The waves of time von MorgainePendragon (Eine Geschichte von Liebe, Schmerz und Tod. Und von Wiedergeburt…) ================================================================================ Kapitel 8: Eternity within us ----------------------------- Dunkelheit hüllte mich ein, als ich die Hütte betrat. Doch es war eine seltsam samtene Dunkelheit, eine Dunkelheit, die mich nicht schreckte, sondern auf seltsame Weise zu trösten schien. Kenshin hatte meine Hand losgelassen, die Tür hinter uns geschlossen und hantierte nun irgendwo vor mir in dem Zwielicht. Ich hörte etwas leise klirren. Dann war plötzlich Licht da, das die Schatten zurücktrieb. Er hatte ein Holzscheit angezündet und legte es nun zu den anderen in der Feuerstelle. Diese befand sich praktisch mitten im Raum – was für europäische Verhältnisse recht ungewöhnlich war. Als die kleine Flamme begann um sich zu greifen und mehr Nahrung in dem umgebenen Holz zu finden, wurde es nicht nur heller, sondern auch gleich merklich wärmer in dem Raum, den ich erst jetzt richtig in Augenschein nehmen konnte. Was ich sah war… schlicht, fremdartig und doch auf seine Weise wunderschön. Was Himura aus dieser kleinen Jagdhütte gemacht hatte konnte man nicht anders als faszinierend bezeichnen. Da waren zwar noch immer die alten, schon längst nachgedunkelten Holzbalken und Wände, die dem ganzen ein wahrhaft uriges und englisches Aussehen verliehen, doch wie zauberhaft war das, was der junge Japaner aus diesem Zimmer gemacht hatte! Da hingen lange Stoffbahnen an den Wänden zwischen Fenstern, die vereinzelt mit dezent erdfarbenen Tüchern verhüllt waren. Die papiernen Stoffbahnen zeigten alte japanische Schriftzeichen in unendlicher Schönheit, formvollendet. Kühn geschwungene Striche und Kreise, miteinander verbunden und geheimnisvoll. Sie erzählten mir von Dingen, die ich jetzt noch nicht verstand und doch bereits zu spüren ahnte. Sie zeigten auch Bilder. Faszinierende, wunderschön historische Malereien japanischer Landschaften, sparsam in ihren Farben und doch unglaublich authentisch. Mein Blick verlor sich in ihnen und mein Geist schweifte ab. Ich WAR dort, an auf jenem Hügel, von dem aus man den schneebedeckten Gipfel des Fuji-san sehen konnte. Ich war auch dort, an dem kleinen Bach, dessen kühles Nass im Sonnenlicht glitzerte und aus dessen Fluten ein Koi aufsprang, getaucht in schillerndes Licht. Voll Staunen und kindlicher Faszination wandte ich den Kopf. Da gab es einen Paravent, der den Raum dezent in zwei Bereiche teilte, ebenfalls bespannt mit diesem wundervoll durchscheinenden Papier und bemalt in klassischer, japanischer Tradition. Die Herdstelle konnte noch nicht lange inmitten des Raumes sein, denn an der Wand sah ich einen Kamin, der diesen Zweck eigentlich übernehmen konnte. Doch Himura legte wohl Wert auf heimische Tradition und hatte auch diesen mit Stoff verhüllt. Die Feuerstelle inmitten des Raumes schien er sich selbst geschaffen zu haben. Von der Decke hing eine Kette, an welcher eine gusseiserne Kanne leicht hin und her schwankte. Mein Blick glitt weiter. An einer Wand, die keine Fenster hatte, gab es ein einfaches Regal aus hellem Holz, auf welchem sich zahlreiche Bücher befanden. Darunter waren nicht nur japanische Werke, sondern, wie ich sehr wohl bemerkte, auch Klassiker der englischen Literatur. In einer Ecke dieses einzigen Raumes der Hütte hatte er seinen Futon zusammengerollt gelagert. Wenn man zur Tür herein kam befand sich gleich links unter einem der Fenster ein niedriger Tisch, an dem man bequem knien konnte. Er war übersät mit Pergamenten. Ein Tuschstein und mehrere Pinsel zeugten davon, dass Himura nicht nur die Schwertkunst zu beherrschen schien. Interessiert trat ich näher und begutachtete die kühn geschwungenen Schriftzeichen, die einfach nur wunderschön waren, wie kleine Gemälde, Kunstwerke in sich. Alles was ich in dieser Jagdhütte vorfand erzählte mir eine Geschichte, eine Geschichte, die lange Zeit zurück lag und doch immer noch kein Ende gefunden hatte. Eine Geschichte, der ich bereit war zu lauschen, wenn Himura es denn zulassen würde. Alles hier…war mir so vertraut, fühlte sich so richtig und gut an. Es war gut, dass ich hier war. Es war der richtige Weg. Mein Herz schlug bis zum Hals und doch fand ich hier einmal mehr die Ruhe, die ich gebraucht und auch schon in Himura selbst gefunden zu haben glaubte. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Es roch nach Harz, fremdartigen Kräutern und … nach ihm. Ich hörte wieder dieses leise Klirren, das ich schon beim Eintreten vernommen hatte, und als ich mich herumdrehte konnte ich sehen, dass Himura sich an dem Kessel über dem Feuer zu schaffen gemacht hatte. Ich hatte mit einem Mal einen ganz trockenen Hals und Schwierigkeiten überhaupt zu schlucken. Was sollte ich sagen? Wie sollte ich beginnen? Mein Kopf war wie leergefegt, mein Herz voller Gefühle, die ich ihm darlegen wollte und wozu mir dennoch die Worte fehlten. Ich war dort, wo ich sein sollte. Und doch war ich nervös. Er war es, der mich nervös machte. Mit jeder einzelnen dieser kleinen, geschmeidigen Gesten und Bewegungen seinen drahtigen, schlanken Körpers, der mir so vertraut zu sein schien. Die Art, wie er den Kopf drehte, wie sein Haar über seine Schultern floss, wundervoll kupfern schimmernd im Licht des wärmenden Feuers, die Art wie er sich fließend aus der knienden Position erhob, wie er vorsichtig aus einem Eimer neben der Tür Wasser in den Tiegel schöpfte. Alles ganz ruhig, nicht übereilt und sehr präzise, gleichzeitig aber auch mit einer Leichtigkeit und Anmut, die mich bis ins Innerste erschütterte und mich zum Zittern brachte. Ich beobachtete, wie das Licht sich in seinen Augen spiegelte, als er mir nun den erwartungsvollen Blick zuwandte. Fasziniert fiel mein eigener Blick auch auf seine Lippen, sanft geschwungen, leicht geöffnet. Da war ein Gefühl in mir, das ungleich tiefer ging als bloßes Verlangen. Dieses Gefühl, dass ich den Menschen endlich gefunden hatte, der mich vervollständigen würde, war beinahe übermächtig geworden. Ob das nun daher rührte, weil ich immer noch diese irritierende Vertrautheit zwischen uns spürte oder einfach daher, weil ich ein momentanes, übermächtiges Verlangen danach verspürte, seinen Körper an meinem zu fühlen wusste ich nicht. Vielleicht von allem etwas. Aber es ging sehr tief. Tiefer, als ich das je für möglich gehalten hätte. Tatsache war, dass ich einfach kein Wort herausbrachte. Himura lächelte. Es war dieses wunderschöne, seltsam traurige Lächeln, das er immer zeigte. Und das mir so bekannt war, als wäre es ein Teil von mir selbst. Es tat weh. Seltsam. „Möchtest du auch Tee?“ Ich war verwirrt. Verwirrt drüber, dass ein Gespräch so leicht beginnen konnte. Die ersten gesprochenen Worte seit wir das Ufer des Baches verlassen hatten fügten sich wunderbar in die Ruhe und Harmonie dieses Augenblicks und dieses Raumes ein. Es wirkte leicht und unbeschwert, nahm mir endlich auch diese faszinierte Befangenheit, in welche ich seit dem Eintreten in die Hütte gefallen war. Ich nickte leicht, erwiderte sein Lächeln scheu. „Sehr gern.“ Er bedeutete mir, mich auf eines der Sitzkissen vor dem Feuer zu setzen. Ich ließ mich nieder und sah vollkommen gefesselt zu, wie er, mir gegenübersitzend, kleine Schälchen von einem Tablett neben sich hervorholte. Mit einem kleinen Stößel zerstampfte er Blätter von Kräutern und schon jetzt begann sich ein fremdartiger und zugleich würziger Duft in dem Raum auszubreiten. Sein langes Haar fiel ihm über die Augen, als er konzentriert arbeitete. Plötzlich lachte er. Es traf mich wie ein Pfeil und fasziniert hing mein Blick an der Reihe makellos weißer Zähle, die seine geöffneten Lippen preisgaben. Feine Grübchen zeigten sich in seinen Wangen. Etwas zog sich beinahe schmerzhaft in mir zusammen – deutlich unterhalb des Bauchnabels. Ich wurde unwillkürlich rot. Ohne aufzusehen und immer noch mit diesem leisen Lachen in der Stimme sagte er: „Ich bin nicht besonders gut in diesen Dingen. Die Teezeremonie. Ich hatte weiß Gott lange genug Zeit es zu lernen, und doch habe ich….“ Er brach plötzlich ab, sein Blick streifte mich über das Feuer hinweg. Er wirkte… zerstreut. Und ein kleines Bisschen erschrocken. „Ich meine… Ich habe es jedenfalls schon oft durchgeführt und immer wieder vergesse ich Details. Wenn mein Meister das sehen würde….“ Er verstummte erneut. Und dieses Mal war der Ausdruck seiner Augen eindeutig melancholisch. Er senkte wieder das Haupt und arbeitete weiter. Ich schwieg und sah zu. Ich hatte natürlich schon von der traditionellen japanischen Teezeremonie gehört, jedoch noch nie eine gesehen oder gar einer beigewohnt. Er übergoss die zerstampften Kräuter später mit dem mittlerweile aufgebrühten Wasser aus der Kanne. Die winzig kleinen Schälchen verströmten sofort einen aromatischen, belebenden Duft, als die klare Flüssigkeit sie füllte. Er erhob sich formvollendet, kam mit dem Tablett um das Feuer herum und ließ sich neben mir nieder, das Tablett zwischen uns. Er hob eines der Schälchen. „Ich werde erstmal probieren… Wer weiß, was ich dir da vorsetzen will… Es schmeckt manchmal….“, wieder dieses leise Lachen. “Es schmeckt manchmal einfach grausam bitter.“ Ich lächelte zurück, befangen von der Schönheit und Einfachheit dieses Augenblicks. Er führte das Schälchen an die Lippen und kostete. Er hielt dabei die Augen mit den erstaunlich langen Wimpern geschlossen, runzelte nachdenklich die Stirn. Doch dann erhellte sich seine Miene. Er blickte auf. „Ich denke, das kann man trinken.“ Er drehte das Schälchen nun drei Mal in seinen Händen, zwei Mal in die eine und ein Mal in die Gegenrichtung. Dann beugte er sich vor, hielt es mir hin. Es hatte etwas unglaublich Intimes an sich, dass er mich aus demselben Schälchen trinken lassen wollte, aus dem schon er gekostet hatte. Ich hob die Hände. Unsere Finger berührten sich, doch er zog seine Hände nicht zurück. Es war, als würde er es mir einflößen wollen, wie man es vielleicht bei einem kleinen Kind tun würde. Und ich ließ es zu, wollte es zulassen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich spürte die Wärme seiner Finger, sie waren meinem Gesicht so nah. Betört von seiner Nähe und dem Kräuterduft des Tees zitterte ich. Ich wollte die Schale an meine Lippen führen, so wie er es getan hatte. Er folgte der Bewegung behutsam. Aber dann verhielt ich mitten in der Bewegung. Ich hatte etwas gesehen, das meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Konzentriert sah ich genauer hin, meine Augen wurden schmal. Tatsächlich. Da war… etwas auf seiner Wange. Der Schatten einer kreuzförmigen Narbe auf seiner linken Wange. Etwas wie ein kalter Hauch aus weit zurückliegender Vergangenheit schien mich zu streifen, meine Glieder verkrampften sich, ich fror plötzlich. Wieso war mir diese Narbe nie aufgefallen? Oder hatte ich einfach nur nie darauf geachtet? Ich hatte… ein ganz merkwürdiges, seltsames Gefühl. Ich sollte WISSEN, was es mit dieser Narbe auf sich hatte. Irgendetwas sagte mir, dass ich es wissen musste. Dieselbe Stimme, die mir immer wieder zuflüsterte, dass ich Himura kennen würde. Es war komplett unmöglich, nach wie vor. Aber… Merkwürdig. Es… verwirrte mich. Er bemerkte natürlich, dass ich ihn ansah. Er schien auch meine innere Unruhe zu spüren. Ein klein wenig wirkte sein Blick nun alarmiert. Aber dann schien er zu merken, WAS ich so irritiert ansah. Und eine unglaubliche Veränderung ging mit ihm vor sich. Von einem Moment zum anderen wurde aus dem jungen Mann, dem japanischen Referendar, der eine Studentin zu sich zum Tee eingeladen hatte und der über seine eigene Ungeschicklichkeit bei der Durchführung dieser altehrwürdigen Zeremonie gelacht hatte, innerhalb von Sekunden wurde aus ihm ein gramgebeugter Mann, dem man das unendliche Leid, das er durchmachen musste auch ansah. Seine Schultern sanken herab, er wirkte verzweifelt, niedergeschlagen und entsetzlich allein. Die Maske fiel. Und mit ihr die gesamte Fassade dessen, was ich mein bisheriges Leben genannt hatte. Es traf mich wie ein Hammerschlag. Ich starrte in seine tiefblauen Augen, sah die Narbe an. Sie blutete. Ich sah den Regen aus Blut, der um mich herum niederging. Und ich roch es wieder. Jenen Duft der weißen Blüten eines Pflaumenbaumes… Und dann… wusste ich es plötzlich. Alles. Unser ganzes Leben. Die Vergangenheit. Seine und auch meine… Ein Teil meiner Seele schrie gepeinigt auf, wollte dies alles nicht wissen. Der Teil, der mich, Madoka, ausmachte. Der einzige Teil, der wirklich ICH war und in dieser Welt und Zeit lebte und nicht in irgendeiner Vergangenheit. Doch da war auch etwas anderes in mir, das nun mit Macht hervorbrach, die Erinnerung an ein anderes Leben, das ich gelebt hatte. Oder das ein Teil von mir gelebt hatte. Es war zu viel. Bilder und Szenen zuckten an meinen entsetzt aufgerissenen inneren Augen vorbei, Szenen die ich kannte und doch auch nicht kannte. Alles was ich wirklich hatte wissen und doch niemals hatte hören wollen. Und da war so viel Blut. Immer wieder so unendlich viel Blut… Und eine Liebe die tiefer ging als alles, was ich jemals empfunden hatte. Ich schrie gepeinigt auf, als das Schwert in mein Herz drang und meine Seele zerrissen wurde. Ich fiel. Schnee. Um mich herum war alles mit Schnee bedeckt. Ich konnte meinen eigenen, stockenden Atem als weißen Raureif vor meinem Gesicht aufsteigen sehen, bis er versagte. Sengender Schmerz. Unendliche Trauer. Immer wiederkehrende Liebe. Und ich sah noch so vieles mehr. Alles innerhalb von wenigen, unendlich langsamen, harten und vor allem lauten Herzschlägen, die wie ein zeremonieller Gong in meinen Ohren dröhnten. Ich sah mich in seinen Armen liegen, sah, wie er langsam den Kopf schüttelte. Ich weinte. Ich wollte alles mit ihm teilen. Immer. Seine Liebe und auch seinen Schmerz. Ich wollte SEIN sein. Für immer. Ich sah, wie er nachgab und mich liebte, wie er mich noch nie zuvor geliebt hatte. Und es war zugleich wie ein zweiter Schwertstoß tief hinein in mein geschundenes Herz. Erneut zerriss es mich und mein ganzes Leben, als er in meinen Armen starb. Um uns herum fielen hunderte, tausende von sanft rosafarbenen Kirschblütenblättern nieder. Sie bedeckten uns wie Schnee… Dann war es vorbei. Keuchend saß ich da, neben den nun niedriger hochschlagenden Flammen der Herdstelle, die Hände ineinander verkrampft, die Fingernägel ins eigene Fleisch gegraben, blutend und in Schweiß gebadet. Ich starrte vor mir auf das Tablett mit den kleinen Schalen, vermied es krampfhaft aufzusehen. Ich zitterte. Mein Gott. Enishi…. hatte Recht gehabt. Und auch wieder nicht. Dieser Mann vor mir, er hatte gemordet, ja. Doch was er durchlitt war MEHR als nur die Hölle. Wie war das möglich? All das? Es lag schon so lange Zeit zurück, das fühlte ich. Wieso wusste ich das alles? Wieso war er mir nur so vertraut? Und wieso hatte ich plötzlich Angst vor mir selbst? Ich hasste mich dafür, doch sie war da. Eindeutig. Diese Angst vor mir – aber auch vor ihm. Vor ihm… Ich sah auf. Ganz langsam. Sein Gesicht war sehr blass. Aber auch ganz ruhig. Gefasst. Er schien zu ahnen, was in mir vorging, wenn er auch nicht wissen konnte, wie tief ich nun schon in seine Gedanken und in unsere Vergangenheit vorgedrungen war. UNSERE Vergangenheit? Ich zuckte vor diesem Gedanken zurück. Nein. Ich war MADOKA. Ich war HIER. Ich KANNTE diesen Mann nicht! Mein Atem beschleunigte sich. Doch bevor mich Panik in schwarzen Wogen überrollen konnte, sagte er ganz leise und sehr ruhig: „Lass mich dir eine Geschichte erzählen, Madoka. Eine Geschichte, die ich in dieser Form noch nie zuvor jemandem erzählt habe. Ich weiß nicht, warum gerade du mir den Eindruck vermittelst, dir dies erzählen zu können. Ich kann dir wahrscheinlich auch viele Fragen die du hast nicht beantworten. Aber wenn du möchtest, dann erzähle ich dir meine Geschichte. Die Geschichte eines Schwertkämpfers zur Meiji-Zeit. Die Geschichte… eines Mörders.“ Ich saß da wie versteinert, mit weit aufgerissenen Augen. Doch was ich schon beim Eintreten in die Hütte gedacht hatte kam nun wieder stärker in mir zum Vorschein. Doch. Ich wollte sie hören, diese Geschichte, die mir der junge Japaner erzählen wollte und die mir jeder einzelne Gegenstand hier bereits in stummen Worten zu vermitteln versuchte. Und erst dann würde ich meine Entscheidung treffen. Während ich nun seiner wunderbar weichen, sanften und immerzu traurigen Stimme lauschte, Zeugin, seiner unglaublichen und tragischen Vergangenheit wurde, wurde dieses Echo in mir, diese innere Stimme, die mir schon bei unserer allerersten Begegnung gesagt hatte, dass ich ihn kennen würde, immer lauter. Ich konnte es nicht leugnen. Ich glaubte nicht an Wiedergeburt oder so etwas. Aber… da war etwas in mir, was mich in diesem Punkt nun doch schwanken ließ. Wie sonst sollte es möglich sein, dass ich viele Dinge bereits wusste, BEVOR er sie aussprach? Meine Angst wurde wieder und gegen meinen Willen größer. Er erzählte von seinen Zieheltern, die vor seinen Augen ermordet wurden. Er berichtete von seinem Meister, der ihm den eigenen, unverwechselbaren Schwertkampfstil beigebracht hatte. Und von seiner Zeit als Attentäter für die Regierung, als Auftragsmörder. Er hatte geglaubt Gutes zu tun. Doch der Tod war nie etwas Gutes und das Blut klebte bis heute an seinen Händen. Er erzählte von seiner ersten jungen Frau, Tomoe, die ihn hatte umbringen wollen, weil er ihren Verlobten getötet hatte. Er führte auch aus, dass sie es nicht gekonnt hatte und sie sich ineinander verliebt hatten. Und dass er selbst diese Liebe vernichtet hatte. „Heute weiß ich, dass ich nichts hätte tun können. Sie wollte mich schützen. Doch Nacht für Nacht frage ich mich, ob ich, wenn ich schneller reagiert hätte, nicht den Schwertstreich hätte umlenken können. Alles wäre anders geworden. So aber… sehe ich noch immer ihr Blut im Schnee, spüre die Wärme ihres Körpers in meinen Armen schwinden.“ Er erzählte mir von der kreuzförmigen Narbe, die er seitdem immer mit sich trug und die nicht hatte heilen können. Er führte aus, dass er ein Leben als Vagabund begonnen hatte nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zu Beginn der Meiji-Restauration, in welcher Vertreter der herkömmlichen Regierung unter dem Shogunat gegen die kaisertreuen Soldaten gekämpft hatten. „Ich trug auch weiterhin ein Schwert. Doch ich trug es nur noch, um diejenigen zu beschützen, die mir wichtig waren. Ein Schwert mit verkehrter Klinge. Das Sakabatou.“ Er erzählte mir nun von seinem Leben als Wanderer, von seinen Freunden, die fortan alles für ihn bedeuteten. Er war nicht mehr allein und wurde so akzeptiert, wie er war. Dass er dies seiner Meinung nach nie verdient hatte war überhaupt nie wichtig gewesen für diese Menschen. Kaoru hieß sie, die zweite Frau in seinem Leben. Mit ihr hatte er einen Sohn. Kenji. Himura berichtete von seiner Krankheit und von der Liebe seiner Frau, die sogar dazu führte, diese Krankheit mit ihm zu teilen. Ja. Ich wusste es. Es war die Wahrheit. Denn es war das, was ich gesehen hatte. Was ich wie am eigenen Leib hatte spüren können. Und doch schmerzten seine Worte immer noch so sehr, dass es mir die Kehle zuschnürte und ich glaubte, nicht mehr atmen zu können. Dies hatte Enishi also gemeint, als er von Himuras Frau gesprochen hatte. Oder er hatte BEIDE gemeint, Tomoe UND Kaoru. Es war schlussendlich auch gleich. Was dies in letzter Konsequenz über Enishi aussagte verdrängte ich in diesem Moment noch. Über ihn konnte ich mir später noch Gedanken machen. Die Geschichte endete damit, dass Himura ausgezogen war, einen Krieg zu führen, der nicht sein eigener war. Sein bester Freund brachte ihn letztendlich zu seiner Frau zurück. „Als ich in ihren Armen einschlief dachte ich nur, dass es schön sei wieder daheim zu sein. Ich fühlte Frieden. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Mir war nicht bewusst, dass ich sie erneut und dieses Mal für immer allein ließ… Ich empfand es nicht… als meinen Tod.“ Stille. Nur das Knacken des Holzes im Feuer war zu hören. Also war es wahr. Alles. Er WAR es, jener Schwertkämpfer aus der Meiji-Zeit, der mir gegenübersaß. Und er war es auch nicht. Ich konnte spüren, dass es seine Seele war, die dem jungen Mann mir gegenüber innewohnte. Dieser Körper mochte ihm vielleicht auch ähneln. Aber in letzter Konsequenz KONNTE es gar nicht haargenau derselbe Mann sein. Das war nicht möglich. Auch SO war das Ganze schon äußerst… abstrus. Und ich schrak gedanklich immer noch vor diesem Wort zurück: Wiedergeburt. „Die Geschichte sollte hier enden. Die Geschichte eines JEDEN sollte eigentlich so oder ähnlich enden. Doch es ist mir nicht vergönnt zu ruhen. Ich…“ Er erzählte mir nun von den Dingen und Gedanken, die ihn Nacht für Nacht nicht schlafen ließen. Er erzählte, wie sich seine immer neuen Leben, in die er gezwungen war zurückzukehren, anfühlten, wie es sich anfühlte, wieder und wieder zu leben, zu altern und die Menschen, die er liebte, um sich herum sterben zu sehen. Und mein Herz zog sich zusammen. Erst jetzt begann ich die gesamte Tragweite seines Leids zu verstehen. Und doch… Ich wand mich. Wie widerwärtig war dieser Gedanke, doch er ließ sich nicht abschütteln. Gott, er war ein Mörder! Er hatte diesen Weg damals bewusst gewählt! Hatte er ein solches Schicksal nicht verdient? „Ich traf sie wieder. Tomoe. Kaoru. Irgendwie… war da immer etwas von ihnen in den Frauen, denen ich begegnete. Oder ich WOLLTE nur, dass es so war. Schicksal? Vielleicht. Denn immer wenn ich ihnen näher kam wurden sie mir wieder genommen. Auch und gegen meinen Willen durch die eigene Hand.“ Er hob seine Hände vor das Gesicht, sah sie an, als würde er immer noch das Blut an ihnen sehen können. Und etwas in mir brannte durch, zerbrach. Mein Verstand verabschiedete sich einfach. Das war… einfach zu viel. Ich verstand einfach nicht, wie ich wissen konnte was ich wusste und wie ich fühlen konnte was ich fühlte. So etwas KONNTE gar nicht sein! Es war einfach nicht möglich. ‚Er ist ein Mörder!’, hämmerte es in meinen Gedanken. ‚Enishi hat dich gewarnt! Lauf so schnell und so weit du kannst!’ Ich hasste mich dafür. Aber ich hatte Angst. Was für Mächte waren das, die so etwas überhaupt möglich machten? Diese ganze Geschichte war ungeheuerlich! Ich war vollkommen verwirrt und verängstigt. Ich sprang auf und rannte völlig kopflos zur Tür, riss sie auf und stürmte in die kühle Nacht hinaus. Der Wind umtoste mich, das Rauschen in den Wipfeln der Bäume wirkte mächtig und bedrohlich. Ich lief nicht weit, merkte dass ich weinte und fand Halt an dem nächstbesten Baum, an dem ich vorübertaumelte. Ich klammerte mich an dessen Rinde, suchte den Halt und den Trost, den ich auch vorhin, als ich Enishi begegnete, an einer solchen gefunden hatte. Doch dieses Mal blieb mein Herz stumm, verhärtete sich gegen jeglichen Schutz und Trost von außen. Ich kannte nur noch Schmerz, Wut, Trauer und unendliche Verwirrung. Und immer wieder Enishis Stimme. ‚Mörder…. Er ist ein Mörder…’ Was so wunderbar unbeschwert begonnen hatte… Konnte es denn so enden? Ich hörte auf zu weinen und hob den Kopf. Der kalte Wind tat gut. Er kühlte meinen Kopf, ließ mich etwas zur Ruhe kommen. ‚Denk nach, Madoka! Bleib ganz ruhig. Gut, du weißt nicht genau, woher dieses Wissen und die Gefühle in dir kommen. Aber bis heute Morgen warst du doch noch der Meinung, dass sie gut und richtig seien, diese Gefühle. Du warst dir sicher, ihn zu lieben. Du hast dir selbst sogar immer wieder gesagt, dass es dir gleich ist, was in seiner Vergangenheit geschehen ist.’ Und wer war dieser Enishi überhaupt? Gut, er hat vielleicht in einigen Punkten die Wahrheit gesagt. Aber woher kam er? Wieso kannte auch er Himuras Geschichte? Das wollte ich herausfinden. ‚Du musst jetzt stark sein. Versuche es! Für dich selbst – und auch für ihn, Kenshin. Er bereut. Und er leidet. Wenn du ihn wirklich liebst solltest du deine eigene Angst überwinden können.’ Ich musste mit meinem Fortlaufen bei seinen Eröffnungen die Klinge, die sein Herz verletzte, nur noch weiter hineingetrieben und darin herumgedreht haben. Wie unendlich musste er leiden, wie entsetzlich seine Einsamkeit sein, wenn er mir wirklich ALLES anvertraute, was ihn ausmachte! War dies nicht ein Beweis seiner Gefühle mir gegenüber? War dies nicht ein Hilferuf? Ein Akt unendlichen Vertrauens? Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen. Dass von Anfang an, seit ich ihn das erste Mal sah, mysteriöse Mächte am Werk waren, stand außer Zweifel. Niemals hätte mich dieser junge Mann sonst derartig fesseln können. Nicht so. Nicht in dieser Tiefe, wo er mir doch eigentlich völlig unbekannt gewesen war. Diese Vertraut- und Verbundenheit zwischen uns, die ich die ganze Zeit über und am stärksten vorhin am Bach, in seinen Armen, verspürt hatte…. Diese Gefühle waren einfach zu stark und zu wichtig, um sie einfach in den Wind zu schlagen. Ja. Wenn ich ihn liebte, dann musste ich kämpfen. Zur Not auch gegen mich selbst und meine Ängste. Doch nagender Zweifel, klein, hässlich und lauernd, war immer noch in meinem Herzen, zurückgedrängt aber da, als ich meine Schritte vorsichtig zurück zum Haus lenkte. Aber ich sah auch ein, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war und so auch nicht enden konnte. Das mit Enishi interessierte mich, machte mich wieder neugierig. Himura kannte ihn. Wer also war er? Und würde Himura mir verzeihen? Dass ich, feige wie ich war, fortgelaufen war? Das ich mich so sehr erschrecken ließ? Anders und noch wichtiger: War ICH in der Lage IHM zu verzeihen? Und seine Vergangenheit zu akzeptieren? Ich trat ans Fenster und sah ihn nach wie vor an derselben Stelle am heruntergebrannten Feuer sitzen. Seine Silhouette hob sich dunkel vor den glimmenden Holzscheiten ab. Sein Gesicht, nur im Profil zu erkennen, zuckte… Ich fühlte, wie mein Herzschlag für einen Moment aussetzte. Er weinte. Der glutrote Schein der kleinen Flammen schimmerte auf den langen, dünnen Linien, die sich feucht über seine Wange zogen. Seine Schultern bebten. Und in diesem Moment hob er die Hände, um sein Gesicht zu bedecken. Sein Schluchzen klang wie ein Schrei, tief, mächtig und unendlich verzweifelt, wie aus dem innersten seines Selbst kommend. Er hatte keine Kraft mehr. Jetzt nicht mehr. Meine Hände krallten sich um den äußeren Fenstersims. Etwas in mir schrie ebenfalls, krümmte sich angesichts seines Leids. Und plötzlich war mir ALLES egal. Und wenn er der Teufel in Person gewesen wäre, ich konnte das nicht länger mit ansehen. Ich konnte und WOLLTE nicht. Ich schlug alles in den Wind. Ich zweifelte nicht mehr. Ich musste zu ihm zurück. Sollte ich doch mit ihm untergehen wenn es dies bedeutete. Es war mir gleich. Solange er nur aufhörte zu weinen. Ich überwand die Strecke bis zur Tür mit nur zwei mächtigen Laufschritten, riss sie auf und stürmte, ohne mir die Mühe zu machen die Tür zu schließen, in den Raum hinein. Erschrocken war er herumgefahren, sein wunderschönes Gesicht tränenüberströmt und verzerrt. Meine Brust hob und senkte sich rasch, mein Herzschlag wollte meinen Leib zerspringen lassen. „Kenshin…“, flüsterte ich und fühlte nun selbst wieder brennende Tränen in mir aufsteigen. Ich stürmte zu ihm, stolperte beinahe über meine eigenen Füße. Ich glitt vor ihm in die Hocke, hob die Hände und legte sie um sein Gesicht. „Sieh mich an! Kenshin, weine nicht… Bitte, bitte, weine nicht… Ich werde… nicht mehr weglaufen. Nie mehr.“ Ganz entgegen meiner so tapferen Worte heulte ich selbst wie ein kleines Kind. Ich fiel ihm um den Hals, vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und schlang die Arme um ihn. Niemals wieder wollte ich ihn loslassen. Niemals wieder seine Nähe und Wärme missen. Und er sollte niemals wieder einsam sein. Sein Atem stockte, dann sog er rasch und heftig die Luft ein. Er hob die Arme und zog mich noch enger an sich, wenn dies überhaupt noch möglich war. Er schmiegte sein tränenüberströmtes Gesicht in mein Haar. Seine Lippen berührten mein Ohr, als er schnell und so viele Worte auf einmal flüsterte, dass ich kein einziges davon wirklich verstand. Aber das war auch unnötig. Ich verstand ihn mit dem Herzen. Er hob die Hand, strich mir über den Kopf, wieder und wieder. Wir wiegten uns in dieser innigen Umarmung. Sie war intensiver, als es jeder Liebesakt je sein konnte. Er war ich und ich war er. Seine Wange lag nun an meiner. Ich atmete ihn ein, ganz tief. Ich spürte, wie unsere Seelen sich fanden und vereinten. Wir versanken im Jetzt und Hier. Und jetzt und hier war die Ewigkeit. In uns. **** Dem Menschen, dem ich nah sein möchte und es doch nie sein kann. Danke. Für alles. Und sei es auch nur ein Wort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)