgendwann sehen? Von mir aus auch im Dunkeln, ich kann mittlerweile auch schon recht gut hören und tasten, wenn auch nicht so gut wie Masa. Aber ich würde gerne wissen, ob Masa Recht hat und wie du aussiehst.“ Er schwieg und schwieg. Ich hatte auch nicht wirklich erwartet, dass er mir sein OK gab, aber er lehnte es auch nicht ab, also dürfte ich es irgendwann vielleicht sehen. Ich sah aus dem Fenster, der Himmel hatte am Horizont eine rot-violette Färbung, aber die Sonne war weg und hier im Zimmer war es schon richtig finster geworden. Nicht mehr lange und Masa würde kommen, um uns abzuholen, damit wir die Nachtwanderung machen konnten. „Soll ich Licht anmachen oder ist es ok, wenns so dunkel bleibt?“ fragte ich einfach aus Neugierde und er meinte, es wäre ok. Ich sah weiter aus dem Fenster und bei dem tiefblauem Himmel hatte ich kurz das Gefühl, mir wäre kalt. Ich fragte mich spontan, ob Kai das ab und zu auch tat, ob er so vielleicht die Hitze aushielt, aber ich konnte mir das nicht vorstellen, da der Himmel tagsüber im Moment vor Helligkeit fast schon weiß war. Ich streckte mich und sah hinter mich. Kai lag mit dem Gesicht zur Wand, Arme und Beine angezogen, doch als er meinen Blick bemerkte, drehte er sich etwas mir zu. Er sagte eine Weile nichts, ehe er vorsichtig ansetzte. „Ähm...Tut diese...diese Beule...wirklich nicht weh?“ Ich sah ihn erstaunt an, ehe ich auflachte. Nein, der tut nicht weh. Normalerweise sind solche Dinger nur an Handgelenken und auch eher klein, aber meiner tut dafür im Gegensatz zu anderen nicht weh.“ Ich drückte demonstrativ ein bisschen auf den Tumor und er gab nach, verformte sich und ich hörte Kai geshockt aufkeuchen. Ich grinste nur. „Sowas ist nichts schlimmes, ist eigentlich nichtmal wirklich ein Tumor, also irgendwas mit Krebs. Das ist einfach Haut, wo so eine geleeartige Flüssigkeit drin ist. Keine Ahnung, warum man diese Dinger Tumor nennt, vielleicht wegen dem Aussehen?“ Ich drückte weiter vorsichtig daran rum, ich wusste, ich darf ihn nicht alleine kaputt machen. Sollte ich das tun, könnte ich Knochen oder Sehnen beschädigen und zerstechen darf ich ihn auch nicht, wobei ich keine Ahnung habe, warum... Kai schüttelte sich, bis er irgendwann meinte, ich solle aufhören. Ich kratzte mich verwirrt an der Wange und sofort wurde er lauter und meinte, ich solle mein Gesicht in Ruhe lassen. Ein bisschen überrascht und auch traurig ließ ich es sein, Kai legte währenddessen eine Hand dahin, wo seine Stirn wohl war und murmelte was von wegen ich müsse jetzt nicht beleidigt sein. Ich seufzte nur und drehte mich wieder dem Fenster zu, mittlerweile war es schon richtig dunkel und Masa käme wohl jeden Moment. Plötzlich spürte ich, wie sich Kai aufrichtete. Er hatte mir immer noch den Rücken zugewandt, doch sein Kopf drehte sich etwas. „Ich...Ich glaube, dass ich dir...irgendwann...vielleicht mein Gesicht zeigen könnte...“ meinte er zögerlich, es schien ihm schwer zu fallen, diese Worte zu sagen, doch ich freute mich sehr über diese Worte. Ich lächelte ihn an und wollte ihn gerade zum Dank umarmen, als plötzlich die Türe aufging und Masa mit einem großen Rucksack und seinem Blindenstock in der Türe stand. „Kommt, es wird Zeit.“ sagte er nur lächelnd, ich verkniff mir meine Umarmung und Kai und ich folgten Masa hinaus Richtung Eingang. Kapitel 10: Leuchtender Mond und schimmernde Sterne --------------------------------------------------- Stumm folgte ich Masa, von dem ich mittlerweile wusste, dass er eigentlich Masayoshi hieß, aber der Name wäre mir auch zu lang gewesen. Ich wusste nun, dass er 22 war, also vier Jahre älter als ich. Mary dagegen war erst 16, also zwei Jahre jünger, obwohl ich sie spontan sogar auf 13 getippt hätte. Mir war etwas unwohl im Magen, wenn ich daran dachte, dass ich vorhin gesagt hatte, sie dürfe mich sehen, aber nachdem sie ihr Gesicht so ...so ...ab...artig...verformt hatte, kam ich mir selbst irgendwie nur noch halb so hässlich vor mit meinen Narben.... Auch, wenn diese dafür schmerzen... Schließlich standen wir in der finsteren Eingangshalle, wo Masa die Türe öffnete und ich mich spontan fragte, warum diese offen war, aber vermutlich wusste die T-Rex Bescheid von unserem Ausflug. Wir gingen raus und trotz meiner dicken Kleidung spürte ich eine kühle Brise und erschauerte leicht. Nur Marys unentwegte Gekicher ging mir langsam ein wenig auf den Geist, doch Masa schien es nicht zu hören oder es schon gewöhnt zu sein. Ich tippe auf letzteres. Er lief munter vor sich hin, anscheinend genau wissend, wo er lang muss, während Mary und ich ihm wie Küken dem Huhn hinterherliefen. Er ging in ein Waldgebiet...naja, die ganze Klinik war von Wald umgeben...egal, jedenfalls lief er in den Wald rein und schien immer noch genau zu wissen, wo er lang muss. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir liefen, aber nach einiger Zeit wurde ich nicht das Gefühl los, dass wir dank unserem Führer im Kreis liefen, allerdings war ich wohl der Einzige, der das dachte, da Mary immer noch fröhlich mitging und Masa fest überzeugt schien, den Weg zu kennen. Während wie so durch den Wald liefen sprachen wir kein Wort, man hörte nur das Knacken der Äste, auf die wir traten und manchmal eine Eule oder Grillenzirpen. Doch ich hatte mich anscheinend geirrt, ich konnte knapp vor uns eine Lichtung sehen, die Masa anscheinend angezielt hatte. Wir betraten diese, es war ein kleiner baumfreier Hügel, der perfekt im Mondlicht lag. Es sah aus, als wäre es eine Abbildung von einem Gemälde, es fehlte nur noch ein Einhorn oder eine Elfe, die auf diesem Hügel stand und im blassen Licht silbern leuchtete. Der Mann vor uns steuerte die Hügelspitze an und setzte sich dort, Mary und auch ich taten es ihm nach. Das Gras war ziemlich niedrig für wildes Gras, aber es hatte eine schöne, durch die Nacht türkisblaue Farbe. „Was siehst du?“ hörte ich auf einmal Masa. Er saß in der Mitte von Mary und mir, diese lehnte sich mit dem Kopf auf seine rechte Schulter und beobachtete mich von dort. Ich sah ihn nur verwirrt an. „Wieso fragst du das, wenn ich es dir sage, weißt du doch letztendlich immer noch nicht, wie es aussieht.“ meinte ich nur, doch er lächelte und Mary kicherte kurz amüsiert. „Dann erklär es mir so, dass ich es verstehe.“ meinte er bloß freundlich, seine leeren Augen starrten dabei durch meinen Kopf durch in ein, vermutlich schwarzes, Nichts und ich fragte mich, wie man einem Blinden das erzählt, was man mit den Augen sieht. Ich sah mich um und zum ersten Mal fiel mir auf, wie viele Farben selbst die Nacht hatte. Das Blätterwerk der Bäume, das Gras, der Himmel, selbst der Mond bestand aus unzählbar vielen Farben und sie änderten sich mit jedem Blinzeln, schienen mich ärgern zu wollen, dass dieser Anblick unmöglich zu erklären war. Formen würde ich ihm nennen können, doch das Bild wäre nur eine Skizze, unfertig, unbefriedigend, einfach nicht so herrlich, so schön, so berührend...wie jetzt. Mary kicherte wieder, als könne sie in meinem Kopf lesen und als sie neckisch: „Was ist, erkläre es ihm.“ sagte, konnte ich mir denken, dass sie es ahnte. Vermutlich hatte er dieses Spielchen auch schon mit ihr gespielt...genauso wie alles davor. Für einen Moment hatte ich ein unschönes Gefühl im Bauch, ich mochte diesen Gedanken nicht, einfach wie nach einem Lehrbuch, dass einmal Recht gehabt hatte, behandelt zu werden. Doch Masa hatte mich während meinen Gedankengängen unentwegt angesehen...oder zumindest den Kopf in meine Richtung gedreht und mich erwartungsvoll angesehen. Ich seufzte. „Naja, also...also vor uns geht dieser Hügel...halt runter. Und ein Stück hinter dem Ende fängt der Wald an, der...“ „Wie genau soll ich mir diesen absinkenden Hügel vorstellen?“ unterbrach er mich und ich biss mir auf die Lippe. Ich fühlte mich wirklich überfordert, ihm das zu erklären. Ich schloss frustriert die Augen, doch wie von selbst tauchte der Hügel, der Wald, der Himmel mit Mond und Sternen auf...ziemlich skitzenhaft, fast wie...wie... „Der Hügel besteht halt aus...aus vielen dünnen Gashalmen. Sie sind sehr beweglich, wenn der Wind über sie streicht, dann bewegen sie sich wie das Wasser, mit Wellenbewegungen und sehen aus wie weiches Fell. Sie glänzen richtig im Licht, so als würden ihre Konturen an den Stellen verschwimmen. Bei dem Waldstück wird durch den Schatten der Bäume das Gras aber schwarz, man erkennt nicht mehr wirklich das Gras selbst. Die Baumstämme sind große Säulen, nur mit ungleichmäßiger Aussenhaut. Sie haben Beulen, Löcher und oben an der Spitze sprießen Äste aus diesem, fast wie die Beine eines Käfers aus dem Körper. Durch die raue Rinde haben Bäume eine ganz eigene Schattengebung, jeder...wirkt anders. Die Baumgipfel dagegen sind wie weiche Wattebausche. Ohne bestimmte Formvorgabe, vollkommen vormbar, aber immer an den Stamm gebunden, als halte dieser das Blattwerk fest, während er wegfliegen möchte. Auch die Blätter wirken wie das Gras, nur ist es da nicht wie Fell, es wirkt mehr...wie Wellen. Ungleichmäßige Wellen, sie übersteigen einander oder laufen friedlich nebeneinander. Der Himmel ist...sehr dunkel und hat eine unregelmäßige Farbe, einige Stellen sind heller als andere. Vor allem die Milchstraße, knapp über uns... Sie wirkt wie Nebel sie hat keinen festen Umriss und verläuft sich im sie umgebenden Himmel. Die Sterne wirken dabei wie kleine leuchtende Flecken, auch sie scheinen zu verschwimmen, aber man erkennt gut ihre runde Form. Sie schimmern dadurch ein wenig und wenn man lange genug hinsieht, erkennt man immer mehr, der ganze Himmel ist voll davon. Und der Mond... Er ist strahlend weiß und rund, nur ein paar gräuliche Flecken sind auf ihm. Weil er so leuchtet, ist eine Art Schein um ihn, aber er selbst verschwimmt nicht.“ „Erklär mir die Farben. Bitte.“ unterbrach er mich wieder, den Kopf gen Himmel gerichtet. Ich sah ihn kurz an, der Mondschein setzte kleine leuchtende Funken in seinen Augen, die seinen Blick mystisch, ja fast magisch wirken ließen, fast, als hätte irgendeine Macht ihm tatsächlich für diesen Augenblick das Sehen geschenkt. Doch ich besann mich wieder und sah nach vorne. „Das Gras ist grün und blau. Es hat eine Farbe, die, wenn man sie lange ansieht, ein kaltes Gefühl auswirkt, aber gleichzeitig wirkt sie sehr beruhigend auf einen, vor allem, wenn durch den Wind der Schatten und das Licht das Gras zum Leuchten bringt. Die Baumstämme sind braun, ein ganz dunkles Braun, fast schon schwarz, weil sie in ihrem eigenen Schatten stehen. Es ist im Gegensatz zum Gras und zu den Blättern eine warme Farbe, wenn auch dunkel. Die Blätter der Bäume sehen genauso wie das Gras aus, nur heller, vielleicht, weil mehr Licht dran kommt. Der Himmel ist dunkelblau, diese Farbe ist wohl die, bei der man am ehesten ein Gefühl von Kälte bekommt neben weiß. Sie ist fast schwarz, aber hat eine sehr ruhige Wirkung und wirkt unendlich...Vielleicht ist der Himmel das auch... Die Sterne und auch der Mond dagegen sind weiß, fast, als wären sie pures Licht, als würden sie Lampen sein.“ Masa seufzte und schloss kurz die Augen. Ich fragte mich warum, da beides dasselbe sein musste, doch vielleicht hilft Menschen das Augen schließen, um sich etwas vorzustellen, was man gerade nicht sieht – und wenn es nur schwarz ist. Er saß kurze Zeit sinnierend so da, ehe er, ohne die Augen zu öffnen, zu reden begann. „Es muss herrlich aussehen... Ich glaube, sollte dieser Chip jemals voll funktionsfähig sein, werde ich die Augen erst nachts hier öffnen, um zu sehen, wie es aussieht.“ Ich bekam kurz einen Kloß im Hals, fast, als überfalle mich eine starke Sentimentalität. Plötzlich musste ich lachen. Masa öffnete die Augen, obwohl er genauso viel sah wie mit geschlossenen Augen, und schaute zu mir. „Was ist?“, fragte er. Ich lachte noch kurz, ehe ich die beiden verwirrten Personen neben mir ansah. „Weißt du, ich habe das wichtigste vergessen.“ meinte ich und beide sahen noch irritierter aus. „Und was soll das sein?“ fragte mich Mary neugierig. Ich schmunzelte noch ein letztes Mal, ehe ich zum Mond hochsah. „Ich habe vergessen, zu erwähnen, dass auf eben diesem Hügel voller Gras wie Fell, umgeben von Bäumen mit Stämmen wie Säulen und Blättern wie dem Meer, direkt unter dem unendlichen Himmel mit leuchtendem Mond und schimmernden Sternen, drei ziemlich seltsame Menschen sitzen...“ Kapitel 11: 24, 65, 387 ----------------------- „Ist irgendwas mit Salami da?“ Ich hörte kurz Papierrasseln, ehe mir eines der Brötchen in die Hand gedrückt wurde. Ich überlegte kurz, ehe ich „Mary“ sagte und Mary zu lachen begann. Ich wusste nicht, wie ich das deuten sollte, doch auf Nachfrage wurden sie nur noch lauter. Irgendwann erfuhr ich, dass die Beiden es mithilfe eines Stockes mir gegeben hatten und keiner es mir in die Hand gelegt hatte. Eine kurze Diskussion über Schummeln später begann ich auch mein Brötchen zu essen, während die anderen Beiden „Stein, Schere, Papier“ wegen einem Schinkenbrötchen spielten. Mary gewann und Kai bekam als Trostpreis ein Käsebrötchen mit Tomate und Gurke, ehe beide irgendwas anderes spielten. Anscheinend war alles besser gelaufen als ich es erwartet hatte, seit er angefangen hatte, mich, Mary und sich selbst zu beschreiben, war er lockerer geworden und hatte für einen Moment anscheinend vergessen, dass er mit uns offen agierte, auch, wenn er nicht lachte oder sowas. Mittlerweile hatte ich rausgefunden, dass sie „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielten, nach irgendwas violettem suchten und dabei viel Spass hatten. „Marys Haarband“ sagte ich kurz, ehe ich wieder in mein Brötchen abbiss und die Beiden kurz schwiegen, ehe Kai mich verwirrt fragte, woher ich das wusste. „Du hast es mir vorhin erklärt.“ antwortete ich grinsend und beide schwiegen für eine Weile, entweder überrascht oder ehrfürchtig, wer weiß. Schließlich hatten wir alles aufgegessen und Mary meinte, dass der Himmel schon anfing, aufzuhellen, es also besser wäre, zurückzugehen. Und so räumten die Beiden alles in meinen Rucksack, ehe wir losliefen, ich wieder vorran. Bei 78 fragte mich Kai plötzlich „Woher kennst du eigentlich den Weg?“. Ich stoppte kurz und sah ihn an, ehe ich lachte. „Zahlen.“ Er schwieg kurz, ehe er das Wort fragend wiederholte. „Nun ja, fremde Orte sind sehr schwierig für mich, aber da ich nun schon zwei Jahre in der Klinik bin, weiß ich die Länge der Wege. Von meinem Zimmer bis zum Aufzug sind 24 Schritte, um zu dieser Lichtung zu kommen sind es 65 Schritte gerade aus der Klinik raus, 72° nach links und dann 387 Schritte geradeaus.“ erklärte ich, lief aber wieder weiter, ich war bei 105 +/- 4. „Aber...verwirren dich die ganzen Zahlen nicht? Ich meine...Das müssen doch tierisch viele sein, wie merkst du dir die alle?“ Ich lachte. „Naja, weißt du, wenn man auf etwas angewiesen ist, setzt man es durch, egal, wie schwierig es ist. Ich merke mir die Zahlen, weil sie mein Leben sehr stark vereinfachen. Du machst es doch auch nicht anders, du hast dir angewöhnt, Sommer und Winter dicke Kleidung zu tragen, dass würden verdammt wenige aushalten, ich würde vermutlich nach ein paar Stunden vor Hitze zusammenbrechen oder sowas.“ Er gab kurz ein nachdenkliches Geräusch von sich, es klang ein wenig zweifelnd, vielleicht war der Vergleich nicht ganz so passend. „Ich glaube, dein Zählen kann man eher mit Schule vergleichen. Man könnte auch ohne Schule durchkommen, aber sie macht das Leben heute sehr viel einfacher und bequemer, man braucht sie irgendwie, aber nicht überall.“ meinte Mary plötzlich und ich nickte nur zustimmend. Wir waren mittlerweile auf dem Gehweg, ich drehte mich zur Klinik und zählte die 65 Schritte ab. Ich öffnete die Türe und ging Richtung Aufzug. „Was passiert denn genau in einer Schule?“ Ich erstarrte, auch Mary war anscheinend stehen geblieben und es war still für kurze Zeit. Es war klar, dass er niemals in einer Schule war, um dort unterrichtet zu werden, doch Privatunterricht wäre sicher möglich gewesen. „Heißt das...du kannst weder Lesen noch Schreiben?“ fragte ich vorsichtig. „Doch, aber nicht sehr gut. Im Heim hatte ich viele Lernkassetten mit dazugehörigen Büchern bekommen, mit denen ich versucht habe, mir das beizubringen.“ Ich wusste kurz nicht, was ich sagen wollte, ich war knapp an der Grenze, wirklich Mitleid mit ihm zu haben, aber Mitleid half niemandem und es verletzte meist nur, zu wissen, dass selbst Andere denken, es ginge einem schlecht. „Hey, soll ich mit dir Lesen und Schreiben üben? Ich kann zwar nur Englisch, aber ich bin immer gut in der Schule gewesen!“ rief Mary auf einmal, anscheinend voll begeistert von der Idee. Es war wieder kurz still, aber als Mary aufjuchzte, nahm ich an, dass er genickt hatte. Ich kam mir ein wenig aussenseiterisch vor, auch, wenn auch ich nicht lesen und schreiben kann, schon gar nicht, wenn dieser Chip wirklich irgendwann funktionieren sollte. Ich seufzte kurz und stieg in den Aufzug, der mittlerweile schon ne Weile wartete. „Kommt, bevor die Anderen aufwachen.“ meinte ich und die Beiden folgten mir, allerdings schienen die Gesprächsthemen zumindest fürs erste ausgegangen zu sein. Im dritten Stock stiegen beide aus, als ich plötzlich einen Kuss auf die Wange bekam. „Sorry, Masa. Wir kommen heute vorbei,und dich abzuholen und gehen uns dann wieder Kuchen holen, ok?“ Ich stand ein wenig verwirrt da, während die Türen sich schlossen, ehe ich merkte, wie ich lächeln musste. Ich war anscheinend durchschaubar gewesen, dass Mary gemerkt hatte, was los gewesen war. Ihre kindliche Art, mich mit einem Kuss trösten zu wollen, war auch ziemlich niedlich gewesen, manchmal hatte ich wirklich das Gefühl, sie wäre meine kleine Schwester, auf die ich aufpassen musste. Einen Stock weiter stieg auch ich aus, lief die 24 Schritte bis zu meinem Zimmer, öffnete die Türe und setzte mich innen aufs Bett. Ich überdachte kurz den ereignisreichen Tag und vor allem, inwiefern sich vielleicht auch alle zukünftigen Tage ändern würden. Mary würde vermutlich viel Spass haben mit einem, wenn auch recht ruhigem, Zimmergenossen und die Beiden würden auch sicher häufig hier sein. Dennoch hatte ich ein wenig das Gefühl, etwa verloren zu haben. Mary war der einzige engere Kontakt von mir, für sie war es auch nicht anders gewesen, doch nun war Teilen angesagt, wobei Kai allerdings klar mehr an Mary interessiert war, da sie zum einen ebenso wie er äusserliche Probleme hatte und zudem auch keine Behinderung so wie ich hatte. Allerdings sagte ich mir selbst, dass dafür bei mir auch die Zeit hier wohl mitunter als erstes vorbei sein wird, denn im Gegensatz zu Kai gab es bei mir eine fast fertige Behandlungsmethode und da ich als Testperson hier war, wurden meine OP's finanziert im Gegensatz zu Mary, deren Eltern noch den Rest des Geldes zusammensparten. Ich würde als erstes diesen Ort verlassen können... Ich würde als erstes zuhause sein...in Japan...bei meiner Großmutter... Kapitel 12: Unmaskiert ---------------------- „Ich...Ich habe den Unfall nicht direkt gesehen... Ich weiß, sie haben gesagt, wir sollen ein Auge auf ihn haben, aber...es waren zuviele. Nichtmal seine zwei Freunde kamen durch...“ Sie knetete nervös ihre Schürze und sah mich immer wieder unsicher von unten an. Samantha Stone, die Tresenbedienung von 13.00 bis 16.00 Uhr, war eigentlich eine energische, junge Frau, nun saß sie vor mir, als verhöre ich sie wegen Mordes. „Erklären sie mir einfach, was passiert ist.“ Sie atmete tief ein und verdrehte die Schürze Stück für Stück. „Naja... Der Saal war halt... ziemlich voll gewesen...Der Neue war gerade erst mit dem Pärchen in den Raum gekommen... Diesmal saßen sie in der Mitte des Raumes, da Fenster- wie auch Wandseite vollkommen besetzt vollkommen besetzt waren. Genau wie gestern ging das Pärchen zu mir an die Theke, um Kuchen und Getränke zu holen, der Neue mit der Maske blieb alleine sitzen. Er fiel stark auf, nicht nur als Neuling, sondern auch diese braune Ganzkopfmütze war sehr auffällig, immerhin ähnelte er einem dieser Bankräuber, die sich was über den Kopf ziehen. Aber ich bediente, es war brechend voll an der Theke, insofern konnte ich nur ab und zu flüchtig zu ihm schauen. Und dabei fiel mir auf, wie sich eine kleine Menschentraube um ihn herum bildete. Dem Blinden fiel der wachsende Tumult zuerst auf, er drehte sich um und versuchte anscheinend, die Situation zuzuordnen. Schnell wurde auch das Mädchen auf die Geschehenisse im Raum aufmerksam. Sie sagte ihm etwas, ehe sie die Warteschlange verließ und auf die, mittlerweile stark angewachsene, Menschenmenge zuging. Aus dieser Menge hörte man nur Gemurmel, doch plötzlich schwoll die Lautstärke an, verwandelte sich in ein Grölen, Anfeuerungsrufen und Gejubel und mitten in diesem Lärm schrie jemand, als ginge es um sein Leben. Ich verließ sofort den Mitarbeiterbereich und auch das Mädchen rannte auf die Menge zu und versuchte, sich hindurch zu kämpfen. Die Stimme schrie immer greller, immer panischer, ehe sie abrupt stoppte und gleichzeitig die gesamte Meute auseinanderging. Man sah einen Jungen in der Mitte stehen, sein schwarzes, langes – wirklich langes – Haar verdeckte sein Gesicht und seine Hände richteten sich fassungslos seinem Kopf entgegen. Doch nur einen Bruchteil später schrie er, kreischte er, er brach zusammen und warf seine Arme über den Kopf. Das Mädchen rannte auf den neuen Besitzer der Maske zu und begann, auf diesen einzuschlagen und zu treten. Keiner rührte sich, jeder war sichtlich überfordert mit der Situation. Das Mädchen eroberte die Maske zurück und zog sie schnell dem schreiendem Jungen über. Dieser wimmerte immer noch, ehe er anscheinend bewusstlos zusammenbrach. Sie stemmte ihn hoch und trug ihn vorsichtig und mit aller Macht aus dem Raum hinaus, ohne irgendwen auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Immer noch waren alle wie erstarrt, selbst der Verprügelte lag noch verwirrt am Boden und es herrschte tödliche Stille. Irgendwann ging der Blinde los, durchquerte den Raum, wo ihm alle auswichen und so den Weg freimachten. An der Türe drehte er sich nochmal um und sah durch den Raum, schien jeden einzeln anzusehen. „Mörder!“ sagte er laut, ehe er sich umdrehte und ebenfalls den Raum verließ...“ Kapitel 13: Der Krankenstrauß, der Totenkranz --------------------------------------------- Eine Woche... Eine Woche war ich in dem Bereich, der wohl sowas wie die Intensivstation dieser Klinik war. Ich erinner mich jedoch an nichts aus dieser Zeit, da ich durchgehend mit starken Schmerz- und Betäubungsmitteln vollgepumpt war. Ich kann mir aber denken, was geschehen war, dasselbe...wie letztes Mal... Hautproben, Krebsuntersuchungen, vielleicht eine Hauttransplantation und vor allem Verbrennungsbehandlungen. Letztendlich bin ich froh, mich im Gegensatz zum letzten Mal an nichts zu erinnern, denn ich weiß, dass ich seit dem Vorfall vor 10 Jahren Krankenhäuser für Jahre gehasst habe. Jedenfalls war ich nach dieser Woche, als ich ausserhalb lebensgefährlicher Ergebnisse war, im normalen Bereich und durfte auch Besuch haben und direkt am ersten Tag bekam ich auch diesen. Um ca. 10 Uhr betrat ein gewaltiger Blumenstrauß mein Zimmer, gefolgt von Mary, Masa und der Ärztin. Letztere hatte aber nur eine große Vase dabei und ging nach Abstellen dieser auch wieder hinaus. Mary hatte sich in der Zwischenzeit auf die Bettkante gesetzt, Masa saß auf dem Stuhl neben dem Bett. Für bestimmt eine Viertelstunde saßen sie nur schweigend da und ich musterte den gewaltigen Blumenstrauß, den Mary immer noch in den Armen hatte. Er hatte alle möglichen Blumenarten und ebenso alle möglichen Farben. Er war wirklich ein kunterbunter Blumenstrauß und so groß, als wäre er für ein Grab gedacht, wo nur noch die Bänder mit den Abschiedssprüchen fehlten. War ich...tot? Alles um mich herum verblasste, verlief wie ein Bild im Regen, ehe es schwarz wurde. Ich wachte durch einen kurzen Schmerz im Arm auf, in meinem Kopf drehte sich alles und es kam mir sehr schwer vor, die Augen zu öffnen. Über mir beugte sich die Ärztin, welche mir mein Schmerzmittel gerade injizierte. Hinter ihr erkannte ich Mary, doch jetzt ohne Blumenstrauß. Schwerlich drehte ich den Kopf, mir tat alles schrecklich weh, trotz Schmerzmittel. Masa saß immer noch da, sah einen Tick über mich hinweg, neben ihm die große Vase, wo nun die Blumen drin standen. Die Ärztin ging nach vollbrachter Tat wieder raus und ich rührte mich eine Weile nicht, mein Kopf fühlte sich n, als wäre er mit Gel gefüllt, was mein Denken stark verlangsamte. „Danke...“ konnte ich schließlich zusammenbekommen. Masa korrigierte sofort seine Blickrichtung und beide meinten, dass es selbstverständlich wäre. Da ich wegen den Schmerzen Hemmungen hatte, den Kopf wieder zurückzudrehen, blieb ich so liegen, musterte Masa, welcher meinen Blick mit leeren Augen erwiderte. Wieder war es für eine Weile still, ehe mir auffiel, dass mein Kopf wie auch mein Hals sich sehr gequetscht anfühlten. Ich wollte meinen Arm heben, doch dank den Medikamenten schien meine gesamte Motorik den Geist aufgegeben zu haben. Ich musste eine Weile meine Gedanken sortieren, ehe mir einfiel, was passiert war und ich dadurch auch schlussfolgern konnte, was nun war. An diesem Tag hatte mir einer meine Maske vom Kopf abgezogen. Ich stand zum Glück mit dem Rücken zum Fenster, so dass mein Gesicht anscheinend unversehrt blieb, doch ich konnte fühlen, was stattdessen verbrannt war... Mein Nacken, meine Ohren, meine Kopfhaut. Ein Verband umwickelte fast mein ganzes Gesicht und mir fiel auch auf, dass ich anscheinend ein Kühlungsgel auf den Verbänden hatte, da mein Kopf zwar brannte, aber dennoch war eine angenehme Kälte zu spüren, die es etwas linderte. Ich musste schlucken. Der Hals und die Ohren gingen in Ordnung, doch meine Kopfhaut... Ich weiß es noch, als wäre es erst wenige Stunden her, wie ich plötzlich draußen war, in dem großen Garten bei strahlendem Sonnenschein. Ich weiß noch ganz genau, wie ich die Spiegelung der Sonne im Swimmingpool gesehen hatte, ehe ich mich, der Schmerzen wegen, auf den Boden geworfen hatte und verzweifelt versucht hatte, mich mit meinen Armen zu schützen. Ich hatte es richtig spüren können, wie meine Hände, mein Kopf heiß wurde und schmerzte, dass es mich fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Es war, als hätte ich Feuer gefangen, doch dieses Feuer konnte man nicht löschen...Kein so großes Feuer wie die Sonne... Schon damals hatte man sich große Sorgen gemacht, man hielt es für ein Wunder, dass ich meine Hände noch benutzen konnte, dass noch Haare aus meinem zerstörten Kopf wuchsen. Die Kopfhaut war die schwerst verletzt wordende Stelle und dabei die Einzige, bei der man keine Transplantation gemacht hatte. Man hatte mich unter strengste Aufsicht gestellt, denn sollte sich mein Hautzustand dort verschlimmern, so schätze man, dass ich zu 80% dort Hautkrebs bekommen würde. Doch anscheinend hatte ich Glück, denn ich lag nun hier, in einem normalen Krankenzimmer und hatte Besuch. Den ersten Besuch in meinem Leben. Es war ein seltsames Gefühl, ähnlich wie bei der ersten Begegnung mit Masa oder wie an dem Abend auf der Mondwiese... Mir wurde warm, ich fühlte mich wohl und sicher und doch machte mir dieses Gefühl Angst, denn sicher war ich nie, nirgends, nichtmal in einer Klinik voller UV-Schutzfenster... „Möchtest du was trinken?“ fragte Mary mitten in meine Gedanken hinein. Ich brauchte etwas, um zu verstehen, was sie gesagt hatte, obwohl ich sie sofort gehört hatte. Ich nickte leicht, woraufhin sie aufstand und den Raum verließ. Ich sah immer noch zu Masa und dieser hatte nach einem kurzen Verfolgen von Mary auch den Kopf wieder zu mir gerichtet. Es war still für einen Moment, ehe Masa fast betroffen den Kopf senkte. „Verzeih uns... Wir konnten dich nicht schützen...“ Ich sah ihn an und als mir der Sinn seiner Worte klar wurde, musste ich kurz lachen, auch, wenn es eher nur ein Glucksen war. „Nicht...eure Schuld...“ bekam ich heraus und sah ihn ehrlich an, auch, wenn mir eigentlich hätte klar sein müssen, dass er es nicht sehen konnte. Nach einer Weile sah ich zu dem Strauß hinüber und sah ihn eine Weile an. „Strauß schön...Bunt...Riecht gut...“ murmelte ich zusammen und Masa begann zu lächeln. „Mary hat ihn gekauft, doch ich sollte mir die Blumen aussuchen. Da ich aber nicht schöne Farben erkennen kann, habe ich die genommen, die am besten gerochen haben.“ Ich musste lächeln, ob es mir auch gelang, weiß ich nicht, doch die Art, mit der Mary und auch Masa jetzt schon mehrmals mir versucht haben, eine Freude zu machen, jeder auf seine Art, begann mir zu gefallen. Mary mit ihrer naiven Tollpatschigkeit und Masa mit seinem ruhigen und doch etwas verschüchtertem Wesen. Beide wuchsen mir langsam aber unmerklich ans Herz, doch das fiel mir nicht auf, schon gar nicht im Rauschzustand der Betäubungen. Schließlich kam Mary wieder, ein Glas und eine Flasche mit Mineralwasser in der Hand. Sie setzte sich wieder hin, schüttete etwas Wasser ins Glas. Sie bat, Masa, mich etwas anzuheben und so schafften sie es nach ein wenig Problemen auch, dass ich trinken konnte, ohne zu kleckern. Das kühle Wasser tat gut in meinem brennenden Kopf und verstärkte noch den Eindruck von Sicherheit und Geborgenheit. „Möchtest du noch was?“ fragte Mary leise, sie bemerkte anscheinend gleichzeitig wie auch ich, dass die Medikamente wieder Überhand nahmen und mich in den Schlaf zerren wollten. Meine Augen konnte ich nur mit viel Anstrengung ein wenig offen halten. „Bleibt...bitte da... Ich will hier...nicht alleine...sein...“ Kurz danach war ich wieder eingeschlafen. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, waren die Beiden weg, doch pünktlich um 10 Uhr morgens waren sie wieder da und meinten, dass sie um 20 Uhr immer gehen müssen, aber dennoch ansonsten so lange wie möglich bei mir blieben. Ich weiß noch, dass mir Tränen in dem Moment über die Wanden liefen und beide besorgt mich zu trösten versucht hatten. So vergingen ungefähr drei Monate, in denen Masa wie auch Mary mich immer besuchen kamen und wir später auch normale Gespräche halten konnten, als meine Dosis weniger wurde. Dennoch, im Nachhinein war ich...glaube ich... froh über diesen Vorfall in der Mensa... Denn dieses Gefühl...zu merken, dass jemand sich um einen sorgt...bei einem sein will...war das Schönste, dass ich bisher gespürt hatte. Kapitel 14: Gelehrter Schüler, geschulter Lehrer ------------------------------------------------ Es war nun schon bestimmt eineinhalb Monate her, seit Kai aus der Krankenstation raus war und wieder in seinem Zimmer mit Mary wohnen durfte. Es war seltsam... An jenem Tag...oder besser jener Nacht, wo wir gemeinsam im Wald gesessen hatten, hatte ich Eifersucht empfunden, wirklich Eifersucht, doch nicht aus Liebe, sondern aus Egoismus, ja fast schon aus Besitzgier. Ich hatte Mary nicht teilen wollen, ich hatte sie wie meine Exclusivfreundin gesehen und mich hatte der Gedanke, sie teilen zu müssen, abgeschreckt. Doch es hatte sich gedreht... Ich musste nicht Mary mit Kai teilen... Ich teilte Kai mit Mary. Entgegen meinen ersten Vermutungen entwickelte er großes Interesse an mir, doch anders als bei Mary wollte er nicht so sehen, hören und fühlen wie ich...Er wollte mich lehren, wie ein Sehender zu sein. Anfangs habe ich ihn abgewiesen, aus Angst, meinen Umgang mit der Blindheit zu verlernen, doch ich verlernte nicht, ich lernte noch dazu. Ich verlernte nicht, den Ursprung eines Liedes, seine Bedeutung und seine Machart zu erkennen, ich lernte dazu, auch einfach zuzuhören, ohne zwanghaft Informationen aus diesem zu erfahren. Ich lernte, dass meine Hände nicht nur meine Augen waren...sondern auch meine Hände... Körperteile, die gerne weiches Fell streicheln ohne das Tier zu kennen, Wärme zu spüren ohne auf den Ursprung zu achten und Schmerz zu spüren, auch wenn man ihn vielleicht hätte vorhersehen können. Im Gegensatz zu Mary, der Schülerin, hatte ich in Kai im Grunde einen Gleichgestellten gefunden, einen, der lernen will und doch lehrt. Es war ein seltsames Empfinden, als ich merkte, wie mein Interesse sich immer weiter von Mary auf Kai zubewegte. Sie war mir nicht unwichtig geworden, um Gottes Willen nein, doch die Gesellschaft Kais zog ich ihrer meistens vor. Ich hatte mich verändert... Doch auch Mary hatte sich verändert. Sie hatte, ebenso wie auch ich, bemerkt, dass Kai nicht nur verschlossen, sondern auch schüchtern und, ebenso wie sie, auch durchaus für sein Alter etwas zu naiv war. Sie war mittlerweile wirklich seine Lehrerin geworden und übte mit ihm jeden Tag Lesen, schreiben, Rechnen und was ihr grad sonst noch einfiel. Wenn es um Dinge wie Bio, Erdkunde oder Geschichte ging, wurde aber auch ich zum Lehrer ernannt, der banale Dinge erklärte wie die Herkunft des Menschen oder die Gründe der größten Kriege. Ich konnte es sehen...mehr oder weniger... wie sie erwachsen wurde, wie ihre Kindlichkeit durch diese neue Verantwortung begann, zu verschwinden und dem Reifungsprozess einer normalen jungen Frau zu weichen begann. Es machte mir fast ein schlechtes Gewissen, dass etwas so einfaches sie erwachsen werden lassen konnte, wo ich sie schließlich meist nur verhätschelt und bemuttert hatte, sie als kleine unselbstständige Schwester gesehen hatte, obwohl so viel Potential in ihr steckte. Vor allem in einem Punkt bemerkte ich ihre wachsende Reife eindeutig und zeitgleich auch, dass in mir ein wenig das Kind wiederauferstand: Ich wollte Kai. Ich war wie ein bockiges Kind geworden, dass etwas haben wollte, obwohl es nicht möglich war, es zu besitzen. Dennoch stritt ich, wenn auch nur stumm, um jede freie Minute, die ich mit ihm haben konnte. Doch sie zeigte sich mehr als erwachsen:Sie ließ mich. Sie akzeptierte diesen egoistischen Wunsch, verurteilte mich nicht und überließ es Kai, ob mein Wille auch geschah. Doch auch dieser hatte sich sehr verändert, mehr als Mary und ich zusammen. Er hatte nicht nur mehr Interesse an uns, in welcher Hinsicht auch immer, seit den Wochen in der Krankenstation hatte er sich uns geöffnet und begann, uns in sein Leben einzulassen. Er trug in meinem Zimmer wie auch im eigenen und Marys Zimmer die Maske nie. Wenn ein Fremder den Raum betrat, zog er sie sich meist schnell wie in Panik über, doch uns gestatte er, ihn anzusehen, jederzeit, jedem von uns auf seine Art. Ihm begann zu gefallen, dass Mary ihn oft ansah. Vor allem hatte er Interesse in ihre Zeichnungen bekommen. Mary hatte schon immer leidenschaftlich gern gezeichnet, sie war vielleicht nicht die Beste, aber ihre Bilder zeigten Können und hatten auch fast immer das gewisse Etwas, hatte ich schon oft gehört. Sie hatte sogar mal ein Portrait von mir gemacht, sie hatte es als Kupferstich gemacht, so dass selbst ich es sehen konnte und ich fand es, auch, wenn ich es sicher nicht professionell bewerten kann, sehr gut. Jedenfalls hatte Mary ihn neuerdings wohl als ihr aktuelles Motiv entdeckt, wenn ich mit ihnen zusammen war, ausserhalb meines Zimmers, hörte ich meisten das Kratzen eines Bleistiftes auf Papier, ab und zu auch das Geräusch von einem Kohle- oder Graphitstift. Kai hatte es anfangs nicht gemocht, vermutlich war ihm schon allein unangenehm gewesen, dass ihn jemand ansehen konnte, zumal die verbrannte Haut in seinem Gesicht vermutlich nicht sehr schön aussah. Doch ich selbst hatte ihn nun schon oft angesehen, sie waren winzig, die Stellen, bei denen die Haut nicht samtig und ebenmäßig war. Der Nacken und die Kopfhaut, die Stellen des Vorfalls, waren wesentlich extremer und mit bloßem Auge vermutlich sehr auffallend, vielleicht sogar abstoßend. Aber Mary war diskret, sie war beim Zeichnen immer diskret. Sie hatte ihn anfangs nur gebeten, ihn als Pose zu zeichnen, ohne Details, einfach die Art wie er saß. Langsam schlich sie sich voran, fragte, ob sie seine Augen oder sein Ohr zeichnen durfte, weitete es vom Gesicht weiter aus, bis sie ihn heute jederzeit und überall zeichnen durfte, egal, ob nur das Gesicht oder den ganzen Körper. Er akzeptierte es und blieb immer ruhig sitzen, wenn sie ihn zeichnete, genoss es fast, dass jemand Interesse an seinem Körper hatte, den er über so viele Jahre gehasst, verflucht und gemieden hatte. Doch bei mir war es nicht anders... Er besuchte mich oft in meinem Zimmer, allein, vor allem nachts, sobald Mary schlief. Er setzte sich dann auf mein Bett und rief mich leise, so lange, bis ich wach wurde. Ich weiß nicht, wie lange er manchmal da saß und einfach nur immer meinen Namen wiederholte, doch er machte es immer sehr geduldig und ruhig. Als er es das erste Mal getan hatte, war ich sehr überrascht gewesen, ihn neben mir zu hören, zu spüren, wie sein Gewicht die Matte an der Stelle, wo er saß, herunterdrückte. „Masa, darf ich dich um etwas bitten?“ hatte er mich damals gefragt und nach kurzem verwirrten Nachdenken hatte ich mit Ja geantwortet. „Kannst du dir vielleicht meinen Kopf ansehen? Ob irgendetwas ungewöhnlich ist?“ Ich verstand am Anfang nicht, worauf er hinaus wollte, doch ich tat es und begann, seinen Kopf abzutasten und ich fuhr, wie beim ersten Mal, die ebenmäßigen Strukturen seines Gesichtes nach, fuhr durch sein weiches Haar und auch über die raue, vernarbte Haut im Nacken. Kai war in der Zeit vollkommen still gewesen, hatte sich kaum gerührt, ja schien fast den Atem angehalten zu haben. Als ich fertig war, ließ ich von ihm ab und ich hatte damals Bedauern gespürt, denn sein Gesicht war wirklich sehr angenehm geformt. „War irgendetwas auffällig? Oder anders?“ hatte er mich gefragt und als ich mit nein geantwortet hatte, bedankte er sich, ehe er ohne ein weiteres Wort den Raum verlassen hatte. Diese Prozedur tat er fast jede Nacht, er kam und ließ mich ihn abtasten, fragte nach einer Veränderung und bei Verneinung ging er dann. Ich traute mich lange nicht, ihn nach dem Grund dieses seltsamen Vorgehens zu fragen, doch es ließ mir keine Ruh und irgendwann verneinte ich seine letzte Frage nicht. Er schwieg eine Weile, ehe er nur trocken sagte:„ Du lügst.“ Ich antwortete ihm genauso trocken:„Und du verschweigst mir deine Absichten.“ Eine Weile kam es mir vor, als wäre er sauer, denn er schwieg und rührte sich nicht, doch irgendwann schien er sich gegen mich zu lehnen, als wäre er plötzlich sehr müde geworden. „Ich traue der Ärztin hier nicht. Sie macht immer nur Hautproben, doch nie schaut sie nach oder sowas... Du merkst es, denke ich, eher, wenn meine Haut sich verändert.“ Jetzt verstand ich auch die Prozedur, doch es war mir schleierhaft, warum ich deshalb seinen gesamten Kopf und nicht nur die Kopfhaut und den Nacken abtasten sollte. Er schwieg kurz, ehe er mir diese unausgesprochene Frage freiwillig beantwortete. „Ausserdem...mag ich das Gefühl, wie du mein Gesicht berührst...Ich weiß nicht, wieso, es fühlt sich schön an.“ Mich juckte es kurz, ihn zu fragen, ob es bei Mary genauso war, doch meines Wissens nach hatte Mary sich bisher mit dem visuellen zufrieden gegeben und ihn nicht abgetastet oder ähnliches. Ich betrachtete es einfach sofort als mein Privileg, ebenso wie es Marys Privileg war, ihn zeichnen zu dürfen, sehen zu dürfen. Ich fuhr ihm vorsichtig über den Kopf, über die zerstörte Haut, über das weiche Haar. Meine Finger kribbelten bei diesem seltsamen Kontrast aus schön und abstoßend und auch er seufzte kurz. Und wieder wurde mir bewusst, wieviel Kai in seinem Leben fehlte neben Bildung. Etwas selbstverständliches wie Liebe und Zärtlichkeit, Vertrauen und Spass...Er war noch so unwissend wie ein Baby, dass nichtmal an der mütterlichen Brust war, um die Liebe der Mutter dort zu spüren. Und wieder wuchs in mir der Drang nach Mitleid und wieder wehrte ich ihn ab. Doch ein schlechtes Gewissen machte sich in mir breit. Denn wenn Mary ihre Distanz von Berührungen aufrecht erhielt und ich diese Klinik bald verlasse...dann würde wieder ein Teil Erfahrung fehlen...und ich wurde das Gefühl von Schuld nicht mehr los... Kapitel 15: Wenn Blinde sehen ----------------------------- Es war schon ein seltsames Gefühl, zu sehen, wie Masa, Kai und ich sich veränderten...Aber ich glaube, wenn man eine neue Person näher kennen lernt, ist das normal, man muss sich schließlich an diese anpassen. Aber ich sehe es positiv. Kai fängt an, freundlicher zu werden und mehr von sich zu erzählen, ausserdem trägt er diese Maske nicht mehr so besessen. Und Masa... Normalerweise ist er immer ruhig, nett, aber auch ein wenig....kühl.... Aber es fällt mir in letzter Zeit immer stärker auf, dass er pulsiver und auch emotionaler wird, auch, wenn er mir gegenüber manchmal etwas fies ist, aber das ist nicht schlimm, ich weiß, dass er es nicht böse meint. Ausserdem glaube ich, dass es gut ist, wie Kai und Masa zueinander stehen, denn sowas wie einen besten Freund braucht man einfach. Aber ich habe auch ein wenig Angst davor, dass sie sich so gut verstehen...denn...Masas -vielleicht letzte-Operation steht vor der Tür. Nicht nur, weil beide sich dadurch verlieren würden, nein... Ich habe Angst. Sehr große Angst. Denn sowas wie weiche Haut kann man mit den Augen nicht sehen... „Wie geht es dir?“ Masa saß mit Augenverband im Bett, er soll immer ein paar Stunden warten, ehe er seine Augen benutzte, um eine Überreizung zu vermeiden. Kais Gesicht war eine Mischung aus besorgt und ängstlich, wobei er wohl weniger Gründe für die Angst hatte als ich. Ich selbst versuchte, nur das Gute zu sehen, mir nur zu wünschen, dass dieser Chip das war, was ihm helfen konnte. Ausnahmsweise war Licht in seinem Zimmer an, wir hatten eine Stehlampe mitgebracht, diese jedoch für nicht zu grelles Licht abgedeckt. Schließlich nahm er den Verband ab, ließ die Augen aber noch geschlossen. Er atmete tief durch, bisher hatte er durch den Chip nur grobe Umrisse und starke Änderungen der Lichtverhältnisse erkennen können, doch Probanten in Regensburg hatten angeblich gut sehen können, wenn auch nur in schwarz-weiß und stark verschwommen. Langsam öffnete er die Augen und sah uns, die wir ihm gegenüber saßen, an. Und er sah uns wirklich an. Ich merkte sofort, wie er mich anvisierte und mich von oben bis unten mit ernster Miene musterte. Mir war nicht ganz klar, was ich mir unter „stark verschwommen“ vorstellen sollte, inwiefern er Dinge sehen konnte und wie detailreich. Nachdem er mich eingehend angesehen hatte, wanderte sein Blick zu Kai, der sich sichtlich unwohl fühlte, allerdings wohl, genau wie bei mir, nur wegen seinem Komplex bezüglich seinem Gesicht. Abschließend sah er auf seine Beine, seine Arme, er musterte seinen Bauch und seine Hände. Er wirkte auf mich, als wäre er eines der Aliens in einem Film, welches sich in einen Menschen verwandelt hatte und seinen neuen Körper verwundert erforschte. Ich konnte an seinem Blick nicht sagen, was er dachte, allerdings zuckten seine Augenbrauen manchmal, was sie taten, wenn er etwas nicht verstand und mir zumindest sagte, dass er sehen konnte...und zwar für einen Blinden verhältnismäßig sehr, sehr gut. Schließlich bewegte er seine Finger, sah schweigend seinen Fingern zu, wie diese sich bewegten und ihm gehorchten. Dann sah er wieder mich an, streckte seine Hand aus und berührte mein Gesicht. Er fuhr über dieses, während er immer wieder die Augen schloss und sie wieder öffnete, Gefühl und Sehen anscheinend verbinden wollte oder aber versuchte, dass bisherige Bild so zu korrigieren. Dann sah er zu Kai, wollte die Prozedur anscheinend auch bei ihm vollziehen, doch dieser zuckte sofort verängstigt zurück und Masas Arm stoppte. Er legte den Kopf etwas schief, sah Kai aber eindringlich an und ich konnte förmlich sehen, wie Kai immer kleiner wurde. Wieder bewegte Masa seinen Arm auf Kai zu und wieder zuckte dieser zurück, doch diesmal erreichte Masas Hand sein Gesicht und fast wie auf Kommando gab Kai nach. Es war mehr als offensichtlich, dass Kai sehr empfindlich auf Berührungen reagierte und vor allem Masas Berührungen zeigten eine unglaubliche Wirkung auf ihn. Sein Körper war immer noch angespannt, doch er saß zumindest nicht mehr starr da. Er schloss die Augen und schien zu hoffen, dass Masa schnell fertig war. Doch diesmal nahm sich Masa Zeit, viel Zeit. Mir war nicht ganz klar, ob er das tat, weil er besonders vorsichtig sein wollte oder ob ich es mit Masas allgemein starkem Interesse an Kai erklären sollte. Jedenfalls ließ er schließlich auch von Kai ab und sah nun uns beide an. Nur vorsichtig öffnete Kai die Augen, erwiderte jedoch den Blick. „Es ist...sehr seltsam...zu sehen.“ sagte Masa schließlich und er war weder begeistert, noch wirklich enttäuscht. Er legte wieder den Kopf schief, etwas, dass er sich in der Klinik angewöhnt hatte, wenn er über etwas für ihn wichtiges nachdachte. „Farben...Licht...“ murmelte er vor sich hin, ehe er erst mich, dann Kai wieder genau ansah und dann nacheinander über unsere zerstörten Hautstücke fuhr. Er bewegte danach seine Finger nachfühlend, sah aber weiter auf jene berührten Stellen. Neben mir atmete Kai kurz schwerlich, es war anscheinend sehr anstrengend für ihn, diese Prozedur durchzustehen, doch Masa hörte es sofort und musterte diesen, welcher auch zeitgleich erschrocken zusammenzuckte. Doch ehe Kai irgendetwas tun konnte, umarmte Masa ihn und streichelte ihm über das Haar. Kai verkrampfte sich zuerst, doch das er nicht Masas Augen sah, beruhigte ihn sichtlich. Über Kais Schulter sah Masa zu mir, ich hielt diesem stand und nach einem kurzen Blicktausch lächelte Masa und mir fiel trotz des trüben Lichts plötzlich auf, dass Masa wässrige Augen hatte und sich - vermutlich wegen Kai - zusammenriss, nicht zu weinen. Sofort musste auch ich lächeln, auch, wenn der Chip in ein paar Tagen wieder entfernt werden würde, um ihn weiter auf Farbe und Details zu optimieren, war er für Masa bereits ein großer Erfolg und bei dem Anblick seines glücklichen Lächelns, seiner angestrengten Zurückhaltung, um sich vor Kai und mir nicht zu blamieren, wusste ich, dass dieser Chip es wert war, dass sich Menschen dafür mehrmals die Augen verletzen ließen und ihre Sehfähigkeit wieder und wieder aufs Spiel setzten. Dieser Chip war es wert, geschaffen zu werden. Kapitel 16: Mit anderen Augen ----------------------------- Es war seltsam gewesen.... Der Abend nach Masas Operation... Es war ein sehr komisches Gefühl, dass er mich anscheinend wirklich sehen konnte, mich mit seinen Augen wirklich sehen konnte. Allerdings blieb dieser Chip nur 5 Tage drin und danach war er wieder, wie vorher, auf seine Hände und sein Gehör angewiesen. Und ich fühlte mich mies bei dem Gedanken, dass mich diese Tatsache freute. Doch Masa hatte es gelassen hingenommen, aber das wunderte mich auch nicht, er hatte diese Prozedur, wenn ich mich richtig erinner, bereits ein paar Mal durchgemacht, schließlich ist er schon zwei Jahre hier. Und trotzdem missfiel mir meine Freude um die zurückgekehrte Finsternis vor Masas Augen. Heute ist jedenfalls Wandertag, heißt, alle ausser mir und denen, die nicht weg wollen, waren ausgegangen. Ich würde sehr gerne mitgehen, in ein Kino oder einen Park, Eis in der Sonne essen und mich von fröhlichen Eltern abholen lassen. Doch das lag, wenn überhaupt, in weit entfernter Zukunft. Masa und Mary waren auch da geblieben, vermutlich mir zuliebe, wie alle Wandertage davor auch, doch es machte mich etwas traurig, dass sie sich wegen mir nicht in der Sonne amüsieren konnten. „Sie sind da!“ Ich zuckte erschrocken zusammen. Bis gerade eben hatten Masa und ich uns noch mit „Ich schreib auf deinen Rücken“ beschäftigt, Mary hatte dabei auf der Fensterbank gesessen und nach draußen in den Hof gestarrt. Jetzt war sie allerdings jubelnd aufgesprungen und flitzte aus dem Zimmer. „Anscheinend.“ sagte Masa amüsiert und ich brauchte eine Weile, ehe ich verstand, dass Masa auf Marys ausruf antwortete. Er stand auf und folgte ihr langsam, sagte beim Rausgehen noch „Vergiss deine Maske nicht“. Verwirrt folgte ich ihm durch die Klinik in die Eingangshalle, draußen stand ein großer metallicblauer Jeep, wo Leute ausstiegen und Mary umarmten. „Ihre...Familie?“ fragte ich vorsichtig und Masa nickte. Sechs Leute standen mittlerweile im Hof und kamen, begleitet von mary, auf die Klinik zu. Sie schienen in genau drei Generationen eingeteilt worden zu sein: Großeltern, Eltern, Kinder. Die Jüngsten waren zwei kleine Jungen, Zwillinge. Sie waren kleiner und jünger als Mary, hatten dunkelblondes strubbeliges Haar, einer ein rotes, der Andere ein blaues Top, doch beide hatten Marys Mandelaugen. Das Paar im mittleren Altern waren wohl Marys Eltern. Ihre Mutter hatte dunkelbraunes Haar, braune Augen und trug ein pastellgelbes Sommerkleid mit Strohhut. Ihr Vater dagegen hätte glatt auch Masas Vater sein können. Groß, schwarze Kurzhaarfrisur, Mandelaugen und in einem lässigen Poloshirt mit Caprihose gekleidet. Die letzten Zwei waren wohl die Großeltern und sie waren klar die Eltern ihrer Mutter. Beide hatten weißgraues Haar, doch Marys Oma hatten einen Goldstich im Haar, der wohl den Zwillingen ihre blonden Haare geschenkt hatte. Sie hatte blaue Augen,eine Dauerwelle und trug eine bestickte Bluse mit Rock, Marys Opa hatte eine Halbglatze, kastanienfarbige Augen und trug ein normales Hemd mit Jeans. Fröhlich redend betraten sie die Eingangshalle und erst jetzt fiel mir auf, dass Marys Mutter einen großen Karton trug. Die Zwillinge waren zuerst im Raum und kaum, dass sie Masa und mich sahen, stürmten sie zu uns und warfen sich Masa jauchzend um den Hals, welcher sie auf seine Arme hob und die Knuddelein sichtlich genoss. Spontan dachte ich, dass er wohl sicher ein guter Vater sein könnte, ganz genau wie Marys Vater. „Das ist dein neuer Mitbewohner?“ fragte Marys Mutter, als alle schließlich die Halle betreten hatten. Mary lief fröhlich auf mich zu, umarmte mich und meinte glücklich: „Ja, das ist Kai Bijnens!“ Ich wurde aufgrund dieser komischen Vorstellung rot, doch das sah zum Glück keiner, da ich ja meine Maske trug. Marys Familie kam zu mir, jeder schüttelte mir zur Begrüßung die Hand, stellten sich vor und begrüßten dann auch Masa. „Genug geredet! Ich habe euch was mitgebracht!“ meinte plötzlich Marys Mutter, die mich aufgefordert hatte, sie Jane zu nennen. Wir gingen in die, diesmal völlig leere, wenn man das Personal ignorierte, Mensa, schoben zwei Tische aneinander und setzten uns an diese. Jane öffnete die Kiste, wo eine riesige Dose, Spiele und ein paar verpackte Päckchen drin waren. Fast schon feierlich gab sie Mary und Masa jeweils ein Päckchen und zu meiner großen Überraschung bekam auch ich eins. Ich zögerte, als zweifle ich den Adressaten an, doch Marys Mutter sah mir nur aufmunternd zu, wie ich verwirrt das Päckchen ansah. Mary riss bereits vergnügt das Papier ab, Masa dagegen schien wohl durch Abtasten schon rauszufinden, was drin war. Ich wartete noch etwas, um sicher zu gehen, dass es wirklich kein Versehen war, dass ich eins bekam, ehe ich langsam das Papier entfernte. Es war schwierig, mit den dicken Handschuhen das Klebeband abzuziehen, doch schließlich hatte ich ungefähr den Dreh raus. Mary jubelte mittlerweile, sie hatte eine Dose mit der Aufschrift „Aquarell“ vor sich liegen und umarmte gerade ihre Eltern nacheinander. Auch Masa begann versessen, sein Packet zu öffnen, er wusste wohl schon den Inhalt und der war anscheinend gut. Ich sah ihm zu, ehe er ein seltsames Pappkästchen mit Bildern und Namen in der Hand hielt. „Wow, Minestra! Deine Lieblingsband!“ meinte Mary sichtlich vergnügt und auch Masa bedankte sich höflich bei Marys Eltern, die nicht weniger Spass an dem Trubel hatten als ihre Tochter. Doch plötzlich sahen alle zu mir, denn ich war der Letzte, der es noch nicht geöffnet hatte. Ich zögerte, mir gefiel es nicht, wie mich alle anstarrten, doch ich versuchte, mich abzulenken, die Neugierde, was in dem bunten Papier verborgen sein könnte, war zu groß. Es war jedenfalls etwas schweres und es war auch groß. Ich wickelte das letzte Stück Papier ab...und hielt ein Buch in der Hand. „Faszination Erde“ stand in Großbuchstaben drauf, der Rest des Umschlags zeigte ein Spinnennetz, an dem Tropfen hingen, die glitzerten. Das Bild faszinierte mich, wie der Titel es schon sagte und ich öffnete das Buch langsam, blätterte es durch. Es bestand nur aus Fotos, Tiere, Landschaften, Menschen und ähnliches waren in diesem abgebildet. Viele Tiere kannte ich gar nicht, beeindruckende Paläste prangten in großen Stadtmetropolen und vor Wüstenähnlichen Landschaften ging gerade die Sonne gold glänzend mit einem blutrotem Himmel unter. Ich blätterte es durch, sah jede Seite an, fast wie besessen versuchte ich, das Gesehene zu verarbeiten. Tiere zerissen andere Tiere und pflegten liebevoll ihre Jungen, gewaltige Urwälder und karge Wüsten, ein strahlend blauer Himmel und finstere Gewitterwolken... Die ganze Welt schien in diesem Buch zu sein, die ganze Welt, die ich nie sehen konnte, nie sehen durfte und darf. „Gefällt es dir?“ fragte Marys Vater, Neville, mich etwas unsicher. „Wir waren uns nicht sicher, was wir dir mitbringen könnten und naja...da du das Haus ja nur schwer verlassen kannst, um mal in Urlaub zu fahren...dachten wir uns, dieses Buch könnte dir gefallen...“ Er und auch Marys Mutter schauten mich etwas ratlos an, wegen meiner Maske konnten sie schließlich nicht wissen, wie ich das Buch aufnahm, ob ich es vielleicht nicht mochte. Plötzlich nahm mich Masa in den Arm und strich mir beruhigend über den Kopf. Ich war erst verwirrt, warum, ehe mir bewusst wurde, dass mir Tränen über das Gesicht liefen, dass ich einen dicken Kloß im Hals hatte und nur schwer schlucken konnte. Ich brauchte kurz etwas, um mich zu sammeln, Marys Familie sah mich, durch Masas Aktion zusätzlich verwirrt, verunsichert an. „Es...Es ist schön... Sehr schön...“ meinte ich und merkte selbst, dass meine Stimme zitterte. Ich setzte noch ein „Danke“ hinterher und Marys Eltern und auch die Anderen waren nicht nur erleichtert, sondern schienen sich sichtlich zu freuen. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte und mir unter der Maske die Tränen weggewischt hatte, befreite ich mich von Masa und sah wieder in das Buch, strich bedächtig über die letzte Seite, die einen gewaltigen Schwarm Flamingos zeigte, welcher gerade vor einer riesigen Sonne flog. Eine riesige Sonne aus weiß und gelb, stahlend hell, so dass die Flamingos nur Schatten sind und selbst diese verblassen. Ihr Licht bricht sich in dem Bild durch die Vögel und sendet kreisförmige Strahlen in alle Richtungen. Und das alles, ohne auch nur einem der Tiere Schaden zuzufügen. Selbst mir schmerzt es nicht. Ich blätterte weiter, auf der linken Seite schwamm gerade ein bunter Fischschwarm durch ein noch bunteres Korallenriff, auf der anderen Seite lag ein Leopard dösend auf einem Baum. Diese Dinge waren an sich so nah, in jedem Zoo könnte ich vermutlich solche Szenerien sehen...Sie waren so nah...Doch näher als in diesem Buch würde ich sie wohl nie bekommen. Nicht vor vielen, womöglich tödlichen, Experimenten an meiner Haut. Ich war mir nicht sicher, ob Jane und Neville klar war, was sie mir geschenkt hatten, doch für mich stand fest, dass ich dieses Buch wie einen Schatz hüten würde. Wie der Schlüssel zu einem verborgenen, wunderbaren Paradies, dass niemand betreten darf. Und einmal mehr begriff ich, wie Masa sich bei dem Gedanken, sehen zu können, fühlen muss. Eine Sehnsucht, stärker als die Angst vorm Tod, überwältigend und risikoreich. Doch die Hoffnung, der Wunsch auf Erfüllung, ist mächtiger und macht das Wünschen wünschenswert. Kapitel 17: Engelsbesuch ------------------------ Meine Seherfahrung war überwältigend gewesen. Ich weiß nicht, wie ich mir „scharf“ und „farbig“ sehen vorstellen sollte, doch ich hatte sie sehen können, beide. Mary und Kai, beide mit ihren Narben, Beide mit ihren Problemzonen, Beide mit ihrem angsterfüllten wie auch glücklichen Gesichtern. Es war etwas, dass ich nicht aussprechen kann und der Gedanke, dass ich bei einer Weiterentwicklung des Chips sogar noch mehr, noch besser und vor allem farbig sehen könne, baute mich sehr auf. Doch bis dahin würde ich wohl noch warten müssen, was mich aber nicht störte. Ich hatte zwei Jahre gewartet, was allein schon dieses Erlebnis wert war, da würde ich auch freiwillig noch fünf Jahre warten, um so sehen zu können wie alle Anderen. Doch ich war nicht der Einzige mit einem Gefühl der Überwältigung. Bei dem Besuch von Marys Familie hatte er, wenn ich das richtig verstanden hatte, ein Buch voller Fotos bekommen, vor allem eines mit vielen Sonnenbildern: Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, Tiere und Gebäude bei strahlendem Sonnenschein und Sonnenlicht gebrochen im Wasser. Ich hatte erst gedacht, er hätte etwas bekommen, dass ihn verstörte, dass ihm nicht gefiel, als ich hörte, wie er zu schluchzen begann. Doch es waren Freudentränen gewesen, die er vergossen hatte. Ich erfuhr nachträglich von Mary, dass Kai sich vor allem neben den Sonnenbildern Tierbilder angesehen hatte. Tierbilder mit exotischen Wesen wie Elefanten, Wildkatzen und Fischen. Mich wunderte, dass nicht Neville auf die Idee gekommen war, die mir in dem Moment durch den Kopf schoss, doch er war sich vermutlich nicht sicher gewesen, was Kai mochte. Jedenfalls spielten wir danach ein paar Spiele, vor allem Tabu fand bei uns große Begeisterung. Vor allem war toll, dass ich und Kai auch problemlos mitmachen konnten, auch, wenn wir zusammenarbeiten mussten, da ich die Wörter nicht lesen konnte. Sie blieben bis zum Abend und versprachen, was mich etwas wunderte, dass wir drei, auch Kai, sie ja bald besuchen könnten. Auch Kai schien verwirrt zu sein, denn er atmete ungleichmäßig, was ich als Verwirrung deutete. Doch bevor ich meine Idee vergass, sprach ich allein mit Mary, während Kai duschen war. Ihr gefiel mein Plan, doch wohl auch, weil sie allgemein auch ein Fan der Nacht war. Ob sie es auch ohne mich und Kai wäre, war mir dabei unklar. Es würde jedenfalls nicht schwer in der Umsetzung sein. Kai war, als eines der selten Kinder mit „Xeroderma pigmentosum“, bei der T-Rex sehr beliebt, sie tat alles, was ihm gefallen könnte. Das sie dabei nur an Publicity und Wohlstand dachte, war mir vollkommen klar, doch solange sie diese Einstellung hatte, konnten ich und Mary uns ebenfalls mehr erlauben, insofern störte es mich nicht. Blieb nur zu hoffen, dass Kai meine Idee gefiel. Ich würde sie ihm nicht erzählen, ich würde es so oder so erfahren, ob er sie mochte. Nachdem Kai fertig war und wir noch etwas weiterredeten, verabschiedete ich mich und verließ die Beiden. Allerdings ging ich nicht in mein Zimmer, sondern in das Büro der Direktorin. Wie erwartet, sagte sie sofort ja, ihr gefiel der Gedanke und sie spielte sich auf, als hätte sie den Einfall gehabt. Sie wollte uns sogar einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung stellen, doch das winkte ich ab, Neville würde uns sicher fahren, immerhin würden Stan und Kyle sicher auch gerne dorthin, die Zwei waren zwar schon acht Jahre alt,aber immer noch neugierig wie junge Kätzchen. Nach kurzem Überlegen erlaubte die Direktorin diese Forderung, verlangte nur, dass sie es bezahlen würde und nachdem ich in meinem Zimmer ankam, rief ich sofort Neville an, welcher freudig zusagte. Ich selbst würde zwar am Wenigsten davon haben, doch ich freute mich alleine schon darüber, diese Idee gehabt zu haben. Und ich nahm mir jetzt schon vor, dass ich Kai dort auch am Tag hinbringen wollte, sollte ich meinen vollendeten Chip und er sein endgültiges Heilmittel haben. Und ich war fest überzeugt, dass dieser Zeitpunkt kommen würde, egal, wie alt wir dann wären. Es war mittlerweile abgekühlt, dennoch tagsüber angenehm warm und abends dafür erholend frisch, was auch Kai eindeutig gut tat. Mir war es vorher nicht aufgefallen, doch er hatte fast immer sehr schwer und schnell geatmet, nun dagegen klang es wesentlich ruhiger und ungezwungener. Mary und ich erzählten ihm die ganze Zeit über nichts von unserem Plan, doch etwa zwei Tage vorher schien er zumindest zu ahnen, dass etwas in Planung war. Vermutlich versuchten wir zu sehr, unschuldig zu wirken. Allerdings fragte er nie, entweder traute er sich nicht oder er dachte, er bilde sich alles nur ein. Ich tippe auf letzteres, denn als schließlich gegen Abend Neville vorbeikam und uns ins Auto verfrachtete, schien Kai ziemlich überrumpelt und verwirrt zu sein. Er saß während der Fahrt nur schweigend da und schien zu überlegen, was Mary und ich wohl ausgeheckt haben könnten. Als wir unseren Zielort erreicht hatten, schien er jedenfalls durchaus zu wissen, wo wir waren, denn ich merkte, wie sein Atem schneller wurde und er lehnte sich etwas vor mich, vermutlich um durch das Fenster zu schauen. Neville fuhr noch eine Weile, anscheinend war der Parkplatz doch etwas voll, allerdings fiel mir bei dem Weg zum Eingang auf, dass unser Standort gar nicht so weit weg vom Eingang war und ich überlegte eine Weile über diese Widersprüchlichkeit, während Neville sechs Karten kaufte und wir durch das, vermutlich recht große Tor gingen, wo Kartenentwerter irgendwas an den Tickets rumrissen und uns „Viel Spass im Zoo bei der 'Night of the Wild' „ wünschten. Kapitel 18: Wenn Träume grausam sind ------------------------------------ Ich hatte mich schon die ganze Zeit darauf gefreut, in den Zoo zu fahren. Kai zuliebe war ich fast nicht mehr rausgegangen, es hatte mich zwar nicht gestört, dennoch tat es gut. Kaum, dass die Tickets entwertet waren, nahm ich Masa und Kai an die Hand und lief mit ihnen zum ersten Käfig. Es war der Gorillakäfig. Einer lag schlafend auf einer Hängematte, zwei Andere aßen und der letzte saß vor uns und starrte uns an. Kai hatte seine Maske auf obwohl Nacht war, doch er lehnte sich soweit über das Geländer, dass ich mir denken konnte, ob es ihm gefiel oder nicht. Masa sah eine Weile nachdenkend aus, ehe er „Gorilla?“ sagte. Ich fand sein Gehör wirklich immer wieder erstaunlich, bestätigte ihn und wir gingen weiter. Kai war sichtlich begeistert, denn nach einer Weile begann er, uns anzuführen und zu bestimmen, wo wir hingingen. Je näher die Tiere an den Gittern waren, je aktiver sie waren, desto länger stand er vor den Scheiben und Geländern. Vor allem der Käfig mit Lemuren gefiel ihm sehr, da diese ihm Affenhaus frei herumklettern durften. Fast eine ganze Viertelstunde lief er durch das Haus und verfolgte die Äffchen. Nach ein paar Minuten kam sogar ein Wärter vorbei, der ihm eine Art Cracker gab und wodurch Kai die Affen auch von nahem sah und ein paar sogar auf seiner Schulter saßen, um ihm die Kekse zu klauen. Ich hätte ihn gern gebeten, seine Kapuze abzunehmen, um sein glückliches Gesicht zu sehn, doch hier liefen zu viele Fremde herum, als das er dies wagen würde. Masa hatte dafür nur begrenzt Spass. Denn viele Tiere gaben keine Geräusche von sich und waren somit unsichtbar für ihn. Doch es war auffallend, dass er immer wieder lächelte, wenn Kai ein fröhliches Kichern entwich. Für einen kurzen Moment schoss mir jedoch ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. >Masa geht es soviel schlechter als Kai< Ich überlegte noch vier Käfige lang, wie ich darauf kam. Masa konnte das Leben um ihn herum nicht sehen, ihm ist es nicht mal vergönnt, die Dinge in Kais Buch zu sehen, aber er ist in keinster Weise lebensgefährdet. Mir war ein Rätsel, wie ich darauf gekommen war und nach einer Weile fragte ich mich, wie es wohl die Beiden sehen würden, ob sie mir zustimmen oder mich abweisen würden. Doch der Gedanke verschwand nicht mehr. Und das, obwohl es Masa doch klar besser hatte, denn die Chance, dass er vielleicht schon nächstes Jahr von seinem Makel befreit sein könnte, war sehr hoch, Kai stand allerdings gerade mal am Anfang seines Weges. Und der Unfall in der Mensa hatte die Ärzte dazu veranlasst, ihn noch für eine ganze Weile keiner Versuche auszusetzen, was seinen Aufenthalt verlängerte. „Wah, guckt mal, guckt mal, Tigerbabys!“ Als Kai freudig wie ein kleines Kind aufjauchzte und ganz aufgeregt am Geländer rumhopste, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und sah in den Käfig vor uns. Ein gewaltiger Tiger lag dort und zwischen den Beinen krabbelten fünf vergleichsweise kleine Kätzchen, welche uns nach dem lauten Jubeln neugierig ansahen. Ich sah kurz zu Masa, welcher nach der deutlichen Freude Kais wieder lächelte. In Momenten wie diesen wüsste ich gerne, was er dachte. Ob er in solchen Momenten vielleicht den Tränen nahe war, nicht verstehen zu können, was Andere so faszinieren konnte. Doch ich kannte Masa, dass er letztes Mal mit dem Chip fast geweint hatte, war eine gewaltige Ausnahme, denn sein Bild fand man im Lexikon unter dem Wort „Fassung/gefasst sein“. Ich sah wieder zu Kai, welcher schon fast auf der Eisenstange lag, welche den Abstand zum Käfig sichern sollte. Dann schaute ich zurück zu den Tieren, welche sichtlich auch Spass an Kai hatten. „Wenn wir das nächste Mal tagsüber hier vorbeikommen, sind sie bestimmt schon so groß, dass sie selber Babys haben.“ Wie auf Kommando sahen Beide zu mir und bei Beiden konnte ich nicht sagen, was ihnen gerade durch den Kopf ging. Kai reagierte als erstes, indem er sich langsam zu dem Tierkäfig zurückdrehte. „Ja... Dann sind es 25 Kinder und fünf Mamas.“ Überrascht sah ich zu Kai, als dieser zuende gesprochen hatte. „Dann sieht ihr goldenes Fell bestimmt besonders weich aus.“ kam es dann von links und auch Masa schien die Tiere wieder anzusehn. Und obwohl beide ruhig, ja fast nachdenklich gesprochen hatten, konnte ich gerade daran meiner Meinung nach raushören, dass sie genau jetzt beteten, träumten, hofften und sich einen Tag vorstellten, wo die Sonne einen unbezahlbaren Glanz in das Fell solcher Großkatzen zauberte. Und unwillkürlich stellte auch ich es mir vor und musste lächeln bei dem Gedanken, dass drei „Krüppel“ wie wir eines Tages wie normale Menschen mit einem Eis in der Hand an genau dieser Stelle stehen könnten, jeder mit Sonnenhut, um keinen Sonnenstich zu bekommen vor Hitze. „Übermorgen ist der erste Test.“ Ich konnte nicht anders, als ein entsetztes „Was?!“ auszustoßen. Ich hatte mich zum Einen erschrocken, aber zum Anderen gefiel mir die Nachricht auch absolut nicht. Kai hatte sie sehr ruhig ausgesprochen und ohne von den Tieren wegzusehen. „Ein gewisser Carell aus dem Irak hat irgendwie neue Proteine entdeckt, die gegen Krebs und andere Erbfehler helfen sollen. Sie wollen mir ab übermorgen eine Therapie verordnen, wo ich diese injiziert bekomme. Nach drei Tagen soll ich dann am Arm auf einem 5x5 mm großem Hautstück bestrahlt werden“ Ein dicker Kloss hatte sich in meinem Hals gebildet, während ich ihm zugehört hatte. Nach einem kurzen Seitenblick zu Masa merkte ich, dass ich da anscheinend nicht die Einzige war, denn er kaute auf seiner Unterlippe und er ballte die Hände in seinen Hosentaschen wieder und wieder zu Fäusten. Kai hatte währenddessen immer noch nur in den Tierkäfig gestarrt. „Sie sagen...es wäre ein erster Ansatz. Er könnte dafür sorgen, dass sich dort vielleicht kein Krebs bildet.“ Seine Stimme zitterte leicht und ich hatte das Bedürfnis, ihn zu umarmen und ihn nicht zu diesem Test gehen zu lassen. „Vielleicht...?“ fragte ich mit belegter Stimme nach und er antworte ruhig „Vielleicht“. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, hatte ich ja schließlich das Thema mehr oder weniger angeschnitten. „Wenn ich keinen Krebs bekomme, dann wollen sie übernächsten Monat die Therapie versuchen, wo sie die Endonukleasen XPA-XPG als Virus verschlüsselt in meinen Körper einschleusen wollen und so versuchen wollen, dass alle Sonnenschäden wie bei normalen Menschen repariert werden. Und wenn das nicht geht, soll ich in drei Monaten...“ „Hör auf!“ Kai und auch Masa waren sichtlich erschrocken, als ich aufgeschrien hatte. Doch nur Kai war wirklich geschockt, denn ich hatte mich ihm zeitgleich an den Hals geworfen und an mich gedrückt. „Hör auf, davon zu reden, bitte! Wenn alles gut geht, dann bist du doch schon nach der ersten Therapie gesund!“ Ich hielt es nicht aus, ihn reden zu hören, als wenn es eine 'ungefährliche' Sache wie bei Masa war. Dieser riskierte zwar wieder und wieder seine wahre Sehkraft, doch bei Kai stand sein Leben auf dem Spiel mit jeder Bestrahlung. Im Vergleich zu anderen Mondkindern war es vermutlich ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. In mir stieg eine gewaltige Wut hoch, dass die Direktorin ausgerechnet ihn nehmen musste, jemanden, der schon mehrmals verbrannt wurde, der dadurch schon ein extrem hohes Krebsrisiko hatte. Vielleicht war Kai gerade dadurch eher bereit, die Tests zu machen, doch ich fand es schrecklich. Während ich ihn an mich klammerte, hatte Kai die ganze Zeit vollkommen starr da gestanden. Doch plötzlich spürte ich, wie sich seine Arme um meine Schultern legten und noch einer Weile drückte auch er mich feste. Doch seine Hände zitterten, sie zitterten gewaltig und krallten sich schmerzhaft in meine Haut, doch ich ließ ihn. Auch Masa reagierte, was mir sagte, dass Kai wohl gerade weinte. Er kam langsam auf uns zu und als er uns geortet hatte, schloss auch er sich der Umarmung an. Wir standen lange dort vor dem Tigerkäfig, uns gegenseitig umarmend, nur beobachtet von Tieren, Mond und Sternen. Und doch wussten wir, dass keiner von uns die Klinik jemals ohne Schmerz und Opfer verlassen können wird, egal, wie sehr wir uns trösteten und beteten. Kapitel 19: Irren ist menschlich -------------------------------- Ich war ziemlich überrascht, als an einem meiner wohl spannensten Tage nicht eine Person, sondern drei Menschen in der Türe standen. Ich kannte sie mittlerweile sehr gut, ich hatte sie jeden Tag gesehen, nachdem der XP-Junge seinen Lichtunfall gehabt hatte und schon damals hatte es mich gewundert, dass ausgerechnet drei Patienten mit vollkommen unterschiedlichen Problemen aus unterschiedlichen Kulturen und Familienhintergründen anscheinend zueinander gefunden hatten. Ich hatte erwartet, dass sie kurz nach dem Unfall getrennte Wege gehen würden, wenn die Beiden merkten, was für eine Behinderung ein Mondscheinkind ist bezüglich Hobbys und Freizeit, das nicht im Licht sein darf und wenn, dann nur unter unendlich vielen Maßnahmen. Doch er war nun mittlerweile fast ein halbes Jahr schon hier und die Drei schienen sogar noch mehr zusammenzuhalten als vorher und auch der Junge war noch offener geworden. Ich hatte gehört, dass er öfters mal ein paar Worte mit Fremden wechselt und das er sogar in Gegenwart des Blinden und der Missgebildeten seine Kapuze abnimmt, was ihn schon bei einer Voruntersuchung durch mich überhaupt nicht gefallen hatte. Und nun stand eben dieses komische Trio bei mir im Stationsbereich. „Willkommen. Ich hatte allerdings nur dich allein erwartet.“ sagte ich kurz und versuchte, nicht abweisend zu wirken. Der Junge sah kurz seine 'Freunde' an, die ihn links und rechts flankierten, ehe er mit etwas gesenktem Kopf wieder den Kopf nach vorne drehte. „Sie haben mich nur hergebracht, sie bleiben nicht.“ sagte er, doch er klang eingeschüchtert und in mir kam der Gedanke auf, ob er von den Beiden vielleicht gezwungen wurde. Mir war mehrmals zu Ohren gekommen, was für Extrawürste der Junge bekommen hatte und es hatte mich schon früh hellhörig gemacht, dass immer einer der Beiden die Idee gehabt und geäußert hatte. Und ich traute dem Braten daher schon lange nicht, schließlich war es mit etwas Ausdauer vermutlich nicht sehr schwer, einen Aussenseiter und Einzelgänger mit Lügen zu manipulieren, dass dieser kuschte, wenn man es wollte. Dennoch versuchte ich, nett zu wirken. „Das ist aber nett. Schön, dann komm bitte mit, ich bringe dich erstmal ins Sprechzimmer, um dir alles zu erklären. Ihr Beide könnt dann in einer Woche wiederkommen.“ Mit diesen Worten legte ich einen Arm um die Schulter des Jungen und verließ mit ihm den Raum. Ich erklärte Kai sehr ausführlich, was ich mit ihm machen würde und auf meine Nachfrage stimmte er zu, dies machen zu lassen. Noch am selben Tag verabreichte ich ihm die erste Dosis. Er bekam nach einer Stunde davon zwar einen Ausschlag, aber als ich ihm eine Allergietablette gab, legte sich dieser wieder. Da ich Besucher für ihn verboten hatte, kamen die Beiden nicht und Kai saß oft auf dem Bett und sah aus dem Fenster. Da er hier häufig sein würde, hatte die Direktorin auch hier die Sonnenschutzfolien an die Fenster anbringen lassen, welche die Fenster zwar etwas trübten, aber trotzdem noch genug Licht durchließen. Ausserdem schadete das Licht dem Jungen sichtlich nicht, auch, wenn er es mied, bei vollem Sonnenschein in Nähe des Fensters zu sein. Seine Maske setzte er durchgehend nicht ab, was meinen Verdacht festigte, dass die beiden Anderen ihn irgendwie im Griff hatten. Schließlich, nach drei Tagen, war es soweit. Ich bestrahlte mit einem speziellem Laser seine Haut, doch er zischte sofort auf und die Haut begann sich zu röten, weshalb ich die Aktion abbrach. Unglücklicherweise blieb es bei keiner Verbrennung, die Wunde entzündete sich, weshalb er vier Tage länger als geplant da bleiben musste. Ich erlaubte ihm immer noch keinen Besuch, auch, wenn der Blinde und das Mädchen jeden Tag kamen und nachfragten. Doch schließlich war die Entzündung abgeheilt und die Haut war zwar verbrannt, doch zeigte keine Anzeichen, einen Tumor fürs erste auszubilden, vielleicht dank dem Mittel, was ich allerdings erst wissen würde, wenn das pharmazeutische Institut in Chicago mir den Bericht über seine Hautprobe gab. Doch ich konnte ihn nicht länger festhalten und sah ziemlich misstrauisch der herzlich aussehenden Wiedersehensfreude zu. Doch ich traute den Beiden in keinster Weise und würde meinen Verdacht auch der Direktorin mitteilen. Noch am selben Tag hatte ich mit Kathryn gesprochen und anscheinend konnte sie meine Besorgnis nachvollziehen. Allerdings hatte sie wohl Hemmungen, etwas zu unternehmen. Mir war klar, dass sie bereits ein paar Mal mittlerweile in medizinischen Zeitschriften gestanden hatte, da sie Kai viele Dinge bereitgestellt hatte, ihn trotz seines Problems zu beschäftigen. Als ich jedoch mehrmals betonte, dass er darunter leiden könnte und damit auch das Ansehen der Klinik, stimmte sie mir schließlich zu. Sie hatte sogar trotz aller Zweifel recht schnell eine Idee, die Drei zu trennen. Einmal im Jahr gab es einen Ausflug in ein beliebiges Land, meist in warme oder kulturreiche Gebiete Europas, wo dann für eine Woche Urlaub gemacht werden durfte in einem Bungalowgebiet. Wenn Kai dort allein oder mit jemand anderem zusammengebracht werden würde und auch keine Wünsche der anderen Beiden mehr berücksichtigt werden würden, dann würden sich diese vermutlich abwenden und Kai wäre bewahrt von den Folgen, die falsche Freunde um sich zu haben. Wir sprachen noch eine ganze Weile alles ab, um auch seine Sicherheit zu gewährleisten und als ich das Direktorat verließ, hatte ich ein wesentlich besseres Gewissen und fühlte mich auch stolz, einem der Patienten geholfen zu haben. Kapitel 20: Allein in der Nacht ------------------------------- Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Wir, damit meine ich die gesamte Klinik – mit Ausnahme einiger Mitarbeiter, die scheinbar Urlaub bekommen hatten – waren mit einem Flugzeug nach Griechenland geflogen, in ein Dorf nahe des Olymps, dessen Namen ich nicht mal weiß. Das Dorf bestand aus einem Supermarkt, einer Arztpraxis, einer Art Sportanlage mit diversen Angeboten und einer Bungalowsiedlung, welche nur wir besetzten. Bis dahin hatte ich nichts gegen den Urlaub einzuwenden, ich würde zwar wenig mitmachen können, doch die Landschaft würde sicher auch bei Nacht schön sein. Doch ich konnte nicht glauben, was mir um 2 Uhr morgens am Ankunftstag gesagt wurde: Ich bekam ein Einzelzimmer. Ich wollte dies absolut nicht, wollte bei Masa und Mary oder wenigstens einem der Beiden ins Zimmer, doch keiner der Ärzte akzeptierte es und die Direktorin erzählte irgendwas von wegen 'Es wäre zu meinem Besten' und 'Ich solle mich freuen über diesen Luxus'. Mittlerweile bin ich schon zwei Tage hier und alle Erwachsenen verhinderten organisiert ein Zusammentreffen zwischen mir und meinen Freunden. Ich hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden, hatte Alpträume und die Sonne, die hier um einiges greller war, machte mir Mordsangst. Doch egal, wieviel ich flehte und bettelte, sie ließen mich nicht zu ihnen, redeten immer irgendwas von 'Nachtwanderungen nur für mich' und anderen Beschäftigungen, die sie mir anboten und schienen nicht zu verstehen, dass ich kurz davor war, mich nackt in die Sonne zu stellen. In meinem Kopf drehte sich alles und ich merkte zum ersten Mal seit langem wieder: Ich war allein. Nicht ein einziges Mal hatte ich die Beiden gesehen. Egal, was ich tat, egal, wie weit ich nachts kam. Selbst, wenn ich dick verpackt tagsüber versuchte, sie zu finden, sah ich nur Erwachsene und ein paar Jugendliche in den Sportanlagen. Und ich begann zu zweifeln. Hatten sie mich vergessen? War ich vielleicht wirklich nur eine Last gewesen? An jenem Abend, als mir diese und weitere Gedanken durch den Kopf schossen, hatte ich nicht schlafen können, litt unter Heulattacken, Panik und Atemlosigkeit. Und am nächsten Morgen war ich weg. Ich war über den Balkon geklettert, irgendwann am frühen Morgen. Ich war zwar heruntergefallen, aber ich war zum Glück dick genug angezogen, dass es nicht ganz so weh tat, doch mein Fuß schmerzt seitdem stark. Da sie mich im Dorf finden würden, lief ich einfach auf den Olymp zu, das einzige, was ich bisher wirklich gesehen hatte von Griechenland. Als die Sonne herauskam, war ich bereits weit gekommen, doch ich war auch am Rand meiner Kräfte, ausserdem kroch der Schmerz aus dem Fuß mir das Knie hoch, verursachte Kopf- und Bauchschmerzen und mir war auch ein wenig schwindelig. Ich suchte mir in den bewaldeten Bergabhängen eine Stelle, die von den Bäumen ziemlich lichtdicht war und legte mich dort hin. Ich hörte Vogelgezwitscher und ich sah sogar ein Eichhörnchen und fühlte mich zum ersten Mal von meiner Krankheit befreit. Doch ich wusste, dass es nicht so war, meine Nase juckte etwas, als mein Schal ein Stück verrutscht war. Ich schlief irgendwann ein und als ich wieder aufwachte, war es schon dunkel, aber man sah noch einen rot-violetten Schimmer am Horizont. Ich stand auf und merkte, dass ich meinen Fuß nicht mehr spürte, er war taub und fühlte sich an, als wäre er in einem dicken Gipsverband. Doch um ihn zu versorgen, hätte ich zurück gemusst und das wollte ich nicht. Ich wollte nicht zurück, zurück in den einsamen Käfig, den ich seit gestern als solchen erkannt hatte. Ich lief also wieder los, immer auf die gewaltige Gebirgskette zu, auf deren Spitze angeblich die Götter wohnten. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich am Fuße des Olymps ankam, ob ich überhaupt soweit kam mit meinem Fuß oder ohne Proviant, doch es war mir egal. In einer Hinsicht hatte Mary Recht gehabt. Ich riskierte für ein paar dumme Tests mein Leben, für Tests, deren Wirkung absolut unbekannt waren und mir nichtmal die Hoffnung gaben, dass sie etwas wirklich bewirken könnten. Da könnte ich auch hier sterben, ohne Injektionen in einem nicht sterilen, lieblosen Raum. Und so lief ich immer weiter, doch ich war um ein großes Stück langsamer als letzte Nacht und konnte daher auch beim nächsten Morgengrauen noch das Dorf sehen, auch, wenn es bereits winzig war. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch weitergehen könnte. Mein Fuß war anscheinend geschwollen, denn die Schuhe drückten schmerzhaft. Ich hatte das Bedürfnis, ihn mir anzusehen, doch selbst bei der dunkelsten Stelle in diesem Wald würde mich die Sonne finden. Sie war überall und sorgte für einen schrecklichen Schlaf voller wirrer Alpträume und als ich gegen Abend wieder aufwachte, war mir heiß und ich war auch vollkommen durchgeschwitzt. Der Schmerz betäubte mich und ich spielte sogar mit dem Gedanken, mich von den nassen, heißen Kleidungsstücken zu entledigen, doch ich war noch bei genug Verstand, um es nicht zu tun. Ich versuchte kurz, aufzustehen, doch ich hatte keine Kraft in den Beinen und auch sonst fühlte ich mich nur müde. War es so, wenn man starb? Lag es am Hunger, am Durst oder war ich an dem Punkt, wo man einfach aus fehlendem Lebenswillen starb ohne sichtlichen Grund? Ich hatte keine Ahnung und es war mir auch egal. Ich hatte das Bedürfnis, wieder zu schlafen und am Besten vorher noch irgendwie mein Bein abzuschlagen, um den Schmerz nicht mehr zu spüren. Ich wollte einfach nicht mehr... Kapitel 21: Die große Suche --------------------------- Ich glaubte meinen Ohren nicht, als John, einer der für Kai zuständigen Ärzte, mir sagte, dass eben dieser verschwunden war. Mir war klar gewesen, dass er versuchen würde, zu den Beiden zurückzukommen, da diese nun schon viel zu lange seine einzigen Bezugspersonen gewesen waren, doch dieses Mal war er nicht auf dem Gelände herumgelaufen – er war weg. Ich hatte das ganze Dorf absuchen lassen, ließ jede Wohnung untersuchen, doch er war nirgends zu finden. Ich musste ihn finden, denn nicht nur meine Karriere, sondern auch meine Freiheit hing von seiner Gesundheit ab. Denn als Erziehungsvertreter war ich für ihn verantwortlich und würde bei seinem Tod zur Rechnung gezogen werden. Ich alamierte de Polizei, ließ alle Ärzte ausschwärmen und sogar ein paar der Patienten. Allerdings ließ ich den Blinden und dessen Freundin nach wie vor unter Beobachtung. Wie auch Kai hatten sie das Haus nur begrenzt verlassen dürfen und wurden bei jedem Fluchtversuch abgefangen. Ich versuchte, Kais Flucht vor ihnen zu verbergen, doch zu schnell ging die Nachricht rum und sie machten mir und meinen Mitarbeitern laufend Vorwürfe und Anschuldigungen, forderten, mitsuchen zu dürfen. Im Sinne Kais erlaubte ich es nicht, doch als es noch nicht schlimm genug war, entkamen auch diese, als sie erfuhren, wie Kai geflohen war. Doch im Moment war Kai wichtiger, also ließ ich sie, ich bezweifelte sowieso, dass sie ihn schneller finden würden als wir. Dennoch schickte ich einen meiner Ärzte ihnen hinterher, welcher sie unauffällig verfolgen sollte. Doch nun waren schon zwei Tage vergangen und weder Kai, noch die beiden Ausreißer waren wieder da. Die Bergwacht hatte sogar extra mit Hubschraubern das Umfeld abgesucht und auch ein paar Suchtrupps in den Wäldern unterwegs, doch es gab keine Meldung, weder eine Gute noch eine Schlechte. Meine Hoffnung begann zu schwinden, ich hoffte zumindest darauf, dass Jack den Blinden und die Missgeburt wieder zurückbrachte, damit es für mich nicht noch unangenehmer wurde als es schon war. Ich hatte schon gehört, dass Reporter sich auf den Weg zu uns gemacht hatten, morgen waren sie wohl da und ich musste mir überlegen, was ich ihnen sagen würde. Kapitel 22: Wahre Freunde ------------------------- Ich hatte erst gedacht, ich hörte nicht richtig, als mir an einem Abend Susan - eine 42-jährige Contergangeschädigte, die zwar zu den Rollstuhlfahrern zählte, aber dennoch viel mit Missgebildeten wie mir zusammen war - sagte, dass Kai weg war. Ich hatte es fast befürchtet, denn er lief mir mittlerweile grundsätzlich hinterher, wenn ich das Zimmer verließ, selbst, wenn ich nur für ein paar Minuten weg wäre und nichts wichtiges tun wollte. Er hatte Angst vor dem Allein sein, dass hatte ich schon geahnt und nachdem wir zwei Tage voneinander getrennt waren, schien er es nicht mehr ausgehalten zu haben. Masa reagierte mit ebenso viel Entsetzen wie ich und dieses wuchs in uns, als uns immer noch verboten wurde, das Haus zu verlassen. Wir wussten nichtmal, warum Kai urplötzlich in Quarantäne oder sowas gesteckt wurde, doch es machte mich und offensichtlich auch Masa sehr wütend. Susan hatte mir zum Glück gesagt, was die Ärzte glaubten, wie er entkommen war und ich beschloss, dasselbe zu tun. Zuerst wollte ich, dass Masa blieb, denn er konnte zwar trotz Blindheit viel, aber ich hatte Angst, dass er die Regenrinne runterfiel. Doch er bestand auf eine gemeinsame Flucht und schaffte das Klettern auch einigermaßen gut, so das wir beide erfolgreich vom Balkon ins Erdgeschoss kamen. Wir rannten zuerst einmal in den Wald, um nicht entdeckt zu werden und besprachen uns dort, wo wir ihn am Ehesten finden könnten. Ich vermutete, dass er zu einer Stadt im Tal wollte, um so mit Bus, Bahn oder ähnlichem weg zu kommen, doch Masa wies diese Idee ab, da auch Kai wüsste, dass sie ihn dort zuerst suchen würden. Er vermutete den Olymp und obwohl mir anfangs nicht klar war, wieso er ausgerechnet zu einem Berg wollte, doch dann erinnerte ich mich wieder an sein Buch, an die Naturbilder und konnte Masas Denkansatz verstehen. Und so liefen wir los, immer durch den Wald, allerdings darauf achtend, dass die Straße in Sichtweite war. Masa hatte starke Probleme, in dieser fremden Umgebung nicht zu stolpern oder gegen etwas zu laufen, allerdings vertraute er mir mittlerweile vollkommen und ließ sich ohne Angst von mir an der Hand führen. Wir liefen nach dem Morgengrauen weiter und selbst als wieder Nacht wurde, stoppten wir nicht. Erst am zweiten Morgengrauen machten wir eine Pause, denn an einem Hang zu laufen - und dazu noch an einem Bewaldeten - war nicht wirklich einfach gewesen. Doch auch Kai hatte vermutlich diesen Weg über den Hang genommen und konnte daher nicht viel weiter sein als wir. Wir hatten uns kurz hingelegt und am späten Nachmittag liefen wir auch wieder weiter. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass wir ihn irgendwo sehen, doch als ich tatsächlich etwas Buntes zwischen dem Laub liegen sah, blieb mir fast das Herz stehen vor Freude. Ich sagte Masa kurz Bescheid und zusammen gingen wir den Hügel ein Stück hinab und liefen auf den liegenden Kleiderhaufen zu. Doch meine Freude erlosch schneller als mir lieb war. Kai atmete hastig und schwer und obwohl er anscheinend wach war, bemerkte er uns nicht. Er zitterte am ganzen Körper und als ich vorsichtig mit der Hand unter seine Maske fuhr, merkte ich, dass sein Gesicht vollkommen verschwitzt und heiß war. „Oh Shit, ich glaube, er hat Fieber!“ sagte ich nur und auch Masa tastete sein Gesicht ab. Ich überlegte, was wir am Besten machen sollten, doch in mir machte sich Panik breit. Wer weiß, wie lange er schon hier lag und wenn er so stark schwitzte, musste er dringend etwas trinken, doch wir hatten nichts mitgenommen. „Wir müssen ihn zurückbringen! Am Besten, wir tragen ihn zusammen zur Straße, ab da kann ich ihn alleine tragen, wenn du mich führst.“ sagte Masa und ich war wieder mal beeindruckt von seiner Fähigkeit, ruhig zu bleiben. Gesagt, getan, wir trugen ihn gemeinsam vorsichtig den Hang hinunter, ich hebelte ihn auf Masas Rücken und gemeinsam gingen wir schnellst möglich wieder zurück. Kai schien währenddessen in Fieberträumen gefangen zu sein, er redete leise mit sich selbst, kurz dachte ich sogar, er hätte uns erkannt, da er unsere Namen nannte. Es begann wieder dunkel zu werden und das Dorf war noch sehr weit weg, wir waren nun zwar schneller als auf dem Hang, aber dennoch würden wir bestimmt 1 ½ Tage brauchen, um dort anzukommen und ob Kai es solange aushielt, war die Frage. Allerdings wurde mir auf dem Weg klar, was für ein Glück wir eigentlich noch hatten. In Panik tun Menschen manchmal dumme Dinge, doch Kai war zum Glück nicht auf die Idee gekommen, seine Kleidung auszuziehen, sei es aus Kraftlosigkeit oder ob sein Verstand es ihm verboten hatte. Mehrmals sah ich unsicher zu Masa. Kai war bestimmt nicht leicht, zudem dürfte Masa mit nur einem kurzem Nickerchen innerhalb von zwei Tagen ziemlich k.o. sein, doch er lief unbeirrt und schnell. Zudem wies nichts ausser seinem beschleunigtem Atem darauf hin, wie kraftzehrend dieser Weg für ihn sein musste. Zweimal bot ich ihm auf dem Weg zum Dorf an, dass wir wenigstens kurz pausierten oder das ich versuchen würde, Kai ein Stück zu tragen, doch Masa schien sich an dieser Aufgabe festgebissen zu haben und weigerte sich, auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren. So schafften wir es, entgegen meiner Schätzung, schon am Abend im Dorf zu sein. Dort hatte uns irgendwer anscheinend schon entdeckt, denn noch vor dem Erreichen des ersten Hauses rannten uns Ärzte und einigermaßen Gesunde entgegen, um uns Kai abzunehmen. Die Stationsärztin war mit die Erste, sie begutachtete ihn kurz, ließ ihn dann in die Dorfklinik bringen und sah uns noch kurz an, ehe sie ein irgendwie komisch klingendes „Danke“ sagte und sich wegdrehte. Der Gruppe folgen konnte sie allerdings nicht, denn kurz, nachdem Kai von Masas Schultern genommen wurde, brach dieser plötzlich zusammen und so musste auch Masa in die Praxis gebracht werden. Dort stellte die Ärztin, die sich mir mittlerweile als Miss Summer vorgestellt hatte, Erschöpfungserscheinungen fest und verordnete ihm Ruhe. Bei Kai sah es dagegen wesentlich schlimmer aus. Er hatte sich den linken Fuß verstaucht, welcher gewaltig angeschwollen war, zudem hatte er hohes Fieber und litt unter Dehydratisation. Allerdings hatte er anscheinend rechtzeitig aufgehört, weiterzulaufen und sich so Kraft aufbewahrt, die ihn vor dem lebensgefährlichen Bereich bewahrt hatte. Anfangs sollte ich nach wie vor von ihm weg bleiben, doch da ich und Masa Kai zurückgebracht hatten, erlaubte es die Direktorin schließlich. Kai lag einfach nur schwer atmend und schlafend da mit einer Kältekompresse auf der Stirn. Die Fenster waren alle verdeckt, so dass ich trotz der Tatsache, dass es Mittag war, in einem von Lampen schwach beleuchtetem Raum saß. Ich war anfangs immer von Kais zu Masas Zimmer und zurück gewechselt, doch das ging der Ärztin anscheinend irgendwann auf die Nerven und sie stellte beide Betten in ein Zimmer. Ich zerrte diese in ihrer Abwesenheit so nah aneinander, dass ich dazwischen sitzen und von jedem die Hand halten konnte. Beide schliefen friedlich und vermutlich würde ich, von der kleinen Fluchtaktion abgesehen, auch für den Rest der Woche nicht viel von Griechenland zu sehen bekommen, doch das war mir egal. Ich würde einfach ein Buch über Griechenland kaufen, mit Kai in diesem herumblättern und Masa dabei daraus vorlesen. Und wir hätten dann alle Drei mehr von Griechenland als jeder Andere hier. Kapitel 23: Großes Missverständnis ---------------------------------- Ich wachte in einem leicht beleuchteten Raum auf und schloss daraus, dass es wohl Nacht war. Das ich wirklich in einem Raum und nicht mehr im Wald war, fiel mir erst im Nachhinein auf. Ich sah mich um, doch ich konnte im ersten Moment nichts erkennen. Nur, dass ich weder auf Laub, noch unter freiem Himmel lag. „Bist du wach?“ hörte ich von irgendwo ne Stimme und sie klang verdächtig nach Mary. Ich sah alles ziemlich verschwommen, warum, war mir nicht klar, doch als sich ein großer Schatten über mich beugte und mir irgendwas Kaltes auf den Kopf legte, schloss ich einfach wieder die Augen. Das kühlende Ding tat unendlich gut und weckte mich auch ein wenig aus meiner Dösigkeit. „Kai...?“ hörte ich die Stimme wieder und mein Verdacht, dass es Mary war, festigte sich noch mehr. Ich machte etwas widerwillig wieder die Augen auf und als ich den Kopf etwas drehte, erkannte ich ihr markantes Gesicht. Als sie anscheinend merkte, dass ich sie ansah, lächelte sie und ich merkte erst jetzt, dass sie meine Hand festhielt und drückte. Ich war verwirrt, sie zu sehen, schließlich hatten sie mich die ganze Zeit allein gelassen, hatten mich nicht sehen wollen. Erst jetzt fiel mir auf, dass Masa gar nicht da war. Ich sah an ihr vorbei und suchte nach ihm. Ich vermutete, dass er draußen war, doch als ich den Kopf zur Bettkante richtete, sah ich ihn im Bett neben mir. Er schlief und hatte ein Tuch auf dem Kopf, vermutlich mit der gleichen Funktion wie das Ding auf meinem. „Mach dir keine Sorgen um ihn, er ist nur sehr, sehr müde. Miss Summer meint, dass er morgen vermutlich wieder gesund ist.“ sagte sie, als hätte ich eine Frage gestellt. Mich verwirrte diese Situation immer mehr, ich war doch weggelaufen, wieso also war ich in einem unbekannten Raum, warum war Masa krank und wieso ließ sich Mary plötzlich wieder dazu herab, mit mir zu reden? „Hast du Durst? Oder Hunger?“ unterbrach Mary meine Gedanken und tupfte mir dabei mein Gesicht ab. Ich weigerte mich, mit ihr zu reden und sie ließ es anscheinend dabei. Es war ruhig im Zimmer, nur Masas Atem war zu hören, welcher ziemlich gequetscht klang als wäre er bis gerade einen Marathon gerannt. Ich war neugierig, ich wollte wissen, was los war, was passiert war, doch ich wollte gleichzeitig nicht mit dem Mädchen neben meinem Bett reden. Doch ansonsten gab es niemanden zum Fragen, höchstens Miss Summer, doch die kannte ich mittlerweile, sie sprach nur über Medizinzeug und würde meine Fragen sicher nicht beantworten wollen oder können. Ich atmete tief ein. „Was ist hier los?“ fragte ich und merkte verwundert, dass meine Stimme heißer klang und auch nicht sehr laut war. Mary seufzte und drückte dabei meine Hand ein wenig fester. „Um genau zu sein, alles weiß ich auch nicht genau... Ich kann nur sagen, was aus meiner Sicht nach deiner Flucht passiert war, für alles davor musst du die T-Rex fragen, wieso wir getrennt wurden.“ In meinem Kopf klickte etwas und ließ mich aufhorchen. Ich war unsicher, ob ich ihr glauben sollte, dass sie ahnungslos war, doch sie klang ehrlich und das verwirrte mich. „Jedenfalls hatte uns eine Freundin von mir über deine Flucht Bescheid gesagt und wir sind auch abgehauen.“ Sie sind abgehauen? Geflohen? Wieso? „Damit wir nicht auffallen, haben wir uns im Wald versteckt, haben überlegt, wo du womöglich hingelaufen bist und hatten uns auf den Olymp geeinigt.“ Sie haben sich versteckt? Vor wem? Warum? „Und nachdem wir so um die zwei Tage durchgelaufen sind, haben wir dich gefunden. Du hattest Fieber und dann hat Masa dich zurückgetragen. Als wir ankamen, wurdest du hierher in die Klinik gebracht und dann ist Masa wegen Erschöpfung zusammengebrochen. Das war gestern Abend.“ Ich verstand nichts mehr. Es könnte sein, dass mich Mary gerade einfach nur unverschämt angelogen hatte, aber innerlich glaubte ich ihr und wollte mich bedanken. Doch da war mein Misstrauen stärker. Ich atmete wieder tief ein, es tat gut und half mir auch irgendwie beim Überlegen. Ich sah nochmal zu Masa, wenn Mary Recht hatte, dann musste er wirklich sehr müde sein und es würde auch sein schweres Atmen erklären. Ich überdachte die Situation angestrengt, doch mir wurde einfach nicht klar, warum die Direktorin uns hätte trennen sollen. Sie hatte Marys und Masas Ideen, mich zu beschäftigen, immer toll gefunden. „Oh, du bist wach?“ hörte ich plötzlich jemanden und als ich zur Türe hinter Mary guckte, sah ich die Ärztin. Sie sah mich kurz an, ehe sie plötzlich auffallend aggressiv Mary vom Bett wegdrängte und mir die Hand auf die Stirn legte. „Gut, es ist tatsächlich gesunken. Wie schön.“ sagte sie und mir fiel auf, dass sie genau die gleiche Art von Lächeln hatte wie die Direktorin: ein falsches Lächeln. Miss Summer drehte sich danach zu Mary und sah sie an, als wenn diese gerade ein Attentat auf mich versucht hätte. „Ihm geht es besser, dass dürfte dich doch beruhigen. Ich möchte dich bitten, jetzt zu gehen, er braucht Ruhe. Keine Sorge, dein Freund wird wieder in ein separates Zimmer gebracht, ihn darfst du weiter besuchen.“ Sie hatte das Ganze ruhig gesagt, doch sie klang, als wenn sie etwas stinkendes riechen würde. Mary schaute entsetzt und begann, mit der Ärztin zu diskutieren, was in einen lautstarken Streit ausartete. Masa, von dem Lärm anscheinend gestört, stöhnte leise auf und zuckte mit Augen und Augenbrauen. Ich bekam Kopfweh von dem plötzlichem Lärm und hatte das Gefühl, als wenn mein Kopf anschwellen würde. Ich versuchte, wegzuhören, da mit der Lautstärke auch meine Kopfschmerzen stärker wurden, doch dann hörte ich etwas, was sofort mein vollstes Interesse weckte. „Als wenn ihr wirklich irgendwas wie Freundschaft für ihn übrig hättet, ihr missbraucht ihn doch nur für Extras von der Direktorin!“ hatte die Ärztin, mittlerweile völlig heißer, geschrien und Mary plusterte sich förmlich auf und warf ihr für den Satz viele bösartige Dinge an den Kopf. Ich wusste nicht, wie ich das Ganze einordnen sollte, doch anscheinend wusste Miss Summer durchaus etwas, dass mir weiterhelfen könnte. Doch meine Stimme würde gegen keine der beiden kreischenden Frauen ankommen, doch ich konnte mich, wenn auch nur langsam, bewegen. Ich drehte mich etwas im Bett und trat dann so feste wie möglich beiden gegen die Hüfte. Diese schwankten kurz etwas, ehe sie mich verwirrt ansahen. „Wie meinten sie das gerade? Inwiefern missbrauchen sie mich?“ sagte ich zu Miss Summer und mein Hals kratzte beim Sprechen. Mary richtete den Blick ebenfalls auf die Ärztin, welche anscheinend sofort von der Tatsache, dass sie zum Reden gedrängt wurde, etwas eingeschüchtert wurde. Sie sah mich unsicher an, ehe sie genauso unsicher lächelte. „Wir, die Direktorin und das Ärztekollegium, wir wollen nur das Beste für dich, damit du beste Vorraussetzungen hast für die Tests. Doch uns kam der Verdacht auf, dass diese Beiden dich ausnutzen. Weil sie anscheinend nur wegen den Extras Interesse an dir hegten. Also kam uns die Idee, euch zu trennen, damit du...“ Weiter kam sie nicht, denn ihr schien mein entsetzter Blick aufgefallen zu sein. Offensichtlich hatte Mary Recht gehabt, wir wurden mit purer Absicht getrennt und das dazu noch aus absolut bescheuerten Gründen. „Bent u absolult gek?! Waar hebt u dat idee van gekreegen?! Zij zijn mijn erste en beste vrienden, jij idiot! En jij denkt, dat zij boos en mij schaden?!“ Mir war selbst nicht aufgefallen, dass ich vor lauter Wut ins Niederländische gerutscht war, doch die Ärztin konnte sich vermutlich denken, was ich ihr wütend mit heißerer, kratziger Stimme entgegenschrie. Auch, wenn ich nicht viel geschrien hatte, so tat mir doch der Hals danach ziemlich weh und ich musste auch ein paar Mal tiefer Luft holen. Ich versuchte, mich etwas zu beruhigen, ehe ich die Ärztin ansah und diesmal ruhiger, aber immer noch sauer weitersprach. „Mary und Masa sollen hier bleiben!“ Miss Summer sah kurz wirklich erschrocken und eingeschüchtert aus, ehe sie sich etwas fasste und einfach schweigend den Raum verließ. Mary stand währenddessen immer noch erschrocken zwischen den Betten und sah mich an, als erwarte sie, dass ich sie auch rausgraule. Doch sie fasste sich schnell, nahm sich das Tuch, dass mir vom Kopf gefallen wurde und ging zu dem Waschbecken neben der Türe. Ich sah ihr zu, wie sie es nass machte und auswrang, dann zurückkam und mir damit das Gesicht abtupfte. „Du hättest nicht so schreien sollen, dein Kopf ist total rot, was, wenn du wieder Fieber kriegst?“ Sie hatte es total gefasst gesagt und lächelte dabei. Es war nicht unecht, aber ich sah ihr an, dass ich sie anscheinend wirklich erschreckt hatte. Ich ließ sie eine Weile mein Gesicht abtupfen und es tat unheimlich gut. Doch irgendwann legte ich die Arme um sie und drückte sie an mich. Sie quietschte kurz erschrocken, ehe sie nach einer Weile kicherte. „Sag nicht, du hattest dich auch vor dir erschrocken?“ Ich bewunderte Mary. Ich bewunderte Mary und auch Masa. Ich bewunderte beide dafür, dass sie – nicht so wie ich - mir nicht die Schuld gegeben haben, dass sie an mich geglaubt hatten. „Es tut mir leid.“ sagte ich leise. Ich erwartete, dass sie fragte, wofür, doch anscheinend konnte sie es sich denken, vielleicht hatte sie es auch nicht gehört, jedenfalls sagte sie nichts, sondern nahm mich in den Arm und drückte meinen Kopf sanft gegen ihr Schlüsselbein. Ich fühlte mich wohl und zugleich noch elender, dass ich ihnen das selbe unterstellt hatte, was diese dumme Ärztin geglaubt hatte. Über Marys Schultern sah ich zu Masa, er schlief wieder ruhig, nur sein Atem ging nach wie vor ziemlich schnell. Und ich merkte, dass ich lächelte, doch sich zugleich Tränen in meinen Augen sammelten. Danke. Danke euch Beiden. Kapitel 24: Alles nur für Kai ----------------------------- Es hatte Tage gedauert, um alles vorzubereiten, doch dafür hoffte ich, dass es sich lohnen würde. Auch, wenn mich Marys Postkarte etwas verunsichert hatte, die irgendwas von Problemen und Stress gesagt hatte. Vor allem war seltsam gewesen, dass Kais Unterschrift gefehlt hatte. Aber als Mary nach ihrer Rückkehr mit mir telefoniert hatte, klang sie zwar ziemlich müde, aber trotzdem fröhlich und ich dachte nicht weiter darüber nach. Bei ihr wusste man eh nie, woran man war, doch gerade dafür war ich stolz auf meine Tochter. Ihre Brüder waren ihr da schon ziemlich ähnlich, allerdings waren diese viel frecher als sie es als kleines Kind gewesen war. Jedenfalls hatten wir alle Vorbereitungen nach etwa 12 Tagen fertig, komischerweise dauerte es aber sehr lange, ehe die Drei die Erlaubnis bekamen, einen Ausflug zu machen. Aber vermutlich war nach der Rückkehr aus Europa einfach viel Trubel und Organisatorisches, weshalb es einfach länger dauerte. Aber nach etwa einer Woche durfte ich sie für zwei Tage entführen und ich fuhr noch am gleichen Tag zur Klinik. Ich hatte erwartet, Masa und Mary knusperbraun zu sehen, immerhin waren sie in einem Dorf mitten im Gebirge gewesen, doch sie sahen eher ziemlich blass aus, als wenn sie wie Vampire nur in Schränken gehockt hätten. Was aber gar nicht so abwegig war, immerhin haben sie vermutlich auf Kai geachtet und so logischerweise wenig Sonne gesehen. Naja, auf jeden Fall hatte ich extra alle Autoscheiben mit abdunkelnder Folie beklebt. Ich hatte zuerst schwarzes Klebeband nehmen wollen, doch das hätte garantiert Probleme beim Fahren und mit der Polizei verursacht, was mir Jane im Baumarkt mehrmals eingebläut hatte. Sie blieb allerdings zuhause, sie wollte Abendessen fertig haben, wenn wir kommen. Alle saßen ziemlich still im Auto, nur ab und zu murmelte einer etwas. Ich fürchtete kurz, dass der Stress, den Mary auf der Postkarte erwähnt hatte, vielleicht Streit zwischen ihnen bedeutet hatte, doch bei einem Blick auf den Rücksitz fiel mir auf, dass Kai das Buch auf dem Schoss liegen hatte, dass Jane und ich ihm geschenkt hatten. Er blätterte ganz langsam durch dieses, als würde er es zum ersten Mal sehen, nur ab und zu machten er oder Mary einen Kommentar zu einem Bild. Masa dagegen saß am Fenster und hörte per Kopfhörer anscheinend Musik. So fuhr ich mit einem Grinsen und dem Gedanken „Sie sind ja doch ein komisches Trio“ Richtung Oklahoma. Mary hatte nach dem Aussteigen erstmal ziemlich lange die Hausfassade angestarrt und auch Kai schien es aufzufallen, denn auch er blieb eine Weile stehen. Masa merkte natürlich nichts, er folgte einfach dem Geräusch meiner Schritte und betrat das Haus. „Papa!?“ rief Mary, während sie und Kai uns hinterherliefen und das dunkle Haus betraten. „Papa, was soll das...?“ fragte mich Mary anscheinend verunsichert und auch jetzt wurde Masa unruhig, da er raushören konnte, das etwas nicht stimmte. Ich grinste sie nur an. „Naja, ich dachte, da Kai ja heute und morgen hier ist, sollte das Haus auch ihm angepasst sein.“ Kai ging zögerlich an mir vorbei und sah vom Hausflur in die einzelnen Zimmer hinein. „Aber das...Das hätten sie doch nicht tun müssen...“ meinte er leise und klang für mich, als hätten wir etwas schlimmes getan. Dabei hatten wir nur alle Fenster mit schwarzer Folie zugeklebt, was nichtmal sonderlich schlimm, sondern nur etwas ungewohnt war. „Neville?“ hörte ich es dann aus der Küche und Jane trat mit Schürze und Kochlöffel in den Flur. „Mensch, sag doch was, wenn ihr hier seid!“ meinte sie und sah mich vorwurfsvoll an, ein Zeichen für mich, dass ich damit wohl zum Tisch decken verdonnert werden würde. Dann sah sie abwechselnd unsere Gäste an, jetzt allerdings freundlich lächelnd. „Geht doch schonmal ins Esszimmer und macht es euch bequem, das Essen ist nachher fertig. Ach und Mary, sag doch bitte Stan und Kyle auch Bescheid, ja?“ Damit verschwand sie wieder in die Küche und die Drei liefen, angeführt von Mary, zum Wohnzimmer. Ich ging dabei zu Jane. Wie ich schon geahnt hatte, durfte ich das Geschirr schleppen. Kai bot an, mir zu helfen, doch das verhinderte Jane mit dem bissigen Kommentar „Nein, dass kann er auch allein, nicht wahr, Schatz?“ Ich hasse es, wenn sie mich Schatz nennt, denn dann darf ich meistens Drecksarbeit verrichten oder habe etwas getan, was sie meint, bestrafen zu müssen. Und Geschirr für sieben Leute herschleppen ist da schon fies. Dafür verlief das Essen angenehm fröhlich. Es gab ein paar scherzhafte Vergleiche zwischen unserem Essen und der Kantinennahrung und das wir in Sachen „alles XP-freundlich“ der Direktorin sehr ähnelten, was aber offenbar nicht nett gemeint war. Stan und Kyle versuchten während dem Essen mehrmals, Kai dazu zu bewegen, seine Kapuze abzunehmen, doch dieser wollte es einfach nicht und nach mehrmaligem Wiederholen der Bitte wurden die Drei ziemlich heftig von Mary angefahren. Die Beiden ließen daraufhin schmollend das Fragen, doch das ständige Betteln schien Kai ein schlechtes Gewissen gemacht zu haben, denn er spielte auffällig oft mit dem Rand der Kapuze. Doch er nahm sie nicht ab und als sie sich nach dem Abendessen für die Mahlzeit bedankten und hochgingen, sahen die Zwillinge ihm schon fast sehnsüchtig hinterher. Doch Jane schlug beiden einmal tadelnd auf den Hinterkopf und nun durften die Beiden abräumen. Ich wusste nicht, wie ich darüber denken sollte, ich und Jane hatten Mary schließlich bewusst so aufgezogen, dass ihr Gesicht ihr nicht zu unangenehm war. Doch Kai hatte vermutlich eine tief sitzende Angst, dagegen konnte man schlecht mit Argumenten ankämpfen und so ließ auch ich es, ebenfalls ein wenig schmollend, mit den Gedanken bleiben. Kapitel 25: Schönheit ist relativ --------------------------------- Das Essen war lecker und auch unheimlich nett von Neville und Jane gemeint, dennoch hatte ich die ganze Zeit über ein dummes, ein sehr dummes Gefühl. Ich schämte mich. Ich schämte mich zutiefst, dass ich meinen besten, meine einzigen Freunde nicht vertraut, sie sogar als Verräter angesehen habe. Mary nahm mir das ganze nicht übel. Als ich ihr gestand, was ich gedacht hatte, weshalb ich weggelaufen war, da sah sie kurz traurig aus, aber schon wenige Sekunden später lachte sie mich wieder an und meinte, dass dieser Glauben ja nun vorbei wäre. Masa allerdings sah das nicht so einfach. Er war gekränkt, als er davon hörte und das zeigte er auch, indem er seine Gespräche mit mir auf ein Minimum reduzierte und auch vermied, in meine Richtung zu sehen. Mary meinte, er würde mich nicht hassen oder sowas, er wäre nur ein wenig sauer, aber das würde sich irgendwann wieder legen. An sich beruhigte mich diese Aussage, doch als sie mir sagte, auf wen er schonmal sauer gewesen war, hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl gehabt, dass es hoffnungslos sein würde, auf erneute Freundlichkeit zu hoffen. Er war wütend auf die Leute gewesen, die mir in der Mensa meine Kapuze abgezogen hatten. Und ich war eigentlich davon überzeugt gewesen, dass er diese Jugendlichen hasste, da er sie nicht eines Blickes würdigte und wenn, dann sah man seine Antisympathie. Insofern war ich doppelt geknickt, als wir in Marys Zimmer hochgingen, denn ein Gespräch zwischen uns dreien war wohl sehr undenkbar. Marys Zimmer war gut von denen ihrer Eltern und Brüder auseinanderzuhalten. Denn auf der Fensterbank stand ein faustgroßer Kaktus, der beinahe stolz eine riesige, violette Blüte an der Spitze hatte, welche rosa Linien von der Blütenmitte bis zu den Blattspitzen hatte. Ich konnte nicht anders, als sie eine Weile anzusehen, Mary bemerkte es gar nicht und ging schon in ihr Zimmer, aber Kira, der hinter mir gelaufen war, dachte offenbar, dass wir alle drei warteten. Das fiel mir irgendwann auf und ich folgte Mary schnell ins Zimmer, ehe Masa bemerkte, dass nur ich der Grund fürs Warten gewesen war. Ich wäre fast im Türrahmen gestoppt, doch da Masa nicht gemerkt hatte, dass ich plötzlich gestoppt hatte, schubste er mich unbeabsichtigt noch ein Stückchen weiter ins Zimmer. Ob er sich dafür entschuldigte oder nicht, weiß ich nicht, denn das Zimmer hatte meine volle Aufmerksamkeit. Auf der Fensterbank, auf den Regalen, auf dem Schreibtisch und dem Nachttisch, ein paar hingen sogar an Ketten von der Decke – Kakteen. Und alle standen im Moment offenbar in voller Blüte, denn sie hatten alle Blüten und das in allen Farben, Formen und Größen, die ich mir vorstellen konnte. Nun bemerkte Mary mein neuentdecktes Interesse und kicherte, Masa fragte sie, weshalb und sie flüsterte ihm grinsend irgendwas zu, doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, was mich für einen Moment traurig stimmte. Doch ich versuchte mich wieder zu besinnen. Wir setzten uns in der Mitte des Zimmers in große Knautschsäcke und sahen uns erst ne ganze Weile nur an. Mary und Masa überlegten im Moment vielleicht über einen guten Anfang für ein Gespräch, doch ich dachte gar nicht daran, zu reden. Die Kakteen hatten meine Aufmerksamkeit geweckt für etwas ganz anderes. Als ich mir Mary zuletzt gut angesehen hatte, war sie etwas ekliges, widerwärtiges, an das man sich höchstens gewöhnen könnte – den das letzte Mal war, als ich sie zum ersten Mal traf. Doch nun...nun sah ich sie mit ganz anderen Augen. Ihre linke Gesichtshälfte war natürlich immer noch zerstört und im Grunde wirklich nur mit bösartig klingenden Wörtern beschreibar wie widerwärtig, eklig oder bemitleidenswert. Doch dafür fielen mir nun lauter kleine Sachen auf, denen ich vorher keine Bedeutung zugestanden hatte. Ich hatte mir vorher schon gedacht, dass ihre normale Gesichtshälfte sicher zu einem schönen Gesicht gehörte, doch ich war dabei vollkommen oberflächlich angegangen und auch viel zu abgelenkt vom missratenem Teil gewesen. Ich fand auch jetzt noch, dass sie rein vom Äußerlichen her viel Potential hatte, ein schönes Mädchen zu sein, wenn ihr ganzes Gesicht aussähe wie die rechte Seite. Doch ich bemerkte lauter Stellen, die eigentlich erst ihre Schönheit ausmachten und es waren nicht ihre Haut oder ihre Ohren. So war mir nie wirklich ihr Lächeln aufgefallen. Anfangs sah ich nur, wie sich alles auf der linken Seite geradezu ekelerregend verzog und vor allem die Narbe bekam bei mir viel Aufmerksamkeit. Und irgendwann gewöhnte ich mich an ihr Lächeln, maß ihm aber keine besondere Bedeutung zu. Erst jetzt, wo sie recht bedrückt da saß, fiel mir auf, wieviel mir ihr Lächeln eigentlich bedeutete. Denn ihre Zähne waren der Traum eines jeden Zahnarztes – strahlend weiß und gerade. Und immer, wenn sie lächelte, zeigte sie diese und durch diese hellen Zähne wirkten ihre Lippen auch automatisch dunkler und man konnte einfach nicht anders, als sie sympathisch zu finden. Und genau dasselbe galt für ihre Haare. Sie waren zwar nicht so lang wie die von Shampoomodels, aber sie glänzten immer, waren sauber und gepflegt und man sah ihnen an, dass sie kräftig und dick waren. Auch ihre Haarfarbe war sehr angenehm, es war ein Braun mit leichtem Rotstich und je länger man sie sich ansah, desto mehr verschiedene Farben entdeckte man. Aber das Auffallendste an ihr waren wohl ihre Augen. Ihre großen, leuchtenden Mandelaugen. Sie waren zwar, wie alle Mandelaugen, einfach nur schwarz – vielleicht auch ein extrem dunkles Braun oder so – doch Marys Augen waren im Vergleich zu anderen Menschen einfach nur riesig. Wenn sie von einer Sache begeistert war und sie einen mit diesen Augen und einem breitem Lächeln anstrahlte, dann hatte man das Gefühl, in diesen großen schwarzen Löchern zu versinken und gleichzeitig erinnerten sie eine unglaublich an die Augen eines Tierwelpen. Und ihre Augen waren auch das, was eigentlich jeden dazu bringen müsste, auch ihr zerstörtes Gesicht zu mögen. Denn trotz faltiger Haut, trotz zerstörter Nase und auch trotz dem großen Weichtumor über dem Auge, so strahlte es einen dennoch immer aus seiner etwas nach innen verlagerten Augenhöhle an und man ist irgendwann förmlich gezwungen, auch diesen Teil ihres Gesichts schön zu finden. Ihr Vater hatte vollkommen Recht gehabt, ihre Schönheit erkennt man erst, wenn sie ihre Blüten zeigt. Und Mary war ein Kaktus, der das ganze Jahr über jederzeit blüht. Man muss sich nur die Mühe geben, ihre Stacheln zu ignorieren und man wird mit dem Anblick von wunderschönen Blüten belohnt. Spontan sah ich rüber zu Masa. Auch er hatte von seiner Großmutter eine Weisheit vermittelt bekommen und zwar, dass Sehen nicht alles hilft. Sein Gehör und seine Nase bemerken Dinge, die sonst niemand entdeckt, nichtmal mit den Augen. Er weiß nicht, wie der Unterschied zwischen Voll- und Halbmond aussieht, doch er kann dafür ein Gewitter riechen, lange, bevor man die Wolken sieht und er kann Vögel am Gesang unterscheiden, während die Sehenden noch nach dem Vogel selbst suchen, um ihn dann an Farbe und Muster zu erkennen. Und sein Tastsinn... Er „sieht“ Dinge, die ich weder mit den Augen noch den Fingern bemerken würde, er entdeckt alles und nichts ausser Oberflächlichkeiten bleibt ihm verborgen. Unterschiedliche Haut- und Haarfarben, ein schlechter Kleidungsgeschmack, selbst das fürs Auge hässliche Gesicht von Mary ist für ihn unbedeutend, da er das alles nicht bemerkt, sondern fühlen kann, ob der Mensch gesund ist, ob er Besonderheiten hat und sich auch jede Winzigkeit merkt, um sie als Merkmal zum Wiedererkennen zu nutzen. Als ich jung war, hatte ich lange die Stücke von Beethoven gehört und mich immer gefragt, wie er Musik erschaffen konnte, obwohl er taub wurde. Doch wenn er mit einem solchem Gehör wie Masa geboren wurde, dann würde er wohl keinen der Töne je vergessen, die er in seinem Leben gespielt hatte und aus dieser Erinnerung Lieder erschaffen, herrlicher und prunkvoller als die von königlichen Musikanten. Sie alle nutzen ihre Einschränkungen als Chance für das, was sie stattdessen haben. Marys hässliche Gesichtshälfte verliert gegen ihre natürliche Schönheit und Masas Blindheit wird von seinen anderen Sinnen übertrumpft. Und ich... Mir...hatte nie jemand eine Lehre gegeben, nie jemand gesagt, was ich denn könnte, nie jemand gesagt, dass ich was Besonderes wäre. Nur die Ärzte und das auch nur, weil ich einer von 2000 Menschen bin, die eines der tödlichsten Leiden auf Erden haben. Doch das ist die Ursache meiner Probleme und ich weiß nichtmal, wie ich diese ausgleichen kann durch etwas anderes. Ich habe nichts, ich kann nichts besonders gut, ich habe keine spezielle Fähigkeit und mein Körper war von Narben übersät. „Kai? Was hast du?“ Ich schreckte hoch, als mich Mary plötzlich ansprach. Anscheinend hatte meine Haltung verraten, was in meinem Kopf vorgegangen war. Ich schüttelte den Kopf und lächelte, auch, wenn Mary es wegen der Maske nicht sehen konnte. Doch ich hatte mir mit diesem Gedanken jetzt die Laune verdorben und das würde vermutlich auch nicht so schnell wieder weggehen. „Worüber hast du nachgedacht?“ fragte mich dann Masa aufeinmal und ich war schon überrascht darüber, dass er überhaupt mit mir sprach. Ich wollte erst sagen, dass nichts wäre, doch bei ihm hatte ich Angst. Er war schon wütend auf mich, weil ich ihnen nicht vertraut hatte, wie würde er dann erst reagieren, wenn ich sie anlog? Doch es fiel mir unglaublich schwer, überhaupt einen Ansatz zu finden. „Ihr seid...Ihr seid wirklich zwei ganz besondere Menschen.“ sagte ich nur und sah, wie Mary sofort rot anlief und auch Masas Blick war kurz ein überraschter gewesen und sein Mundwinkel hatte kurz ein leichtes Lächeln gezeigt. „Wie...Wie kommst du denn darauf?“ fragte Mary und man sah ihr überdeutlich an, dass sie sich geschmeichelt fühlte, es ihr aber gleichzeitig unangenehm und peinlich war, sowas gesagt zu bekommen. „Naja, ein Kaktus mit wunderschönen Blüten und ein Mensch, der alles besser kann als Andere. Solche Menschen sind, denke ich, nicht sehr häufig.“ Mary wurde noch erröterter, doch Masas Blick wurde nachdenklich. „Wie kommst du darauf?“ fragte er und ich glaubte, etwas wie Misstrauen rauszuhören, war mir aber nicht sicher. Ich zögerte, denn im Grunde würde es doch irgendwie so wirken, als wollte ich sie dazu bringen, mich zu loben, wenn ich meinte, dass ich an mir selbst nichts entdeckte, dass gut war. „Also?“ wies mich Masa nochmal auf seine unbeantwortete Frage hin und ich gab nach. „Naja... Neville hat Mary gezeigt, dass sie trotz ihrem Gesicht schön sein kann...vom Herzen aus. Und du hast von deiner Großmutter gelernt, nicht das zu vermissen, was du nicht hast und kannst, sondern das zu schätzen, was du beherrscht, zum Beispiel deine Ohren. Und...naja...“ Ich schwieg und Beide schienen auch so meinen Gedankengang zu verstehen. Marys Blick zeigte ein wenig Mitleid, Masas Blick dagegen wurde ernst. Er drehte den Kopf und flüsterte ihr irgendwas zu, was sie offenbar aufregte, da sie fast gekränkt ein „Natürlich hab ich das!“ rief. Masa sah sie noch eine Weile an, ehe er den Kopf wieder zu mir drehte. „Ich dachte, wir hätten dir gesagt, was dich auszeichnet. Hast du es etwa vergessen?“ Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Masa nahm es mir übel, ihre Freundschaft in Frage gestellt zu haben, sollten sie es mir wirklich gesagt haben und ich hätte es vergessen, dann würde er vermutlich spätestens dann vor Wut überkochen. Also dachte ich fieberhaft nach, was sie mir gesagt haben könnten, doch mir fiel spontan nichts ein. Ich merkte, wie ich mich immer kleiner machte, denn Kiras Blick machte mir fast schon Angst. „Also hast du es vergessen?“ fragte er und das seine Stimme so ruhig blieb, machte mir furchtbar Angst. Ich nickte, obwohl mir hätte klar sein müssen, dass er es nicht sehen kann. Allerdings schien ihm das Schweigen Antwort genug gewesen zu sein, denn er seufzte und senkte den Kopf. „Naja, aber du hast es uns ja auch irgendwie nie wirklich geglaubt, was wir dir gesagt hatten...“ Ich war nun vollkommen verwirrt und Mary sah nur zwischen uns hin und her, als wolle sie sich da raushalten und uns animieren, weiterzusprechen. So schwiegen wir Drei eine Weile, ehe Masa seinen Arm ausstreckte und mich offenbar irgendwie berühren wollte. Ich ließ ihn, wagte ich es doch nicht, zurückzuweichen. Er zog mir die Maske ab und warf diese hinter sich auf den Boden. Dann lehnte er sich zurück und sah ein wenig so aus, als hätte er nun alles erklärt, was ich hatte wissen wollen. Ich saß nur da und verstand immer noch nicht, was das Ganze sollte, doch auch Mary schien zu begreifen, denn sie nickte mir immer wieder zu, als wolle sie mir sagen „Verstanden?“. Ich überlegte lange und mir fiel nicht ein, was gemeint war, ehe Masa wieder aufseufzte, sich aufrichtete und mein Gesicht langsam abtastete. Allerdings nur kurz, dann lehnte er sich wieder zurück und sagte nur kurz „Jetzt vertstanden?“. Und mit einem Mal machte es bei mir Klick. »Du bist wunderschön« Das hatte mir Masa beim ersten Mal gesagt, als er mich traf und auch, als ich Nacht für Nacht zu ihm kam, sagte er dies manchmal. Und auch Mary hatte es mir oft gesagt, wenn sie mich zeichnete. Sie hatte mein Gesicht nie im Detail gezeichnet, da sie wusste, ich mochte es nicht, doch dass sie es schön fand, dass hatte sie oft gesagt. Und jetzt war vermutlich ich derjenige, der rot wurde. Ich persönlich hatte mich nie schön gefunden, meine Hände, mein Nacken und Teile meines Gesichts sind braun, vernarbt und von der Sonne verbrannt. Und doch fanden Leute es schön? Es war mir schleierhaft und auch jetzt verstand ich es nicht ganz. Mary bemerkte es offenbar und lachte laut. „Weißt du, Kai? Ich bin ein Kaktus, an sich hässlich, aber mit schönen Punkten. Du bist eher eine Rose, wunderschön, aber wenn man genauer hinsieht, merkt man ein paar Makel, ein paar Dornen. Bei dir ist es anders als bei mir, du bist insgesamt schön und erst, wenn man auf kleine Details geht, merkt man ein paar Narben. Ich dagegen bin nicht schön, man braucht etwas, um meine Schönheit zu bemerken.“ Dann zwinkerte sie mir zu und grinste mich an. Und auch Masa lächelte, offenbar gefiel ihm, wie Mary das Ganze erklärt hatte. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wie ich handeln sollte. Ich war geschmeichelt, doch zeitgleich auch unendlich dankbar. Solche Worte, eine Erklärung, dass es irgendwas Gutes an mir gab, sowas wollte ich mein Leben lang hören, doch ich bekam immer nur Mitleid oder hämisches Gelächter und immer drehte sich alles um meine Krankheit, nie um mich selbst. Nur diese zwei Menschen, nur diese Zwei vergaßen diese Krankheit, diesen Fehler und das nur für mich. Sie machten sich auch Sorgen, doch letztendlich behandelten sie mich genauso wie sie jeden Anderen behandeln würden. Sie fassen mich nicht mit Samthandschuhen an und sie nehmen mich nicht unnötig in Schutz. Und nichts anderes wollte ich haben. „Ich habe es ja gesagt...Ihr seid zwei ganz besondere Menschen...“ sagte ich und bemerkten einen Kloß im Hals und auch, dass mir Tränen über die Wangen liefen. Doch ich war glücklich, ich war unendlich dankbar und fühlte mich geehrt, dass diese zwei Menschen sich Zeit für mich nahmen und mich dennoch fair, ja menschlich, behandelten. Masa lächelte nur und Mary nahm mich in den Arm und knuddelte mich laut lachend. „Mary!“ schallte es dann plötzlich durchs Haus, man hörte lautes Treppengestampfe und wenig später stand Neville in der Zimmertüre, atmlos, aber offenbar erfreut. „Mary! Die Klinik hat angerufen, du kannst morgen operiert werden! Sie lassen uns die Kosten nachträglich abbezahlen!“ Mehr als offensichtlich verwirrte es Neville, dass wir ihn alle schweigend und mit einer gewissen Betretenheit ansahen. Natürlich freute sich vermutlich jeder von uns über so eine Nachricht, aber... Nach der OP wird Mary weg sein. Für immer. Sobald die Verbände ab sind, wird sie die Klinik verlassen...und uns irgendwann vergessen. Masa ging es offenbar nicht anders und auch Mary wirkte verunsichert. „Ist...irgend etwas?“ fragte Neville irritiert und Mary schüttelte nur lachend den Kopf. Doch ich konnte sehen, dass es nicht ihr echtes Lachen war... Denn ihre schneeweißen Zähne waren nicht zu sehen. Kapitel 26: Da waren es nur noch zwei ------------------------------------- Egal, wie sehr ich auf diesen Tag gewartet, gehofft hatte, ich hätte niemals erwartet, dass er letztendlich so schnell, so unerwartet, so...ungelegen kommen würde. Doch jetzt zu sagen, dass ich ihn nicht wollte, könnte mich genauso meinen Platz in der Klinik kosten wie nach der OP. Und so blieb mir keine andere Wahl. Aber meine Eltern und auch Kai und Masa merkten, dass ich von der plötzlichen Nachricht nicht so begeistert war, wie ich es vielleicht sein sollte. Es war als wäre es gestern gewesen, da hatte ich im Zoo noch positiv daran gedacht, irgendwann die OP zu haben, aber da waren in meinen Gedanken auch Kai und Masa geheilt, mir kam nie der Gedanke, als Erste diese Klinik zu verlassen und die Beiden zurückzulassen. Ich hatte noch so vieles nicht getan, Kai konnte noch nicht fehlerfrei leichtere Sätze schreiben und ich wollte noch besser im Hören werden. Und das alles sollte unmöglich werden, ich sollte die Klinik werden, ich sollte...geheilt werden... Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass dieser Gedanke mich niedergeschlagen anstatt freudig werden ließe. Doch es war so und mit diesen Gründen würde ich wohl kaum die Direktorin darum bitten können, die OP zu verschieben. Ich hatte keine Wahl... Ich musste mich entscheiden, ob ich mit oder ohne OP die Klinik bald verlassen sollte. Und da erschien mir mit OP besser, denn ich erreichte nicht nur, was ich ursprünglich geplant hatte, ich hätte auch zumindest ein bisschen mehr Zeit. Wenn auch vermutlich nicht viel. Fast, als hätte man mir nicht meine OP, sondern meinen Tod prophezeit, kümmerten sich Kai und Masa geradezu rührend um mich, schienen mich aufmuntern zu wollen und Masa vergaß sogar, dass er böse auf Kai gewesen war. Beide versuchten, mich die Nacht über zum Lachen zu bringen und auch, als wir schon früh am Morgen in die Klinik zurückkehrten, versuchten sie mich abzulenken. Ich war glücklich darüber, doch zeitgleich machte es alles nur noch schlimmer, denn gerade durch dieses auffällige Verhalten erinnerte ich mich immer und immer wieder an den Nachmittag, an dem mich der Operationstisch erwartete. Aber alles aufmuntern half nichts, der Nachmittag kam und mit ihm ein Arzt, der mich abholte und zur Station brachte. Masa und Kai durften nicht mit, das war mir aber auch von Anfang an klar gewesen. Ich bekam eine Spritze und als ich schon merkte, wie ich müde wurde, bekam ich Panik. Ich wollte weglaufen, wollte zu Kai oder Masa, mich verstecken und sie anflehen, mich zu beschützen. Doch selbst wenn ich es vorgehabt hätte, ich konnte gerade mal leicht laufen und selbst das nur mit Hilfe. Ich wurde in einen Raum aus grünen Fliesen mit einem großem Tisch gebracht und bekam eine Maske auf und dann wurde alles schwarz. „Mary... Mary... Mary!“ Ich öffnete müde die Augen und dachte spontan, dass ich wohl jetzt wusste, wieso Kai immer so müde war, wenn er wach wurde. Ich sah zur Seite und da ich die Augen nur ein Stück offen hatte, konnte ich auch nicht viel sehen, aber genug, um zu wissen, wer neben mir saß oder besser, welche Personen dort saßen. „Mary... Endlich bist du wach...“ sagte Kai und er klang erleichtert, Kira lächelte und ich hatte ein starkes Kribbeln im ganzen Gesicht, doch ich konnte meine Arme nicht heben, ich fühlte mich zu schwer, mich überhaupt zu bewegen. Ich weiß nicht, wie lange, aber keiner sagte was, ich, weil ich nicht konnte und die Beiden, weil sie mir wohl ein wenig Ruhe gönnen wollten. Ich nickte noch mehrmals ein und hatte den Drang, grundlos zu lachen. In solchen Momenten dachte ich, dass ich jetzt wohl wüsste, wie man sich unter Drogen fühlte und es war recht unangenehm. Allerdings war mir nach einiger Zeit aufgefallen, dass ich auch bei fast vollem Bewusstsein nur schwerlich sprechen konnte. Ich hatte einen Verband ums ganze Gesicht gewickelt und mein Mund schmerzte sehr stark. Offenbar hatten sie auch die Narbe korrigiert, obwohl das eigentlich gar nicht abgemacht gewesen war. Kai und Masa waren immer bei mir, ich hatte erwartet, dass die Direktorin mich unter Quarantäne steckte wie sie es mal mit Kai gemacht hatte, doch sie ließ es sein. Insgesamt lag ich wohl um die vier Tage in der Station und immer durften die Beiden in der Besuchszeit zu mir kommen. Auch die Schmerzen ließen nach, obwohl ich mir schon dachte, dass es dennoch vermutlich ein paar Wonate dauern würde, bis das Ganze verheilt war. Zumal ich nichtmal wusste, was genau sie alles gemacht hatten. Doch die Schmerzen ließen nach und so war ich auch im Stande, mich mit den Beiden zu unterhalten. Kai war provisorisch heimlich in Masas Zimmer eingezogen, da er nicht alleine schlafen wollte und sie sagten mir auch irgendwann, dass für sie ebenfalls bald eine erneute Behandlung anstünde. Und ich lächelte sie immer an, ich konnte nicht anders, denn es war ein verzweifeltes Lächeln. Ich wusste nicht, wie lange ich sie sehen würde, ich rechnete jeden Tag damit, dass man mich nach Hause schickte, womöglich sogar heimlich, damit ich mich nicht verabschieden konnte. Darum sagte ich auch jeden Tag, wenn sie wieder in ihre Zimmer sollten: „Bis bald.“ Anfangs hatten sie mich sehr komisch angesehen, doch ich glaube, mittlerweile haben sie verstanden, was mir in dem Moment immer durch den Kopf ging. Und eines Nachts war es wirklich soweit. Mitten in der Nacht wurde ich geweckt. Mir wurde nicht gesagt, warum, doch ich konnte es mir denken. Ich musste mich anziehn und auch meine Taschen waren vorbereitet. Als ich bat, Kai und Masa kurz auf Wiedersehen zu sagen, wurde ich damit abgewimmelt, dass man die Beiden nicht bei ihrem Schlaf stören sollte. Der Witz ist, als ich dann in das Auto stieg, dass mich von der Klinik wegfuhr, konnte ich Licht in Kais Zimmer sehen. Die schwarzen Vorhänge waren zur Seite gezogen und beide winkten. Als würden sie schon seit Tagen darauf warten, dass ich wegfahr, als hätten sie jede Nacht aufgepasst, um mir wirklich „Bis bald“ zu sagen. Ich winkte zurück, obwohl sie es wohl nicht sehen konnten. Und ich weinte. Ich weinte und doch lachte ich. Ich konnte nicht anders, als todtraurig und doch unglaublich glücklich zu sein. Denn Freunde wie Masa und Kai... Solche Freunde werde ich wohl nie wieder finden...doch ich bin dankbar, dass ich mit ihnen hatte zusammensein dürfen. Kapitel 27: Kein Licht und doch die Wahrheit sehn ------------------------------------------------- Es war, wie ich es mir gedacht hatte. Mitten in der Nacht hörte ich das Brummen eines Motors und später sah Kai auch einen dunkelblauen Wagen die Einfahrt runterfahren. Und als Kai dann auf einmal rief, dass er wirklich Mary sah, spürte ich einen kurzen Stich in der Brust bei dem Gedanken, wie kaltblütig die Direktorin mittlerweile geworden war. Doch wir akzeptierten es, Kai und ich hatten schon genügend Pläne, wie wir sie wiedersehen konnten. Immerhin gab es noch den Besuchertag und Mary selbst hatte schließlich gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Berichtigungsoperation sehr wahrscheinlich war. Und dennoch winkten wir ihr zumindest zum Abschied zu, doch wir waren beide überzeugt, sie wiederzusehen, es war kein Abschied wie „Lebe wohl“. Dennoch waren es nur noch wir zwei und ein paar der Patienten sprachen uns oft genug an, ob alles mit uns in Ordnung wäre und ob wir krank wären. Vor allem war die Direktorin sehr wütend, dass Kai in mein Zimmer gezogen war und nicht andersrum. Sie meinte immer, dass es Millionen gekostet hätte, um die ganze dritte Etage für ihn sicher zu gestalten und das es absolut undankbar wäre, jetzt in den ungeschützten vierten Stock zu ziehen. Kai schwieg allerdings immer und selbst, wenn sie Wachen aufstellten oder seine Türe verschlossen, mussten sie immer wieder nachgeben, da Kai immer demonstrativ versuchte, die Folie abzukratzen bzw ein Fenster zu öffnen und das wollten alle immer vermeiden. Selbst, als sie ihn dann spontan in ein fensterloses Zimmer sperrten, bekam er seinen Willen, indem er Essen und Wasser verweigerte und dadurch für zwei Tage in der Krankenstation lag. Er war fast so hartnäckig wie Ghandi, wenn es darum ging, seinen Willen szu bekommen. Die Direktorin wurde sich wieder und wieder bewusst, dass er sie in der Hand hatte, denn ihr war wichtig, dass er am Leben blieb, er war schließlich die Quelle ihrer neugewonnen Bekanntheit und auch die Ursache von vielen Spendengelder. Letztendlich bekam Kai seinen Willen, man akzeptierte, dass er bei mir wohnte, schließlich war mein Zimmer von jedem Licht abgeschnitten und somit ungefährlich, auch, wenn die restliche Etage es nicht war. Allerdings hatte die T-Rex lange nicht aufgegeben, sie schob meine Augen-OP vor und wollte uns so wohl anscheinend mit Gewalt wieder trennen. Denn letztendlich konnte sie jeden in der Klinik auf die Straße setzen, wenn diese wirkten, als wollten sie die Dienste nicht nutzen, die die Klinik anbot. So hatte sie vermutlich auch Mary problemlos schnell weggeschafft und dasselbe versuchte sie nun bei mir. Ironischerweise stand allerdings eine Stunde nach meiner OP ein weiterer Versuch für Kai an. Und ich konnte mir schon denken, dass sie hoffte, mich sofort wegzuschaffen, sobald der Chip drin war. Denn ich hatte in der Zeitung gelesen, dass der Chip in Regensburg bei den Probanten erfolgreich eingesetzt geworden war. Und diesmal gab es Farben und Details, viele schafften den Test, der anscheinend zum Bestimmen von Sehproblemen vorgesehen war und man arbeitete nur noch daran, den Chip dahin zu perfektionieren, dass die Probanten damit perfekte Sicht hatten. Kai war das auch klar geworden, früher war er da immer ein wenig langsam, doch mittlerweile wusste auch er von der kalten Berechenheit, mit der die Direktorin vorging. Insofern sahen wir beide mit Furcht den OPs entgegen, doch auch mit Hoffnung. Ich kam vermutlich raus nach der OP. Und Kai...sollte dieser Versuch erfolgreich sein, würde er auch gehen können. In den Zoo, am Tag, wo wir uns dann die Tiere ansehn würden. Unausweichlich, wie das Schicksal meistens war, kam dann auch schon der Tag. Und Kai weinte. Er hatte extra gebeten, bei mir im Bett schlafen zu dürfen und er hatte mich auch immer wieder leise gefragt, ob der jetzt für ihn anstehende Versuch wohl erfolgreich sein würde. Es war mehr als offensichtlich, dass Kai absolut nicht alleine in der Klinik bleiben wollte und dass ihm das mehr Angst machte als der Test selbst, machte mir fast schon Gewissensbisse, dass ich mich je mit ihm angefreundet hatte. Ich hatte ihn die ganze Nacht im Arm gehalten und hatte mehrmals gehört, wie er im Schlaf meinen und Marys Namen sagte. Und als der Wecker klingelte, hatte er sich geweigert, aufzustehen und meinte, wir könnten den Tag doch einfach durchschlafen, die Ärzte würden alles dann verschieben. Es tat mir unglaublich weh, zu hören, wie er den ganzen Tag über immer tief Luft holen musste, um seinen Drang, zu weinen oder zu schreien, zu unterdrücken. Und öfters hörte ich ihn die Uhrzeit murmeln, als wenn er ununterbrochen nur auf die Uhr starren würde und darauf hoffte, dass die Zeit stehen blieb. Doch sie blieb nicht stehen. Gegen Nachmittag kam ein Arzt, der mich abholen wollte. Natürlich war es immer noch in meinem Zimmer pechschwarz wie eh und je, insofern blieb der Arzt auch draußen und wartete darauf, dass ich raus kam. In dem Moment hatte Kai sich an mich geklammert und kurz geweigert, mich gehen zu lassen. Aber er gab auf, als der Arzt drohte, die OP abzubrechen und mich rauszuschmeißen. Ich verabschiedete mich bei ihm und ging. Die OP war mir ziemlich egal, doch ich betete zum ersten Mal, dass etwas schief ging. Und wenn es ewige Blindheit für mich bedeuten sollte, wenn ich wenigstens nur für ein wenig länger in der Klinik bleiben könnte, nur ein wenig länger Kai Gesellschaft leisten könnte, so würde mir das reichen. Denn ich könnte es mir nicht verzeihen, sollten Mary und ich der letzte Grund sein, weshalb er den Gedanken an Selbstmord nie hatte. Wenn er sich umbringen sollte, noch bevor ich diese Klinik verließ. Kapitel 28: Wieder allein ------------------------- Masa verließ das Zimmer und ich ahnte, dass ich ihn vermutlich nicht wiedersehen würde. Er hatte zwar gesagt, er würde zu den Besuchszeiten kommen, zusammen mit Mary, doch ich traute der Direktorin zu, mich notfalls mit „zufälligen Unfällen“ zu segnen, um jeden Kontakt zwischen uns zu verhindern. Ich würde allein sein. Wieder allein. Wie ich es immer gewesen war. Wieder eingesperrt in einem Gebäude, wieder nur Ärzte, die überhaupt Interesse zeigten. Wieder keine Hoffnung und keinen Lebenswillen. Es war, als wäre nun ich blind gewesen, denn auch ich sah nur noch Dunkelheit um mich, nirgends sah ich Licht, Hilfe, Hoffnung oder wenigstens ein wenig Liebe. Ich war wieder allein gegen den Rest dieser Menschheit. Und wieder war ich das, was Mary mir schon am ersten Tag unseres Treffens gesagt hatte: ein Versuchskaninchen. Ich war kein Mensch mehr, ich war nichtmal ein Tier, dass man schützen würde, ich war vielmehr ein seltener Tiger, den man solange gut behandelte, bis man ihm das Fell abziehen würde und ausser jenem Fell würde alles weggeworfen werden und verrotten. Sobald ich sterbe, wird niemand um mich trauern und selbst wenn, dann nur, weil sich zumindest die Direktorin erhofft hatte, durch meine Heilung Weltruhm zu erlangen. Und sollte ich geheilt werden, so wäre ich nur noch ein Gegenstand zum Vorzeigen, der nicht ein Lebewesen war, sondern nur irgendwas, dass man verändert hatte und damit wichtig war. Ich wäre dann nur ein wertloser Stein, den man mit Schleifen zu einem Juwel gemacht hatte. Und nicht das Juwel würde beachtet werden, sondern nur der Schleifvorgang. Egal, wie der Stein aussah, ob hässlich oder glänzend, er selbst war unwichtig, nichts besonderes, wertlos. Irgendwann klopfte es an der Türe und wieder kam ein Arzt. Und diesmal sollte ich mitkommen. Ich wollte nicht das Zimmer verlassen, selbst, wenn es nur kurz sein würde, aber hier würde Masa wieder zurückkehren, wenn die OP abgeschlossen war. Doch ich hatte keine Wahl. Mich würden sie nicht rauswerfen, aber notfalls würden sie mich rauszerren. Also ging ich freiwillig. Ich folgte dem Arzt durch die Flure, durch die ich früher lachend gegangen war, begleitet von zwei wunderbaren Menschen. Nun ging ich alleine, zusammen mit einem Arzt, dessen einziges Interesse es war, durch meine Heilung Berühmtheit zu erlangen. Es war derselbe Raum wie der, wo ich den ersten Test gehabt hatte. Wieder bekam ich eine Spritze, mit der mir etwas verabreicht wurde. Und wenig später wurde ich bestrahlt. Die Haut brannte sofort schmerzhaft,man schmierte mir ne Brandschutzsalbe auf und behielt mich bis zum Abend in genauer Beobachtung, ob Krebs oder eine Entzündung entstanden. Ich war immer noch nicht geheilt. Und würde darum auch nicht die Klinik, wenn auch verzögert, mit Masa verlassen. Ich war wirklich endgültig alleine. Nachdem meine Haut wieder ihre normale Farbe angenommen hatte und auch keine Anzeichen einer Entzündung oder schlimmeres gezeigt hatte, durfte ich wieder gehen. Es stand mir frei, ob ich in mein oder Masas Zimmer ging und auch mir war es im Grunde vollkommen egal. Beide würden leere Räume sein. Aber da mein Zimmer auf derselben Etage war wie die Arztstation, ging ich in mein Zimmer. In Masas Zimmer würde ich am Ende sonst noch einen Heulkramof bekommen. Ich lief den leeren Gang entlang und öffnete betreten die Türe. Der Gedanke, dass ich nicht mehr Marys fröhliche Stimme hören würde, nichtmal ihr nie gemachtes Bett sehen würde, schmerzte stark in meiner Brust, doch auch Masas Zimmer hatte ähnliche Erinnerungen an einen sehr guten Freund. „Ha, ich wusste doch, dass du hierhin kommen würdest.“ Ich blieb erstarrt stehen, obwohl ich nichtmal die Türe richtig offen hatte. Ich konnte auch nicht wirklich in das Zimmer sehen, doch diese Stimme hätte ich dennoch sofort erkannt. Langsam, als würden Terroristen in dem Zimmer lauern, öffnete ich die Tür und tatsächlich: Masa saß auf dem Bett. Er trug eine Augenklappe am rechten Auge, aber er saß da und lächelte zur Türe. Ich konnte mich nicht rühren, zu groß waren Verwirrtheit, Schock und Freude, die bei seinem Anblick durch mich schossen. Masa, der das wohl bemerkte, stand auf und ging auf mich zu. Genauer gesagt zielte er ein wenig zuweit nach rechts, aber dennoch stand er vor mir und nahm mich in den Arm. Und mit einem Mal ging ein Zittern durch meinen Körper, ehe ich meine Arm um ihn klammerte und hemmungslos zu weinen begann. Er war wieder da oder besser immer noch, mir war in dem Moment egal, warum, aber es reichte vollkommen, dass er jetzt hier war. Ich weiß nicht, wie lange wir beide so im Türrahmen gestanden hatten, aber irgendwann löste er die Umarmung, schloss die Türe und führte mich zurück zum Bett. Eine Weile starrte ich ihn einfach nur an und er starrte zurück. Mit blinden, leeren Augen. Aus irgendeinem Grund schien die OP nicht geklappt zu haben, aber die Augenklappe zeigte zumindest, dass ein Eingriff passiert war. Ich verstand es nicht, doch Masa lächelte und konnte sich vermutlich denken, dass ich im Moment einfach nur total verwirrt war. „Die Operation musste abgebrochen werden.“ sagte er irgendwann einfach nur kurz und hätte Masa mein Gesicht gesehen, es hätte nur noch irritierter ausgesehen. „Die Chips der Probanten in Regensburg sind durchgebrannt, die Chips haben einen technischen Fehler und überladen sich nach ein paar Tagen. Es wurden alle Kliniken gewarnt, die Chips sofort zu entfernen und auch keine mehr einzusetzen. Sie mussten aufhören, auch, wenn die Direktorin es sicher nicht gern getan hat.“ Er hatte das Ganze vollkommen ruhig dahergesagt und dass er lächelte, sagte mir, dass er über diese Nachricht nicht traurig war. Und ich ahnte, dass ich der Grund dafür war. „Da du hier und nicht auf irgendeiner Pressekonferenz bist, nehme ich mal an, dass der Versuch bei dir nicht erfolgreich war?“ Ich nickte, ehe mir wieder einfiel, dass er das ja nicht sehen konnte und bejahte die Frage leise. Eine Weile saßen wir immer noch stumm da, ehe ich meinen Kopf auf seine Schulter lehnte, so, wie es Mary so oft getan hatte. Ich war in dem Moment, egal, wie gemein und unfair es klang, einfach nur dankbar. Ich war wirklich dankbar, dass der Chip noch nicht fertig war, wenn auch zum Leidwesen aller anderen Probanten. „Du denkst doch wohl nicht, dass ich dich hier allein gelassen hätte, oder?“ sagte er leise und ich schloss die Augen, versuchte mehr denn je, mir einzuprägen, wie es ist, bei ihm zu sein, bei einem Freund zu sein, von dem man wirklich sagen kann, dass man ihn nie vergessen würde. „Wir sind beide Kinder der ewigen Dunkelheit, die das Licht suchen. Wenn wir es finden, dann zusammen.“ flüsterte er mir beruhigend ins Ohr, er strich mir kurz über den Kopf, wie man es bei einem kleinem Kind tun würde und irgendwann schlief ich ein, erschöpft, verletzt, dankbar und glücklich. Epilog: Tigerkinder ------------------- „Seid gefälligst still, ihr dummen, dreisten Blagen!“ schrie Mary vollkommen aufgebracht und sofort flohen die kleinen Kinder, sei es, weil ihr Brüllen oder ihr Gesicht die Racker verschreckt hatte. „Na, jetzt beruhig dich doch. Am Ende werden wir rausgeworfen, weil die Eltern sich beschweren.“ sagte Masa ruhig und legte eine Hand beruhigend auf Marys Kopf, die beleidigt die Arme verschränkte. „Aber die haben doch angefangen, am Ende werfen sie noch mit Steinen oder sowas!“ meinte sie und schmollte, als Masa über ihr trotziges Verhalten lachen musste. „Sie haben es doch nicht böse gemeint, in ihrem Alter hätte ich bestimmt auch nichts anderes gerufen.“ sagte er und sofort schwieg Mary. Obwohl ich erwartet hätte, dass sie erwidern würde, dass er in dem Altern nichtmal hatte sehen können. Doch sie schwieg und kam stattdessen zu mir, um mir endlich zu helfen. „Ach, lasst mich ruhig liegen, ich kuller gern in der Gegend rum und sehe mir die Pflastersteine an“ meinte ich absichtlich ironisch, Mary entschuldigte sich betreten, aber Masa musste lachen. Gemeinsam zogen die Beiden mich wieder auf die Beine und ich wischte mir den Dreck ab. „Vielleicht sollten wir dir ja ein Schild umhängen, wo 'Anfassen, schubsen und schieben verboten' draufsteht“, meinte Masa mehr als amüsiert und ich schlug ihm einmal träge gegen den Oberarm. Marys Blick zufolge schien sie darüber nachzudenken, mir wirklich was umzuhängen, aber als sie meinen Blick bemerkte, gab sie den Gedankengang recht schnell wieder auf. „Ich will zu den Tigern! Oder bin ich der Einzige, der sich da an ein gewisses Versprechen erinnert?“ meinte ich dann ein wenig quengelnd und erntete dafür von Masa ein „Oh, will das Baby kleine Kätzchen sehn?“ Es war schon witzig, zu sehen, wie wir uns vom Benehmen her verändert hatten, so war zum Beispiel Masas immer ernste und gefasste Art nur noch in selten da und er benahm sich meist eher frech und neckisch. Mary dagegen war etwas ernster und nachdenklicher geworden, doch an Temperament fehlt es ihr nach wie vor nicht. Und ich? Keine Ahnung, ich würde die Beiden sicher nicht fragen, denn dann würden sie mich wieder ärgern, ohne auf meine Frage einzugehen. Doch das war nicht sonderlich schlimm. „Ha, wie wir es uns gedacht hatten, die Kleinen sind jetzt selbst Eltern geworden!“ rief Mary begeistert, doch Masa verjagte das wieder, indem er trocken, aber grinsend meinte „Tiger wachsen schnell, ich denke eher, dass das schon die Enkel sind.“ Beide begannen sich zu zanken, ich dagegen besah mir einfach die schönen Tiere. Bei Tag waren sie wirklich schöner als in der Nacht, ihr Fell glänzte wie Kupfer in der Mittagssonne. „Na, sentimental?“ fragte mich Masa und lächelte mich an, doch ich schüttelte nur den Kopf. Seine Mandelaugen beobachteten mich noch eine Weile, ob ich nicht doch – von Erinnerungen überwältigt – zu weinen begann, doch ich war nicht traurig oder ähnliches. „Mary, nicht kratzen.“ kam es plötzlich hinter mir, Neville und Jane hatten uns mittlerweile eingeholt und direkt Mary ertappt, wie sie sich mal wieder an der Narbe kratzte. „Mein Gott, das ist doch längst verheilt.“ antwortete sie leicht genervt, doch Neville plusterte sich sofort auf. „Fast verheilt? Sechs Operationen hat es gedauert, damit dein Gesicht so hübsch aussieht wie heute! Der Arzt hat gesagt, es wird um die sechs Monate dauern, bis die Naht voll verheilt ist und wir haben gerade mal vier Monate hinter uns, es ist mir verdammt egal, ob du nichts mehr merkt, aber ich habe das bezahlt und wenn du es ruinierst, dann zahlst du, klar?!“ Mir, Jane und Masa war klar, dass er das nicht ernst meinte, aber er hatte schon Recht und da war auch ein wenig Lügen erlaubt. Mary sah ihn beleidigt an, doch sie ließ die Finger von ihrem Gesicht. Es war zwar nicht so, wie das von jedem anderem Menschen, aber ausser der zerknittert aussehenden Haut war es vollkommen normal. Man konnte sagen, was man will, aber die Ärzte hatten wirklich meisterhaft den Tumor und auch die große Narbe am Mund wegbekommen und das durch unvorsichtiges Verhalten zu ruinieren, war es wirklich nicht wert. „Seehunde!“ meinte Mary plötzlich laut, es war mehr als offensichtlich, dass sie sauer war und deshalb jetzt weiterziehen wollte. Masa und ich wechselten kurz einen amüsierten Blick, ehe er kurz meinte: „Komm, Herr Astronaut, folgen wir ihr unauffällig.“ und ich konnte ihn nur angrinsen und hinterhertrotten. Diesen Tag würde mir sicher kein Streit verderben können, ich brauchte Erholung von den vergangenen und kommenden Versuchen, Xerodima pigmentosum zu heilen und was war da besser, als an einem wunderschönen, sonnigem Tag mit Freunden in den Zoo zu gehen? Auch...wenn man dazu einen Spezialanzug der Nasa braucht... Doch das, ja, das war es mir wert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)