Jura Tripper 1 1/2 over von abgemeldet (~I'll find my day, maybe far and away... far and away~) ================================================================================ Kapitel 1: I. Ein ganz normaler Mittwoch * II. Dreimeterbrett * III. Trug Godzilla Flügel?! ------------------------------------------------------------------------------------------- I. EIN GANZ NORMALER MITTWOCH * II. DREIMETERBRETT * III. TRUG GODZILLA FLÜGEL?! ~~~ Book of Days - Far and Away Lyrics by Roma Ryan. Composed & performed by Enya. One day, one night, one moment My dreams could be tomorrow One step, one fall, one falter East or west Over earth or by ocean One way to be my journey This way could be my Book of Days Ó lá go lá, mo thuras An bealach fada romham Ó oíche go hoíche, mo thuras, na scéalta nach mbeidh a choích? No day, no night, no moment Can hold me back from trying I'll flag, I'll fall, I'll falter I'll find my day may be Far and Away Far and Away One day, one night, one moment With a dream to be leaving One step, one fall, one falter And a new earth across a wide ocean This way became my journey This day ends together, Far and Away This day ends together, Far and Away Far and Away ~~~ I. Ein ganz normaler Mittwoch Das Poltern eines herabfallenden Gegenstandes, ein Türenknarren im Luftzug. "Sive? Du kommst zu spät!" rief es gedämpft von unten. "Ja, ja!" antwortete eine helle Stimme. "Ich komm? ja schon!" Eilig sammelte Sive ihr "Geheimnis-Album" auf, klappte es zu und versteckte es am gewohnten Ort. Dabei verfing sich die Schere, mit der sie eben noch "Skandalfotos" zurecht geschnitten hatte, in ihrem Schnürsenkel. "Au!" Jetzt hatte sie sich auch noch geschnitten. "Hmmm ? ich komm? ja schon!" rief sie, den blutenden Finger im Mund. Auf der Treppe stolperte sie fast, hielt sich dann jedoch im letzten Moment am Treppengeländer fest und kam heil unten an. "Hier, dein Frühstück." meinte ihre Mutter freundlich und leicht amüsiert. Aus der Küchentür händigte sie ihr eine Brotdose aus. "Danke!" schnappte Sive. "Tschüs!" Und wie ein Wirbelwind war sie zur Tür hinaus. "Hmmm..." summte die Mutter, sobald ihre Tochter außer Sichtweite war. Die Arme verschränkt, stand sie im kleinen Flur an die weiße Wand gelehnt. Sie sah hinaus. Es war Frühling, ein schöner Tag um ? ja, wozu eigentlich? Ein schöner Morgen voller Hektik, Frühstücksgeschirr und Sonnenschein. Ein schöner Vormittag in einem leeren Haus. Ein bisschen Ruhe, ein bisschen Vorfreude auf den Abend, wenn die Ruhe sich verflüchtigen würde, sobald sich die Haustür öffnete. Wenn ihr Mann und ihre Tochter heimkamen. Sie lächelte versonnen ihr Spiegelbild in der Glastür an, streifte ihre Hausschuhe an der ersten Treppenstufe ab und ging gemächlich nach oben. Sive hatte wieder einmal vergessen zu lüften, wie es mindestens dreimal die Woche geschah. Sie öffnete das Fenster weit und lehnte sich hinaus. Die Luft war warm. Eine blutige Schere lag auf dem Fensterbrett. Lächelnd schüttelte sie den Kopf und betrachtete sie eine Weile abwesend. Mit einem Ruck richtete sie sich irgendwann auf und verließ das Zimmer. Wie jeden Morgen führte ihr Spaziergang sie schließlich ins Schlafzimmer, wo der Computer stand. Sie nahm auf dem klapprigen Holzstuhl Platz und schaltete das Gerät ein. Als der helle Bildschirm weiß wurde und der Mauszeiger sich in einen Textmarkierer verwandelt hatte, war sie bereits aus ihrer unbestimmten Gedankenwelt aufgetaucht und kaute ungeduldig an einem Bleistift ihrer Tochter. Sie fuhr sich durch die Haare, setzte sich ordentlich hin und begann, mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit in die Tasten zu hämmern. Ein Klingeln an der Haustür hätte sie nun nicht mehr gehört. Sive rannte. Ihr Ranzen flog auf ihrem Rücken hin und her, der Schulterriemen ächzte bereits verdächtig, als wollte er ihr zuflüstern: "Achtung, ich reiße gleich." Doch das Mädchen achtete nicht darauf, während sie auf das dahin sausende Pflaster zu ihren Füßen starrte, drei Radfahrern die Vorfahrt nahm und schließlich erleichtert eine wohlbekannte Straßenecke vor sich auftauchen sah. Nur ? sie war leer. Keuchend erreichte Sive den Laternenpfahl und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Mist, sie war zu spät. Oder doch nicht? Suchend sah sie sich um und entdeckte schließlich in etwa fünfzig Meter Entfernung durch Verkehr, Anzüge und Morgentrubel eine Gestalt, die langsam den Gehsteig entlang spazierte und sich dabei zu bemühen schien, nicht auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu treten. Erleichtert nahm das Mädchen ihren Ranzen wieder auf und wetzte hinterher. "Liam! Hey, Liam, warte!" Ohne die geringste Spur von Überraschung wandte der Gerufene den Kopf, grinste und blieb stehen. "Tut mir leid - aber ? ich..." versuchte Sive zu erklären, während sie eilig heranpreschte. "Ist schon gut." meinte Liam leichthin. Sive kam jede Woche mindestens einmal zu spät. Er machte sich nichts daraus. "Weißt du, ich musste..." Was Sive an diesem Morgen noch alles gemusst hatte, ging in einem hässlichen Geräusch unter. "Oh!" murmelte das Mädchen und starrte auf den lose herunter baumelnden Schulranzen in ihrer Hand. Der Riemen war endgültig gerissen. "Mist." Liam lachte schallend. Ein paar Sekunden lang zog Sive ihr "Was-soll-denn-das-Gesicht", fiel schließlich in das Gelächter ein und so gingen sie, schon bald in Geplapper vertieft, wie jeden Morgen gemeinsam zur Schule. "Es ist Frühling," meinte Sive fröhlich, als sie unter den herabhängenden Ästen eines blühenden Kirschbaums hindurch schlenderten. "Nächste Woche hat meine Mama Geburtstag." "Und? Was schenkst du ihr?" fragte Liam. Sive lächelte stolz. "Parfüm!" rief sie und hielt siegesgewiss ihre drei Mark fünfzig [Anm. d. Verfassers: Ok, ihre 3 Pfund 50 wäre einleuchtender] hoch. "Aha." sagte Liam und versuchte krampfhaft, sie nicht anzusehen. Schließlich war es der gute Wille, der zählte. Für ihr Taschengeld, das sie pünktlich letzte Woche zu sparen begonnen hatte, konnte Sive vielleicht noch ein altes Mottenspray kaufen. Diese ahnte nichts von den zweifelnden Gedanken ihres Freundes, sondern war gerade voll und ganz darin vertieft, laut zu überlegen, welches Parfüm wohl das beste, schönste, größte ? und billigste - für ihre Mama war. "Meine Mutter hat auch bald Geburtstag," meinte Liam versonnen. "Letztes Jahr hat mein Papa ihr einen Kochtopf geschenkt. Sie ist beinahe ausgeflippt." "Vor Freude?" fragte Sive neugierig. "Nein, vor Wut. Sie dachte, mein Vater wolle sich über sie lustig machen." "Warum denn?" erwiderte Sive und versuchte, unbeteiligt auszusehen. "Sie kocht doch gut und gerne." Heute war wirklich der Tag der frommen Lügen. "Hm. Ja." antwortete Liam. Vergiftet hatte ihn die heimische Kost zumindest noch nicht. "Papa hatte ihr den Topf eigentlich auch gar nicht schenken wollen. Er war nur neugierig, wie sie reagieren würde." "Und was hat er ihr dann geschenkt?" "Ein Kleid. Und einen Kochlöffel." Liam kickte einen Kieselstein weg. Plötzlich fiel Sive etwas ein. "Ich geh doch morgen nach der Schule mit zu dir, oder?" Liam nickte. Das hieß im Klartext: Ja, meine Mutter kocht diesen Donnerstag nicht. Er und Sive kannten sich, seit sie kleine Kinder waren. Sie waren sogar entfernt miteinander verwandt, genauer gesagt war Sive Liams Großcousine. Seit der ersten Klasse gingen sie jeden Morgen gemeinsam zur Schule. Und seitdem ging Sive jeden Donnerstag mit zu ihm oder er mit zu ihr nach Hause. Je nachdem, wer bei ihm gerade kochte ? Mrs. Palmer, die Haushälterin, oder seine Mutter. War Letzteres der Fall, wurde umdisponiert, und Liam beehrte Sives Haushalt. Der Zebrastreifen vor der Grundschule war der Treffpunkt. Hier formierte sich die Menge der Grundschüler, die aus allen Richtungen kam, um gemeinsam einem einzigen Ziel zuzustreben: Dem großen, grauen Gebäude auf der anderen Straßenseite. Kein Autofahrer, der seine fünf Sinne beisammen hatte, nahm diesen Weg, wenn er schnell zur Arbeit musste. Und es war auch schon vorgekommen, dass ein genervter Mensch hinterm Steuer nach lautem Hupen schließlich erbost ausgestiegen war und etwa 200 Schüler mit erhobener Stimme gedrängt hatte, sich doch um Himmels Willen ein bisschen zu beeilen, er käme zu spät zur Arbeit. Er war trotzdem zu spät gekommen, und es war bestimmt das erste und letzte Mal gewesen, dass er diesen Weg gefahren war. Nun, den Kindern war es recht. Zwei von ihnen kamen soeben aus einer Seitengasse von links. Irgendwann in der Mitte des Weges hatten Liam und Sive mit einem entschlossenen "Jetzt aber!" einen kleinen Spurt hingelegt, schlenderten nun jedoch in aller Ruhe dem Tagewerk entgegen. Um genau die letzten zwei Stunden dieses Tagewerks drehte sich ihr Gespräch soeben auch: Schwimmen. Und ihrer beider Ansichten dazu waren sehr verschieden. "Ich hasse Schwimmen," klagte Sive. "Es ist scheußlich. Es ist kalt. Es ist nass. Es ist ungemütlich. Und das Chlor stinkt." "Also, ich mag Schwimmen gern." entgegnete Liam. "Es ist die einzige Stunde, wo du dich einfach mal ausruhen kannst. Du kannst ganz einfach schwimmen und schwimmen und niemand hat etwas dagegen. Und alles ist schön blau. Du wirst nie müde, dich einfach nur treiben zu lassen." "Ja, nur der Lehrer rennt immerfort um dich herum und verlangt, dass du schneller machst. Und außerdem," Sive zog einen Flunsch. "außerdem haben wir jede Woche zusammen mit den Trotteln aus der a. Und jede Woche muss ich diese blöde Sheerla ertragen." Die "blöde Sheerla" kam just in diesem Moment aus der anderen Richtung angelaufen, ihr Zwillingsbruder Neesan hinterher. "Sag lieber, ihr müsst euch gegenseitig ertragen." bemerkte Liam, der die beiden schon erspäht hatte und winkte Neesan zu. Der registrierte das allerdings nur halb, war er doch gerade voll und ganz damit befasst, den ? allem Anschein nach ? fesselnden Ausführungen seiner Schwester Sheerla zu lauschen. Auch sie hatte Liam und Sive noch nicht entdeckt. Warum die beiden sich nicht leiden konnte, war und blieb ein großes Geheimnis. So geheim wahrscheinlich, dass sie es selbst nicht einmal wussten. Liam erinnerte sich nur noch an die peinliche Szene ? es war irgendwann in ihrer ersten Schulwoche gewesen ? als sich Sive und Sheerla das erste Mal auf dem Schulhof begegnet waren. Die zwei waren ruckartig stehen geblieben, und auch Liam und Neesan taten dies gezwungenermaßen. Minutenlang hatten sich die beiden kleinen Mädchen einfach nur angestarrt, einander in die Augen gesehen und schließlich beide lautstark verkündet: "Ich mag dich nicht!" Dann hatten sich beide exakt im gleichen Moment die Zunge herausgestreckt, sich umgedreht und waren davon gestapft ? in verschiedene Richtungen, versteht sich. Und von diesem Tage an war das so und nicht anders geblieben. Sogar das Ritual mit dem Zunge-raus-strecken hatten die beiden beibehalten, und Liam wartete schon jetzt gottergeben auf den Moment, indem Sive und Sheerla einander entdecken und eben diese Prozedur vollführen würden. Es geschah am Zebrastreifen. Sie trafen sich Kopf an Kopf, genauer gesagt: Sheerla war gerade eingefallen, dass ein Junge auf der anderen Straßenseite ihr seit nunmehr bereits drei Wochen zwei Mark fünfzig schuldete, und als gefürchtetste Geldeintreiberin der Schule legte sie einen Zahn zu, um diesem Missstand abzuhelfen. Sive dagegen erinnerte sich plötzlich, dass sie den gesamten gestrigen Nachmittag mit ihrem Geheimnis-Album verbracht und dabei glatt ihre Mathehausaufgaben vergessen hatte. Wenn sie sie noch irgendwo abschreiben wollte, musste sie sich gehörig beeilen. Sie rannten beide gleichzeitig los. Deng! "Entschuldigung," murmelte Sheerla und rieb sich den schmerzenden Schädel. "Tut mir leid..." sagte Sive und sah auf. "DU!" riefen zwei Stimmen erbost. Unmutsgrimasse, Zunge-raus-strecken und Ich-verachte-dich-Blick auf beiden Seiten... und weg waren sie. "Bis dann!" rief Neesan noch, während er eilig seiner Schwester und der Schulglocke folgte. "Bis später!" antwortete Liam und bog in den rechten Korridor ein, in dem Sive schon verschwunden war. Mit "dann" und "später" war der Schwimmunterricht in den letzten beiden Stunden gemeint. Es sollte der gleichzeitig kürzeste und längste Schwimmunterricht in ihren jungen Leben werden... aber davon ahnten sie im Moment noch nichts. Das Einzige, was Sheerla plötzlich ahnte, war, dass ihr Matheheft verschwunden war. Es musste beim Zusammenstoß mit Sive aus ihrem Ranzen und direkt auf den Zebrastreifen gefallen sein, wo es nun hilflos und unerreichbar lag und den Reifen der Autos zum Opfer fiel. Na ja. II. Dreimeterbrett "Ich mag nicht schwimmen!" jammerte Sive, während sie von zweien ihrer Klassenkameradinnen zum Beckenrand gezerrt wurde. "Ich hasse Wasser!" Der beißende Chlorgeruch stach ihr in die Nase. Hier im Hallenbad war er noch ausgeprägter als draußen, weil eingeschlossen, und der einzige Weg zu entfliehen war durch ihre Nase, ihre empfindlichen Bauchnerven, die nun reagierten. Sive hatte Bauchweh. Das hatte sie immer, wenn sie schwimmen musste. Neidvoll und gleichzeitig von Abscheu erfüllt blickte sie zum Dreier, der gerade geöffnet worden war und auf dem sich bereits die Masse tummelte. "Jetzt komm schon! Du kannst doch nicht ewig im Kinderbecken sitzen!" versuchte eines der Mädchen, ihr gut zu zureden. "Und warum nicht?" fragte Sive trotzig. "Darum!" antwortete das andere Mädchen und gab ihr einen Stoß. "Aaaaah!" Sive stieß einen spitzen Schrei aus, versank, tauchte wieder auf, schnappte nach Luft, warf dem Mädchen, das sie ins Wasser gestoßen hatte, einen bösen Blick zu, und begann, ihre Runden zu drehen. Der Dreier war mittlerweile voll in Betrieb. Unten stand der Lehrer, Mr. Brownson, in seiner orangenen Badehose und kritzelte emsig in sein Notenbuch. Ab und zu schickte er ein paar aufmunternde Rufe nach oben, wenn sich wieder einmal ein Sprungkandidat mit dem Mut des Augenblicks hinauf getraut hatte und oben plötzlich einsehen musste, dass der Dreier doch etwas höher war, als er von unten gewirkt hatte. So zum Beispiel Neesan. Zitternd stand er an die äußerste Stange des Sprungturms gepresst und blickte mit großen, angstvoll aufgerissenen Augen nach unten. In seiner grünen Badehose und den schlotternden, dünnen Beinen sah er wirklich mitleiderregend aus. Er hatte springen wollen, ja. Aber er hatte nicht vor, schon so früh zu sterben! Ein allgemeines Gemurmel setzte ein und ungeduldige Rufe wurden laut. Sive, in sicherer Entfernung am Beckenrand paddelnd, sah mitleidig hinauf. Sie kannte das. Ein einziges Mal hatte Liam sie mit sehr viel Geduld dazu überredet, mit ihm auf den Sprungturm zu kommen. Das große, stählerne Gerüst erinnerte sie irgendwie an ein urzeitliches Lebewesen, einen großen, hungrigen Dinosaurier beispielsweise. Sie war sehr viel schneller die Leiter wieder unten gewesen als Liam - der gesprungen war. Neesan jedoch schien nicht die Absicht zu haben, wieder nach unten zu klettern. Nur, springen wollte er eigentlich auch nicht. "Jetzt trau dich schon!" rief seine Schwester und boxte ihn in die Seite. "Ist doch gar nicht hoch!" "Das sagst du so," meinte Neesan kläglich. "Du bist ja auch zwei Zentimeter größer als ich, da wirkt das viel niedriger!" Widerstandslos trat er zur Seite, um die ungeduldige Meute hinter sich vorbei zu lassen. Ein paar Kinder sprangen. Das Mädchen, das Sive vorhin ins Wasser gestoßen hatte, war auch dabei. Sive hoffte insgeheim, sie würde Wasser schlucken, doch kam sie heil unten an und kletterte mit Gejauchze bereits wieder die Leiter hoch. Springen musste wirklich Spaß machen. Sive fühlte sich klein und ungeschickt. Als nächstes war Liam an der Reihe. Er trat vor, ging in die Knie und setzte eben zu seinem Spezialsprung, dem doppelten Salto, an, als er stutzte und einen Blick auf Neesan warf, der sehnsüchtig all den tapferen Springern zusah. "Neesan," meinte Liam lächelnd, "versuch?s doch noch mal. Es ist wirklich nicht schwer und gar nicht hoch. Du schaffst das schon." "Meinst du?" fragte Neesan zaghaft und blickte abwechselnd Liam und seine Schwester an. "Aber sicher. Wenn du willst, spring ich mit dir." bestärkte Liam ihn. "Genau! Und ich auch!" ergänzte Sheerla laut, froh, dass ihr jemand Schützenhilfe gab. "Ok..." stammelte Neesan, während Liam und Sheerla ihm aufmunternd zulächelten. Sie stellten sich in einer Reihe auf. Das Sprungbrett war schmal, sie passten gerade noch darauf. Fest nahm Sheerla die kalte Hand ihres Bruders, nickte ihm und Liam zu und war bereit zum Sprung. "Halt," meinte Neesan da, "noch was." Er sah sich vorsichtig um, senkte dann die Stimme und bat leise: "Hört mal, wenn ich sterbe... kümmert ihr euch dann um meine Kakteen?" Einen Moment lang blieb Sheerla die Spucke weg, doch sie war ja an das unglaubliche Talent ihres Bruders gewöhnt, zum unpassendsten Zeitpunkt die unpassendsten Fragen zu stellen. Trotzdem musste sie sich beherrschen, nicht in lautes Gelächter auszubrechen, bejahte dann und meinte barsch: "Aber jetzt spring schon!" Liam nickte nur lächelnd. Er verstand Neesan. Der Lehrer schickte ein aufmunterndes Victory-Zeichen nach oben. Auch die anderen Schüler riefen Neesan ermutigende Worte zu. Auf einmal fühlte Sive sich sehr allein. Sie sah sich um. Sie war die einzige, die noch hier am Beckenrand hing, wie sie kläglich feststellen musste. Alle anderen waren auf der gegenüberliegenden Seite des Schwimmbeckens, entweder auf den Sprungbrettern, oder gerade damit beschäftigt, Mr. Brownson irgendwelche überflüssigen Fragen zu stellen ...bzw. sich einzuschleimen. Und Liam... Liam ? Sive schnappte nach Luft, denn Liam, dieser Verräter, stand auf dem Dreier und unterhielt sich gerade ganz besonders nett mit Sheerla und Neesan. Wie gemein! Er wusste ganz genau, das sie sich nicht da hoch traute und hatte deshalb die Gelegenheit genutzt, mir ihrer ärgsten Feindin zu plauschen! Dem würde sie nachher was erzählen! Sive ballte die Faust, ließ sie wieder sinken und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, mitanzusehen, was weiter geschah. Aber ihr Pflichtgefühl sagte ihr, dass man seine Feinde im Auge behalten muss, und darum beobachtete sie beinahe widerwillig und voller Neid, wie Liam, Neesan und Sheerla sich Hand in Hand zum Sprung bereit machten ? ohne sie! "1...2...3!" riefen alle drei gleichzeitig, stießen sich ab und sprangen. Neesan war sich sicher, sich im nächsten Augenblick mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus wiederzufinden, als der feste Halt unter seinen Füßen plötzlich weg war und er fiel und fiel. Das einzige, was nicht nur noch aus wirbelnder Luft zu bestehen schien, waren die Hände Liams und Sheerlas, die der Junge verzweifelt umklammerte. Nie mehr - nie mehr - nie mehr ? würde er... Sein Kopf schien wie leer gewischt, während er das glasklare Wasser mit immer größerer Geschwindigkeit auf sich zu rasen sah. Er selbst schien sich dagegen überhaupt nicht mehr zu bewegen, da war nur noch diese endlose Wasserwand und ganz, ganz klein die Gesichter seines Lehrers und seiner Klassenkameraden... das war das Ende... Voller Panik schloss Neesan die Augen und wartete auf den Aufprall. Er kam nicht. Ein schwacher Glanz durchflutete das helle Blau des Schwimmbeckens, die Wogen schienen sich zu öffnen und die fallenden Kinder einzuhüllen. Der gleißende Lichtschein blendete Neesan, dabei hielt er doch beide Augen fest zugekniffen. Verwirrte Rufe waren wie aus weiter Ferne zu hören, während er, Sheerla und Liam sanken und sanken, ein verwirbeltes Knäuel, und dann ? ja, und dann waren sie weg. Was ist das?, schoss es Sive durch den Kopf. Irgendein irrsinniges Gefühl wollte ihr weismachen, dass der Riesendino, auch bekannt als Dreimeterbrett, soeben sein Maul geöffnet und ihren besten Freund plus Anhang samt und sonders verschlungen hatte. Das Wasser begann, hell wie Kristall zu strahlen. Ihre Wut auf Liam war verflogen. Sie musste sie retten! Sive konnte nicht tauchen. Aber glücklicherweise war ihr das in diesem Moment entfallen. Noch einmal umklammerte sie fest den marmornen Elefantenanhänger, den ihre Mutter ihr vererbt hatte und den Sive niemals auszog, auch zum Schwimmen nicht. Er war ihr Glücksbringer und für das, was vor ihnen lag, konnten Liam, Neesan, Sheerla und Sive noch eine Menge Glück gebrauchen. Sie holte tief Luft und tauchte unter, tief hinunter in das kalte Chlorwasser, auf den gleißenden Lichtkegel unter der Wasseroberfläche zu, der immer heller und größer wurde. Das konnte doch nicht sein! Vor lauter Staunen öffnete Sive den Mund ein wenig zu sehr, sie merkte, wie sie Wasser schluckte und husten musste. Dann umhüllte das strahlende Licht auch sie und Sive sah Dinge, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das musste der Tiefenrausch sein, ganz klar, ihr Vater hatte ihr einmal davon erzählt. Jetzt ertrinke ich also auch noch, nur wegen dieser dummen Sheerla, stellte das Mädchen mit einer sonderbaren Gleichgültigkeit fest und ließ die Arme sinken. Ob das die Strafe dafür sein sollte, dass sie ein gefundenes Matheheft seiner rechtmäßigen Eigentümerin vorenthalten hatte? Alles wurde ganz still. III. Trug Godzilla Flügel?! "Ich bin tot." schoss es Neesan durch den Kopf, als er zögernd die Augen öffnete. "Ich bin im Himmel!" Eigentlich hatte sich gar nicht so viel verändert. Das Licht vor seinen Augen strahlte noch immer genauso gleißend, er trug noch immer seine Badehose und noch immer wusste er, dass er nie wieder einen Fuß auf ein Sprungbrett setzten würde. Dann klärte sich sein Gehirn und er stellte fest, dass jenes gleißende Licht über ihm die Sonne war. Und was für eine Sonne. Sie blendete ihn. Die UV-Strahlung hier im Himmel musste gewaltig sein. Er sollte lieber aufhören, die ganze Zeit ins grelle Licht zu starren, sonst würde er noch eine Brille tragen müssen. Stöhnend wandte er den Kopf und erkannte voller Überraschung, dass er nicht allein gestorben war. "Bist du auch tot, Liam?" fragte Neesan besorgt. "Vielen Dank, dass du mit mir gesprungen bist. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen." "W-w-wie?" fragte Liam schlaftrunken und rieb sich die Augen. "Keine Ursache. Gern geschehen." "Was man im Himmel wohl macht?" überlegte Neesan versonnen. Er richtete sich auf und sah sich zum ersten Mal genauer um. "Das wollte ich schon immer mal gern wissen. He!" "Was?" fragte Liam und sammelte langsam seine fünf Sinne wieder ein. "Ob wir Flügel haben? Das fühlt sich irgendwie so sonderbar an. Liam, kannst du mal auf meinem Rücken nachgucken, ich seh? das nicht!" "Ja, ja." beeilte sich Liam, zu antworten. Sein Sichtfeld war zwar noch immer ganz verschwommen, aber trotzdem erschien ihm Neesans Rücken bei näherer Betrachtung vollkommen normal. "Nein. Keine Flügel." "Schade," murmelte Neesan enttäuscht, und schrie dann auf einmal: "Aaaah!" Liam verzog mitleidig das Gesicht und nahm seinen unterbrochenen Satz wieder auf: "Flügel hast du keine, meinte ich, aber da krabbelt gerade einen riesengroße rote Ameise auf deinem Rücken rum." Entsetzt ließ sich Neesan zur Seite fallen, und das hinterhältige Insekt flüchtete, als er begann, sich wie ein Hund zu rollen. Dabei stieß er mit der Nase auf das dritte Mitglied ihrer Expedition. "Ihr Blödmänner," schimpfte Sheerla, die schon eine ganze Weile wach war und interessiert den Jungen zugesehen hatte. "Wir sind doch nicht im Himmel!" "Wo dann?" fragte Liam und zeigte auf einen Riesenfarn, auf dem mehrere faustgroße Käfer herum krabbelten. "Äh... im Stadtpark?" quietschte Sheerla und wurde grün im Gesicht. Sie hasste Käfer... vor allem, wenn sie im Badeanzug war. "Glaub ich nicht..." meinte Liam vielsagend und ließ den Blick schweifen. Um sie herum war nichts als Urwald. Jede Menge farbenfrohes Klettergestrüpp schlängelte sich um mächtige Äste. Der Wald schien auch nach obenhin kein Ende zu nehmen. Unzählige Farne, so groß wie Bäume, schossen seitlich der Lichtung, auf der die Kinder sich wiedergefunden hatten, in die Höhe. Und im Schatten eines dieser Farne lag röchelnd die vierte im Quartett. "Sive!" Schnell erhob sich Liam und lief hinüber zu der Freundin. "Na klar, die muss natürlich mal wieder Sperenzchen machen." brummte Sheerla und folgte ihm. Alles war besser, als allein in der Nähe dieser Monsterkäfer zu sitzen. Sive hustete sich gerade die Seele aus dem Leib. Im Gegensatz zu Neesan, der sich als gläubiger Christ beim Aufwachen im Himmel geglaubt hatte, fühlte Sive sich eher wie im Grab. Modrige Erde und Wurzeln hingen ihr ins Gesicht. "Was ist?" fragte Liam und hob ihren Kopf ein wenig an, damit der Husten aufhörte. In einem Schwall ergoss sich sämtliches Wasser, das Sive während ihrer Tauchtour geschluckt hatte, direkt vor Sheerlas Füße, die erbost einen Satz rückwärts machte. Schnell versickerte es in der gierigen Erde. "Das hat die doch mit Absicht gemacht!" motzte Sheerla. "Hab ich nicht!" verteidigte sich Sive, die jetzt wieder freier atmen konnte. "Und dein Matheheft hab ich auch nicht mit Absicht geklaut!" Eben wollte sie den Kopf wieder zurück auf das weiche Moospolster sinken lassen, als ihr noch einfiel ? sie hätte es fast vergessen! -: "Bäh!" machte Sive und streckte Sheerla die Zunge raus. "Selber!" zischte Sheerla. "Und was war das eben gerade mit dem Matheheft?" Sive bekam einen roten Kopf, als sie merkte, dass sie sich verraten hatte. Trotzig meinte sie: "Es ist aus deinem Ranzen gefallen und da hab ich?s aufgehoben. Danke übrigens, dass du zufällig die gleichen Matheaufgaben hattest wie die, die ich vergessen hatte. Und ganz nebenbei bemerkt, du hast echt ?ne scheußliche Schrift." "Du!!" rief Sheerla erbost. "Wegen dir blöder Kuh hab ich ?nen Eintrag bekommen!" "Ähm... hing das nicht vielleicht zufällig auch damit zusammen, dass du fast die Tür eingetreten hättest, nachdem Tom dir dein Geld nicht zurückzahlen wollte?" ließ sich Neesan leise im Hintergrund vernehmen, doch Sheerla überhörte ihn. "Gib mir sofort mein Matheheft wieder!" "Nein!" "Doch!" "Wenn du zu doof bist, deinen Ranzen zuzumachen!" "Na und? Ist doch wohl meine Sache, wie ich meinen Ranzen habe!" "Nein!" "Doch!" "Nein..." "Könnt ihr das nicht lassen?" fragte Liam seufzend. Wie gut er das kannte. "Wir sollten vielleicht lieber mal versuchen, herauszufinden, wo wir hier sind. Im Himmel jedenfalls nicht. Und dein Matheheft ist auch nicht hier." versuchte er halbherzig, zu vermitteln. "Schade," meinte Neesan trübselig. "Aber wo sind wir dann?" "Vielleicht ist das hier ja der Hauptfriedhof und wir sind Geister? Könnte doch sein." Immer, wenn sie etwas nicht verstand, wurde Sive erfinderisch. So übrigens auch bei den Schulaufgaben. "Aber ich hab Angst vor Geistern..." murmelte Neesan kleinlaut. Auf einmal erschien ihm der Wald sehr viel dunkler und bedrohlicher. "Ach was, Geister!" rief Sheerla laut und warf Sive einen bösen Blick zu. "So ein Quatsch. Hier gibt?s keine Geister." "Pst, seid mal still." flüsterte Liam da und legte die Hand an die Ohrmuschel. Ein gleichmäßiges Dröhnen kam von irgendwoher aus dem Wald. "Was ist das?" fragte Sive argwöhnisch und ließ sich von dem hohlen Baumstamm hinab gleiten, auf dem sie gesessen war. Bei diesem Geräusch schien es ihr angebrachter, sprungbereit zu sein. Sie spitzten die Ohren. "Das... das sind Schritte!" meinte Liam. Seine Stimme hörte sich heiser an. "Laute Schritte. Von etwas Großem..." "Es gibt keine Poltergeister." flüsterte Neesan. "Stimmt?s, Sheerla? Es gibt keine." Ängstlich klammerte er sich an seine Schwester. "Und keine Monster..." hauchte Sheerla tonlos und weiß wie die Wand. "Schritte. Und sie kommen näher..." Wie erstarrt lauschten die Kinder auf das ferne Dröhnen, das immer lauter wurde und sich schon bald gar nicht mehr so fern anhörte. Ihre Nerven waren auf äußerste gespannt, mehr als einmal zuckten sie erschrocken zusammen, sobald auch nur einer von ihnen eine unbedachte Bewegung machte. Fast unbewusst rückten sie immer enger zusammen. "...keine Monster." nahm Sheerla mit schwacher Stimme ihren Faden wieder auf. Inzwischen bebte die Erde unter ihren Füßen bereits, doch die Kinder waren erstarrt vor Angst und unfähig, davonzulaufen. Liam spürte, dass sein Herz im Rhythmus der stampfenden Schritte klopfte wie ein Presslufthammer. "Und nichts, wovor man Angst haben müsste..." sagte Sheerla langsam. Sie schwankte auf dem bebenden Untergrund, verlor das Gleichgewicht und sank in die Knie. "Wir sollten vielleicht lieber mal zusehen, dass wir hier wegkommen..." flüsterte Liam so leise, dass sie ihn kaum noch verstehen konnten. "Und zwar jetzt gleich!!" In diesem Moment teilten sich die Wipfel vor ihren Augen. Ein riesenhafter Kopf erschien und starrte verdutzt die vier kleinen Pünktchen am Erdboden an, die sich dort zu seinen Füßen die Kehlen heiser schrien. Zu dem Kopf gehörte ein langer Hals. Und an den Hals schloss sich ein Körper vom Umfang eines Hochhauses an. Am Körper saßen zwei Beine dick wie Türme. Zu diesen Türmen gehörten zwei Füße, und einer davon war vor etwa 3 Sekunden exakt zwei Meter von Sheerla entfernt nieder gegangen. Ihr Herzschlag setzte aus und sie konnte nicht mehr atmen. Alles, was sie noch konnte, war, an diesem riesigen Fuß hochzustarren und krampfhaft den Gedanken zu vermeiden, was wohl mit ihr passieren würde, wenn dieser Fuß sich ganz spontan entschließen würde, noch einen Schritt vorwärts zu machen. Sekundenlang stand Sheerla einfach nur da und schrie lautlos. Dann packten zwei Hände sie links und rechts an den Schultern und rissen sie herum. Sie rannte. Entsetztes Keuchen aus drei Kehlen drang an ihr Ohr, während der Waldboden unter ihren Füßen verschwamm. Der Brachiosaurus legte den Kopf schief und sah den winzigen krabbelnden Punkten hinterher. Dann reckte er sich und sein mächtiger Hals erzitterte, als er mit lautem Krachen eine Baumspitze abbiss und geräuschvoll zerkaute. Ein vergleichsweise winziger Ast löste sich unter den mahlenden Zähnen des Dinosauriers, fiel und fiel immer schneller durch das Wipfelgewirr und zertrümmerte den hohlen Baumstamm, auf dem Sive noch vor fünf Minuten gesessen hatte. Text & Story © by Amber 2001/2002 Illustrations © by Willow 2001/2002 Idee © by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 2: IV. Heimweh * V. Futtersuche * VI. Begegnungen --------------------------------------------------------- So, wer sich langsam gefragt hat, was das ganze eigentlich mit Jura Tripper zu tun hat und wo die Pfadis bleiben - hier sind sie! ...bitte schreibt mir einen Kommentar....!! IV. HEIMWEH * V. FUTTERSUCHE * VI. BEGEGNUNGEN ~~~ IV. Heimweh Als sie endlich keuchend und völlig erschöpft Halt machten, saß ihnen der Schreck noch immer tief in den Knochen. Der Urwald um sie herum war einer Graslandschaft gewichen, doch konnten die vier Kinder sich nicht erklären, wie oder von wo sie hierher gekommen waren. Sie waren ganz einfach gerannt. Nachdem der Dinosaurier aufgetaucht war, hatte der Schock vom Vorhandensein des Gigantischen sie zunächst gelähmt. Sie wären wohl tatsächlich in dieser regungslosen Lage verharrt, hätten sich instinktiv "totgestellt" wie eine Maus in der Falle. Dies hätte jedoch sehr wahrscheinlich ihren tatsächlichen Tod bedeutet, denn der fressende Gigant, auf den sie klein wie Ameisen wirken mussten, wäre einfach über sie hinweg gestampft. Liam aber war es gewesen, der als erster diesen lähmenden Schrecken abgeschüttelt und die anderen aus ihrer entsetzten Faszination gerissen hatte, Sheerla an der Schulter gepackt und blindlings davon gestürmt war. Und nachdem sie zu laufen begonnen hatten, war da nichts und niemand mehr, das sie hätte stoppen können, außer der unverrückbaren Tatsache, dass viele Meilen zwischen ihnen und dem Dinosaurier lagen. Das schien nun Gott sei Dank der Fall zu sein. Eine Ewigkeit, so wirkte es, lagen sie einfach nur da und lauschten ihren Atemzügen, die, zuerst noch rasch und laut, von ihrer völligen Erschöpfung zeugten, sich dann jedoch langsam entspannten, bis sie sich wieder in der Lage fühlten zu sprechen. "Was... was war das?" Eine Weile hing Neesans Frage nur in der Luft und hallte in ihren Ohren nach, bis sie schließlich verklang. Dann erst gelang es Sive, sich zu überwinden, eine Antwort zu geben. "Weiß nicht," murmelte sie, ihre Stimme klang dünn und ängstlich. "Das... das war ein... Dinosaurier, glaub ich." Liam sah zu Boden. So unglaubwürdig sich das auch anhörte, war nicht eigentlich das gesamte Geschehen der letzten Minuten absolut unglaubwürdig? "Wo sind wir?" fragte Sive, ohne auf die Antwort ihres Freundes einzugehen. Sie saß bloß da, hielt die Knie umschlungen und starrte auf ihre nackten Füße. "Und wie kommen wir wieder nach Hause?" "Ich mag das nicht." murmelte Neesan. Er schluckte und rieb sich mit einer schmutzigen Hand das Gesicht. Sein Vater, der sehr auf Sauberkeit achtete, hätte ihn nun bestimmt auf der Stelle Hände waschen geschickt. Aber hier gab es kein Waschbecken, und sein Vater war auch nicht hier. "Glaubt ihr, wir... wir..." Der Rest des Satzes ging unter, als Neesan verzweifelt nach einem Taschentuch suchte, das er in seiner Badehose bestimmt nicht finden würde. "Mir... mir ist kalt." Wieder rieb er sich die Augen, als plötzlich die Tränen, die er schon die ganze Zeit über zu unterdrücken versucht hatte, über sein verschmiertes Gesicht zu kullern begannen. Er ließ sie ganz einfach, hielt still die Hände im Schoß gefaltet und heulte was das Zeug hielt. "Hör auf." nuschelte Sheerla undeutlich. Es war das erste Mal, seit sie zu laufen aufgehört hatten, dass sie sich zu Wort meldete. "Hör auf, sonst fang ich auch noch... auch noch ... auch noch an." Sie nieste, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte den Blick ab. Ob sie bereits "auch schon angefangen hatte", konnte Liam nicht sehen, aber er spürte, dass auch er bald hemmungslos heulen würde, wenn das so weiter ging. Und Sive ging es genauso, das sah er ihr an. Es wurde bereits langsam dunkel. Was immer das für ein seltsamer Ort war, an dem sie hier gelandet waren, immerhin gab es Tag und Nacht wie bei ihnen zuhause. Zuhause... die anderen hatten jetzt sicherlich längst Schule aus, saßen gerade beim Abendessen in einer warmen Küche. Und sie? Ob man sie wohl vermisst hatte, als sie so plötzlich verschwunden waren? Bestimmt. Eine ganze Weile blieb es still. Jedes der Kinder war in Gedanken versunken, nur Neesans unregelmäßiges Schluchzen ließ sich hin und wieder vernehmen. Sive hatte das Kinn auf die Knie gestützt und hielt krampfhaft ihren Anhänger umklammert. Sheerla saß zusammengekauert zwischen einigen hohen Grasbüscheln und dachte noch immer voller Angst an den Dinosaurier, der sie fast zertreten hätte. Langsam bekamen sie Hunger. Bei dem Gedanken an Abendessen begann Liam der Magen zu knurren. Sogar das Essen seiner Mutter, das man nun wirklich nicht als Spitzenklasse bezeichnen konnte, hätte er nun mit Freuden hinunter geschlungen. Aber zu essen hatten sie auch nichts. "Hört mal," begann Liam und sah in die Runde. "Wir sollten uns vielleicht mal nach einem Versteck für die Nacht umsehen. Wer weiß, was für Besucher sich hier nach Sonnenuntergang blicken lassen." "Was?" Sheerlas Kopf fuhr mit einem Ruck in die Höhe. "Du meinst, hier gibt es noch mehr solche Viecher?" Die nackte Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. "Bestimmt." meldete sich Sive zu Wort. "Davon müssen wir ausgehen." "Worauf wartet ihr dann noch? Lasst uns verschwinden! Neesan," Sheerla rutschte zu ihrem Bruder hinüber und sah ihn besorgt an, "geht's wieder?" Neesan nickte, während er sich mit den Händen die roten Wangen trocknete. "Halt, wartet noch." dämpfte Liam. "Wir dürfen nicht einfach blindlings losstürmen. Wir müssen überlegen." "Können wir nicht ganz einfach hier bleiben?" fragte Sive auf einmal. Liam sah sich um, auf hohes Röhrengras und andere, ihm unbekannte Pflanzen, die ihren Rastplatz wie in einem Maisfeld vor fremden Blicken verbargen. Vereinzelt ragten ein paar strauchartige Gewächse aus dem Rohrgestrüpp. "Hier sieht uns doch niemand. Bleiben wir doch hier." bat Sive und sah ihn flehentlich an. "Kommt nicht in Frage! Wir dürfen hier nicht bleiben!" widersprach Sheerla. Liam hörte mit gemischten Gefühlen zu. Er verstand Sives Wunsch, einfach hier zu bleiben. Der kleine, grasumstandene Platz hatte in dieser vollkommen fremden Umgebung wenigstens den Hauch etwas Vertrautem für sie. Am liebsten hätte sie sich einfach nicht mehr von der Stelle gerührt, in sich zusammengekauert und hoffend, dass am nächsten Morgen alles schon wieder ganz anders aussehen würde. "Ich glaube, ich würde auch lieber hier bleiben." ließ sich Neesan leise vernehmen. Scheu sah er seine Schwester an. "Oder, Sheerla? Können wir das nicht tun?" "Quatsch!" rief Sheerla. Ihre Augen blitzten, doch eher vor Angst als vor Wut. "Glaubt ihr Trottel denn tatsächlich, diese winzigen Grasbüschel könnten euch Schutz geben, wenn das Monster aus dem Wald hier vorbei stampft?" Nervös tänzelte sie hin und her. "Liam! Sag du es ihnen! Ich hab doch recht!" Seit ihrer Begegnung mit dem Brachiosaurus war Sheerla einfach nicht mehr zurechnungsfähig. Sie wollte nur weg, an einen Ort, wo sie sich in Sicherheit wiegen konnte. Liam war zwiespältig. Er verstand Neesans und Sives Wunsch ebenso wie die Angst Sheerlas, doch noch unter die Füße des Dinosauriers zu kommen. Oder... Schlimmerem zu begegnen. Bittend sahen Sive und Neesan ihn an, auffordernd war der Blick Sheerlas. Sie verlangten von ihm, dass er eine Entscheidung traf, wurde Liam klar. Wieso eigentlich gerade er?! Während sie hier herum debattierten, verstrich die Zeit gnadenlos. Es wurde immer dunkler. Liam gab sich einen Ruck. "Hört mal," sagte er zu Sive und Neesan, "ich verstehe euch ja. Ich hab auch Angst, und ich würde mich auch am liebsten hier verkriechen, bis das Ganze vorbei ist. Aber dadurch wird es nicht besser. Und ich denke, das wisst ihr." Er schaute Sheerla an. "Aber blindlings davon zu rennen bringt genauso wenig. Das sollte uns klar sein." "Und was machen wir dann?" fragte Sive leise. Sie schien einzusehen, dass Liam recht hatte. "Also erst mal... erst mal brauchen wir ein Versteck für die Nacht. Etwas Hochgelegenes, wenn möglich. Der Dino von vorhin war zwar riesig, aber nicht bösartig und anscheinend auch ein Pflanzenfresser. Aber es gibt bestimmt auch andere hier. Fleischfresser. Jäger." Sive wurde blass um die Nase. "Ja, da hast du recht. Das hab ich nicht bedacht." Neesan schluckte, und Sheerla wurde noch eine Spur nervöser. "Macht doch zu," murmelte sie, "macht doch," und ballte die Fäuste. "Schon gut." sagte Liam und bat sie mit seinem Blick, sich doch zu beruhigen. "Dann brauchen wir unbedingt etwas zu essen. Ob das Zeug hier," er zeigte auf das Pflanzengestrüpp ringsum, "essbar ist, wissen wir nicht. Aber vielleicht..." Liam wagte kaum, weiter zu sprechen, voller Angst, dass seine Vermutung sich als falsch erweisen könnte, "...vielleicht gibt es ja Menschen hier. Menschen, die vielleicht was zu essen für uns übrig hätten. Oder irgend jemand, der uns weiterhelfen könnte und uns wenigstens mal sagen könnte, wo wir eigentlich sind." "Ja..." murmelte Sive. "Wo sind wir hier gelandet? Was ist das für eine schreckliche Welt? Ich... ich will wieder nach Hause. Zu meiner Mama. Zu meinem Papa. Heim." Ein Ruck ging durch ihren Körper und ihr Gesicht verzerrte sich. "Du hast ja recht, Liam. Hierbleiben nützt uns auch nichts. Also, gehen wir." Schluchzend erhob sie sich und klopfte mit den Händen ihren Badeanzug ab, der voll Erde war. "Ja, gehen wir." murmelte Neesan mit schwacher Stimme. "Wir finden bestimmt jemanden, der uns helfen kann. Morgen. Oder?" Er sah sich nach allen Richtungen um. "Oder??" "Ja." antwortete Liam. "Ja. Ganz sicher, Neesan." Er sah zu Boden. "Was ist denn? Wo bleibt ihr?" erklang ungeduldig Sheerlas Stimme. "Wir kommen ja schon." rief Liam und ballte die Fäuste. "Sive?" Aufmunternd sah er sie an und hielt ihr die Hand hin. "Ja. Ich komm schon." antwortete das Mädchen mit erstickter Stimme und nahm Liams Hand. Zusammen liefen sie hinter Sheerla her. Es stellte sich heraus, dass Sheerla - oder deren Panik - keine schlechte Wegweiserin war. Zügig und schnell orientierte sie sich an den hohen Punkten in der Gegend und hielt schließlich auf einen großen, kegelförmigen Berg zu, in dem es bestimmt auch Höhlen gab. Ein Baum, darauf hatten sie sich schließlich geeinigt, war viel zu unsicher, wenn man bedachte, dass der Brachiosaurus von vorhin mindestens ebenso groß wie der höchste Baum gewesen war und ihn eher noch überragt hatte. Außerdem war es ihnen um einiges wohler hier durch das Grasland zu wandern, wo sie etwaige Gefahren schon von weitem sahen, als noch einmal im Urwald überrascht zu werden. Sie beeilten sich sehr, denn mittlerweile war es fast völlig dunkel geworden. Die zunehmende Kälte, die sie in ihren Badeanzügen frösteln machte und die vielfältigen, ungewohnten Geräusche der Nacht taten ein Übriges. Sheerla, Neesan, Liam und Sive waren Stadtkinder und diese menschenleere Wildnis jagte ihnen Angst ein. Um so erleichterter waren die vier, als Sheerla mit den Worten "Nur herein!" den Eingang auf eine kleine Höhle freigab. Sie lag etwas oberhalb eines Abhangs, der sanft abfiel und war so sicherer, als wenn sie ebenerdig gewesen wäre. Mit schmerzenden Füßen, denn schließlich waren sie den ganzen Tag über barfuß gelaufen, ließen sie sich erschöpft zu Boden sinken - nicht ohne die Höhle vorher gründlich untersucht zu haben, ob Schlangen, Spinnen oder Sonstiges hier ihr Unwesen trieben. Aber sie war leer, und auch ziemlich kalt, wie die Kinder im Laufe der Nacht feststellen mussten. Einschlafen konnten sie nicht, dafür fühlten sie sich viel zu unsicher und allein, und als Liam kurz den Kopf herausstreckte und voller Unglaube zwei Monde am Himmel entdeckte, wurde ihnen erst richtig klar, wie gewaltig die Entfernung zu ihrem Zuhause sein musste. Nämlich so gut wie unerreichbar. "Mir ist kalt." flüsterte Neesan und rückte dichter an die anderen heran. Sie taten ihr Möglichstes, sich gegenseitig zu wärmen. Nicht einmal Sive und Sheerla protestierten dagegen. Ihre Feindschaft schienen sie kurzfristig begraben zu haben. "Morgen," meinte Liam und sah die beiden Mädchen an, "morgen sehen wir uns mal ein wenig genauer um. Bestimmt leben hier irgendwo Menschen. Und bestimmt können sie uns auch Kleider geben, damit wir nicht mehr so elendig frieren müssen. Stimmt's, Neesan?" Er musste lächeln, denn Neesans Antwort bestand in einem leisen Schnarchen. Sein Kopf war an Sheerlas Schulter gesunken. Die Anstrengungen waren wohl einfach zu viel für ihn gewesen. Liam senkte ein wenig die Stimme, um Neesan nicht zu stören, und wandte sich wieder Sive und Sheerla zu. "Wir sollten jetzt am besten alle versuchen, ein wenig zu schlafen." "Wir sind doch noch so klein." wandte Sive ein. "Glaubt ihr, wir haben irgendeine Möglichkeit, jemals hier weg zu kommen?" Sheerla hustete. "Du vielleicht. Ich bin immerhin schon neun." Sie streckte Sive die Zunge heraus. "Ich auch, stell dir vor." sagte die und verschränkte die Arme. "Bäh." Etwas getröstet streckte sie Sheerla die Zunge raus. Solange sie sich noch streiten konnten, war wenigstens nicht alles verloren. Einige Minuten verstrichen. "Liam?" fragte Sive dann. "Ja?" "Gute Nacht." Sheerla überging sie geflissentlich, schloss die Augen und war im nächsten Moment auch schon eingeschlafen. "Gute Nacht, ihr beiden." murmelte Liam, drehte sich zur Seite und versuchte sich so gut es ging in der winzigen Höhle zusammenzurollen. "Ach, rutscht mir doch den Buckel runter." flüsterte Sheerla. Sie war froh, dass sie nicht ganz alleine war. V. Futtersuche Sive wachte auf, weil ihr der Magen knurrte. Schläfrig rieb sie sich die Augen. Sie hatte so einen schönen Traum gehabt. Zwar konnte sie sich nicht mehr erinnern, wovon er eigentlich gehandelt hatte, aber was sie noch ganz genau wusste, war, dass Essen darin vorgekommen war. Essen. Sie war ganz schwach vor Hunger. Gähnend reckte sie die Arme und streckte neugierig den Kopf aus der Höhle. Die Sonne schien hell, es musste bereits Mittag sein. Und die anderen schliefen immer noch. Typisch. Sive beschloss, sich ein wenig umzusehen. Am hellichten Tag hatte sie keine Angst. Zumindest nicht, wenn sie sich das mit aller Macht einredete. "Na, bist du auch schon wach?" meldete sich plötzlich eine Stimme neben ihrem Ohr. Sive erschrak dermaßen, dass sie das Gleichgewicht verlor und aus der Höhle purzelte. Der Sturz war schmerzhaft. "Au! Du Schwachkopf!" Grimmig rieb sie sich Arme und Beine. "Entschuldigung." meinte Neesan schüchtern. "Aber ich bin schon seit Stunden wach. Ich dachte, du hättest mich bemerkt." Mit baumelnden Beinen hockte er im Höhleneingang und schaute besorgt auf Sive hinunter. "Das... äh... hab ich auch." behauptete Sive schnell. Mitleidheischend sah sie an sich herab. Das würde bestimmt eine Menge blauer Flecken geben. Neesan folgte ihrem Blick und musste lachen. "Du siehst aus wie ein Moorkind!" "Schau dich mal an," entgegnete Sive patzig und machte sich daran, wieder in die Höhle zu klettern. Neesan hatte recht. Ihr Badeanzug starrte vor Dreck, ganz so als wären sie nicht erst seit 24 Stunden, sondern schon seit mindestens 24 Monaten hier. "Sind die anderen inzwischen wach?" wollte Sive wissen. "M-mh." Neesan schüttelte den Kopf, sah zu Boden. "Und warum hast du sie dann nicht aufgeweckt?" schnauzte Sive. "Na ja..." Unglücklich wand er sich. "Sheerla wird immer fuchsteufelswild, wenn ich sie wecke, bevor sie ausgeschlafen hat. Darum dachte ich mir, lasse ich sie lieber noch ein bisschen." "Typisch," knurrte Sive, die Hände in die Hüften gestemmt. "Echt typisch!" "Entschuldigung," murmelte Neesan beschämt. "Du doch nicht!" fuhr Sive ihn an, "Sheerla!" "A-ach so. Tut mir leid." stotterte Neesan und machte sich noch ein bisschen kleiner. Sive achtete nicht darauf. Sie war gerade damit beschäftigt, sich eine hypergemeine Weckmethode für Sheerla auszudenken. Sinnend betrachtete sie den dunkelblonden Schopf der friedlich Schlummernden und ein fieses Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Sie könnte sie... oder auch... ebenso genial wäre es... Gerade, als Sive beschlossen hatte, ein paar der faustgroßen Feuerkäfer zu fangen und sie über Sheerlas Rücken krabbeln zu lassen, wachte diese schlagartig auf. "Kommt nicht in Frage!" "W-was?" fragte Sive verdattert, "Wie?" Soweit sie wusste, hatte sie nicht laut gedacht. In der Regel gab das zu peinliche Erklärungsversuche und so hatte sie sich den Hang dazu schon frühzeitig abgewöhnt. Erst jetzt bemerkte Sheerla, wer da vor ihr stand. "Äh... nix!" meinte sie schnell und kratzte sich am Kopf. "Ich hab nur geträumt. Aber," lauernd blickte sie Sive aus dem Augenwinkel an, "was geht dich das eigentlich an?!" "Pah." machte Sive und zuckte die Schultern, um ihre Enttäuschung, dass Sheerla aufgewacht war, zu überspielen. "Du bist dumm, und ich hab Hunger." "Du auch. Ich auch." entgegnete Sheerla und räkelte sich. "Was?" entfuhr es Neesan. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Schwester eine Schwäche eingestand. "Nein! Ich bin nicht dumm! Ich hab Hunger!" polterte Sheerla und rieb sich demonstrativ den Bauch. Beruhigend tätschelte Neesan ihr die Schulter. "Wir können uns ja was zu essen suchen. Aber erst müssen wir noch Liam aufwecken." "Probiert das ruhig. Ihr schafft es ohnehin nicht. Ich bin die Einzige, die ihn wach kriegt!" schaltete sich Sive ein. Stolz hob sie den Zeigefinger und begann, damit vor Sheerlas ungläubigem Gesicht herumzufuchteln. "Überlasst das nur mir!" "Ach?" Zweifelnd runzelte Sheerla die Stirn. "Glaub mir." versicherte Sive und freute sich diebisch. Geschäftig trippelte sie hinüber zu Liam. Sive holte tief Luft, senkte den Mund zum Ohr des Ahnungslosen und machte sich soeben bereit, ihm mit vollem Stimmaufwand "LIIIIIIAM! AUUUUUFWACHEN!!!" direkt in den Gehörgang zu brüllen, als dieser die Augen aufschlug, lächelte und ihnen allen freundlich einen guten Morgen wünschte. "Arrrrrgh!" Sive verschluckte sich vor lauter Luft holen, bekam einen Hustenanfall und stampfte vor Wut ein paar mal mit dem Fuß auf. Als sie daraufhin nicht die geringste Beachtung erntete, sandte sie einen empörten Blick quer durch den Raum und rauschte gekränkt aus der Höhle. Zu guter Letzt verlor sie am Eingang schon wieder das Gleichgewicht, geriet ins Schleudern und fiel auf die Nase. Ganz wie auf der heimischen Treppe eben. "Was hat Sive denn?" fragte Liam verwundert. "Ach, nichts." bemerkte Sheerla trocken. "Sie hat nur mal wieder vergeblich versucht, sich unentbehrlich zu machen. Kein Grund zur Sorge also." Wenn Blicke rösten könnten, wäre Sheerla nun durch Sive spontan zum Aschehaufen mutiert. So aber konnte sie sportlich wie stets - ihre Mutter hatte ein Fitness-Studio - ohne das geringste Stolpern aus der Höhle hüpfen, Sive auf die Schulter klopfen und sie mit den Worten "Essen fassen! Komm!" davon zerren, während Liam und Neesan folgten. Beleidigt, aber unglücklicherweise ebenso hungrig, ließ Sive sich mitschleppen und überlegte dabei, was sie wohl verbrochen haben mochte, dass sich keiner, aber auch wirklich keiner von ihr wecken ließ. Sie hatte es wirklich schwer, fand sie. "Glaubt ihr, hier gibt es Schokolade?" Es war bereits das vierte Mal seit sie aufgebrochen waren, dass Sive diese Frage stellte. Und war man ihr bei den drei vorangegangenen Malen nur mit Schweigen begegnet, platzte Sheerla nun endgültig der Kragen. "Nein!" polterte sie gereizt und schüttelte ihre Mähne. "Du bist ja so was von blöd!" Gekränkt sah Sive zu Boden. "Ich mein' ja nur..." knurrte sie. "Hast du vielleicht 'ne bessere Idee, was wir essen könnten?" Bestimmt nicht, dachte sie bei sich. Die spielt sich doch bloß auf. "Aber sicher doch!" Liam, der ein Stück voraus gegangen war, blickte überrascht zurück. "Ja? Und was?" Ein handfester Vorschlag war für ihn allemal besser als die Möglichkeit, irgendwelche womöglich giftigen Beeren zu probieren. Kurz musste er lächeln, als ihm einfiel, dass er, falls er tatsächlich giftige Beeren fände, bloß Sive nichts davon erzählen durfte. Was das Mädchen damit alles anstellen würde, daran mochte er gar nicht denken. "Nun..." begann Sheerla und erweckte ganz den Eindruck, als habe bei ihr soeben ein gewaltiger Geistesblitz eingeschlagen. "Nutellabäume natürlich. Die gibt's hier bestimmt in Hülle und Fülle!" Stolz sah sie in die Runde. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen, das ihren verblüfften Eltern soeben bewiesen hatte, dass sie es durchaus mit Einstein aufnehmen konnte und dafür gehöriges Lob erwartete. Nun, genau genommen war Sheerla auch nichts anderes. Nur ihre Freunde waren zu ihrem Pech keine wohlmeinenden Eltern, die das Genie ihres Kindes in den Himmel zu loben bereit waren, ganz egal, wie die Wahrheit aussah. Schweigen. Sekundenlang starrten die anderen drei erst Sheerla, dann einander nur vielsagend an. Dann bekam Liam einen Lachkrampf, sank zu Boden und kugelte sich. Er lachte und keuchte, er keuchte und lachte, er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Sive dagegen stand in ihrer üblichen Pose, den Kopf hoch erhoben, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr hochgerecktes Kinn und ihr vor all dieser Dummheit demütig gesenkter Blick zeigten deutlich, was sie von Sheerla hielt. Einzige Regung in ihrem Gesicht war eine sehr, sehr steile Augenbraue, die bei gleichbleibender Geschwindigkeit gut und gerne noch den Neigungswinkel von 90° würde erreichen können. Neesan dagegen tat überhaupt nichts. Er starrte nur verblüfft seine Schwester an. "Was ist? Stimmt was nicht?" fragte Sheerla verständnislos und ein wenig sauer. Warum in Herrgotts Namen lachten sie bloß über sie? Wie konnten sie es wagen?! "Ihr glaubt mir wohl nicht, dass es Nutellabäume gibt, wie? Aber wartet nur, ich werd's euch schon beweisen!" Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihre Freunde aus zornessprühenden Augen an. "Kommt! Wir suchen jetzt einen!" Ärgerlich wollte sie davon stampfen, aber Liam hielt sie zurück. "Halt, Sheerla! Warte!" Er wischte sich die Lachtränen aus dem Augenwinkel. "Bleib hier! Ich wollte dich nicht auslachen, entschuldige." Bei sich dachte er, dass Sheerla da bestimmt lange würde suchen müssen. Er wollte sein Essen nach Möglichkeit noch heute. "Was kann ich dafür, dass ihr ein Haufen ungebildeter Rüpel seid?" antwortete Sheerla und rümpfte die Nase, "Phhh." "Das sagt genau die Richtige." bemerkte Sive mit einem gehässigen Grinsen. "Nutellabäume! Du hast sie wohl nicht mehr alle! Nutella kommt aus dem Glas, und von nirgends sonst!" "Ach?" entgegnete Sheerla stur. "Meine Mama hat mir aber erzählt, es würde auf Bäumen wachsen." Trotzdem wirkte sie langsam doch etwas verunsichert. Ihr felsenfester Glaube schien zu bröckeln. "Aber Sheerla," wandte Neesan erstaunt und ein wenig hilflos ein, "Mama hat das doch nicht ernst gemeint! Hast du das wirklich geglaubt?!" "Äh..." Sheerla schwieg taktvoll. Sie hatte, ganz klar. Liam kam ihr zu Hilfe. "Ach, lasst sie doch. Wir irren uns schließlich alle mal. Aber jetzt sollten wir uns wirklich etwas zu essen suchen. Sonst verhunger' ich nämlich." Er lächelte Sheerla zu, sprang auf und lief wieder voraus. "Ich auch!" rief Neesan und rannte Liam hinterher. Er sah aus wie ein kleiner Welpe, man merkte deutlich, wie sehr er Liam bewunderte. Sheerla zog noch einen kleinen Flunsch, als plötzlich Sive von hinten kam und sie unterhakte. "Jetzt sind wir quitt." meinte sie triumphierend. Böse funkelte Sheerla ihre beste Feindin an, schüttelte dann jedoch versöhnt den Kopf und meinte: "Hast recht. Komm. Die Jungs sind doch nicht etwa schneller als wir, oder?" "Nein!" Grinsend rannte Sive Sheerla hinterher, "Aber ich!" "Dass ich nicht lache! Du Knochengerüst erreichst doch niemals mein Tempo!" entgegnete Sheerla und joggte dabei ganz gemütlich neben Sive her. "Oh doch!" behauptete diese, obwohl sie genau wusste, dass sie im Laufen nicht mehr als guter Durchschnitt war. "He, schaut mal!" Durch all das hohe Gras öffnete sich urplötzlich eine Lichtung vor ihnen. Was Liam jedoch seinen Ausruf entlockt hatte, war die Tatsache, dass diese Lichtung voll bestanden war mit hohen Bäumen, deren Zweige sich unter dem Gewicht hunderter birnenartiger Früchte nur so bogen! "Leeeecker!" erscholl es aus drei halb verhungerten Kehlen, während sich vor ihrem inneren Auge Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, das sie nun schon so lange vermissten, zu einer gigantischen Fressorgie summierten. Mit glühenden Backen, weit aufgerissenen Augen und noch weiter aufgerissenen (Sabber)Mündern [Stellt sie euch in SD vor, ok? ;-) - Anm. d. Verfassers] galoppierten die Kinder dieser Pracht entgegen. Und hier schien dieses Mal der Hunger bzw. die Gier Trumpf zu sein, denn Sive erreichte die Lichtung als erste. Flink kletterte sie in die nächstbeste Krone und suchte sich auch gleich die dickste Birne aus. Herzhaft biss sie hinein. Genauso herzhaft spuckte sie wieder aus. "Wääääh!" Ihr Unmutsruf hallte über die ganze Wiese. "Das schmeckt ja widerlich!" Sich schüttelnd warf sie die angebissene Frucht weg - genau auf Neesans großen Zeh, der daraufhin in Gejammer ausbrach. Erstens, weil es weh tat und zweitens, weil es ihn furchtbar bekümmerte, dass diese Birnen allem Anschein nach ungenießbar waren! "Oh - sorry." entschuldigte sich Sive. Sie spähte hinunter. "Alles okay-hay-?-Aaaaah!" Nur einmal ruderte das Mädchen noch mit den Armen, dann verlor sie zum dritten Mal an diesem Tag das Gleichgewicht und flog mit Karacho vom Baum. Zum Glück wurde sie von Liam aufgefangen. "Danke, Liam." meinte Sive erleichtert und setzte das Gesicht auf, das ihrer Vorstellung von "charmant lächeln" am nächsten kam. "Oh - schon gut, keine Ursache." Liam sah zu Boden. "Er wollte dir nur helfen." rief Sheerla. Sie boxte Liam in die Rippe, was auch ihm einen Schmerzenslaut entlockte. "Jemand wie du hat eben Hilfe nötig." "Nein, so ist das nicht," beteuerte Liam noch, doch Sive hörte ihn nicht mal. "Grrrr... Du bist ja nur NEIDISCH!" "Waaas? Neidisch? Ich? Du hast sie wohl nicht mehr alle!" entgegnete Sheerla erbost. "Oh, doch! Ich hab sie wohl noch alle! Immerhin glaube ICH nicht an Nutellabäume!" "Und ICH kann wenigstens mein Gleichgewicht halten und beiße nicht in jedes x-beliebige Obst. Genauso wenig wie ich Mathehefte mitgehen lasse. Oder in jeder Schwimmstunde zu ertrinken drohe!" "Aaaach?!" zischte Sive. Sie war jetzt wirklich zornig. Sie und Sheerla hatten sich in Hitze geredet, obwohl sie doch eigentlich die besten Freundinnen sein konnten... wenn es ihnen auch noch schwer fiel, das zuzugeben. "Du bist ja dermaßen bescheuert! Der Einzige, der dich leiden kann, ist dein Bruder, und auch der nur, weil du ihn dazu zwingst! Du blöde Kuh, du kennst ja nicht mal das Alphabet! Und feige bist du außerdem, so wie du bei dem Dino gestern gebrüllt hast! Geschrien wie am Spieß hast du!..." donnerte Sive und vergaß dabei vollkommen, dass sie selbst genauso starr vor Angst gewesen war. "Feige??" brüllte Sheerla. Sie war ganz rot im Gesicht. "Ja, FEIGE!" entgegnete Sive in der gleichen Lautstärke, nur etwas schriller. "Feige, dumm und hässlich. Ich-mag-dich-nicht!!!" "Ich dich auch nicht! Und dabei war ich so nah dran, du dumme Ziege! Aber das war das erste und letzte Mal!" "Ach, rutsch mir doch den Buckel runter!" schrie Sive. Sie stürzte sich auf Sheerla, die kampflustig einen Schritt vor trat. Und Liam stand noch immer nur regungslos daneben. Er war ratlos, wusste ganz einfach nicht was er tun sollte. So oft hatte er erfolgreich den Streit zwischen den beiden schlichten können, aber in diesem Moment versagte er. Neesan war es, der die Situation rettete und die beiden Mädchen zur Räson brachte. Mit einem dermaßen ungewohnten Ausdruck der Entschlossenheit auf seinem schmalen Gesicht stand er auf, ließ seinen geprellten Zeh Zeh sein und brüllte so laut, dass es noch hinter dem Berg zu hören sein musste: "HÖRT AUF! Ihr blöden Kühe, HÖRT SOFORT AUF ODER ES SETZT WAS!!!" Mit geballten Fäusten funkelte er Sheerla und Sive an, bereit, dazwischen zu gehen, wenn sie es auch nur wagen sollten, noch eine einzige Bewegung aufeinander zu zumachen. "IHR SEID WOHL ÜBERGESCHNAPPT! Wir alle haben Hunger, Durst, sind in einer fremdem Welt, wissen nicht, was wir tun sollen und euch zwei Trotteln fällt nichts Besseres ein, als eure Zeit mit schwachsinnigen Streitereien zu verschwenden! Seid ihr eigentlich noch ganz richtig im Kopf?!" "Äh..." Ziemlich unangenehm berührt blickten Sive und Sheerla erst ihn, dann einander an. Neesan jedoch kümmerte das wenig, mit ein paar kurzen Schritten lief er auf die beiden zu und schüttelte sie kräftig durch. "Reißt euch gefälligst zusammen! Wisst ihr eigentlich, was ihr Liam mit eurem Kindergartenverhalten antut? Schaut euch den Ärmsten doch mal an!!" Jetzt wandten die beiden die Köpfe. Liam sah wirklich ziemlich mitleiderregend aus. "Hört doch auf," meinte er hilflos und hob die Hände, ließ sie wieder sinken. "Hört doch endlich auf." "Na?" fragte Neesan, das Gesicht vor Zorn verzerrt. Sein Auftritt war wirklich bühnenreif und eine solche Überraschung für Sheerla und Sive, dass die beiden nicht ein Wort herausbrachten. "So, jetzt hat's euch wohl die Sprache verschlagen?" vermutete Neesan, ganz plötzlich wieder in seinem normalen leisen, ruhigen Tonfall. Er seufzte, ließ die Schultern der beiden los und wies in Richtung eines Felsplateaus. "Und jetzt sehen wir uns da mal nach Essen um. Kommt!" Sein scharfer Befehlston ließ Sive und Sheerla sofort aufspringen. Auch Liam erhob sich langsam. "M...macht der so was öfter?" fragte Sive vollkommen verdattert, während sie, total aus der Fassung gebracht, in diesem Moment jeden von Neesans Wünschen mit Handkuss befolgt hätte. Sheerla machte eine Bewegung, die ebensogut ein Nicken wie ein Kopfschütteln darstellen konnte und folgt eiligst den ungeduldigen Rufen ihres schüchternen, sanftmütigen Bruders. "Mann." stieß Liam hervor, "Das war vielleicht was! Ich glaube wirklich, wir haben ihn unterschätzt." Sive konnte nur staunend nicken. "Wo bleibt ihr denn?" rief Neesan und winkte. Von einer Minute auf die andere sah er wieder durch und durch freundlich aus. Als könnte er keiner Fliege was zuleide tun. Liam lächelte. Auf einmal verspürte er eine ganz neue Art von Respekt für Sheerlas Bruder. VI. Begegnungen Der Berg, dem sie sich nun näherten, hatte sehr große Ähnlichkeit mit dem, in welchem sie die Nacht verbracht hatten, nur dass sein Gipfel nicht steil und kegelförmig abfiel, sondern ein breites, flaches Plateau bildete. Bei genauerem Hinsehen glaubte Liam sogar, einige kleine Punkte zu erkennen, die sich dort oben bewegten. Tiere vermutlich. Oder? Während sie näher kamen, fiel ihnen etwas Seltsames auf. Vom Fuße des Berges kamen nämlich Geräusche, die immer lauter wurden. Und diese Geräusche klangen wie... Stimmen! Die Kinder konnten es kaum fassen. "Was... ist das?" fragte Neesan verwirrt, während sie sich rasch näherten. "D...das sind Menschen, Neesan!" rief Liam, obwohl er es selbst kaum glauben konnte. "Es gibt wirklich Menschen hier! Kommt, wir müssen sie erreichen, bevor sie weg sind!" Und er begann zu rennen. Bis jetzt schien es allerdings nicht so, als hätten die Menschen, die die Kinder hörten, vor, sich zu entfernen. Im Gegenteil, je näher sie kamen, desto deutlicher ahnten die Vier, dass sie soeben im Begriff waren in einen handfesten Streit hereinzuplatzen. "Jetzt rennt doch nicht so!" wandte Sive keuchend ein, "Was, wenn es Feinde sind? Oder Steinzeitmenschen, ihr wisst schon, solche Typen mit Fell und Keule, die uns kochen wollen?!" "Glaubst du, die sprächen Englisch?," entgegnete Sheerla und bevor irgend jemand sie zurückhalten konnte, war sie auch schon aus den Büschen herausgeplatzt. "Oh!" "Wie?!" "Was... Sheerla!" rief Liam, der hinterdrein gerannt kam, gegen sie prallte und zu Boden fiel. Sand in den Haaren, schüttelte er sich wie ein Hund und konnte gerade noch warnen: "Achtung, Sive!" Doch es war bereits zu spät. Auch Sive kam aus dem Gebüsch geprescht, stolperte über Liam und machte ebenfalls nähere Bekanntschaft mit dem Erdreich. "Nees-" Der Angesprochene erschien wie ein Wirbelwind, flog in hohem Bogen über seine Schwester und dem ächzenden Liam direkt in die Magengrube. Da lagen die vier und fanden nun erst die Zeit, die Fremden genauer zu betrachten. Es waren etwa zehn Jungen und Mädchen aller Altersgruppen, in deren Mitte die vier Kinder Hals über Kopf gelandet waren. Offensichtlich zu ihnen gehörte ein rotes Fahrzeug, das ein paar Meter entfernt geparkt stand. Abgesehen davon, dass die Fremden alle mehr oder weniger identische Uniformen trugen, die allem Anschein nach aus irgendeinem Flohmarkt-Fundus stammen mussten, wirkten sie recht normal. Allerdings schienen sie mit Verlaub nicht das Gleiche von Liam, Sive, Neesan und Sheerla sagen zu können, denn sie begafften sie mit offenen Mündern. Sive, Sheerla, Neesan und Liam starrten zurück, sehr verwirrt und irgendwie unsicher. Es fühlt sich nun mal ein wenig seltsam an, wenn Fremde einem das Gefühl geben, ein Tier im Zoo zu sein. Sekundenlang saßen sie einfach nur so da, zu schüchtern, etwas zu sagen. Offenbar schienen die Fremden auch nicht so ganz in der Stimmung für einen Plausch zu sein. Ein paar Mädchen wirkten eher, als seien sie einer Ohnmacht nahe. Um das Unbehagen zu zerstreuen, rappelte Liam sich auf, wischte sich die Hände sauber und meinte: "Tag. Kommt ihr auch von der Erde?" Woraufhin die Fremden die Münder womöglich noch 10 Zentimeter weiter aufsperrten. "Wie... von der Erde?" japste schließlich der allem Anschein nach Älteste und zwang sich sichtlich, den Mund zu zu machen. "Na ja..." Liam lachte verlegen. "Hey, wir täuschen einfach vor, dass wir das Gedächtnis verloren haben, dann brauchen wir nichts zu erklären und werden nicht ins Irrenhaus gebracht, ok?" flüsterte Sive ziemlich laut. Alle Blicke wandten sich ruckartig ihr zu. Sive zuckte nervös mit den Augenbrauen. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Mutig entschloß sie sich, einfach höflich zu sein und winkte ein bisschen. Man muss sich vorstellen, wenn man in fremde Gesellschaft kommt, fiel Liam ein. Leicht verlegen kratzte er sich am Kopf. "Also, nun....", er machte eine weit ausholende Handbewegung, "Ich bin Liam. Das ist Sive, und das da sind Sheerla und Neesan. Wir... äh... haben uns verirrt, wissen nicht wo wir sind...." Als er die sonderbaren Mienen der Umstehenden bemerkte, musste er sich zwar arg zusammenreißen, fuhr jedoch fort: "Nun... wir wüssten gern, wo wir sind...." Essen und Kleidung schminkte er sich vorerst lieber ab. Zuerst würden sie mal die Formalitäten klären müssen, auch wenn das garantiert eine Menge Zeit in Anspruch nehmen würde. "W... wer seid ihr??" stieß ein blauhaariges Mädchen hervor und fuchtelte nervös in der Luft herum. "Ähm... nun, das hat er gerade gesagt." erklärte Sive und schielte kurz hinüber zu Sheerla und Neesan. "Sagt doch auch mal was," zischte sie. Wieder zu laut. Wieder starrten alle sie an. "Ähm... und was machen wir jetzt mit denen?" ließ sich zaghaft ein Junge in grüner Kleidung vernehmen. "Keine Ahnung," antwortete ein Mädchen mit kurzen, braunen Haaren, während sie fortfuhr, die Erwähnten stumm zu mustern. Sive pfiff die Nationalhymne. "Ähm... und ihr kommt wirklich von der Erde?" fragte der Älteste in die peinliche Stille hinein. "Ich glaub ihnen kein Wort!" warf ein blonder Junge ein, der mit verschränkten Armen daneben stand, gleich unterstützt von einem anderen mit kurzem, schwarzem Haar: "Genau! Das sind bestimmt Spione!" "Was für Spione?" fragte Sheerla interessiert. Soeben hatte sie entschieden, dass sie nun lange genug verlegen in die Gegend geguckt hatte und auch mal etwas Produktives zum zäh fließendem Gespräch beitragen wollte. "Solche wie James Bond? Den guckt meine Mama immer..." Sheerla wiegte den Kopf. "Schon gut, schon gut," lachte nervös der Älteste und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er musste ganz schön schwitzen, es war nämlich bereits das fünfte Mal, dass er diese Bewegung vollführte. "Aber wo genau kommt ihr denn jetzt her?" "Aus dem Schwimmbad." entgegnete Sive patzig, "Sieht man das denn nicht?" "Ähm... nun ja..." Mit sehr viel Fantasie konnte man die verdreckte, zerrupfte Kleidung, die die Vier trugen, durchaus noch als Badeanzüge identifizieren. "Also... von der Erde?" fragte vorsichtig und schnell ein Mädchen im rosa Kleid. Mit dem Zeigefinger fuhr sie dabei kurz in der Luft einen Kreis nach. "Ja. Von der Erde." nickte Liam und seufzte erleichtert auf. So langsam schienen sie es zu begreifen. "Also kommt ihr auch von der Erde!" stellte ein kleines Mädchen etwa in ihrem Alter fest. "Genau wie wir!" "Äh... ja." erwiderte Liam. Hilfesuchend blickte er Sive und Sheerla an. Neesan schien wieder mal auf den Mund gefallen zu sein. Jetzt reicht's aber langsam, dachte ungeduldig Sive und beschloss, einfach zu fragen: "Habt ihr was zu fres... äh, zu essen für uns? Wir haben nämlich seit vier Tagen nichts mehr zu beißen bekommen!" Anklagend wies sie ins Leere, als stünde dort versteckt ein gehässiger Fruchtbarkeitsgott, der sie bei der Brotausgabe mit voller Absicht übergangen hatte. "Sive, es waren nur zwei Tage." flüsterte der wahrheitsliebendere Neesan und schwieg dann schnell, als habe er schon zu viel gesagt. Verlegen fixierte er wieder seine Fingerknöchel. "Ja. Ja genau. Zwei Tage. Hab ich ja gesagt." meinte Sive schnell. Wieder sah sie in die Runde. Oh-oh. Ihre Taktik schien die falsche zu sein, denn der Blonde mit dem Zopf fuhr wütend auf: "Na hört mal, erst fallt ihr hier ohne jede Einladung aus den Büschen, starrt uns dumm an und jetzt wollt ihr auch noch unsere Vorräte plündern! Sonst noch was?" "Ähm... Kleidung?" fragte Sheerla vorsichtig. Mit der einen Hand deutete sie auf ihren Badeanzug, im Zweifel, ob die Fremden zumindest das kapieren würden. "Ziemlich kalt nachts... ihr versteht?" Sie sah gerade noch, wie der Blonde einen heftigen Wutanfall bekam. "Jetzt beruhige dich, God." hörte sie das Mädchen im rosa Kleid beschwichtigend sagen, "Sie sehen doch wirklich verfroren und ganz mitgenommen aus. Es sind Kinder, das musst du verstehen. Sie haben bestimmt viel durchmachen müssen." Ihre Augen blickten mitleidig die Vier an. "Ja... eine Woche kein Essen!" behauptete selbstzufrieden Sive, die das plötzliche Mitleid allein ihrer genialen Frei-heraus-Taktik zuschrieb. "Von wegen eine Woche! Eben waren es noch zwei Tage!" schimpfte der mit den kurzen schwarzen Haaren. "Genau! Hier ist kein Platz für Schnorrer! Verschwindet!" Der Blonde funkelte sie wütend an. Das jedoch erregte Sives Widerspruchsgeist. "Nix zwei Tage! Eine Woche war es, und noch drei Tage mehr! Ihr Geizhälse!" "Sive? Glaubst du wirklich, dass diese Taktik uns Vorteile verschafft?" bemerkte Sheerla trocken, doch ihre ganz nebenbei gestellte Frage ging im allgemeinen Trubel unter. Sive war drauf und dran, einen Streit vom Zaun zu brechen, erkannte Liam. Schnell griff er ein. "Ähm... das ist doch jetzt nicht so wichtig, wie lange wir nichts zu essen hatten, oder Sive? Tatsache ist, dass wir für Nahrung natürlich auch zahlen würden, wir... äh... könnten ja auch spülen, wenn ihr wollt..." "Spülen? Kommt gar nicht in Frage!" sagte entschlossen die "Rosane", wie er das mitleidige Mädchen bereits innerlich getauft hatte. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine Mutter. Mit ein paar Schritten kam sie zu ihnen herüber, kniete sich vor Neesan hin und fragte besorgt: "Hast du dir weh getan, Kleiner? Doc kann dich verarzten, wenn du willst." "Oh... nein. Alles ok." antwortete Neesan überrascht. "Nur... ähm..." Hilfesuchend schaute er Liam an. Die Rosane war mittlerweile aufgestanden, hatte sich zu den anderen umgedreht und erklärte: "Wir nehmen sie mit." "Waaas?!" entfuhr es dem Blonden. "Sag mal, spinnst du jetzt vollkommen, Princess? Ich meine...." Er suchte nach abschwächenden Worten, als er ihr beleidigtes Gesicht bemerkte, doch der "Älteste" mischte sich ein. "Nun..." begann er bedächtig und mit einer gewissen Panik im Blick, "wir..." Plötzlich ein Schrei. "Ah!" rief das Mädchen mit der türkisfarbenen Uniform, sprang zur Seite und wurde gerade noch von dem mit den kurzen braunen Haaren aufgefangen. "Alles in Ordnung, Young Lady?" fragte er besorgt. "Ja. Schon gut, Crybaby... aber seht doch!" Alle Blicke wandten sich dem Baum zu, auf den Young Lady angstvoll deutete. Ein schimmernder Pfeil stak in der Rinde. "Oh nein! Die Armee! Wir müssen hier weg!" schrie die Blauhaarige. "Aber was ist mit Boss, Tiger und Tank?" fragte Crybaby unruhig. "Wir können doch meinen Bruder nicht einfach hier lassen!" "Die sollen selber sehen, wie sie klar kommen. Um die kümmern wir uns später!" entschied schnell der Blonde. "Nun?" fragte leicht spöttisch die Blauhaarige, "und was tut ein Anführer in dieser Situation?" "Ähm... also..." So genau schien er das auch nicht zu wissen. Anführer? Der?, dachte Sive grummelnd bei sich. Was mit ihnen geschehen sollte, war ihr immer noch schleierhaft. Sie traute diesen Fremden nicht sonderlich. Die schienen irgendwie alle zu spinnen. "Alle ins Auto!" befahl der Blonde, der seine Fassung wieder zu haben schien. "Zans! Wir müssen Zans mitnehmen!" begehrte ein Junge auf, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte. "He, lass mich!" rief er, als der Blonde ihn trotz aller Proteste hoch hob und zum Auto trug. "God? Und was gedenkst du mit den Kindern hier zu machen?" fragte die Rosane streng. Fürsorglich hielt sie Neesans Hand. Der Blonde fuhr herum. "Die... äh... ach, mach keinen Quatsch, Princess, komm schnell ins Fahrzeug, verdammt noch mal!" Weitere Pfeile schwirrten, einige bohrten sich in die umstehenden Bäume, die anderen verschwanden im Gebüsch. "Ihr... wir..." Sive bekam es mit der Angst zu tun. "Liam, wir müssen Deckung suchen!" schrie sie und sprang auf. "Bis die Typen sich entschieden haben, sind wir Siebe! Hauen wir ab! Los, komm schon!" Ihr Freund, der noch immer ratlos in die Gegend schaute, sah auf. "Äh... ja..." murmelte er, erhob sich langsam und sandte einen flehenden Blick zu der Rosanen und dem Ältesten, den Einzigen, die außer dem Blonden noch nicht im Fahrzeug waren. "President?" fragte die Rosane bittend, jedoch mit einer unterschwelligen Hartnäckigkeit in der Stimme, die verriet, dass sie sich nicht aufs Bitten beschränken würde. Sanft legte sie den Arm um Neesan, der daraufhin errötete. Nicht alle Tage wurde ihm solche Aufmerksamkeit zuteil. "Na ja, also..." President sprang nervös zur Seite, als direkt zu seinen Füßen ein Pfeil nieder ging. "Jetzt mach doch!" brüllte der Blonde, Princess' Worte ignorierend. Neesan blickte President an, Sheerla ebenso, und irgendwie schien das seinem Herzen einen Stoß zu geben. Er schluckte und meinte: "...von mir aus können wir sie mitnehmen, Princess..." Das "Kommt überhaupt nicht in Frage!" des Blonden überhörte Princess geflissentlich, nahm Neesan bei der Hand und ging mit ihm ins Auto. Sheerla folgte schnell. Es war auch höchste Zeit, denn mittlerweile hatte sich ein weitläufiger Kreis aus sonderbaren Gestalten, die auf Dinosauriern ritten, um die letzten Verbliebenen gebildet. "Also, alle rein!" rief der President und wedelte in der Luft herum. "Hmpf," machte der Blonde und sprang hinters Steuer. "Wenn ihr euch unbedingt zusätzliche Probleme aufladen wollt, dann holt die drei Bälger eben rein! Aber der Rotzlöffel," - er sprach von Sive - "bleibt hier!" Draußen wurde es immer brenzliger. "Komm, Sive!" schrie Liam und eilte erleichtert ins Auto. President sprang hinterher... nur Sive nicht. Sie stand wie angewachsen auf dem Platz, guckte in die Gegend und murmelte: "Schon gut, Liam, geht ihr nur, ich bleib hier... wenn die Typen mich nicht dabei haben wollen, dann eben nicht! Ich dräng' mich niemandem auf, ich nicht!" Sie zog eine Schnute und machte durchaus den Eindruck, als wollte sie bis zum Ende ihrer Tage dort stehen bleiben. "Sive! Du machst mich noch verrückt!" erscholl es drinnen im Auto. Sheerlas Schopf tauchte in der Tür auf, wurde jedoch von einigen Armen zurückgehalten und wieder nach hinten verfrachtet. Ihr "Lasst mich! Ich muss diese Irre holen!" verklang in den Tiefen des Fahrzeugs. "Tschüs, Sheerla..." murmelte Sive und starrte zu Boden. Sie war beleidigt und stur. Sehr, sehr stur. Liam seufzte. "Sive..." begann er. Sie hatten jetzt wirklich keine Zeit mehr, verdammt! "Ich fahr jetzt los!" verkündete der Blonde. "Aber nein... God... du kannst doch nicht..." erwiderte hilflos der Älteste, der noch immer mit Liam in der Tür stand. Das schien Sive zur Vernunft zu bringen. "Neeeeeein!" brüllte sie. "Wartet auf mich! Ich komm doch mit!!" Sie rannte auf das Auto zu, schniefte, war gekränkt in ihrem Stolz. Pfeile zischten, Sive schrie, stolperte. "Sive!" Liam sprang von der Treppe ins Gras, seiner Cousine entgegen. Das Auto setzte sich langsam in Bewegung. Im allerletzten Moment gelang es Sive, Liams linke Hand zu ergreifen. President packte seine Rechte und zog sie ins Auto. Ein Pfeilhagel setzte ein, die Tür schloss sich in letzter Sekunde und das Fahrzeug brauste davon. "Aber was ist mit Boss, Tiger und Tank?" ließ sich noch eine hysterische Stimme vernehmen, dann war Ruhe. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 3: VII. Ein Eis war der Anstoß * VIII. Kleiderfragen * IX. Heute, morgen, dies und das ---------------------------------------------------------------------------------------------- VII. EIN EIS WAR DER ANSTOß * VIII. KLEIDERFRAGEN * IX. HEUTE, MORGEN, DIES UND DAS VII. Ein Eis war der Anstoß Der Blonde trat aufs Gas. Das Fahrzeug wackelte, dass ihnen Hören und Sehen verging. "Aaaah!" schrie es in der einen und "Oooh!" in der nächsten Kurve, ohne dass sie die Verfolger los wurden. Die seltsamen Gestalten - Menschen, vermutete Liam - auf ihren urzeitlichen Reittieren ließen sich einfach nicht abschütteln. Was sie von den Fremden wollten, war den vier Kindern schleierhaft, aber was immer es auch war, die Reiter verfolgten es mit großer Hartnäckigkeit. Die Federung der Räder drohte beinahe nachzugeben, es quietschte und krachte, während das rote Amphibienfahrzeug über den unebenen Untergrund polterte. Neesan hielt beide Hände schützend über dem Kopf. Er hasste es, wenn ein Auto so schnell fuhr. Nur manchmal sah er verstohlen aus dem Fenster, in die Landschaft, die an ihnen vorüber flitzte, und dann doch schnell wieder weg, wenn er die wohlbekannte Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. "God, du fährst zu schnell!" rief hektisch President, dem das Tempo genauso wenig angenehm zu sein schien. "Mach doch langsamer!" "Nein," widersprach der Blonde gereizt, "wir - " Das Wort wurde ihm abgeschnitten, als ein plötzlicher Ruck durch das gesamte Fahrzeug ging, der die Insassen übereinander purzeln ließ. Und dann ging gar nichts mehr, obwohl der Motor sich aufzubäumen schien. "Verdammt!! Wir stecken fest!" Bei dem irrsinnigen Tempo war das Fahrzeug mit dem linken Vorder- und Hinterrad in einer Erdspalte stecken geblieben, ohne eine Möglichkeit, dort jemals allein wieder heraus zu kommen. "Seht ihr nun, dass es keine gute Idee war, mit den Spinnern mitzufahren?" murrte Sive, während sie sich mühsam aufrappelte. "Halt die Klappe." empfahl Sheerla ihr. "Draußen wär's uns auch nicht besser gegangen. Hier gibt's wenigstens was zu essen." Zumindest vermutete Neesans Schwester das, während sie neugierig umher spähte, in der hungrigen Hoffnung, einen Kühlschrank zu entdecken. Vorausgesetzt, die Flohmarkt-Uniformler hatten so was. Ob sie es hatten oder nicht, im Moment schienen ihre Mitfahrer ganz Anderes im Kopf zu haben. Der lebensmüde Blonde, wie Sive ihn einstufte, war zum Dachfenster des Fahrzeugs geklettert und plante offensichtlich, es allein mit der gesamten Armee aufzunehmen. Zumindest hatte der Zans-Typ (wer immer Zans auch sein mochte, während der Eilflucht ins Auto hatte er nach ihm gerufen), neben dem sie hockte, ihre Verfolger als Soldaten bezeichnet. Weiter vorn im Auto debattierten die Ältesten fieberhaft, aber anscheinend ohne ein befriedigendes Ergebnis, während der Ring der Verfolger sich immer enger um das manövrierunfähige Fahrzeug schloss. "He, du! Was wollen die von euch?" fragte Sive den Typ, der neben ihr saß. "Sie wollen - Zans!" stieß der Junge hervor. Unglücklich sah er zum Fenster hinaus. "Und wer ist Zans?" "Zans ist... nicht hier." murmelte er, die Arme um die Knie geschlungen. "Ich wollte ihn noch suchen, aber God hat mich nicht gelassen. Er ist wohl froh, dass wir ihn los sind." "Das ist ja sehr traurig, aber eigentlich wollte ich wissen, WER er ist..." meinte Sive mehr zu sich. Ihr Nachbar schien sie auch gar nicht gehört zu haben, denn er überlegte mutlos: "Wie's ihm wohl geht?" "Du, Liam!" Sive zupfte ihn am Ärmel, das heißt, sie hätte es getan, hätte er ein T-Shirt angehabt. "Die Typen sind offenbar hinter einem gewissen..." "...Zans her, ja, ich weiß, wir alle haben Ohren!" unterbrach Sheerla und hielt Sive kurzerhand den Mund zu. "Macht doch was!" rief sie in den Raum, "Die durchlöchern euch sonst das Fahrzeug, Mann!" "Ja... aber..." meinte ratlos Princess, während sie erfolglos versuchte, das kleine, blonde Mädchen zu beruhigen, das lautstark jammerte. "Du, Sheerla..." begann Neesan, und er wollte gerade anfangen, seiner Schwester zu erzählen, wie unwohl er sich fühlte, als auf einmal vorn im Cockpit ein Geräusch zu hören war. Es klang wie das Knistern eines sehr, sehr alten Funkgerätes, und plötzlich erklang eine Stimme: "President, hörst du mich..." Den Rest verstanden sie nicht mehr, da sofort Krach ausbrach. "Ja... ja, die Winde!" rief President erleichtert ins Funkgerät, im Bemühen, sich verständlich zu machen und die anderen zu übertönen. Schnell drückte er einen bestimmten Knopf, woraufhin sich vorn eine Luke öffnete, aus der ein Haken heraus schoss. Er flog über die Köpfe der verdutzten Soldaten hinweg und blieb einige Meter entfernt im Gras liegen. "Na toll," schnaubte Sive, "und was soll uns das jetzt nützen? Gar nichts!" "Doch, Sive! Da... da ist einer...!" Liam hatte recht. Ein etwas dicklicher Junge kam aus dem Gebüsch geflitzt, nahm flink den Haken auf und befestigte ihn an einem Baum. Vorn im Cockpit setzte President die Winde in Bewegung, und das Fahrzeug begann sich langsam aber sicher aus dem Spalt heraus zu arbeiten. "Puh!" atmeten alle erleichtert auf. Doch es war noch nicht vorbei. Die Soldaten, die sahen, was vor sich ging, machten Anstalten, das Seil durchzuschneiden, als plötzlich die gesamte Erde zu beben begann. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgten die Insassen, wie auf einer Hügelkuppe eine riesige Herde Dinosaurier auftauchte. Eine Staubwolke hüllte die Tiere ein, die zielstrebig in ihre Richtung preschten, sich dann aufspalteten und das Tal zu überfluten schienen. Liam glaubte, auf einigen Reiter zu erkennen, aber sicher war er sich nicht. Die Soldaten, die offensichtlich nicht sonderlich scharf darauf waren, zertrampelt zu werden, verständigten sich hektisch im aufbrausenden Lärm. Einer, der die anderen zu befehligen schien, gab ein Signal, woraufhin die Armee eiligst den Rückzug antrat. Das Fahrzeug war nun aus der Spalte befreit. President trat aufs Gaspedal, während die Verfolger in den Wäldern verschwanden. So schnell wie sie gekommen war, verschwand die urzeitliche Stampede wieder, noch immer von den beeindruckten Blicken der Kinder verfolgt. Ein einzelnes Tier löste sich von der Herde, während der Reiter - Liam hatte richtig gesehen - es an die Seite des Fahrzeugs lenkte, wo es das Tempo verlangsamte und geduldig nebenher trabte. "Hey!" Grinsend hielt der dunkelhaarige Junge auf seinem Rücken den Daumen hoch, gab dem Tier die Flanke und reihte sich an die Seite einer weiteren Reiterin. Während Sive, Liam, Neesan und Sheerla das neugierig beobachtet hatten, war vorn die Tür geöffnet worden und der Dicke und ein anderes Mädchen stiegen zu. "Tiger! Tank! Bin ich froh, euch zu sehen!" begrüßte President atemlos die Zugestiegenen. "Das war ganz schön knapp." "Ja, es war knapp, aber hiermit hätten wir sie erstmal abgehängt." entgegnete fröhlich das Mädchen, das President ?Tiger' genannt hatte. "Eine fremde Schönheit hat uns geholfen." "Fremde? Wo?" fragte President und blickte suchend aus dem Fenster, wo er die Reiterin erspähte. "Aaaaah!" Unerwartet stahl sich ein beglückter Ausdruck auf sein Gesicht, der jedoch von den anderen kaum registriert wurde. Die waren nämlich inzwischen in den hinteren Teil des Fahrzeugs gegangen wo sie überrascht Liam, Neesan, Sheerla und Sive erblickten. "Wer ist das?" entfuhr es Tank. "Tarzan und Jane im Doppelpack??" Er schlug sich an die Stirn und sah verwirrt in die Runde. Die Blauhaarige trat vor. "Wir haben sie gefunden, während ihr auf dem Berg wart. Tank, Tiger, das sind...." Sie runzelte die Stirn, sah die Kinder an. "Ja... äh... wie waren eure Namen doch gleich?" "Was sind wir doch für unhöfliche Gastgeber!" mischte sich Princess ein. "Wisst ihr was, wir holen jetzt Boss rein und dann stellen wir uns erst einmal vor." "Könnten wir.... vielleicht auch etwas zu essen bekommen?" fragte Liam leicht verlegen, während Sheerla, Neesan und Sive eifrig nickten. "Oh!" Princess schlug die Hand vor den Mund. "Aber sicher doch!" Boss - das war der Dunkelhaarige, der auf dem Dinosaurier geritten war - wurde herein geholt, was große Freude vor allem bei den Jüngeren auslöste. Nicht wegen seiner werten Person, sondern weil er Zans mitbrachte, einen kleinen Flugsaurier, der sehnsüchtig vermisst worden war. Der Kühlschrank wurde angezapft - Sheerla hatte doch gewusst, dass die so etwas haben mussten - und bald darauf mampften die vier Kinder mit wahrem Heißhunger Sandwich um Sandwich, umringt von ihren neugierigen Gastgebern. "Es gibt vielleicht keine Nutellabäume, aber ganz sicher Nutellaautos!" stellte Sheerla grinsend fest und biss in ihr Schoko-Sandwich. "Nix. Nur ein Witz unter Insidern." erklärte Liam, der die befremdeten Mienen bemerkte, schmunzelnd. Es tat so gut, nach all der Zeit wieder etwas zu essen zu bekommen! President hatte sich nach wiederholter Aufforderung vom Anblick der schwarzhaarigen Schönen, die sie gerettet hatte, losreißen müssen, denn ihm als Ältestem war die ehrenvolle Aufgabe übertragen worden, die Gruppe vorzustellen. Geschäftig räusperte er sich, als der Dunkelhaarige sein angestrengtes Grübeln, wie um Himmels Willen er bloß anfangen sollte, kurzerhand unterbrach. "Also, ich bin Boss," strahlte er. "President ist unser Anführer," er klopfte ihm auf die Schulter, "diese Hübsche da," er zwinkerte der Rosanen zu, die peinlich berührt weg sah, "ist Princess, und..." "Ich bin Tiger," fiel ihm die Rothaarige, die gerade zugestiegen war, ins Wort. "Bist du ein Mädchen?" fragte Sheerla neugierig. "Was denn sonst?!" fauchte Tiger, und Sheerla grinste. "Nur so." meinte sie fröhlich und schnappte sich schnell das letzte Käsesandwich, "und wie heißt der Rest?" "Doc, unser Superhirn," präsentierte Boss und bekam daraufhin von der Besagten einen Ellenbogen in die Seite gerammt. "Tank, unser Meisterkoch und Kinofilmexperte..." "Hallo," grüßte freundlich der Genannte. "Ich glaube, sie können selbst reden, Boss," bemerkte Princess schnippisch. "Crybaby." "Young Lady." "Oh, Mist, daneben... wie...? Wie? Ach ja, Nerd..." "Gatcha!" quietschte die kleine Blonde. "Timid." "Und ich bin Blunder!" "Silence." stellte sich der Zans-Typ vor. "Und wie heißt die Blondine?" krähte Sive. "Blondine? Welche Blondine?" fragte President überrascht, während die anderen sich das Lachen verbissen. Sie ahnten schon, wen Sive meinte. "Na," Sive zuckte mit den Schultern, "der blonde Typ mit dem Zopf!" "Ach so," President kratzte sich am Kopf, "Das ist God!" "Und ich bin Snake," stellte sich lächelnd der Schwarzhaarige vor, der vorhin noch so dagegen gewesen war, sie überhaupt mitzunehmen. "Freut mich, euch kennenzulernen!" "Wen nennst du hier Blondine?" schnaubte God. Mit ein paar raschen Schritten kam er auf Sive zu, die Fäuste geballt. Die grinste fies. "Dich!" stellte sie vergnügt fest. "Ach ja?" God sah aus, als würde er gleich ein paar Grundsätzen zuwiderhandeln, keine Kinder zu schlagen, als Boss ihn an der Schulter packte. "Hör auf," meinte er. "Und warum? Wegen dieser Göre wären wir vorhin fast von den Soldaten geschnappt worden, aber du hast ja keine Ahnung davon! Der Herr hat eben nichts Besseres zu tun, als auf Berge zu klettern und die Aussicht zu genießen, während wir..." "...versuchen, den Anführerposten an uns zu reißen?" warf Doc bissig ein. "Entschuldigt, dass ich euch unterbreche," meldete sich Liam leise zu Wort. "Aber könntet ihr uns jetzt vielleicht mal sagen, wo wir eigentlich sind?" "Ganz genau!" rief God, die Arme verschränkt. "Woher kommt IHR eigentlich? Wer seid ihr?" "Wir," entgegnete Sive stolz, "sind Außerirdische!" "Echt?" fragte Gatcha mit offenem Mund. Ihre Augen begannen, verdächtig zu glänzen. "Hey," meinte Blunder, "wir doch auch! Eigentlich. Oder? Schließlich sind wir hier in einer anderen Welt." Er sah in die Runde. "Sive, hör auf, Unsinn zu verzapfen!" wies Sheerla sie zurecht. Neesan bekam das alles nur am Rande mit, er war nämlich gerade in tiefgründige Überlegungen versunken, warum um alles in der Welt die Fremden bloß so seltsame Namen - "Crybaby" oder "Tiger", hieß denn tatsächlich ein Mensch so? - hatten, während er versunken am Strohhalm seines Milchshakes nuckelte. [Anm. d. Verfassers: Fragt mich nicht, woher die Pfadis auf einmal Milchshakes haben... Die hat Sheerla gerade angeschleppt ;-)] "Wie, ?andere Welt'?" fuhr seine Schwester fort. "Also," meinte Boss, "am besten ist es jetzt, wenn nur einer redet. Sonst gibt es bloß Durcheinander." "Und dieser Eine musst natürlich du sein, wie?" bemerkte God wütend. "Oh nein! President wird reden!" entschied Tiger und schob ihn in die Mitte. "Schließlich ist er unser Anführer." "Äh... ja...." Nervös fuhr sich der Erwählte mit den Händen durch die Haare, "also, wir... wir... kommen von der Erde." "Das wissen wir schon," entgegnete Liam freundlich. "Princess hat es gesagt. Aber wo sind wir hier?" "Das hier, das hier, also, das hier, das ist...." "...eine andere Welt." erklärte Doc. "Wie ihr vermutlich schon gemerkt haben werdet." "Aha." "Noah." meinte Silence. "WAS ist Noah?" fragte Sheerla energisch. "Noah ist eine andere Welt in einer andere Dimension." Boss wies um sich. "Wir sind ein Marineklub," - "Was'n das?" - Originalton Sive - "und eines Tages, als wir mit dem Schiff einen Ausflug machten, gerieten wir in einen sonderbaren Sturm und fanden uns hier wieder." "Sehr schön vorgetragen. Ich dachte, President redet?" beschwerte sich God. Boss beachtete ihn nicht weiter, wie immer. "Nachdem wir gestrandet waren, entdeckten wir, dass es hier Dinosaurier gibt. Wir fanden nämlich einen kleinen Flugsaurier und nahmen ihn auf, da er von der Armee verfolgt wird." "Zans," stellte Silence glücklich vor und hob ihn hoch, sodass ihn alle sehen konnten. "Hallo." grüßte der Dino fröhlich. "Iiiiih! Der spricht ja!" kreischte Sive. Trotz allem war ihre Überraschung jedoch vergleichsweise gering. Erstens waren die vier Kinder und als solche wurden sie sehr viel schneller mit unerwarteten Situationen fertig als die ach so flexiblen Erwachsenen. Zweitens hatten sie somit auch dieses gesamte Abenteuer trotz oder gerade wegen seiner Unglaubwürdigkeit letztendlich als unverrückbare Realität akzeptiert - mit all dem, was es noch bringen würde. Daher harrten sie nun geduldig der Dinge, die da kommen mochten, ohne in großes Erstaunen zu geraten. Und daher stellte Sheerla auch gnadenlos fest: "Der ist aber hässlich. Ein Pokémon ist hübscher." Zans und sein Herrchen hatte sie sich damit den Rest der Woche zum Feind gemacht. "Und was geschah dann?" fragte Liam weiter. "Während wir noch die Lage besprachen, tauchte ein Trupp Soldaten auf, die unser Schiff auskundschaften wollten. Daraufhin hat "irgend jemand" sie kurzerhand beschossen, mit der Begründung, dass sie ohnehin nur primitive Wilde wären und keine Chance gegen unsere Gewehre hätten...." Boss fixierte God. "Hätt' ich auch getan." verkündete Sive. "Jetzt halt doch endlich mal die Klappe!" fauchte God sie an, obgleich Sive ihm zugestimmt hatte. "Nun, wir konnten sie zwar vertreiben, machten aber gleichzeitig einen Tyrannosaurus auf uns aufmerksam, der uns zur Flucht aus unserem gestrandeten Schiff zwang. Jedenfalls ist seitdem die Armee hinter uns her. Wir haben keine Ahnung, wie wir wieder nach Hause kommen können, noch wissen wir viel über diese Welt... Noah. Erstmal werden wir wohl versuchen, mit den Bewohnern ein wenig in Kontakt zu kommen. Die Fremde, die uns gerettet hat, sagte, sie würde uns helfen..." "Das wissen sie doch nun alles, Boss. Siehst du denn nicht, wie verfroren sie sind? Wir sollten ihnen schnellstens etwas zum Anziehen geben." sorgte sich Princess. God funkelte Sive noch einmal wütend an, dann verschwand er im vorderen Teil des Fahrzeugs. "Aber... halt!" rief President. "Wir wollten doch eigentlich wissen... oder nicht... ich glaube aber.... sollten nicht sie... sagt doch... woher kommt ihr denn jetzt?" Bei all dem Hin und Her hatten die anderen das glatt vergessen. Sofort war Princess' energische Ermahnung, den Kindern etwas zum Anziehen zu geben, unter den Tisch gefegt. Erneut versammelte sich alles um die vier und blickte sie fragend an. Liam holte tief Luft. "Wir -" "Woher?" fuhr God ihn an. "kommen -" "Ja?" fragte Tiger neugierig. "aus - " "Lasst dem Ärmsten doch Luft zum Atmen..." versuchte Princess, die anderen zu dämpfen. "..." Schweigend wartete Liam auf den nächsten Kommentar. Da keiner kam, beendete er erleichtert seinen Satz: "Neuseeland." Neesan, Sive und Sheerla nickten einstimmig. "Aber hallo!" wunderte sich Tank. "Wir auch!" "Ja?" "Woher genau kommt ihr denn? Vielleicht sind wir ja durch die gleiche Ursache hierher gekommen..." erkundigte sich Doc interessiert. "Aus Auckland." "Oh! Wir auch!" staunte Young Lady. Eifrig fuhr sie fort: "Kennt ihr vielleicht diese eine Eisdiele, sie heißt... ähm... ?Italo', glaube ich... die haben sooo gutes Eis...." "Jaaaa!" rief Gatcha und rieb sich den Bauch. "Schokolaaaaadeneis! Die hat erst vor ein paar Monaten neu aufgemacht." "Ach ja," erinnerte sich Crybaby mit einem Blick auf Young Lady. Auf einmal errötete er. "Da waren wir ja zusammen... in der Harbour Street..." Sive lächelte weise, nickte und nickte und nickte und nickte und nickte und - stockte. Sie runzelte die Stirn, öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, schien es sich dann aber anders zu überlegen und schloss ihn wieder. "Sie hat, sagst du..." meinte Liam langsam und mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen, "vor kurzem aufgemacht?" Angespannt beugte er sich vor. "Ja!" bekräftigten Gatcha und Young Lady. "Kennst du sie? Du musst unbedingt mal das Zitroneneis probieren, das ist sooo gut..." Liam, Sheerla, Sive und Neesan wechselten einen Blick. "Ähm..." Liam wiegte den Kopf, "...die Frage mag sich vielleicht seltsam anhören, aber da diese ganze Geschichte ohnehin schon verrückt genug ist, sagt uns doch bitte...." Er unterbrach sich, blickte noch einmal ratsuchend die anderen an, holte dann tief Luft und brachte es schließlich heraus: "...aus welchem Jahr kommt ihr?" VIII. Kleiderfragen "W...wie... aus welchem Jahr?" entgegnete President verwirrt. Er wirkte leicht verunsichert. Die anderen sahen nicht minder befremdet aus. "Was soll die schwachsinnige Frage?" rief God aufgebracht, "Aus dem Jahr 1995 natürlich!" "A...aha." stotterte Liam. "Natürlich. Klar." Er schien bestürzt und irgendwie auch fassungslos. Liam blickte Sive an. Sive sah zu Sheerla. Sheerla schielte hinüber zu Neesan, und Neesan wandte seine volle Aufmerksamkeit dem Fußboden zu. "Könnt ihr uns jetzt vielleicht mal verraten, was diese Geheimniskrämerei soll?" schaltete sich Tiger ein, die das Mienenspiel der vier Kinder verständnislos beobachtet hatte. "God mag zwar viel Mist reden, aber dieses Mal hat er recht: Wir kommen aus dem Jahr 1995, Auckland, Neuseeland und.... na ja, und eure Frage war schon etwas erklärungsbedürftig, also seid doch bitte so freundlich und teilt uns mit, was ihr euch da die ganze Zeit stumm erzählt." Wieder wechselten die Kinder Blicke, jedoch ohne ein Wort zu sagen. Dann schüttelte Sheerla energisch ihre Mähne, als dächte sie: Was soll's, und erklärte den befremdeten Gesichtern: "Also, wir... es scheint, als hätten wir uns... oder ihr euch... etwas in der Zeit geirrt, wenn ihr versteht, was ich meine. Wir kommen nämlich aus dem Jahr 2013." Die Reaktionen darauf waren sehr verschieden. Timids und Blunders Antwort war nur ein einstimmiges: "Cool!", während Gatcha sich ein wenig gewählter ausdrückte, sie sagte: "Toll", bevor sie fortfuhren, mit Zans zu spielen. Die Kinder hatten anscheinend schon so viele Zeit-, Raum- und sonstige Reisen hinter sich, dass sie inzwischen alles für möglich hielten. Boss schaute einen Moment lang ziemlich perplex in die Gegend, grinste dann aber fröhlich und stempelte das Ganze als: "Das wollte ich ja schon immer mal erleben, Menschen aus der Zukunft! Bei Gelegenheit müssen wir uns mal näher darüber unterhalten, vielleicht kennen wir uns ja... ich meine... werden uns kennenlernen... ach, ihr wisst schon was ich meine, aber vielleicht könntet ihr mir was über meine Zukunft erzählen!" ab. Die anderen schauten alle sehr interessiert drein, besonders Doc. Sie hatte wieder mal so einen abwesenden Blick, der verriet, dass sie gerade dabei war, in Gedanken sämtliche Möglichkeiten einer solchen Zeitreise zu sondieren und, sobald sie fertig gedacht hatte, bestimmt eine Menge Fragen haben würde. "Gibt es denn in der Zukunft keine Eisdielen mehr, oder wie seid ihr darauf gekommen?" erkundigte sich Young Lady, noch immer etwas durcheinander. "Nein," erklärte Liam mit einem entschuldigenden Lächeln, "aber weißt du... wir kennen die Eisdiele, von der ihr erzählt habt, nur... während ihr sagtet, dass sie erst neulich eröffnet hätte, hat sie bei uns gerade vor einigen Monaten zugemacht, weil der Besitzer in Rente gegangen ist. Und das hat uns verwirrt, wie ihr euch wohl vorstellen könnt." "Ach so," erwiderte Young Lady, als sähe sie das Ganze nun zumindest ansatzweise klarer. "Gibt es denn trotzdem noch gutes Eis?" "Äh.... ja, ja, klar doch, sicher, sicher." Und God glaubte natürlich kein Wort, verschränkte nur die Arme und murmelte: "Ihr spinnt ja!", während Snake eifrig zustimmte, seine glänzenden Augen aber das glatte Gegenteil verrieten: Wie angetan er von dem Gedanken war. Nerds lakonischer Kommentar lautete: "Das ist wie in meinem Computerspiel!" Und damit war die Angelegenheit vorerst - vorerst - erledigt. Ein Ruf vom Fenster unterbrach das Gespräch. Die fremde Schönheit - Manua hieß sie, wie sie Boss mitgeteilt hatte - erkundigte sich: "Könntet ihr vielleicht kurz anhalten? Dort liegt nämlich meine Stadt." Natürlich zielte die Frage nicht darauf ab, dass Manua Heimatbetrachtungen anstellen wollte. Sie hatte viel mehr vor, die Kinder, die ja von der Armee verfolgt wurden, bei sich zu verstecken. Ihr Vater war der Bürgermeister von Lupar, wie die Stadt dort in der Talsenke hieß. Sie beschlossen, erst einmal etwas oberhalb zu rasten, dabei konnten die Kleinen sich ausruhen und die Großen beratschlagen, ob sie Manuas freundliches Angebot annehmen wollten. Und außerdem würde man den vier Kindern, bevor sie sich in ihren Badeanzügen noch blau froren, nun endlich etwas zum Anziehen heraussuchen. Tank und Boss kümmerten sich um Liam und Neesan. Boss zeigte den beiden Jungen die Toilette, während Tank versuchte, Silence dazu zu überreden - er musste nicht viel überreden, Silence war von Natur aus freigiebig - zwei seiner Uniformen zum Wechseln für Neesan und Liam herauszurücken. Die beiden zogen sie einfach über ihre Badekleidung, die sie vorher mit einem nassen Tuch (in der Nähe ihres Rastplatzes gab es einen Bach) wenigstens notdürftig von der Dreckkruste befreiten. Dabei unterhielten sie sich ein wenig mit Boss und Tank, erfuhren zum Beispiel, dass die Fünfzehn wegen ihrer Zugehörigkeit zum Pfadfinder-Marineclub [was immer das Teil auch ist...] diese in ihren Augen antiquierten Uniformen trugen. Trotzdem zogen sie sie bereitwillig über und Liam, der guterzogene Liam, vergaß natürlich auch nicht, sich noch einmal ausreichend für alles zu bedanken. "So, und jetzt seid ihr Mitglieder!" lachte Boss, als sie das Klo für die Mädchen räumten. Princess kümmerte sich darum, die Kleidung zu beschaffen, während Tiger Sheerla und Sive hinein begleitete. Auf einen Ruf von Tank verschwand sie jedoch schnell wieder, da er, Boss und President gerade draußen etwas mit Manua besprachen. Princess erschien im Türrahmen, zwei für Sive und Sheerla nicht näher definierbare Fetzen über dem Arm. Und damit nahm die Katastrophe ihren Lauf. Liam und Neesan, die im Amphibienfahrzeug auf der Bank saßen und sich mit Silence und Gatcha unterhielten, zuckten erschrocken zusammen, als aus der Klotür ein Schrei ertönte, der allen durch Mark und Bein ging. Es war Sive, die gesehen hatte, welche Bekleidung für sie vorgesehen war. "Oh nein! Das zieh ich nicht an! Nein, nein, nein! Nie und nimmer! Nicht diesen Fummel!" Princess' Gesichtsausdruck konnten die Lauscher natürlich nicht sehen, ihn sich dafür aber um so lebhafter vorstellen. "Wovon redet eure Freundin?" fragte Gatcha ahnungsvoll. Sie erinnerte sich, vor nicht mehr als ein paar Minuten von Princess um ein paar ihrer Kleider zum Wechseln gebeten worden zu sein. "Sive, du bist wie immer unhöflich." stellte Sheerla fest. Sie stöhnte. "Mann, jetzt stell dich doch nicht so an, du Baby! Nur weil du ein rosa Kleid trägst, geht die Welt noch lange nicht unter!" "Ach ja?" schmollte Sive. "Tatsache ist, dass ich das nicht anziehen werde! Lieber bleib ich so, wie ich bin!" Ein beschwichtigendes Gemurmel erklang. Das musste Princess sein, die mit bewunderungswürdiger Geduld versuchte, Sive zu beruhigen und dazu zu bewegen, Gatchas Kleidchen anzuziehen. Trotzdem war ein gewisser gereizter Unterton nicht zu überhören, was man Princess auch nicht verübeln konnte. Sive verhielt sich wirklich ausgesprochen frech. Ein dumpfer Schlag erklang, der bei allen die grausigsten Vorstellungen weckte. Es war aber nur Sheerla, die Sive per Faust ein bisschen zur Vernunft bringen wollte. Erfolg gleich null. "Nein!! Ich weigere mich! Ich hasse Kleidchen, noch mehr hasse ich rosa, und noch viel mehr so was Altmodisches, das hat ja nicht mal meine Mutter getragen!" Sie übertrieb maßlos, denn rechnete man richtig, war ihre Mutter 1995 schon längst über das Alter hinaus gewesen, in dem man kleine rosa Kleidchen trug. Sive kümmerte das wenig. Fanatisch fuhr sie fort: "Wer so was anzieht, muss wirklich bescheuert sein!" Draußen erhob sich Gatcha und verließ gekränkt das Fahrzeug. Es würde sicher noch eine gute Woche dauern, bis sie wieder ein Wort mit der eingebildeten Ziege dort drinnen wechseln würde! Wieder versuchte Princess mit engelsgleicher Langmut, zu beschwichtigen. "Aber Sive, jetzt sei doch vernünftig. Als ich so alt war wie du, habe ich auch solche Kleider getragen. Ein Mädchen sieht hübsch darin aus! Also komm schon, sonst erkältest du dich nur." "Hübsch?" entgegnete Sive in einer Tonlage, die verriet, dass Kleider für sie alles sein mochten, aber eines ganz gewiss nicht: Hübsch. "Wie ein Schweinchen! Ich trag nur Hosen! Basta!" Man sah sie nicht, aber vermutlich verschränkte sie nun die Arme und blickte demonstrativ in die andere Richtung. Ein abgrundtiefer Seufzer Princess' verriet, dass sie resigniert hatte. Sives schlagkräftigen ?Argumenten' war mit Logik einfach nicht beizukommen. Nicht so Sheerla. "Sive, du ziehst jetzt sofort das Kleid an! Für dich muss man sich ja schämen, was du für ein Theater machst! Sogar rum schreien tust du! Jetzt hör aber auf damit. Du stirbst doch nicht, nur weil du ein Kleid tragen sollst. Außerdem - " jetzt grinste Sheerla wahrscheinlich auf ihre unnachahmliche Art, die eigentlich gemein, aber irgendwo doch nicht gemein war - "hast du genau das richtige Aussehen dafür! Mausbraune Schnittlauchhaare, dürr wie ein Stock..." Sie unterbrach sich, weil Sive wie wild nach ihr schlug. "Sheerla," begann Princess aufatmend - es war wohl doch noch nicht alles verloren! - "wie schön, dass wenigstens du vernünftig bist." Sie lächelte erleichtert. Ruckartig wandte Sheerla den Kopf. "Ja?" fragte sie, und irgendwie fühlte sie sich unwohl in ihrer Haut. "Was ist?" Princess hob einen weiteren nur mäßig identifizierbaren Stofffetzen hoch. Sheerlas Augen weiteten sich vor Entsetzen. Nie, nie, niemals hätte sie diese Mißachtung ihrer Persönlichkeit für möglich gehalten. Bei Sive vielleicht, die war ja ohnehin eine Jammerliese, aber sie - Sheerla McPherson, nein, das konnte doch nicht wahr sein, Princess musste Witze machen, nein, unmöglich... Aber es war möglich. "Hier, das ist für dich, Sheerla. Ein hübsches, bequemes Kleidchen, das Gatcha dir freundlicherweise leiht und in dem du bestimmt ganz entzückend aussehen wirst." Sie reichte Sheerla das Kleid, doch diese ließ es fallen, als habe sie sich verbrannt. In einem Aufschrei, der an Lautstärke Sives locker um Längen übertrumpfte, brüllte sie: "WAAAS?! EIN KLEID? EIN ROSANES KLEID? ICH?! SAG MAL, SPINNT IHR VOLLKOMMEN?!?!?!" Princess kippte zurück, als habe ein Windstoß sie umgeworfen. "Aber... aber Gatcha trägt es doch auch. Und.." "Es ist mir egal, ob du oder Gatcha solches Zeug tragt. ICH werde es jedenfalls ganz sicher nicht tun, ICH bin doch keine verweichlichte Jammerziege...." Zu spät fiel ihr ein, dass Princess das durchaus auch als persönliche Beleidigung würde auffassen können. Erst als diese schwungvoll die Tür aufriss und mit dem Gesichtsausdruck einer Primadonna, die sich nun lange genug herabgelassen hat, davon rauschte, erwog Sheerla, die letzten Worte vielleicht zurückzunehmen. Oder zumindest ein klein wenig abzuschwächen. Zum Glück kam in diesem Moment Tiger herein, einen Stapel hellbrauner Uniformen über dem Arm. Kein Zweifel, sie hatte den Wortwechsel ebenso verfolgt wie der gesamte Rest der Truppe, der sich draußen an der Tür die Ohren platt drückte. "Hier. Silence konnte noch zwei Uniformen entbehren. Also haltet jetzt endlich die Klappe und zieht sie an, und wehe, ihr seid nochmal so unhöflich zur armen Princess, ist das klar?!" Obwohl ihre Worte streng klangen, lächelte sie. Die Mädchen konnten natürlich nicht wissen, dass Tiger ihre Einstellung aus tiefster Seele teilte und Streits wie diesen schon oft genug am eigenen Leib erlebt hatte. Sheerla stellte lediglich fest, dass sie Tiger mochte. Und Sive, die nicht ganz so schnell warm wurde, mutmaßte zumindest, dass dieses burschikose Mädchen nicht ganz so weltfremd wie der Rest der Truppe zu sein schien. Tiger reichte ihnen die Uniformen und sie beeilten sich, sie überzuziehen. IX. Heute, morgen, dies und das "Meine Güte, war das ein Theater!" Mit diesem Satz schloss Tiger ihren Bericht über das Zusammenprallen zweier Weltanschauungen in der Mädchentoilette ab. Ihre Zuhörer versuchten kaum, ihr Lachen zu verbergen. Boss, Tank und President standen an das Amphibienfahrzeug gelehnt, wo sie auf die anderen warteten, um zu besprechen, ob sie Manuas Hilfe annehmen sollten oder nicht. Allerdings taten sie das schon eine ganze Weile, denn die meisten waren zum Bach gegangen, um sich frisch zu machen bzw. - in Princess' Fall wörtlich und sinnbildlich zugleich zu nehmen - sich abzukühlen. "Princess wird das den beiden wahrscheinlich noch wochenlang übelnehmen." prophezeite Tiger mit betont ernster Miene. "Da könntest du recht haben," bemerkte Tank. Princess war zwar meist freundlich, aber einmal beleidigt, konnte sie ziemlich nachtragend sein. "Wer kann es ihr verdenken?" "Ich finde, Toleranz ist etwas sehr Wichtiges." warf President ein. "Die drei hätten alle etwas mehr Entgegenkommen zeigen können. Wenn man die Meinungen anderer achtet, kommt es auch nicht so schnell zu Streit." "Entgegenkommen! Pah!" Tiger schüttelte herausfordernd ihre Mähne. "Und wo bleibt da die Gleichberechtigung?" "Das," erwiderte President ganz ernsthaft, ohne zu merken, wie Tiger innerlich feixte, weil der Politiker in ihm schon wieder die Oberhand gewinnen wollte, "ergibt sich dabei fast automatisch. Demokratie basiert auf dem Recht der freien Meinungsäußerung." "Natürlich. Sie hätten darüber abstimmen sollen." grinste Boss. Tank stieß ihn an. "Müsst ihr den Armen schon wieder auf den Arm nehmen?", aber Boss lachte nur. "Ja." belehrte President sie, wobei ihm das Gekichere der anderen vollkommen entging. "ja! Sie hätten natürlich abstimmen sollen. Das wäre die fairste Lösung gewesen." Er sah richtig erleichtert aus, ganz so, als habe man ihm eine schwierige Entscheidung abverlangt, die er letztendlich doch mit Bravour gemeistert hatte. Eigentlich überflüssig, denn der "Toilettenskandal" war doch durch Tigers spontanes Handeln längst bereinigt und Schnee von gestern. Na ja. President wurde von den überraschenden Veränderungen des Alltags immer öfter aus der Bahn geworfen, bevor es ihm gelang, sie mühsam wieder mit dem Altgewohnten in Einklang zu bringen. "Und wie hätten sie das machen sollen?" fragte Tiger, die es nicht lassen konnte. "Abstimmen, meine ich. Haben die beiden Mädchen denn überhaupt schon das Wahlrecht? Dann hätten sie Princess ja überstimmt. Oder wäre es unentschieden gestanden?" Jetzt ging dem armen President wohl doch auf, dass die letzten Fragen vielleicht keine hundertprozentig ernsthafte Anwort verlangt hätten und er schaute etwas betreten drein. Boss stieß geräuschvoll Luft aus. "Wo bleiben die anderen eigentlich? Es wäre gut, wenn wir bald mal weiter zu Manua fahren könnten." "Ich will euch mal was sagen," fuhr Tiger fort. Ganz offensichtlich hatte sie von dem Thema immer noch nicht genug. "Wenn man kleine Mädchen in pinke Kleidchen steckt, ist das dann Gleichberechtigung? Sieht so deine Demokratie aus, President?" Ihre Augen funkelten provozierend. Erstaunt blickten die drei Jungen sie an. Irgendwie schien Tiger das Thema am Herzen zu liegen, so dass sie das Gespräch auf einen ganz bestimmten Punkt hinlenken wollte. "Na ja," meinte Tank aufs Geratewohl, "Princess und Gatcha macht es jedenfalls nichts aus, Kleider zu tragen." "Ja." nickte Tiger, um dann triumphierend fortzufahren: "Aber wahrscheinlich sind die Mädchen der Zukunft einfach emanzipierter!" Das war es also. Tiger hoffte auf Verstärkung aus den Jugendreihen! Seit ihrem elften Lebensjahr einziges Mädchen in einem Marineklub zusammen mit - aktueller Stand - zwei Kleider- und zwei Rock-Trägerinnen, (auch wenn Princess nur zufällig dabei war) freute sie sich einfach ungemein über Sheerla und Sive, die im zarten Alter von neun längst nicht so zart für Hosen plädierten. Boss war verblüfft, denn irgendwie überraschte Tigers Reaktion ihn. Er hätte nicht gedacht, dass sie für ihre Weiblichkeit so... nun ja, unweiblich eintreten würde. President sah nur ziemlich überrumpelt in die Gegend, nicht weniger ratlos als Boss, und Tank, unschlüssig, was man zu diesem Thema noch groß sagen sollte, versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Hm, ja. Aber wisst ihr," er sah gen Himmel, "irgend etwas kommt mir an diesen Kindern doch seltsam vor." "Was soll das heißen? Findest du es seltsam, dass sie keine Spitzenkleidchen tragen wollen? Dazu würde mich auch keiner kriegen, im Leben nicht. Nur über meine Leiche!" ereiferte sich Tiger. Die Blicke ihrer Gesprächspartner verrieten ganz deutlich, dass sie, selbst wenn ihnen dieser Gedanke ob des sehenswerten Anblicks mal gekommen sein mochte, sich ganz sicher nicht an seiner Ausführung versuchen würden, denn sie alle wussten, wie stark Tiger war. "Nein," Tank zuckte mit den Schultern, "das meine ich nicht. Vielleicht liegt es einfach daran, dass sie aus der Zukunft kommen. Ihre Art, zu sprechen, ihr Verhalten, all das. Das Seltsamste vielleicht ist, dass ich sie trotzdem zu kennen glaube." Er lächelte gequält, weil die anderen seine Gedankengänge ganz offensichtlich nicht nachvollziehen konnten. "Ach, ist ja auch egal." "Das finde ich nicht," lenkte da eine Stimme von hinten ihre Aufmerksamkeit auf sich. Doc kam aus dem Fahrzeug getreten und zu ihnen herüber. "Mir kommen sie auch irgendwie merkwürdig vor. So ganz anders als wir, aber..." "Vielleicht hatte God ja doch recht und es sind Spione," meinte President unglücklich. "Das glaubst du doch selber nicht," brummte Boss. "Es sind Kinder. Was sollten sie uns tun? God hält doch jeden für einen Spion!" "Das ist es nicht," unterbrach Doc die beiden abwesend. "Nur," sie wandte den Kopf und blickte auf die Wiese, wo Neesan und Liam gerade mit Silence sprachen, "es... Ich kann es nicht erklären." Plötzlich begann sie, sich an der Nase zu kratzen. "Verdammt. So ist das immer, wenn ich ganz nah dran bin, meine gedanklichen Puzzleteile aber nicht richtig in Einklang bringen kann. Dann juckt es mich überall." Boss machte große Augen, während President eher unbehaglich aussah. "Aber was soll denn mit den Kindern schon sein?" murmelte er, mehr für sich. "Das ist es," rief Doc laut. "genau das." Sie wies auf President. "Schau mal deinen Gesichtsausdruck von eben an.... und nun..." "Ich glaube, ich verstehe, was sie meint." entgegnete Tank versonnen. "President..." "Was soll der Quatsch?" mischte sich auf einmal God ein. Erst jetzt wurde den anderen klar, dass er und Snake schon eine ganze Weile mitgehört, sich aber überraschenderweise jedes Kommentars enthalten hatten. "Das sind ganz einfach ein paar Kinder. Und ziemlich nervige dazu. Ihr seht doch überall Gespenster! Das ist absoluter Schwachsinn!" "Also keine Spione?!" fragte Doc spitz, zu Recht verärgert darüber, dass God ihre Gedankengänge unterbrochen und sie dazu noch als halluzinös hingestellt hatte. "Ach Leute, was soll das eigentlich alles? Die Kinder sind in Ordnung. Was sollte an denen schon seltsam sein? Das bildet ihr euch bestimmt bloß ein. Und nur weil sie aus der Zukunft kommen, ich meine, die paar Jahre, gerade mal.... äh..." An dieser Stelle versagte zwar sein Rechengehirn, doch Boss fuhr trotzdem fort: "Wir sollten uns darüber nicht den Kopf zerbrechen. Wir müssen sie eben einfach noch näher kennen lernen, um uns mit ihnen anfreunden zu können!" "Achtzehn." ließ Doc ihn ziemlich kühl wissen, noch immer nicht versöhnt, vor allem, weil es nun schien, als sei Boss ausnahmsweise mit God - zumindest teilweise - einer Meinung. "Hä?!" "Das heißt ?wie bitte'... und außerdem meinte Doc: Die Kinder stammen von uns gesehen aus der Zukunft in achtzehn Jahren." Princess war hinzugekommen, ihr folgten Manua, Crybaby, Young Lady und Nerd, und damit waren sie nun eigentlich vollzählig. Als die Jüngeren bemerkten, dass sich etwas tat, kamen auch sie zusammen mit Zans, dem jungen Stimosaurus, hinüber, um bei der Beratung dabeizusein. Timid und Blunder ließen sich kurzerhand ins Gras fallen, Gatcha, zwischen Princess und Young Lady stehend, reckte neugierig den Hals und auch Silence, Liam und Sheerla machten aufmerksame Gesichter. Mit einem Blick aufs nasse Gras und einem zweiten auf seine schöne neue geliehene Uniform blieb Neesan lieber ebenfalls stehen. Sive versuchte, gelangweilt auszusehen. In Wirklichkeit spitzte sie die Ohren, aber das war eben so ihre Art. "Also lassen wir jetzt dieses... " - Boss wurde sich bewusst, dass die vier Kinder inzwischen hinzu gekommen waren und mithörten - "...Thema von vorhin und reden lieber mal über das, was wir eigentlich bereden wollten: Wie ihr wahrscheinlich schon wisst, hat Manua..." "Bist du hier der Anführer?" "Hä?!.... äh...." - mit einem Blick auf Princess verbesserte Boss seine Ausdrucksweise - "wie?!" "Ich habe gefragt, ob du hier der Anführer bist?" God verschränkte die Arme und sah Boss voll an. "Nein, aber..." Boss, kurz aus der Fassung gebracht, hatte sich wieder im Griff. "Was soll die blöde Frage?" entgegnete er gereizt, "Ich bin gerade dabei, Manuas nettes Angebot zu erzählen. Also halt die Klappe und hör zu, oder weißt du es etwa schon?" God kannte das "nette Angebot" noch nicht, darum war er still, aber es war ihm anzusehen, dass er das Thema "Anführer" bei Gelegenheit noch einmal zur Sprache bringen würde. Manua, so sagte Boss, sei die Tochter des Bürgermeisters von Lupar und - ab hier erzählte Manua, die schweigend dabei gestanden hatte, selbst - hasste die Tyrannei des Königs von Noah und seiner Soldaten aus tiefstem Herzen. Ebensowenig befürwortete sie, wie diese mit den Dinosauriern, die Noah bewohnten, umgingen. Die Art, sie wie Sklaven zu behandeln, fand die junge Frau ungerecht und grausam, und darin wurde sie von Boss unterstützt. Deshalb, sagte sie, wollte sie den Kindern helfen und sie bei sich verstecken. Manua hatte ihre Rede beendet und lächelte sie freundlich an, in der Erwartung, dass die anderen ihre Beweggründe nachvollziehen würden können. Die meisten schienen das auch, nur God war natürlich wieder anderer Meinung, denn er befürchtete - nein, er stellte es als Tatsache hin - dass Manua sie verraten würde. Sive fand, dass das langsam nervig wurde. Überhaupt fand sie, wenn sie so drüber nachdachte, alles hier ziemlich nervig, von dieser blöden Gatcha über diese ebenso blöde Princess hin zu diesem noch blöderen Boss und den ganzen anderen Idioten.... nur der Silence-Zans-Typ, mit dem Liam sich so gut verstand, ging in ihren Augen. Der redete wenigstens nicht so viel. Aber auch die "Besprechung" ging dann letztendlich ohne allzu viel weiteres Gerede vonstatten. Es wurde ganz einfach abgestimmt [und ratet mal wer auf diese glorreiche Idee kam? ;)], wobei God überstimmt und der Einzug bei Manua beschlossene Sache wurde. Was hätten sie auch anderes tun sollen? Die Pfadfinder wie auch die vier Kinder suchten nach einem Weg zurück in ihre Welt, und allein würden sie den ganz sicher nicht finden. Sie waren, so schwer es für manche auch einzugestehen war, auf Hilfe angewiesen. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 4: X. Sive * XI. Neesan * XII. Schweigen ------------------------------------------------ Ich danke Hitomi16 von ganzem Herzen für ihren Kommentar... und ich würde mich riesig freuen, wenn ich noch ein paar bekäme :) X. SIVE * XI. NEESAN * XII. SCHWEIGEN X. Sive Mit dem Fahrzeug fuhren sie das letzte Stück bis zur Talsenke, in der Lupar lag. Dann versteckten sie es an einer einigermaßen blickgeschützten Stelle im Wald und bedeckten es zusätzlich noch mit großen Zweigen, da es vermutlich gewisse Probleme mit sich gebracht hätte, wenn sie angesichts der mittelalterlichen Verhältnisse auf Noah mit einem solchen Auto wie dem ihren am hellichten Tage mal eben in Lupar eingefahren wären. Es war ohnehin schon schwer genug, unentdeckt zu bleiben, und das mussten sie. Die Armee, erklärte Manua, war überall, so absolut war die Herrschaft des Königs. Da sie mit den Kindern inzwischen 19 Leute waren, wurde beschlossen, sich in vier Gruppen aufzuteilen, die nacheinander von Manua geführt durch die Stadt zu ihrem Haus schleichen würden. Die anderen sollten im Gebüsch versteckt warten, bis sie abgeholt würden. "Und bitte bleibt wo ihr seid, hört ihr?" schärfte Manua ihnen noch einmal ein, bevor sie sich zusammen mit der ersten Gruppe auf den Weg machte. Außer Boss gingen noch Princess, Gatcha, Sheerla und Blunder mit. Die Aufteilung der anderen sah folgendermaßen aus: Tiger und President sollten als zweites losgehen, mit ihnen Crybaby, Young Lady und Neesan. Zuerst hatte Sheerla dagegen protestiert, von ihrem Bruder getrennt zu werden. "Was? Aber ich will mit Neesan gehen!" hatte sie gerufen. Erst als die anderen ihr die Lage vor Augen führten, gab Sheerla widerstrebend nach. Betont unauffällig, fast, als ob es ihr peinlich wäre, war sie an Tigers Seite geschlichen. "Du, Tiger?" hatte das Mädchen die neu entdeckte Vertrauensperson verstohlen gefragt. Überrascht blickte Tiger auf sie herunter. "Ja?" "Bitte pass auf Neesan auf, während ich weg bin, ja? Weil... es..." Sheerla holte tief Luft, um die für sie offensichtlich schwer zu formulierende Erklärung anzufügen, doch mit einem verständnisvollen Lächeln nahm das ältere Mädchen ihr die Notwendigkeit dazu. "Ich verspreche es." Dankbar nickte Sheerla. Die dritte Gruppe umfasste Doc und Tank als "Aufpasser" sowie Silence, Liam und Timid. Für Sive waren die meisten Gruppen schon zu voll gewesen, mit anderen Worten: Keiner hatte sie haben wollen. Darum musste sie wohl oder übel mit God, Nerd und Snake gehen. Weder God noch Sive waren davon sonderlich erbaut, hatten sie doch seit der Ankunft der Kinder längst eine sehr spezielle gegenseitige "Zuneigung" entwickelt. "Was soll das? Wir haben jetzt eben mehr Kinder, um die wir uns kümmern müssen, und ihr seid die einzige Gruppe, bei der noch keiner von den Kleinen mitläuft." hatte Boss verärgert entgegnet, als God sich beschwert hatte. Daraufhin hatte die hellhörige Sheerla dem lieben Boss ganz sacht auf die Schulter getippt (dazu musste sie sich gehörig recken) und ihm einen kleinen Vortrag über den in ihren Augen abfälligen Gebrauch der Worte "Kinder" und "Kleine" sowie den Unterschied zwischen selbigen und "Erwachsenen" gehalten: "Ob jemand ein Kind oder ein Erwachsener ist, hängt nicht vom Alter ab, sondern von einer gewissen Reife im Verhalten und der Fähigkeit, im Leben klarzukommen. Kapiert?" Danach hatte Sheerla wissend gelächelt, als hätte sie zu dem Thema noch sehr viel mehr zu sagen, es aber lediglich wegen Zeitmangels unterlassen. "Und ich schaue ja niemanden an, nicht wahr?" "Ja, ja. Können wir jetzt?" Ungeduldig sah Boss in die Runde. Es wurde bereits langsam dunkel. Manua nickte, und Sive, die umhersprang wie ein angeschossenes Kaninchen, flehte zum wiederholten Male: "Lasst mich nicht allein! Hört ihr, Liam, Sheerla! Ah! Ich verblöde!" In gespielter Ohnmacht ließ sie sich ins Gras sinken, wo sie circa eine halbe Sekunde verharrte, um dann wieder aufzuspringen, um weiter zu jammern. So viel zum Thema reifes Verhalten, dachte Sheerla. "He, Sive! Jetzt reg dich ab. Du hast mein Beileid. Neesan, Liam - bis dann, ja?" Sie grinste, winkte und verschwand hinter Blunder und den anderen im Gebüsch. "Ja, ja. Beileid. Klar." grummelte Sive. "Liam! Ich will nicht mit den Spinnern gehen! Was, wenn das abfärbt?" Ihr Freund kicherte, um Sive dann zu beruhigen: "Schon gut. Noch sind wir ja da. Komm, so schlimm wird das schon nicht." Zweifelnd zog Sive die Augenbrauen hoch. Sie sah so komisch und so verzweifelt aus, dass Liam schon wieder lachen musste, ob er wollte oder nicht. Neesan stand daneben und betrachtete die Szene mit Staunen. Diese Sorte Sive-Live kannte er ganz offensichtlich noch nicht: "Ich mag nicht das Letzte vom Letzten sein!" "Jetzt halt verdammt noch mal endlich die Klappe!" brüllte God auf einmal los. Er sprang von dem Baumstamm, auf dem er gesessen hatte. "Glaubst du, uns macht es Spaß, dich Nervensäge mitzunehmen? Wir sind froh, wenn wir dich wieder los sind! Wenn's dir nicht passt, kannst du ja alleine gehen! Dann bist du wenigstens nur die Letzte, aber nicht ?vom Letzten'! Hauptsache, du hörst auf zu nerven! Ist doch wohl klar, dass so was Unausstehliches keiner will! Und..." Was immer God noch hatte sagen wollen, Sive hörte es nicht mehr. Das letzte was er von ihr sah, war ein undefinierbarer Blick, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und davon lief. God blieb zurück wie vom Donner gerührt. "Aber... aber... He!" stammelte er. "Die... die kann doch nicht wirklich alleine gehen!" Er klang fast so, als ob es ihm leid täte, doch als er sich umdrehte, war nur Trotz zu sehen: "Wenn die einer erwischt, sind wir dran!" Die anderen hatten den Vorgang mit Unverständnis verfolgt. "Na klasse!" ärgerte sich Tiger. "Du Trottel!" Sie funkelte God an und wollte Sive hinterher laufen, aber Liam hielt sie zurück. "Wartet, ich schaue selbst nach ihr." meinte er leise. Er sah God an. "Sie ist ganz bestimmt nicht allein in die Stadt gelaufen." Und bevor noch irgend jemand etwas einwenden konnte, war auch Liam verschwunden. Neesan, der sich plötzlich inmitten all der Leute, die er erst knapp einen Tag kannte, so verloren fühlte, wollte hinterher, als Tiger ihm in den Weg trat: "Nichts da, du bleibst hier! Wäre ja noch schöner, wenn uns hier alle weglaufen würden." Eigentlich wäre Neesan am liebsten Sive und Liam nachgegangen, aber Tigers energische Art flößte ihm Scheu ein. So fügte er sich seufzend, ließ sich neben President auf der Erde nieder und hoffte nur, dass die beiden bald wiederkommen würden. "Sive? Sive!" Stirnrunzelnd lief Liam durch den Wald. Er wusste, dass er sich beeilen musste, um rechtzeitig zu den anderen zurückzukommen. Trotz der Sicherheit, die er gegenüber Tiger und God an den Tag gelegt hatte, war er keineswegs davon überzeugt, Sive so rasch zu finden. Es war durchaus möglich, dass sie, ohne richtig nachzudenken, tatsächlich in die Stadt gelaufen war. Bei ihr konnte man nie wissen. Liam seufzte. Seine Reaktion auf ihr Gejammere kam ihm in den Sinn, und er schämte sich. Bei Sive sollte man nie lachen, bevor man nicht ganz sicher war, wie ernst sie etwas wirklich meinte. "Sive!" Stille. Diese Welt ist so ganz anders, dachte Liam. Er hatte Angst hier im Wald. Langsam kam die Dunkelheit, und das erweckte in dem Jungen die Erinnerung an... gestern? Ja, es war tatsächlich erst knapp ein Tag vergangen, seit sie dem Brachiosaurus begegnet waren. Seltsam, ihm kam es vor, als sei es schon viel länger her. So vieles war in den letzten Stunden geschehen, dass ihm der Kopf schwirrte. So vieles gab es, worüber er nachdenken musste, aber bis jetzt hatte er einfach noch keine ruhige Minute dazu gefunden. Wieder rief er Sives Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Liam wurde unruhig. Was, wenn er sie tatsächlich nicht fand? Wenn ihr etwas passiert war? Sive reagierte immer so unbeherrscht. Das konnte manchmal wirklich anstrengend werden, trotzdem wusste Liam, dass es eben unabänderlich ihre Art war. Und einer der Gründe, weshalb er sie so mochte. Heute ist... Donnerstag, fiel Liam plötzlich ein. Das heißt, es wäre Donnerstag. Ob Mrs. Palmer gekocht hatte? Eigentlich war es so geplant gewesen. Und Sive wäre nach der Schule zu ihm gekommen. Er fröstelte. Langsam wurde es kühl. Voller Schrecken wurde Liam klar, dass die Erinnerung an zuhause in seinem Geist verblasste wie ein altes Bild, verdrängt von all dem Neuen und Aufregenden und Andersartigen. Das wollte er nicht! Er wollte wieder heim. Zusammen mit Neesan und Sheerla. Und Sive. Liam fand Sive in Tränen aufgelöst an einen Baum gelehnt. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, ahnte er, dass sie ihn kommen gehört haben musste. Trotzdem reagierte sie zunächst überhaupt nicht. Ihre Schultern bebten heftig, doch im merkwürdigen Kontrast dazu stand sie fast völlig reglos. Eine Hand ruhte am Baum, tastete hin und wieder gedankenverloren über die raue Rinde, als suche sie etwas. Die andere hielt krampfhaft ihren marmornen Elefantenanhänger umklammert, mit Knöcheln, die so weiß hervortraten wie der Stein. "Sive," sagte Liam, "Sive." Da drehte sie sich um, und er sah, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war. Fast ärgerlich rieb Sive sich die Augen, als wollte sie sich nun, da Liam hinzugekommen war, endlich zusammenreißen. Doch es ging ihr, wie es immer geht mit den Tränen: Je mehr man sie zu unterdrücken versucht, desto heftiger muss man weinen. Und während Sive unablässig Schluchzer schüttelten, kam Liam heran und legte ihr den Arm um die Schultern. "Sive," sagte er beruhigend und ein wenig unbeholfen, "nicht weinen." Sive sagte nichts, allein ihr Schluchzen wurde noch heftiger. Sie brauchte mehrere Anläufe zwischen den ruckartigen Atemstößen, bevor sie fragen konnte: "Liam, warum mag mich keiner?" Liam setzte zu einer Antwort an, schwieg dann. Er wusste einfach nicht, was zu entgegnen. Allerdings schien Sive auch kaum mit einer Entgegnung gerechnet zu haben. Ihr Atem, rasch und unregelmäßig, beschleunigte sich mit dem Tempo ihrer Worte. "Keiner von denen mag mich. Und zuhause mag mich auch keiner. Ich versuch doch, mich so zu benehmen, dass sie mich mögen. Aber es klappt einfach nicht. Nie. Nie. Nie!" Sive ballte die Fäuste. Zum ersten Mal seit sie sprachen, blickte sie Liam direkt an. Sie sah abgerissen und verloren aus, wie sie so dastand, das Gesicht rot und tränenverschmiert. Herbstlaub und Kletten klebten überall an ihrer Uniform. Am Knie hatte sie eine frische Schürfwunde, wahrscheinlich war sie hingefallen. Das hellbraune, dünne Haar stand zerzaust vom Kopf ab, umrahmte ihr Gesicht wie ein zerrupfter Strohkranz, als sie ihn bat: "Sag mir, was ich tun muss, damit die anderen mich mögen. Dich mögen doch auch alle." "Sive," sagte Liam, hilflos grübelnd, wie er sie trösten konnte, "Ich... ich mag dich doch." "Da bist du aber der Einzige. Sonst mag mich keiner. In der Schule nicht, und hier auch nicht. Nicht mal Sheerla, dabei dachte ich das wirklich, blöd wie ich bin. Aber sie ist doch auch bloß genervt von mir. Keiner kann mich leiden, ich selbst am allerwenigsten. Ich bin unausstehlich, frech und nervtötend, ich weiß. Warum gibst du dich eigentlich mit mir ab? Du hast doch auch nur Ärger mit mir. Jetzt werden sie auch dich ausschimpfen, weil du mir nachgelaufen bist, Liam." Trotzig zog sie die Nase hoch. "Entweder sie lachen über mich oder sie schimpfen mit mir. Dabei will ich das doch gar nicht, ich will nicht, dass sie über mich lachen, ich will nicht lustig sein... ich will doch nur, dass sie mich mögen. So wie ich bin. Aber sie mögen mich nur, solange sie an mir etwas zum Lachen haben. Aber so bin ich doch gar nicht. Das weißt du doch, oder, Liam?", flehend blickte sie ihn an, "Du weißt das doch, stimmt's? Auch wenn die anderen denken, ich wollte mich nur wichtig machen. Ich... ich mag mich doch selber nicht, wenn ich so bin. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich versteh mich selber nicht. God hasst mich jetzt garantiert, und Princess sowieso, und auch von den anderen wollte mich keiner dabei haben. Ich weiß, dass ich selber schuld bin. Aber ich... ich... Liam, warum bist du mir gefolgt?" Sie vergrub den Kopf an Liams Schulter, suchte nach Worten, fand keine. Es war alles aus ihr herausgesprudelt, nun fühlte sie sich nur noch leer und unglücklich. Liam wiegte sie ein bisschen und strich ihr tröstend übers Haar. Sie tat ihm so leid... Er wusste, was ihr Problem war, er kannte sie lange genug, aber er wusste auch, dass sie es selbst lösen musste. Zwar konnte er versuchen, ihr zu helfen, sie in den Arm nehmen und ihr zuhören, aber lösen konnte sie es nur selbst. Trotzdem wollte er ihr etwas sagen, damit sie nicht mehr weinen musste, irgend etwas, das ihr Mut machte und ihr zeigte, dass er zu ihr hielt... "Weil ich dich lieb hab, Sive. Darum." Jäh verstummte das Schluchzen in seinen Armen. Einen Moment lang war Sive ganz still, so still, dass er das Knistern und Rascheln ringsum im nächtlichen Wald hören konnte. Dann hob sie langsam den Kopf, als wollte sie sich vergewissern, ob sie richtig gehört, sich seine Worte nicht bloß eingebildet hatte. Einen Ausdruck von ungläubiger Überraschung auf dem Gesicht, starrte sie Liam an. Ihr Mund öffnete sich, und sie errötete fast ein bisschen. "Sive, du bist zwar manchmal schwierig, aber ich... ich hab dich lieb. Gerade weil du so bist, wie du bist. Und ich glaube, sobald die anderen dich besser kennen gelernt haben, werden sie das auch tun. Ich bin mir ganz sicher." Entgegen seiner Aussage war Liam sich gar nicht so sicher, ob er wirklich das Richtige gesagt hatte. Sive tat ihm leid, er wollte nicht, dass sie traurig war. Darum hatte er einfach gesagt, was er meinte, und gehofft, es würde das sein, was sie brauchte. Sive strahlte. Sie war ein unausgeglichenes Bündel Laune, daran gab es wirklich keinen Zweifel. Eben noch hatte sie herzzerreißend geschluchzt, sich selbst gehasst, alles gehasst. Und jetzt strahlte sie, sah so glücklich aus, dass es auch Liam berührte. Und das von einem Moment auf den anderen, vollkommen unerwartet. Sive konnte so schön lächeln. Er wusste es, er hatte sie schon ein paar Mal so lächeln sehen, aber es überraschte ihn immer wieder. "Danke, Liam." flüsterte sie, "d..." - sie konnte nicht zu Ende sprechen, als plötzlich ein "Hick" aus ihrer Kehle stieg. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Vor lauter Schluchzen hatte sie einen Schluckauf bekommen. XI. Neesan "Wo stecken die beiden bloß? Wenn sie nur bald wiederkommen! Was, wenn die Armee sie gefangen nimmt? Ich als Anführer hätte das niemals zulassen dürfen!" Die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt, unablässig die Hände ringend und sich die Haare raufend, so marschierte President auf und ab. Die anderen hatten seine Route mehr oder weniger intensiv mitverfolgt: Tipp Tapp - sechs Schritte hin zu einem kopfgroßen Stein, dann 90° Wendung nach rechts auf eine gebückte Kiefer zu, dort gramerfülltes Abstützen am vermeintlich sicheren Stamm und Bedecken der zerfurchten Stirn mit fahriger Hand in gequälter Gebärde. Diese Prozedur in den letzten Minuten etwa acht Mal. Es lag eine Wenn-bloß-Boss-hier-wäre-Stimmung in der Luft, doch bis jetzt hatte noch keiner den vielgehörten Satz ausgesprochen. "Jetzt reiß' dich mal zusammen!" lautete Tigers barscher, aber freundlicher Rat, und Tank fügte hinzu: "Der Junge ist vernünftig. Er wird das Mädchen finden und dann so schnell wie möglich zurück kommen." Wie um ihm recht zu geben, tauchten just in diesem Moment Liam und Sive aus dem Unterholz auf. President unterbrach seine Völkerwanderung und setzte gerade dazu an, seiner Erleichterung angemessenen Ausdruck zu verleihen, als Neesan aufsprang und ihn im Vorüberlaufen völlig aus dem Konzept brachte: "Liam! Sive! Da seid ihr ja! Wie gut, dass ihr endlich kommt, ich hab' mir Sorgen gemacht!" Neesan bremste auf dem Absatz, wirbelte herum, rief: "Ihr habt mir gefehlt, wisst ihr..." Die ganze Zeit über hatte er in sich gekehrt in der Ecke gesessen, Gedanken von Sorge und Einsamkeit unablässig im Kopf hin und her gewälzt. Jetzt schien er vor Erleichterung ganz aufgekratzt. Die Intensität, mit der Neesan auf einmal los plapperte, verriet die Anspannung, unter der er gestanden haben musste. Irgendwie war Sheerlas Bruder in den letzten Minuten schon soweit gewesen, dass er in seinen Zukunftsvisionen sich selbst nur noch ganz allein im Waisenhaus Lupars gesehen hatte, ohne seine Freunde und Sheerla, die dort im Wald irgendeinem unglücklichen Schicksal anheimgefallen waren... Und das Schlimmste, keiner hatte ihn adoptieren wollen... Er hatte also kurzfristig unter dem weitverbreiteten akuten Einsamkeit³-Syndrom gelitten, und war nun sichtlich glücklich, dass Liam und Sive wohlbehalten wiedergekehrt waren. "Bin ich froh, dass ihr wieder da seid... was war denn los, Sive? Ist alles in Ordnung? Wo hast du nur gesteckt?" Besorgt, erleichtert, schwanzwedelnd - streicht das - in der Welpen-Manier, in die Neesan in solchen Situationen unwillkürlich verfiel, erkundigte er sich nach Sives und Liams Ergehen. "Ja, ja... es ist alles in Ordnung...." antworteten die beiden im Chor, und Liam fügte zerstreut hinzu: "Du hättest dir keine Sorgen machen brauchen, Neesan..." Sie hatten ihm ganz offensichtlich nur mit halbem Ohr zugehört. Liam und Sive wirkten seltsam in sich gekehrt, wie sie da standen, Hand in Hand, als sähen sie etwas, von dem der Rest der Welt nicht das Geringste ahnte. Sives Augen waren noch immer leicht gerötet, doch abgesehen davon verriet nichts, wie heftig sie eben noch geweint hatte. Sie hielt das Kinn hoch gereckt, bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, aber im Moment trotz allem eher in friedlicher Laune. Liam lächelte in sich hinein, und Neesan fragte sich zum wiederholten Male, wie er das nur fertigbrachte. Was Liams Lächeln so echt machte, war die Tatsache, dass es kein Lächeln war, dass er der Welt entgegensetzte, um sie zu zähmen... nein, er lächelte nach innen, aber gerade deshalb färbte es auf seine gesamte Umgebung ab. Neesan verstand das nicht ganz, doch das änderte nichts daran, dass er sich diese Fähigkeit manchmal sehnlichst wünschte... ganz besonders in Situationen wie dieser. Er bewunderte sie auch, vor allem, wenn das Lächeln ihn einschloss. Was im Moment nicht der Fall zu sein schien. Liam und Sive waren bereits seit dem Kindergarten befreundet, erinnerte er sich, und so sahen sie nun auch aus, zwei lächelnde Freunde, die es nicht nötig hatten, dass er sich um sie Sorgen machte, Dummkopf, der er war, denn sie waren stark und selbstsicher, drohten nicht jede Minute im Gewimmel der Welt unterzugehen... "Liam... Sive..." Er schluckte. Die Beiden reagierten nicht, blickten nur einander an, und wie auf Kommando verschwanden die siegessicheren Mienen und verwandelten sich in schuldbewusste. "Da sind wir." sagte Liam. "Bitte entschuldigt, dass es so lange gedauert hat." Noch immer hielt er Sives Hand. Neesan kam es so vor, als ob die beiden sich die ganze Zeit unterhielten, ohne ein Wort zu sagen, in einer Sprache, die er nicht verstand... nicht verstehen sollte? "Das wird aber auch Zeit!" meinte Tiger streng. "Manua muss jeden Augenblick kommen." Mit keinem Wort fragte sie danach, was vorgefallen war. "Schön, dass ihr wieder da seid," begrüßte Snake sie freundlich. God sagte nichts, und ebenso war es unmöglich, ihm anzusehen, was er dachte. "Ich hoffe, ihr seid nicht in die Nähe der Stadt gegangen!" tadelte President sie mit ernster Miene. "Liam..." hob Neesan noch einmal an. Er blinzelte, schüttelte heftig den Kopf. "Liam..." - Dann schwieg er. Auch auf die Worte der anderen antworteten die beiden nur mit knappen Sätzen, setzten sich dann an den Rand und begannen, sich leise zu unterhalten. Noch immer umgab sie diese spürbare Mauer, die Außenstehenden verriet, dass sie für sich sein und die Ereignisse der letzten Minuten mit niemandem teilen wollten. Und Neesan war ein Außenstehender. Diese Erkenntnis versetzte ihm einen kleinen Stich, er schalt sich deswegen. Sive und Liam kannten einander nun einmal länger und besser als er sie, und daher gab es eben Dinge, die nur sie beide allein betrafen und ihn nichts angingen. Das war vollkommen normal und verständlich... kein Grund, sich etwas daraus zu machen... Neesan senkte den Kopf und verzog sich wieder in seine Ecke. Wenn dem tatsächlich so war, warum machte es ihm dann so viel aus, fühlte er sich dann plötzlich noch viel einsamer als vor wenigen Minuten? Die dichte Dunkelheit lichtete sich ein wenig, als nun am westlichen Horizont die beiden Monde Noahs aufgingen. Von President und den anderen wurden sie allerdings kaum begrüßt, da sie sich in dem kalten Licht, das doppelt so hell schien wie bei ihnen zuhause, wie auf dem Präsentierteller fühlten. Eine Gefühl des Unbehagens umgab die kleine Restgruppe, die dort wortkarg die Zeit totschlug und in der kalten Nachtluft fröstelte. Sie alle erwarteten Manua sehnsüchtig und lediglich die Aussicht auf einen Unterschlupf, etwas Warmes zu Essen und ein wenig Schlaf brachte sie dazu, die trägen Minuten klaglos durchzustehen. Hinzu kam, dass sie nun schon zweimal in unmittelbarer Nähe die Stimmen vorbei patrouillierender Soldaten vernommen hatten. Beide Male waren sie vor Schreck wie erstarrt gewesen, und beide Male hatten sie voll Erleichterung aufgeatmet, als die Stimmen langsam verklangen, ohne das etwas geschehen wäre. Vermutlich hielt keiner ihrer Verfolger sie für so dumm, dass sie sich tatsächlich in die Nähe der Stadt, in der es von Menschen nur so wimmelte, wagen würden. Eigentlich ein logischer Gedanke, und deshalb fragte sich Doc zum wiederholten Male, ob ihre Entscheidung wirklich klug gewesen war. Sie sagte das auch den anderen, doch letztendlich blieb es dabei: Mit dem Entschluss, Manua zu vertrauen, hatten sie sich selbst die Hände gebunden. Sie konnten nur noch warten und hoffen, für eine andere Entscheidung war es zu spät. Ohnehin musste die Hälfte von ihnen inzwischen längst sicher im Haus des Bürgermeisters angekommen sein. Oder auch nicht... Manua kam, Neesan sah sie nicht, da ein Vorhang aus Pinienzweigen ihm die Sicht nahm. Nur Tigers Rufe waren es, die er vernahm. Schwerfällig erhob sich der Junge und klopfte sich die Tannennadeln ab. Sein Blick suchte Liam und Sive, fand sie, wandte sich ruckartig ab. Doch Liam hatte den Seitenblick sehr wohl bemerkt. "Neesan...?" Er runzelte die Stirn, auch Sive sah überrascht auf. Doch Neesan registrierte es kaum. Die meisten aus seiner Gruppe waren schon losgegangen, er musste sich beeilen. Dass Tiger als Letzte am Rande der Lichtung stand und auf ihn wartete, tröstete den Jungen wenig, ganz im Gegenteil! Tief in der Hosentasche verborgen ballte er eine Faust, sah verbissen zu Boden und stapfte in das Dickicht hinein. XII. Schweigen Nun warteten nur noch zwei Gruppen. Manua, der die Lage nach Berichten der Wartenden bezüglich der Armeestreifen langsam zu brenzlig wurde, hatte mit Boss als Treffpunkt einen verborgenen Hinterhof in der Stadt vereinbart, wo er auf sie wartete, um die zweite Gruppe in ihr Versteck zu führen, so dass Manua gleich die nächste abholen konnte. Boss hatte sich freiwillig dazu angeboten, und da er sich gut Wege merken konnte, hatte Manua dankbar angenommen. Die junge Frau wirkte abgehetzt und erschöpft, als sie zum dritten Male in dieser Nacht aus den Büschen brach, die nächste Gruppe in Empfang zu nehmen. Bei ihrem Anblick verspürten die Pfadfinder Mitleid und Dankbarkeit zugleich. "So," flüsterte Liam Sive zu, "ich geh dann auch mal. Viel Glück. Du machst das." Er grinste aufmunternd, legte ihr sacht die Hand auf die Schulter und erhob sich. "Wie? Was?" Sive zog wieder mal das Was-soll-denn-das-Gesicht, doch aus irgendeinem Grunde mangelte es ihm an Glaubwürdigkeit, und als nach einer kleinen Schrecksekunde ihrerseits das Verstehen durchschimmerte, verlor es auch den letzten Rest davon. Was Sive natürlich nicht daran hinderte, es weiter voller Überzeugung aufzusetzen. Ein Lächeln konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. Wenn Liam einen anlächelte, konnte man ganz einfach nicht anders. Als schließlich alle Gruppen außer der letzten gegangen waren, wurde das Schweigen peinlich. Einziger Ton, der die nächtliche Stille durchdrang, war das monotone Summen und schrille Piepsen von Nerds Game Boy. Neben ihm brütete Snake, den Kopf in beide Hände gestützt und den linken Fuß auf das rechte Knie gelegt. God saß mit überschlagenen Beinen und verschränkten Armen ebenso wortlos da. So. All das hatte Sive nach einem langen, unauffälligen Seitenblick auf die von Mondlicht überflutete Lichtung feststellen können. Also gut. Sie stemmte die Fäuste in den sandigen Boden, um aufzustehen, wusste genau, dass sie das - noch - nicht tun würde und schielte unauffällig über die Schulter, um einen zweiten Blick zu ergattern, während Nerd den sich steigernden Tönen nach wohl gerade irgendeinen Endgegner plattzumachen versuchte. Diese unauffälligen Seitenblicke mit Unentdeckt-bleib-Gewissheit hatten wirklich was für sich. Wie schon erwähnt, waren sie erstens unfehlbar, was das Unentdeckt-bleiben anging, zweitens nahmen sie so peinlichen Situationen etwas von ihrer Peinlichkeit und drittens... nun ja, drittens verloren besagte Situationen auf diese Art auch etwas an Ernst und begannen, mehr und mehr einem dieser Spionageschinken zu ähneln, auf die Sheerla so abfuhr. Sive seufzte abgrundtief. Sie war noch nie gut daran gewesen, Dinge zu erledigen, die sein mussten. Sehr viel entwickelter war ihre Fähigkeit, sie vor sich herzuschieben und Ablenkung zu suchen. Verdammt nochmal. "Denk drüber nach. Und wenn du nachgedacht hast und weißt, was zu tun ist, dann tu es." Urplötzlich kam ihr dieser Satz in den Sinn, fiel ihr einfach aus dem Ohr, ein Satz, den sie in ihrer frühen Kindheit (so etwa glaubte sie diese Zeit einstufen zu können) gehört hatte und an den sie seitdem immer wieder hatte denken müssen. Zum Beispiel in Situationen wie dieser. Dabei war sie damals noch ein kleines Kind gewesen, gerade in den Kindergarten gekommen. Sie hatte irgendein Problem mit einer der Gruppenleiterinnen gehabt, oder war's das dazugehörige Bild gewesen? Wie auch immer, ihre Mutter hatte ihr diesen Rat gegeben, und trotz aller Sprunghaftigkeit, mit der Sive sonst für andere durchs Leben zu tänzeln schien, hatte sie gewusst, und das ohne nachzudenken: Dass sie recht hatte, gerade weil es so einfach klang, dass selbst kleine Kindergartenkinder es verstehen konnten, und gleichzeitig so unendlich schwer durchzuführen war. Denn wer brachte es schon wirklich über sich, einfach aus seiner inneren Gewissheit heraus zu handeln, dem Ergebnis seines Denkens, nicht mehr und nicht weniger? Sive jedenfalls nicht. Sie hatte mit der Leiterin gesprochen, ja. Aber nichts war gut gegangen. Und trotzdem hatte Sive nicht eine Sekunde gezweifelt. Gerade das Scheitern ihres Versuchs schien ihr auf eine geheimnisvolle Art schwerwiegendster Beweis für die verborgene Richtigkeit dieser Aussage zu sein. Und irgendwie hatte sie sie seitdem verinnerlicht. Das durfte doch nicht wahr sein! Schon wieder hatte sie sich klammheimlich und mühelos vor dem Unvermeidlichen gedrückt. Ablenkung forever! Also noch mal. Als sie beim dritten Mal unauffällig die Lage sondierte, empfing Sive ein freundliches Winke-Winke Snakes. Im ersten Moment war sie völlig perplex, dann spürte sie, wie tief in ihrer Lungengegend ein Lachkrampf ausbrach. Streng verkniff sie sich jegliches Muskelzucken. Das war nun wirklich nicht angebracht. Hatte James Bond etwa gekichert?! So viel also zum Thema unauffällig. Aber genaugenommen konnte man Snakes Winken ja durchaus als Einladung verstehen, oder? Der trotzige Teil in ihr, der anderer Meinung war, war inzwischen dem Schlafe so nahe, dass er kaum noch widersprach. Es war wohl heute einfach ein bisschen viel für ihn gewesen. Leise stand Sive auf und schlurfte zu den Dreien hinüber, ganz langsam, teils aus Unbehagen, teil aus Müdigkeit. Schweig. Schweig. Schweig. "Hey!" raunte Sive und tippte God auf den Kopf. Keine Reaktion. Tipp. Noch immer keine Reaktion. Tipp. Tipp. Die Reaktion wurde nicht eben deutlicher. Tipp. "SAG MAL, HAST DU SIE NOCH ALLE?!" brüllte God. Er sieht wirklich aus wie eine Blondine, dachte Sive säuerlich. Eine blöde, blöde Blondine. Und Snake - der war sowieso ein ganz komischer Kerl, ganz nett zwar, aber irgendwie komisch. Der hielt sich wohl für witzig, arme Menschen in der Überwindungsphase so plötzlich zu stören. Und über diesen Game Freak da brauchte man ja gar nichts mehr zu sagen, der konnte ja nicht mal reden, Trottel allesamt, überhaupt alle, die da und die da... ja, und was wollte sie eigentlich, hatte sie denen irgendwas getan, nein, natürlich nicht, was redete, äh, dachte sie denn wieder, und überhaupt - "Entschuldigung," sagte Sive. "Wie?!" Soviel Entgeisterung, Unglaube und Verwirrung schwangen in diesem einen Wort mit, dass sie sich zu näheren Erklärungen berufen fühlte. "Entschuldigung," wiederholte Sive, als spräche sie mit einem begriffsstutzigen Kind, das einfach nicht begreifen wollte. Oder konnte. "Mein Benehmen vorhin war mies und ungerecht. Auch wenn ich keine Lust hatte, mit euch zu gehen, hätte ich nicht sagen dürfen, dass ihr das Letzte vom Letzten seid. Es tut mir leid." Sie sah erst God, dann Snake und Nerd an, wobei letzterer den Blick überraschenderweise sogar mal erwiderte. Mehrere Sekunden vergingen so, dann verzog God das Gesicht und schüttelte unwillig den Kopf, wieder und wieder. Er setzte zu einer Antwort an, doch aus irgendeinem Grund schien ihm nicht die geringste Entgegnung einzufallen. Wahrscheinlich hatte es noch nie jemand für nötig gehalten, sich bei ihm zu entschuldigen. Meistens war nun einmal er derjenige, der sich zu entschuldigen hatte und darum wusste er jetzt offenbar einfach nicht, wie er reagieren sollte. Snake kannte dieses Problem nicht, auch wenn seine Anwort etwas schüchtern klang: "Danke," sagte der schlaksige Junge in seiner einfachen Art, und damit war der Bann gebrochen. Sive nahm Platz auf dem hohlen Baumstamm, direkt neben Nerd, der ein wenig beiseite rückte, damit sie sich setzen konnte. Für diesen Abend war sie die Vierte in der Größenleiter. Das Schweigen blieb. Aber es war längst nicht mehr so unangenehm. Als Manua etwas später zurückkehrte, sah sie die Vier in friedlicher Eintracht sitzen und sie erwarten. Nachdem Nerd und Snake bereits aufgestanden waren, spürte Sive, wie jemand ihr die Hand auf die Schulter legte. "Komm, Sive," sagte God, und sie war ehrlich erstaunt, dass er ihren Namen kannte, "gehen wir." Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 5: XIII. Du brauchst nicht lächeln * XIV. Danke in der Dunkelheit * XV. Überfällige Formalitäten -------------------------------------------------------------------------------------------------------- Na ja... der Knoten schürzt sich... die meisten wissen's wahrscheinlich schon... ~~~ XIII. DU BRAUCHST NICHT LÄCHELN * XIV. DANKE IN DER DUNKELHEIT * XV. ÜBERFÄLLIGE FORMALITÄTEN XIII. Du brauchst nicht lächeln Der Raum war groß und fensterlos. Die rauh verputzten Wände, die an der Tür fast dreißig Zentimeter dick waren, deuteten darauf hin, dass er im Keller lag. Unter anderen Umständen hätte er wohl ungemütlich und trostlos gewirkt. Doch nun, da auf der Holzkiste in der Mitte eine Öllampe brannte, die unansehnliche Wand samt und sonders von Gepäckstücken aller Art verdeckt wurde und die vielen verschiedenen Stimmen der Pfadfinder auf den Flur schallten, machte er tatsächlich einen wohnlichen Eindruck. "Hab ich dich - oooh!" Wie schon erwähnt stapelte sich an der Wand und vor der Tür das Gepäck, und über einen dieser Rucksäcke war Timid soeben gestolpert. "Fang mich doch!" rief sein Bruder feixend. "Und ob!" Timid rappelte sich auf und jagte Blunder durch die offene Tür. "He!" President, der gerade mit zwei weiteren Rucksäcken beladen den Raum betrat, hatte den Zwillingen nicht ausweichen können und war fast von ihnen umgeworfen worden. "Ups - Tschuldigung!" hallte es noch aus dem Kellergang, indem die zwei schon längst verschwunden waren. "Hmpf. Immer ich." brummte President in seinen nicht vorhandenen Bart und betrat den Raum, in es sich die anderen bereits gemütlich gemacht hatten. "So, das wären die letzten Sachen." Steif setzte er sich. "Wäre es nicht langsam Zeit, dass die Kleinen schlafen gingen?" "Ach, lass sie doch." erwiderte Boss locker. "Sie müssen sich doch auch mal austoben." "Aber es ist bestimmt schon zehn Uhr," gab President zu bedenken, und Princess pflichtete ihm bei: "Ja, sie müssten wirklich langsam ins Bett. Schließlich war es ein harter Tag." "Na und? Woher willst du wissen, dass sie auf Noah überhaupt so etwas wie eine Uhr haben?" warf Tiger ein, an President gewandt. Seufzend gab dieser sich geschlagen, lehnte den Kopf an die Wand und versuchte wieder einmal krampfhaft, sich einfach nur zu entspannen. "Na Liam, wie war der Weg?" erkundigte sich Sheerla, die mit dem Angesprochenen einige Meter entfernt an der Wand hockte. Liam, die Hände im Schoß, reagierte nicht. "He, Liam! Ich hab dich gefragt, wie der Weg war!" "Wie - oh - ganz gut." entgegnete Liam zerstreut. Er fuhr sich durchs Haar und blinzelte. "Sheerla..." "Ja?" Neugierig beugte sie sich vor. "Was ist?" "Weißt du, wo Neesan ist?" Eindringlich sah er sie an. "Hm. Nö, keine Ahnung." Sie stützte den Kopf in die Hände. "Vorhin war er kurz da, aber dann ist er verschwunden." "Oh." Liam sah zu Boden. Neesans Blick, kurz bevor er losgegangen war, ging ihm nicht aus dem Kopf. "Er hat seltsam gewirkt, weißt du." "Ja. Ich glaub, ich weiß, was du meinst. Aber weißt du," - jetzt lächelte Sheerla - "manchmal ist er einfach so. Du musst ihn nur in Ruhe lassen. Wenn er dann wiederkommt, ist er meistens ganz der Alte." Beruhigend nickte sie Liam zu. "Ja... aber..." "Nichts aber! Es war bisher immer so!" Sheerla grinste und klopfte Liam auf den Rücken, dass ihm die Luft wegblieb. "Mach dir keinen Kopf! Du kannst nichts dafür!" Jetzt horchte Liam auf. "Hat er das gesagt?" fragte er, schärfer als beabsichtigt. Sheerla grinste noch immer. Aber sie war eine schlechte Lügnerin. Energisch schüttelte sie den Kopf. "Nein, hat er nicht." "Du brauchst mich nicht pausenlos anlächeln, Sheerla. Das nervt verdammt. Ich glaub dir auch so, wenn du mir jetzt nur genau sagst, was los war." Wie auf Kommando verschwand das Lächeln und machte Sheerlas üblicher Miene Platz. "Und ich dachte, ich wär' direkt." Sie stieß die Luft aus. "Liam, lass ihn einfach. Er hat mir erzählt - er war traurig, ja. Aber du hast nichts damit zu tun." "Was soll das heißen? Sheerla -" Sie schnitt ihm das Wort ab. "Nichts da! Hör mal," fuhr Sheerla fort, "all das ist Neesans Problem und das kann nur er allein lösen. Er tut mir leid, wirklich leid, und ich hab's auch schon versucht, aber - es bringt nichts. Ich mache es nur schlimmer. Wenn er nicht lernt, allein klarzukommen und damit fertig zu werden, wird er nie selbständig. Und das vergrößert seinen Kummer noch." "Du meinst," warf Liam ein, "dass er nicht selbständig genug ist?" Widerstrebend nickte Sheerla. "Ja. Nicht selbständig genug und nicht selbstbewusst genug. Und er leidet darunter. Aber hör mal - wenn ich ihm helfe, bevormunde ich ihn doch nur noch mehr, oder?" Liam schwieg, weil er nachdachte. Sheerla dagegen fasste sein Schweigen als Zweifeln auf. "Hör mal - ich weiß, wofür ihr mich haltet! Ich bin unsensibel und rücksichtslos. Weil ich keine Probleme kenne, glaube ich, die anderen hätten auch keine. Und wenn sie sie haben - ich ziehe es vor, sie zu übersehen, wie ich meine eigenen übersehe. Ja? So ist es doch, oder?" meinte sie hitzig. "Hoppla-jetzt-komm-ich, das Mädchen, das vor Wut Türen eintritt und ihren kleinen Bruder überallhin mitschleppt - nein, Zwillingsbruder, siehst du, jetzt ist es mir schon wieder rausgerutscht. Hat nur blöde Witze auf Lager und glaubt an Nutellabäume. Ein Mädchen wie ein Fels. Verunsichert und verletzt die Leute, wo sie geht und steht. So sorglos, dass man sie erwürgen könnte. Stimmt's? Genau so ist es doch, oder? Und..." Liam schlug ihr ins Gesicht. "Was redest du?" meinte er laut und grob. "Bist du bescheuert?" Schnell senkte er die Stimme, die anderen guckten schon. "Du bist ein Mensch wie jeder andere, Sheerla. Erzähl keinen Mist. Ich werde jetzt nach Neesan sehen. Ich habe irgendwas falsch gemacht, streite es ab, wenn du willst, aber ich will von ihm wissen, was los ist, verstanden?" Fassungslos starrte Sheerla ihn an. Der Abdruck von Liams Hand leuchtete noch immer rot auf ihrer Wange. "Wa... was sollte das?!" krächzte sie, und Liam zuckte zurück, ebenso verblüfft. "Weißt du, was du eben getan hast? Du, Liam, der freundliche Liam? Entschuldige mal, ich hab dir doch nichts getan... und..." Liam ließ den Kopf sinken. "Nein. Nein. Tut mir leid, Sheerla. Ich bin... einfach nur müde. Da werd' ich manchmal heftiger, als ich eigentlich wollte. Bitte - entschuldige... Ich weiß selber nicht, warum - mir... mir ist einfach die Hand ausgerutscht... normal mach' ich das nicht - es tut mir leid..." Er sah auf seine Hände, dann auf Sheerla, verwirrt, bestürzt, beschämt, aber eines ganz sicher nicht: Zornig. Sheerla atmete tief durch. "Das ist schon besser. Und jetzt geh." "Was?" "Zu Neesan. Das wolltest du doch, oder?" "Ja. Ja, du hast recht." Taumelnd erhob sich Liam, eine Hand an die Wand gestützt. Er sah wirklich ziemlich mitgenommen aus. "Hallo," erklang da plötzlich eine Stimme. Liam hob zögernd den Kopf. Sie hatte sich so verändert angehört, aber im Moment brachte er einfach nicht die Kraft auf, zu fragen, warum. Er hatte nicht gelogen, auf einmal fühlte er sich furchtbar müde. Weniger körperlich, nein, eher... geistig... psychisch erschöpft. "SEIFE!" rief Sheerla da, sprang auf und fiel ihr um den Hals - auch ein höchst bemerkenswerter Ausbruch ihrerseits. "Nenn - mich - nicht - so." schnarrte die Erwähnte mit verkniffener Miene. "Ja, Seife. Komm, setz dich. Jetzt sind wohl alle da, hm, Letzte?" Hinter Sive betraten gerade God, Nerd und Snake den Raum. "Ja, ja." brummte Sive. Willig ließ sie sich von Sheerla zu ihrem Platz geleiten. "Ich bin die Letzte, und ich bin jetzt da." "Hallo, Sive. Da bist du ja." Liams Stimme klang matt. Er rieb sich die Augen, sie brannten. "Ich geh dann mal." teilte er den Mädchen mit. "Wohin?" fragte Sive. Sheerla nahm ihm die Antwort aus dem Mund. "Neesan suchen." erklärte sie. "Aha. Mann, bin ich müde. Passt auf euch auf, ja?" Sie drehte sich zur Seite, rollte sich zusammen wie ein Igelchen - und war eingeschlafen. XIV. Danke in der Dunkelheit Es war seltsam, so hier im Dunkeln zu sitzen. Das Licht der Öllampe, die von einer Holzkiste die Mitte eines Raumes erleuchtete, war längst seinen Blicken entschwunden. Er sah absolut nichts, er fühlte bloß: Die rauhe Wand an seinem Rücken, seine nackten Knie in der kurzen Hose. Sein Haar, das ihn kitzelte. Hier waren nur Neesan und die Dunkelheit, mehr nicht. Eine fremde Welt. Hin und wieder hörte er die Stimmen der anderen von fern, mal lauter, mal leiser. Manchmal weckten sie in ihm dem Wunsch, sich ihnen anzuschließen, dazu zugehören, und oft war es geschehen, dass er beinahe aufgestanden wäre, diesem Wunsch zu entsprechen. Doch gleichzeitig ließ ihn diese Sehnsucht wieder das Bedürfnis spüren, einfach nur hier zu sitzen, ganz allein, sich in seine eigene samtige Dunkelheit zu hüllen und Augen und Ohren vor der Welt zu verschließen. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Vermutlich war es eine Mischung verschiedener Gründe, die ihn immer wieder dazu bewog. Heimweh. Sehnsucht nach seiner Welt, seiner Mama, seinem Papa, seinem Zuhause. Enttäuschung: Die grundlose Enttäuschung, die er gespürt hatte, als ihm blitzartig klar geworden war, wie wenig er doch ein Freund für Liam sein konnte. Und... Scham. Er schämte sich, so schwach zu sein. Immer, schon immer war er nur derjenige gewesen, auf den man hatte aufpassen müssen. Das Anhängsel, das man bei der Hand nehmen musste, damit man es nicht verlor. Und nach und nach war das den anderen immer lästiger geworden, und sie hatten weniger und weniger mit ihm zu tun haben wollen. Bei Sheerla war das anders gewesen. Sie mochten alle. Nicht die beste Schülerin, aber immer selbstbewusst und humorvoll, hatte sie besonders unter den Jungen viele Freunde. Wie nun auch Liam, der genauso war wie sie, vertrauenerweckend und stets geduldig und freundlich. Nur nicht Neesan. Neesan, der kleine, hilflose Neesan, der sich im Dunkeln verkroch, weil er nicht fähig war, es mit der Welt aufzunehmen. "Verdammt nochmal!" Seine Stimme zerriss die Taubheit. Aber nur für einen kurzen Moment, dann umgab ihn wieder die Stille, noch erdrückender als zuvor. Neesan vergrub das Gesicht in den Händen. Er konnte sich genau vorstellen, was sie jetzt von ihm dachten. Bestimmt belächelten sie ihn, Feigling der er war, lachten über ihn oder schüttelten die Köpfe. Vielleicht verspotteten sie ihn sogar, wie diese Jungen aus seiner Klasse. Sheerla hatte ihn zwar schon immer verteidigt, wenn andere Kinder ihn geärgert hatten, aber auch sie war nicht immer da gewesen, und so hatte Neesan oft, in einer Ecke stehend, Worte und Gelächter hören müssen, die ihm die Röte in Gesicht trieben. Warum? Vor Wut? Vor Scham? Diese Typen konnten alles sagen, was sie wollten, denn Neesan würde es niemals fertig bringen, ihnen ihre Worte auszutreiben oder sie wenigstens einfach wegzustecken, ohne seine Verletztheit zu zeigen. Dazu brauchte es weit mehr als er besaß. Nur eines taten sie nicht, und versuchten es nicht einmal, weil es ihnen gleichgültig war: Ihn verstehen. Wie auch? Das schaffte ja nicht einmal er selbst, so fern von Logik war sein Verhalten, wie konnte er da erwarten, dass die anderen es taten? Doch es schmerzte ihn, hatte er doch insgeheim gehofft, hier, in dieser anderen Welt, die Chance für einen Neuanfang zu haben. Von den anderen kannte ihn keiner, jedenfalls nicht näher, und sie hatten noch nicht gewusst, was für ein Schwächling er war. Darum war Neesan verzweifelt bemüht gewesen, es sie gar nicht erst merken zu lassen. Zum Beispiel die Szene am Birnenbaum, als Sive und Sheerla sich so in die Haare gekriegt hatten und er sie angeschrien hatte. Im nachhinein erschien ihm sein Verhalten bloß lächerlich. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Mädchen genauso dachten. Während Neesan seinen Gedanken nachgehangen war, hatte er gleichzeitig immer lauter das Geräusch sich nähernder Schritte vernommen. Er zuckte leicht zusammen, so übergangslos schienen sie ihm diese nachtschwarze Stille zu betreten, doch je durchdringender sie wurden, desto mehr gewöhnte sich sein Gehör daran und stattdessen begann er, sich zu fragen, zu wem sie wohl gehören mochten. Ein Teil von ihm wollte schnell aufzustehen und davoneilen, tiefer in das Dunkel hinein, aber erstens konnte man sich in diesem Kellerlabyrinth sehr leicht verirren, und zweitens würde die sich nähernde Person - wer immer es auch war - im Gegenzug auch seine Schritte hören und ihm möglicherweise folgen. Noch ehe er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, hörte das Geräusch auf und Neesan spürte, wie jemand vor ihm stehenblieb. "Neesan?" fragte eine unsichere Stimme. Diese Dunkelheit war wirklich nicht schön. "Bist du das?" Eine Hand tastete vorsichtig auf seinem Kopf herum. Er schwieg, überrascht und verlegen. Aus irgendeinem Grund wollte er den Mund nicht aufmachen, es war so schwer, die Worte abzuwägen. Und wie seine Stimme sich wohl anhören würde? Verzweifelt und zornig wie sein Fluchen vor ein paar - Minuten? Oder schüchtern und ängstlich, vielleicht sogar entschuldigend, wie sonst so oft? Der Herumtaster hatte offenbar ein gutes Gedächtnis für Haarschnitte, denn er meinte bestätigend: "Neesan." Neesan nickte erleichtert, völlig vergessend, dass der andere das ohnehin nicht sehen konnte. Ein Schaben von Stoff an Stein erklang, ein Geräusch von scharrenden Füßen. Der andere hatte sich neben ihn gesetzt. Und jetzt klang Neesan doch wieder scheu, als er fragte: "Wer bist du?" "Erkennst du meine Stimme nicht?" Neesan nickte zum zweiten Mal, überflüssigerweise. Es war ja doch zu dunkel. Sie schwiegen beide, Neesan und er, und es war unmöglich, die Zeit einzuschätzen, die sie bloß da saßen und darauf warteten, dass der andere etwas sagte. Und taten sie das überhaupt? Liam war sich nicht sicher. Vielleicht wollte Neesan wirklich nur alleine sein und er störte ihn bloß. Vielleicht schwieg er aus diesem Grund, weil er nicht mit ihm reden wollte. Vielleicht sollte er wieder gehen. Aber Liam, der wusste, dass Menschen immer etwas Zeit brauchen, blieb und erfuhr in diesen Minuten all die Sinneseindrücke, die Neesan zuvor ebenfalls wahrgenommen hatte: Dunkelheit, Stimmen, Stille. Und schließlich, er hatte sich nicht geirrt: Die Wiederaufnahme eines Gesprächs, das noch gar nicht begonnen hatte. "Liam?" "Hm?" Aus reiner Gewohnheit wandte er den Kopf und blickte Neesan direkt ins Gesicht - oder dahin, wo er es vermutete. "Du... du hältst mich für blöd, was?" Liam schwieg eine Weile. "Nein. Alles, nur das nicht, Neesan." sagte er dann. "A... aber bestimmt für komisch, weil... weil ich mich einfach verstecke... oder?" "Nein." Liam stützte den Kopf in die Hände. "Ich verstehe das sehr gut. Und es ist bestimmt nicht die abwegigste Möglichkeit, mit Kummer fertig zu werden." Auf jeden Fall besser, als unschuldigen Mitmenschen eine zu scheuern, nur weil sie den Fehler begangen haben, mit dir zu sprechen, fügte er in Gedanken hinzu. "Das... ist sehr nett von dir. Dass du das findest, meine ich." Liam antwortete nicht. Er gab Neesan die Zeit, die er brauchte, um sich zu sammeln. "Was hat Sheerla gesagt?" fragte der Junge übergangslos. "Sheerla meinte, ich sollte dich in Ruhe lassen. Weil du allein damit klarkommen musst und sie dir nicht helfen kann. Und ich auch nicht." "A... ach so." Neesan wandte das Gesicht ab. "Warum bist du trotzdem gekommen?" "Weil ich ein Trottel bin, der sich für den heiligen Samariter hält," lag es ihm auf der Zunge, aber er schluckte es hinunter, um es sich selbst bei Gelegenheit an den Kopf zu schleudern. Neesan hatte das nicht verdient. "Weil... ich es falsch finde, Neesan. Weil ich glaube, dass wir Freunde sind. Und Freunde sollte man nicht allein lassen, nicht einmal dann, wenn sie meinen, dass sie es verdient hätten. Ich will dich nicht mit meinem Gerede belästigen oder so, und du brachst mir auch nichts erzählen, wenn du nicht willst, aber ich möchte mit dir hier sitzen. Ich... ich kann das auch ganz gut gebrauchen, glaube ich." "Was? Was ist denn, Liam? Bist du traurig?" fragte Neesan bestürzt. Er schämte sich - wieder einmal. Natürlich war er nicht der Einzige, der Probleme hatte. Obwohl - Liam? Liam in seiner offenen Freundlichkeit, Liam, der zu ihm sagte: ?Weil ich glaube, dass wir Freunde sind'? So glücklich machten ihn diese Worte auf einmal, dass sie ihm in purer Ausgelassenheit im Kopf herum hüpften. Und auch Liam musste plötzlich lächeln, ob er wollte oder nicht. "Ich... nein, nicht wirklich. Nur etwas ausgelaugt. Aber danke, dass du fragst. Warum bist du weggegangen, Neesan?" Neesan schluckte. "Weil... weil ich... ich weiß nicht. Ich... war eifersüchtig, Liam, glaub ich. Aber jetzt merk' ich, wie blöd das war... verzeih mir." "Wegen Sive?" fragte Liam. Er hatte es also bemerkt. "Ja... nein. Nein, ich glaube, nicht mal deshalb. Ich war schon vorher irgendwie schlecht drauf." "Aber warum?" Neesan reckte das Kinn. Plötzlich klang seine Stimme neu und da war er wieder, der Verdammt-Nochmal-Neesan: "Wegen Sheerla! Ich hab gehört, was sie zu Tiger gesagt hat, bevor wir aufgebrochen sind! ?Bitte pass auf Neesan auf, während ich weg bin'! Auf Neesan, den kleinen Trottel, den man nicht allein lassen kann! Wofür hält sie sich?!" Er holte tief Luft, versuchte, sich zu beruhigen - was würde Liam denken - vergeblich: "Ich bin verdammt nochmal, verdammt, verdammt, verdammt nochmal kein Baby!! Was denkt sie, wer sie ist - und noch mehr: Wer ich bin?! Wofür haltet ihr mich?!" Liam hörte zu, er wollte Neesan nicht unterbrechen, er wollte genau wissen, was sein Freund zu sagen hatte. "Ich weiß, dass ich dankbar sein müsste für so eine Schwester, die sich Sorgen um mich macht und mir hilft, nein wie rührend! Ich weiß, dass sie es nicht böse meint, sondern lieb, sehr, sehr lieb! Aber sie übertreibt es! Ich bin kein Idiot, trotzdem bringt sie mich dazu, dass ich mir so vorkomme! Und dann benehme ich mich so wie gestern am Birnenbaum, schreie euch alle zusammen wegen nichts und wieder nichts! 'Er muss allein damit klarkommen'! Oh, wie sozial. Ich komme auch allein damit klar, sehr gut sogar, besser als Miss McPherson denkt - aber Liam, wie soll ich mit IHR klarkommen?!" Und dann plötzlich klang Neesan wieder zweifelnd, ängstlich, zögernd: "Und... wie soll ich mit mir klarkommen?" "Du... du hältst mich wirklich nicht für blöd?" Langsam schüttelte sein Gegenüber den Kopf. "Nein," sagte er und die Art, wie er das sagte, genügte Neesan. "Neesan - du bist kein Trottel. Oder, sagen wir es mal so: Wir alle sind Trottel. Schau mich an. Eben habe ich Sheerla eine gescheuert, ohne jeden Grund. Was glaubst du, wofür sie MICH jetzt hält? Und Sive. Du weißt es vielleicht nicht, aber als sie weggelaufen war, hat sie geheult wie... ja, wie sie es eben tut, und das öfter, als du denkst, das kann ich dir sagen. Und jetzt sind wir hier, wir vier, irgendwo weit weg von der Erde, und wissen nicht, wie und ob wir je wieder nach Hause kommen. Ist das etwa kein Grund zum Heulen? Zum Schreien? Zum Schweigen?" Neesan wusste nicht, was er sagen sollte. Also nickte er nur stumm ins Dunkel hinein. Liam legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich warm an. "Du bist kein Trottel und auch kein Schwächling, du bist Neesan und du kannst tun - und ich glaube, das tust du auch - was du kannst. Oder?" "Wenn DU das glaubst, Liam... dann glaub ich, hast du recht..." "Ja, ich glaube es. Aber das ist es nicht, was zählt! Du zählst. Sag du es dir und glaub daran. Ich helfe dir, und Sheerla auch. Sogar Sive. Und merk dir - keiner, auch keiner von uns wird dich zu etwas machen, was du nicht sein willst. Lass es nicht zu. Sag etwas." "Ja... das werde ich tun. Vielen Dank, Liam..." Neesan lachte, leise, schüchtern. "NEESAN!" erhob sich da Liams Stimme, dass ihm das Lachen im Halse stecken blieb, "Bedank dich bei DIR!" Neesan kicherte noch heftiger. "Was?" "Nichts... du klingst wie Sheerla!" "Sheerla, wie? Ärger' ich dich?" "Nein... nein.... wirklich nicht," Unerwartet hörte er auf zu lachen. "Wirklich nicht..." wiederholte er staunend, "Wirklich nicht..." "Wirklich nicht!" fiel Liam ein, jetzt selbst ganz aufgedreht, "Los, Neesan, bedank dich bei dir!" "Sicher? Das ist...." "BEDANK DICH!" "Äh... Danke, Neesan..." "Lauter!" "Danke, Neesan!" "Laut-" Das Trappeln mehrerer Füße ließ Liam verstummen. Noch mehr Gekicher, Mädchenstimmen. Und Gebrüll, das nur von einer stammen konnte: "Heeey! Wo seid ihr?" "Müde!" antwortete Sive ziemlich transusig. Das Igelchen schlief nicht mehr, aber noch immer hing es matt an Sheerlas Arm. "Wo seid ihr, hab ich gefragt, nicht wie! SEIFE!" "Kopfkissen!" entgegnete Sive, ohne in ihrem von Wunschdenken vernebelten Gehirn zu merken, dass diese beiden Begriffe irgendwie keinen Zusammenhang hatten. "Das sind die Mädchen!" rief Neesan überflüssigerweise. "Jaaa!" johlte Sheerla. "Wir sind's!" "Bettdecke!" fügte Sive hinzu. "Und Kuscheltier!" "TROTTEL!" brüllte Sheerla ihr ins Ohr, "Mein Trottelchen!!" "Und jetzt du!" verlangte Neesan, an Liam gewandt. "Muss das sein?" "Ja!" "Ok." Liam setzte sich gerade. "Danke, Liam," sagte er ganz ernsthaft. Sheerla kam dazu, Sive noch immer hinter sich her schleppend. "Was ist? Führt ihr jetzt Selbstgespräche?" "Danke, Sheerla." riefen die Jungen statt einer Antwort laut im Chor. "Bitte." erwiderte Sheerla verwirrt. "Gern geschehen," antwortete Neesan. Er strahlte seine Schwester an, und er meinte, was er sagte. Sheerla sah sich vorsichtig um, was nicht viel brachte, es war ja dunkel. Befremdet schüttelte sie den Kopf. "Es muss die Luft sein... he, Seife, hör dir mal die zwei an..." "Bin keine Seife." maunzte Sive. Diese Dunkelheit war zum Schlafen schön... "Danke, Sive." "Hö?" "Ach, vergiss es..." "Jaaaaa..." XV. Überfällige Formalitäten "...Trag mich." "Was? Aber..." "Trag mich..." Nur ein verhaltenes Schlurfen sowie das Geräusch leiser Schritte begleiteten diesen aufschlussreichen Wortwechsel in der Dunkelheit des Kellers von Manuas Haus. Sive, das Igelchen, taumelte irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein mit Neesan den schmalen Gang entlang, und nur eine absolut nicht extravagante Voraussetzung fehlte ihr noch zu vollkommener Glückseligkeit: "Neesan, trag mich." Einen Augenblick herrschte Stille, dann erklang ein Laut, der einem resignierten Seufzer nicht unähnlich war und Sives zufriedenes Schnaufen: "So is' fein..." Darauf bedacht, möglichst schnell wieder ihr Quartier zu erreichen und seine Last ablegen zu können, beschleunigte der bemitleidenswerte Neesan seine Schritte. Hinter Neesan, dem Jungen, der Fluchen gelernt hatte, schlenderten Sheerla und Liam längst nicht so eilig dahin. Sheerla, seit sie losgegangen waren in Gedanken versunken, brach das Schweigen, indem sie Liam anstupste und meinte: "Du hast echt Talent, weißt du das eigentlich?" "Hm?" Liam lächelte, seit ein paar Minuten schien ihm alle Anspannung verschwunden zu sein, und er spürte fast körperlich, wie er wieder freier atmen konnte. "Wie meinst du das, Sheerla?" "Das fragst du noch! Ich glaub es einfach nicht! Du wunderst dich alle Ernstes, wovon ich spreche! Woher in drei Teufels Namen nimmst du diese Fähigkeit?" Lachend hakte Sheerla ihn unter. Fragend sah Liam sie an. "Nein, wirklich. Was meinst du? Neesan?" "Neesan! Neesan! Natürlich! Neesan, Sive, uns alle. Du hast einfach Talent!" Verlegen lachte nun auch Liam. "Sheerla... so würde ich das nicht bezeichnen." "Aber ich, Mr. Dr. Liam Frank, der Arzt dem die Frauen vertrauen! Du kannst mit Menschen umgehen." Mit Blick in das Dunkel vor ihnen senkte sie die Stimme: "Du hast meinen Bruder zum Lachen gebracht, als es ihm am allerdreckigsten ging. Das hab ich niemals fertig gebracht, noch nie in unser beider Leben." Liam schwieg. Er dachte an das, was Neesan ihm gesagt hatte. "Er hat nie darüber gesprochen. Ich habe dich nicht angelogen, Liam. Ihn in Ruhe zu lassen war immer das einzige, was ich tun konnte." Sheerla sah zu Boden. "Ich weiß, dass das Problem nicht nur bei ihm liegt. Ich bin nicht gerade die Sensibelste. Aber ich will ihn doch gar nicht beiseite drängen! Ich... ich hab ihn doch lieb, weißt du... es ist nur so verflixt schwierig, immer das Richtige zu tun. Wie schaffst du das?" Statt einer Anwort fragte Liam zynisch: "Brennt deine Backe noch?" Erst jetzt ging Sheerla auf, was sie eben gesagt hatte. Sie schüttelte den Kopf, dass ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht wirbelten. "Oh nein, schon klar. Hast ja recht. Was rede ich. Schon wieder Mist, wie immer. Du machst auch nicht alles richtig." Sheerla legte eine kleine Pause ein, um dann um so entschlossener fortzufahren: "Also, wie auch immer, Dr. Liam Frank, was ich eigentlich sagen wollte, war: Bild' dir jetzt bloß nichts darauf ein oder erwarte, dass ich jetzt ebenfalls mit meinem Ballast daherkomme, klar?!" Liam begann zu grinsen, als Sheerla immer empörter weiter sprach: "Ich bin schließlich keine Jammerliese! Erwarte also nicht, dass ich dir jetzt, weil die Gelegenheit gerade günstig ist, meine misslungene Frühjahrsdiät offenbare, oder dich in die Geheimnisse meiner unglücklichen, weil unerwiderten Liebe zu Tom Breakthedoor einweihe!" "Bloß nicht," stöhnte ihr Freund und hielt sich den Kopf, der noch immer leicht brummte, "Untersteh' dich, Sheerla Croft!" Sheerla nickte zufrieden - und stutzte. Da war doch was: "Wer ist das?" erkundigte sie sich lauernd. "Diese Croft?" "Du kennst Lara Croft nicht?" Sheerla zog die Augenbrauen hoch. "Wer in Herrgotts Namen soll das sein? Aber irgend etwas Ungutes sagt mir, dass du mich gefälligst nicht mit ihr vergleichen sollst, klar?" "Du kennst sie wirklich nicht? Die aus dem Computerspiel?" "Computerspiel? Ich? Nein! Klar?" Schmunzelnd dachte Liam an die Nutellabäume und nickte schnell. "Klar?" wiederholte Sheerla streng, da sie ihn ja nicht sehen konnte. "Alles klar." meinte Liam folgsam. Alles. Für heute, dachte er und - Lächelte. Aber er sollte sich irren. Diese Nacht würde noch lang werden. Im Keller herrschte Erwartung, das spürte man, und als die vier Kinder den Raum betraten, teilte ihnen auch Timid gleich folgende Neuigkeit mit: "He, ihr! Eben war Manua da! Ihr kommt gerade rechtzeitig, gleich gibt's was zu essen!" Zufrieden rieb er sich seinen Kinderbauch und ließ sich auf eine Tasche sinken. Es war wirklich schon spät, die genaue Uhrzeit kannten sie zwar nicht, aber der lange Marsch zu Manuas Haus hatte sie alle ermüdet, und jetzt etwas zu essen zu bekommen - ja, das wäre doch sehr erfreulich, eigentlich genau das Richtige, dachte Sheerla, während sie sich durch Gepäckberge schlängelte und ?ihrem' Platz an der Wand zustrebte. Im Grunde unterschied er sich in nichts von den Plätzen einige Meter links und rechts von ihm, aber es war eben ?ihr' Platz, den sie sich für die Dauer ihres Aufenthalts in diesem Keller erkoren hatte. Der Mensch braucht eine Heimat, und Sheerla bezog selbige zwischen Neesan und Sive und wandte huldvoll ihre weitere Aufmerksamkeit President zu, der sich nun erhob. "Also," meinte der sogenannte Anführer feierlich (seine Haltung erinnerte stark an die Weihnachtsansprache bei einer Betriebsfeier) und irgendwie stach im Kontrast zu seinen Worten seine Schlaksigkeit um so mehr hervor, "gleich gibt es Essen. Aber vorher geht ihr Hände waschen!" "Genau wie Papa, was, Neesan?" flüsterte Sheerla mit einem verschmitzten Grinsen auf dem Gesicht, während sie Anstalten machte, der Anweisung zu folgten. "M-hm." nickte Neesan, doch das Lächeln, das er Sheerla zeigen wollte, misslang, weil ihre Bemerkung ihm einen schmerzhaften Stich versetzte und ihn an Zuhause erinnerte. "He," brummte Sheerla und legte ihm die Hand auf die Schulter "mach dir doch keine Sorgen. Wir sehen Mama und Papa schon wieder." "Glaubst du wirklich daran?" fragte Neesan mit gemischten Gefühlen. "Bezweifelst du das?" kam die Gegenfrage. Herausfordernd sah Sheerla ihn an. Neesan kannte und liebte diesen Blick von seiner Schwester, und er war in dieser Form in den letzten Tagen doch ziemlich rar geworden. "Ja," erwiderte er zaghaft. "Nun, aber ich tu es! Ich glaube, was ich sage." "Dann ist es gut..." murmelte Neesan froh. "Danke, Sheerla." Gehorsam wandte sich die versammelte Kinderschar zur Tür, als aus ihrer Mitte ein zartes Stimmchen ertönte: "Du, President?" fragte Gatcha unschuldig. "Ja?" "Aber wo bitte sollen wir uns denn die Hände waschen? Hier unten ist doch nirgends ein Badezimmer!" Die Richtigkeit dieser Feststellung war ihnen dank Princess nur allzu bekannt. Einen Moment lang wirkte President perplex. "Wie? Äh... also... nun...", er druckste herum, "Gut, dann eben nicht. Lasst es. Lasst es einfach." Leicht beleidigt ging er zu seinem Rucksack, wo er ein rechteckiges Buch zutage förderte und demonstrativ darin zu lesen begann. "Was ist das?" fragte Sheerla Young Lady. "Unser Bordbuch. President ist der Buchführer." "Aha." Sheerla schüttelte den Kopf, sie konnte sich nicht vorstellen, wofür ein Pfadfinder-Marine-wasauchimmer-Club ein Bordbuch brauchte. Und noch weniger konnte sie nachvollziehen, wie ein Mensch selbiges als Zu-Bett-Geh-Lektüre nutzen konnte. "Ich hab Hunger... du, Princess, glaubst du, das Essen kommt bald?" quengelte Gatcha, gleich unterstützt von Timid und Blunder: "Ja, genau! Mein Bauch ist schon ganz hohl! Hörst du? *klopfklopf*" "Meiner auch!" "Schon gut," beschwichtigte Princess, "Gleich kommt Manua und bringt uns etwas." "Hoffentlich ist es gut," meldete sich Tank und rieb sich den nicht eben sparsam bestückten Bauch. "Ich bin gespannt, wie das Essen hier auf Noah schmeckt." "Ja, denn mit leerem Magen hat man nur Mist in der Birne!" gab Boss zum besten. [Hat er das nicht schon mal gesagt?] "Dann gibt es hier wohl gewisse Leute, die besonders lange gefastet haben..." lästerte jemand. Plötzlich erschien Presidents Kopf aus dem Bordbuch, in das er sich vergraben hatte. "Fast hätte ich's vergessen!" "Was denn?" fragte Tiger verständnislos. "Das Bordbuch!" "Ja und?" "Ich muss die Kinder doch noch ins Bordbuch eintragen!" Sheerla, Neesan, Sive und Liam blickten sich an. War das was Schlimmes? Geschäftig wandte sich President an die Vier. "Jetzt sagt mir mal eure vollen Namen, bitte!" "Warum?" warf Sive ihm an den Kopf. "Nun, immerhin seid ihr Mitglieder, solange ihr mit uns fahrt und diese Uniformen tragt." "Und warum?" bohrte das Mädchen weiter. "In diesem Bordbuch sind all unsere Club- und Mitgliederdaten sowie besondere Ereignisse verzeichnet." erklärte Doc. "Ja, und President als Buchführer schreibt alles auf!" Boss klopfte dem Fleißigen auf die Schulter. "Und ihr wollt unsere Daten?" fragte Liam. "Gut. Wer zuerst?" "Mach du ganz einfach, Liam." meinte Sheerla. Das waren ja bloß langweilige Formalitäten... "Dein Name?" fragte President ihn. "Liam Garrod." entgegnete Liam leichthin. "Liam Gar..." President unterbrach sich. "Seltsam..." Er starrte aufs Papier. "Bist du wirklich ganz sicher?" "Nein. Er heißt nur so." bemerkte Sheerla nicht ohne einen genervten Unterton, und vom verwirrten President ohnehin völlig überhört. Er sah in die Runde, wo der Geräuschpegel merklich niedriger geworden war. "Sag mal, Boss..." begann President. "Das ist ja ein Ding, Crybaby, wir haben den gleichen Nachnamen!" rief Boss. "Dass ihr Brüder seid, wissen wir auch." schnaubte God. "Idiot!" plädierte Tiger lakonisch. President schüttelte noch immer den Kopf. "Brian Garrod. Ja, da steht's. Und Jack Garrod...." Er runzelte die Stirn. "Seid ihr verwandt?" "Ja, wir sind Brüder." entgegnete Crybaby leicht erstaunt. Er hatte von dem vorangegangenen Dialog nicht allzu viel mitgehört. "Aber das wisst ihr doch." Liam schwieg in Gedanken versunken. Und auch die anderen verfolgten das Geschehen mit plötzlichem Interesse, Verwirrung und Neugierde zugleich. "Wir reden hier nicht davon, dass ihr Brüder seid, sondern von Liam und Boss." meinte Tiger energisch. "Soweit ich das verstanden habe, haben..." Doc schüttelte den Kopf. "...Liam und Boss den gleichen Nachnamen?!" ergänzte Tank. "Und Crybaby auch. Ja, aber wie das?" wunderte sich Young Lady. "Wie ist das möglich?" fragte Princess verwirrt. "Vielleicht ein Zufall. Vielleicht bin ich ja auch dein Urenkel, Liam!" Boss grinste ihn an, und dieses Grinsen wirkte sehr merkwürdig auf Liam. Es hatte irgend etwas mit einem Fußball zu tun, erinnerte er sich blitzartig. Ein Fußball - wie kam er denn jetzt darauf, er spielte doch gar nicht Fußball, nur... Und auf einmal wusste er es. Liam erstarrte, doch im allgemeinen Gelächter merkte das kaum jemand. Durch eine fahrige Geste versuchte er fieberhaft, Sive auf sich aufmerksam zu machen, ließ es dann aber, bevor diese reagieren konnte. Wie unter Zwang sah er sich im Raum um, sah in die Gesichter der Pfadfinder. Es schien Liam, als sei er blind gewesen. Noch vor einer Minute - von einem Moment auf den anderen verspürte er den unbezwingbaren Drang, laut aufzulachen. Es war aber auch zu komisch... Doch Unsicherheit lag nur eine Haaresbreite von dieser Belustigung entfernt. Lediglich die Verwirrung, die ihn, das wurde ihm auf einmal bewusst, beschäftigt hatte, seit sie die Pfadfinder das erste Mal trafen, war nun gänzlich beseitigt. Es war alles glasklar. Nur, es war gleichzeitig auch so absurd, dass niemand von ihnen je auf diesen Gedanken gekommen wäre, wenn nicht President nun... President fuhr fort, Liam brauchte gar nicht mehr hinzuhören. Er hatte erstmal genug zu denken. "Idiot." plädierte Tiger zum zweiten Mal. "Du konntest noch nie rechnen. Er kommt aus der Zukunft, und ist somit, auch wenn ich's nicht glauben könnte, würde ich es nicht sehen, deutlich jünger als du. Und daher..." President, fest entschlossen, alles zu verdrängen, unterbrach Tiger, indem er sich an Sive wandte: "Und du?" "Ich?" knurrte Sive voller Mißtrauen. "Ich bin klein, mein Herz ist rein." Sie schielte nach links und rechts und versteckte sich dann hinter Neesan, der erschrocken beiseite rückte, "Ein kleines Glück kommt nicht zurück!" "Sive, du bist bloß klein und gemein." äußerte sich Sheerla geistesabwesend. Gedankenverloren spielte sie mit den Knöpfen ihrer Uniform. "Irgendwas ist hier faul." meinte God. Er beugte sich vor. "Wie heißt du?" Sive wurde trotzig. "Das sag ich dir ganz sicher nicht!" "Jetzt sag schon," drängte Tiger, auf einmal ebenfalls von brodelnder Anspannung gepackt. Das Mädchen presste die Lippen aufeinander. Sie wollte ihren Namen nicht sagen, denn sie hatte das ungute Gefühl, dass er, sollte sie ihn preisgeben, einer Reihe unguter Phänomene ausgesetzt sein würde, die sie lieber vermeiden wollte. "Jetzt sag verdammt nochmal, wie du heißt!" fuhr God sie an. Er wirkte beinahe nervös. "Ich sagte doch: Dir ganz sicher nicht!" grollte Sive. "Bäh!" "Sag doch." bat Young Lady. Sive sagte: "Nein." "Ja, sag es." Sive sagte: "Nein." "Komm schon, sag!" riefen Timid und Blunder. Sive sagte: "Nein." "Genau! Wie heißt ihr?" Sive sagte: "Nein." Jemand fragte: "Nein?" Sive hatte noch mehr zu sagen: "Nein! Ich heiße nicht nein, ich heiße Sive Charteris! - Ups..." Sie fuhr zusammen und blickte wie magnetisiert President an, der gleich einem Urteilsvollstrecker den Kopf über das Bordbuch beugte. Und sie war bei weitem nicht die Einzige. "Sive... Char...te...ris..." schrieb President und trotz aller Konzentration schien seine Hand sich im Schneckentempo zu bewegen, beinahe rutschte ihm der Stift aus den schwitzenden Fingern, "oh... das ist aber ein..." Seine Augen huschten fort von dem Buch, zeitlupenartig durch den Raum, blieben an den Kindern hängen. Wieder senkte sich die Geräuschkulisse um einige Dezibel, bis endlich alle soweit mitbekommen hatten, dass der soeben stattfindende Vorgang etwas mehr als eine überflüssige Formalität sein musste. Eher... eine überfällige Formalität, eine längst überfällige Formalität. Das Schweigen wurde fast greifbar, und es hatte etwas Sonderbares, eine Mischung aus Spannung und Belustigung, es war aber auch gleichzeitig sehr unangenehm, schwer und nervenaufreibend. Es schien die Anwesenden einerseits in seinen Bann zu ziehen als auch dazu bewegen zu wollen, sich ihm zu entziehen, unschlüssig, aber dennoch nicht gänzlich ahnungslos, was folgen mochte. Wer dieses Schweigen brach, musste schon ziemlich mutig sein... oder extrem kurzsichtig aka Blindschleiche: "Hey, God, das ist aber ein Zufall! Kommt aus der Zukunft und hat den gleichen Nachnamen wie du!" Zum Lachen kam Snake nicht mehr, weil ihn sämtliche Anwesenden mit Nadelblicken durchbohrten. Und God unterließ überraschenderweise sämtliche Kopfnüsse, sondern fauchte nur warnend: "Na und? Hast du was dagegen?" Er funkelte Snake an, es war weniger ein wütender als vielmehr ein Halt-bloß-die-Klappe,-ja-Blick, und der verwirrte Snake wurde plötzlich sehr still. "Das ist wirklich seltsam." meinte Tiger langsam. "Was sagt ihr dazu, Leute?" Sie sah in die Runde. "Also, wenn ich recht verstehe...", begann Boss, "dann haben Liam und ich und Sive und God die gleichen Nachnamen. Und sie kommen aus der Zukunft... Das müsste ja bedeuten..." Boss' Augen weiteten sich. "...dass ihr irgendwie verwandt seid?!" staunte Tank. "Leute, wir haben echt eine besondere Portion Schicksal abgekriegt!" "Ja, erst landen wir in einer anderen Welt und dann treffen wir da auch noch Kinder aus der Zukunft!" lachte ungläubig Princess. "Also, mich würde jetzt nur noch interessieren, wie..." murmelte Crybaby nachdenklich, "ich meine - wir haben noch nicht alle..." "Ja!" rief Gatcha aufgeregt, "Die beiden anderen!" "Wisst ihr was," schlug da President mit heiter zitternder Stimme vor, "wir lassen das lieber doch mit dem Eintragen. Ich meine, wir können ja morgen weitermachen... es gibt ja gleich Essen, wir sind müde... oder in drei Jahren... oder nächste Woche, hm, was meint ihr...." Er schielte betont flüchtig hinüber zu Neesan, Sheerla und den anderen, ganz so, als bekäme er Augenschäden, wenn er sie auch nur eine Sekunde länger ansah, und machte schon Anstalten, das Bordbuch und alles damit Verbundene flink in seiner Tasche zu verstauen. "Da wäre nur noch eins," begann gnadenlos gefasst Doc, an Neesan und Sheerla gewandt, "wie heißt ihr?" President erstarrte mitten in der Bewegung. Zutiefst unglücklich schraubte er den Füllerdeckel wieder auf und betrachte dabei das Schreibgerät, als wäre es ein Mordinstrument. Fehlte nur noch, dass er ein Klagelied anstimmte. ?Wer wagt, gewinnt' war Sheerlas Motto und vor allem: Was hatten sie schon zu verlieren? Sie hatte Liams Reaktion sehr wohl bemerkt, doch im Gegensatz zu Sive war sie weder damit beschäftigt gewesen, heldenmütig ihren Namen zu verteidigen, noch kannte sie Liam lange genug, um zu sehen, was er sah. Erwartungsvoll blickte ihr Bruder sie an, und Sheerla starrte prompt zurück, ebenso erwartungsvoll. Neesan wich aus, erstaunt, da er aus alter Gewohnheit stets Sheerla als die Wortführerin ansah. Dann begriff er, gab sich einen Ruck und sagte etwas. Mit leisem Kratzen glitt der Füller über das Papier. Im Zeitlupentempo erschienen die einzelnen Buchstaben aus Tinte vor dem Auge des Schreibenden. Der Schreibende war President, und noch ehe die Worte in seinem Kopf verhallt waren, prangten sie ihm in krakeligen Lettern - denn Stress ist Schönschrift nicht sehr förderlich - entgegen, und er musste sie gar nicht erst lesen, um zu wissen, welcher Nachname da stand, denn er kannte ihn, kannte ihn gut. Es war sein eigener. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 6: XVI. Ahnentafeln * XVII. Kuznikows Mitternachtssuppe * XVIII. Frühaufsteher -------------------------------------------------------------------------------------- Ich weiß, die Frage ist doof, aber ich kann sie mir einfach nicht verkneifen... Wen von den Kindern mögt ihr eigentlich am liebsten? Aber bitte nicht nur nach den Eltern gehen, und bitte niemanden hassen! XVI. Ahnentafeln Die nächsten drei Minuten verbrachte President damit, einen Kurs in "Bewusst atmen" zu absolvieren. "So," meinte er schließlich müde, "und was habt ihr euch dabei gedacht?" Der ganze Raum schien sie mit stummen Blicken zu durchbohren, ganz wie zu dem Zeitpunkt, als sie so plötzlich aus dem Gebüsch gepurzelt waren und die Pfadfinder sie entdeckt hatten, erinnerte sich Neesan. Die Kinder schwiegen verängstigt. President hakte nicht weiter nach, denn er wusste ebenso gut wie der Rest der Pfadfinder, dass Liam, Neesan, Sheerla und Sive nicht mehr und nicht weniger Ahnung von dem hatten, was sie soeben aufzudecken im Begriff waren, als der gesunde Menschenverstand ihnen verriet, und das ging, je nach Maßstab und Vernunftsgrad, in beträchtlich verschiedenen Richtungen. Wieder einmal war es Doc, die sich in der Lage sah, die Tatsachen ohne allzu viel emotionale Beteiligung, aber mit großer Korrektheit für alle verständlich zusammenzufassen. Ihr ?Denktum' von dem Moment an, als Sheerla erzählt hatte, dass sie aus der Zukunft kämen, schien sich seinem Ende zu nähern. "Es scheint," begann sie ruhig, "als hätten sowohl Brian und Liam - "Und Jack!" rief Young Lady dazwischen, - "als auch Sive und God sowie Gordon, Neesan und Sheerla die selben Nachnamen." Ihre grünen Augen fixierten ernst die Kinder. "Ihr habt uns doch die Wahrheit gesagt?" "Weshalb sollten wir lügen?" rief Sive aufgebracht. Sie schien sich tatsächlich zu wünschen, es getan zu haben. Beruhigend nahm Liam sie bei der Hand. "Wir haben nicht gelogen." erklärte er fest. Sheerla und Neesan nickten. Mehr gab es nicht zu sagen. "Davon bin ich ausgegangen," entgegnete Doc. Zum ersten Mal erhellte ein leichtes Lächeln ihr Gesicht. "Doch Tank, mir und auch einigen anderen seid ihr trotzdem von Anfang an seltsam erschienen - nicht, weil ihr etwas zu verbergen schient, sondern weil ihr im Gegenteil etwas verraten habt, etwas, was wir aus gutem Grund nicht begreifen konnten, wenn meine Vermutung stimmt. Nur diejenigen, die davon am meisten betroffen waren, haben nichts bemerkt..." - ihre Augen wanderten durch den Raum und eine Augenbraue hob sich - "...oder sich zumindest nichts anmerken lassen. Trotzdem muss ich euch bitten, uns die Fragen, die wir euch jetzt stellen werden, zu beantworten, ansonsten können wir nicht herausfinden, was hier nun wirklich los ist." Abwartend legte sie die Hände in den Schoß. Jetzt sprach Tank: "Ja, ich schließe mich Starch an. Bitte sagt uns offen, wer ihr seid und woher ihr kommt. Wir wollen euch nichts, keine Angst. Aber all diese Zeitreisen neigen wirklich nicht dazu, die Dinge einfacher zu machen." "Aber aufregend," flüsterte Blunder seinem Bruder zu, was nicht dazu beitrug, die Gesichtsfarbe einiger sich im Raum befindlicher Personen gesünder aussehen zu lassen. Im Gegenteil, ein gewisses Streckbank-Feeling machte sich breit. "He!" meldete sich auf einmal Snake. "Eins habt ihr aber vergessen!" Mit einem Blick baten Doc und Tank God, die prompte Faust wieder weg zu nehmen: "Er wird schon nichts sooo Schlimmes sagen..." "Nein," meinte Snake und errötete leicht, da alle ihm zuhörten, "ich wollte nur sagen, dass ihr Nerd vergessen habt. Ich meine, er hat auch den gleichen Nachnamen wie Sive, schließlich ist er Gods Bruder." "Tut das jetzt was zur Sache?" beschwerte sich God, und Nerd meinte verlegen: "Schon gut, Snake," bevor er sich wieder auf sein Game Boy Spiel zu konzentrieren schien. Er hatte die ganze Zeit gespielt, seit sie angekommen waren, wenn auch mit ausgeschaltetem Ton und offenen Ohren. "Oh... ja, da hast du natürlich recht. Nerd habe ich vergessen," gestand Doc, obwohl auch ihr nicht klar war, was das nun am Sachverhalt ändern sollte. "Aber was ist denn nun?" rief Boss. Er klang, als wären seine Zähne mit Kaugummi zusammengeklebt. Gatcha, Young Lady und Princess fuhren erschrocken zusammen, letztere ganz besonders. So lange Schweigeperioden war man von Boss einfach nicht gewöhnt. Es hatte ihm wohl tatsächlich die Sprache verschlagen. "Dazu komme ich ja gleich," beschwichtigte Doc. Aus irgendeinem Grund grinste sie, ein Gesichtsausdruck, der die anderen ansteckte und langsam aber sicher die Gruppe der Pfadfinder in zwei Hälften spaltete: Tank schmunzelte und Tiger verbiss sich mühsam das Lachen, Gatcha, mit dem Klatschgen der Frau geboren, fand das ganze ungeheuer spannend, Timid und Blunder ebenso, während andere, wie Princess, Jack und Young Lady sich noch nicht ganz sicher zu sein schienen, was sie nun davon halten sollten. Silence und Nerd konnte man beim besten Willen nicht ansehen, was sie dachten. Nur bei President, God, Boss und Snake war die Lage offensichtlich; Snake verstand gar nichts. Dem ?offiziellen' Anführer ferner war klar anzusehen, mit welch schwierigem Selbsthypnoseverfahren ("Ich bin nicht da.... ich bin nicht da...") er sich geistig gerade beschäftigte. Deutlich wie ein offenes Buch, wie DAS Buch, das seinen drohenden Untergang (so glaubte er) herbeigeführt hatte, zeigte sein verzerrtes Gesicht seinen inneren Zwiespalt: 'Oder soll ich es doch lieber mit der Vogel-Strauß-Taktik versuchen?' God sah einfach nur krank aus, und wenn ich krank sage, dann meine ich krank. Er war ganz grün im Gesicht und so schweigsam, dass man nach spätestens fünf Minuten unruhig wurde und sich fragte, warum er noch immer nicht seiner Unmut Luft gemacht hatte, ganz wie auch bei Boss auf ähnliche Art. Apropos Boss - seine Miene war nun wirklich am erstaunlichsten. Denn was bei den anderen beiden noch Charakterzug darstellte, zuckte in seinem Gesicht irgendwo zwischen der gewohnten guten Laune und Kampfgeist, krampfhaft bemüht, aus der Welt geschafft zu werden: Ein spinnenfingriges Entsetzen, das einen unbändigen Reiz zu lachen auslöste! Bei allen dreien konnte man davon ausgehen, dass sie nicht wirklich wussten, was los war, jedoch ihre Ahnungen und ihr Kombinationsvermögen vollauf genügten. Fraglich war nur, wie lange sich die Heiterkeit der anderen noch halten würde. Doc und Tank wechselten einen Blick, und Tiger nickte. Immer der Reihe nach. "Liam?" fragte das blauhaarige Mädchen. Aufmerksam sah Liam sie an. Es war mucksmäuschenstill in Manuas Keller, nicht einmal die Ratten hörte man, als Docs Mund langsam die Worte formte: "Wie heißt dein Vater?" [Klitzekleine Anmerkung der unglücklichen Autorin: Ist diese ?Spannung' nicht überflüssig? Weiß doch eh jeder längst, was kommt!] Liam schwieg. Noch einmal sah er die Pfadfinder an, sah in jedes einzelne Gesicht und erlebte dabei einige recht unspektakuläre Aha-Erlebnisse. Unspektakulär, weil er es längst wusste. Dieser verdammte dämliche Fußball hatte ihn darauf gebracht. Aber dennoch... obwohl er wusste, hatte er noch nicht Gewissheit. Es gab noch nichts, was ihm untrüglich bewies, dass er richtig lag. Eine Bestätigung. Und wenn ich jetzt einfach nichts sage? Mich weigere, etwas zu erzählen? Es ist nicht ganz einfach. Wenn sie es nun erfahren, dann werden sie es auch in Zukunft wissen. Wie sonderbar. Und was wohl noch alles geschehen würde, bis... falls sie wieder zurück nach Hause kämen? Was noch unwiderruflich in ihr zukünftiges Gedächtnis eingehen würde? Dann fiel ihm das wenige ein, was er bisher an Science Fiction Literatur gelesen hatte und er begann, sich zu entspannen. Sie, die Pfadfinder MUSSTEN einen Weg zurück gefunden haben. Denn sonst könnten er, Sive, Neesan und Sheerla nicht hier sein! Und was das Wissen der anderen anging... wenn sie es waren, wenn sie in Zukunft lebten, dann wussten sie es ohnehin. Die Gewissheit - er wählte sie. Liam nickt. "Ja," sagt er. "Er ist es. Brian." Und mit einem leisen Lächeln: "Ich wusste nicht, dass man ihn Boss nannte..." Wenn tiefste Stille noch tiefer werden kann, dann wurde sie es wohl. Die im Raum anwesenden Personen jedenfalls hörten nichts. Kein ?Bannng', ?kein ?Werbung!'. Bloß ein kleiner Ruck in der Magengrube, wie wenn man schnell eine Hügelkuppe hinauf und dann hinunter fährt. Jemand - der glückliche Vater, doch er bat um Anonymität - fuhr zusammen. Sein Entsetzen verflüssigte sich ein wenig, versickerte. ?Weiter, weiter!' sagten leuchtende Augen. Jeder Mensch ist von Natur aus neugierig. Liam sprach weiter, ohne zu überlegen. "Er ist ein guter Vater. Aber er hat sich nicht sehr verändert." Der Neunjährige lachte fröhlich, und dieses Lachen unterstrich seine Worte und machte das Bild vor ihren Augen lebendig. "Immer, wenn er von der Arbeit kommt, will er mit mir Fußball spielen. Leider spiele ich gar nicht so gern Fußball. Wir wohnen in einem Haus. Geschwister habe ich keine, jedenfalls bis jetzt nicht. Ach ja, ich bin neun Jahre alt. Er ist..." Liam überlegte - "...34. Und Mama ist 33. Wir haben auch eine Haushälterin. Sie heißt Mrs. Palmer. Und sie kocht meistens. Mama kann - " Er brach ab. Sie hingen an seinen Lippen, als sei er das wiedererstandene Orakel von Delphi. Und dennoch hatte er sich gebremst. Mit dem Gedanken an manche der Szenen, die er auf Noah beobachtet hatte, waren in ihm Zweifel aufgestiegen, ob hier und jetzt die Verhältnisse schon so klar lagen. Beim Erzählen war auch vor seinen Augen sein ?normales' Alltagsleben wieder bunt, lebendig und nah erschienen. Liam hatte Heimweh, wo immer diese Heimat letzten Endes auch liegen mochte, oder besser: Wann. "Jack ist mein Onkel. Er ist... 30. Er ist mit Garnet, meiner Tante, verheiratet. Sie sind auch meine Taufpaten. Sie haben auch..." Nein, nein! Nicht zuviel, dachte er erschrocken, als Crybaby und Young Lady augenblicklich erröteten. Niemals zuvor war Liam so ernsthaft klar gewesen, dass Wissen wirklich Macht bedeutete. Aber Macht durfte man nicht missbrauchen, sei es aus Unachtsamkeit, Übermut oder dem Wunsch des eigenen Vorteils. Liam senkte den Kopf. "Ich werde nicht mehr sagen." Verhalten, aber deutlich war ein ?Oooch' aus den Kinderreihen zu vernehmen. Und Boss, der es gar nicht fassen konnte, dass sein Waterloo schließlich und endlich überstanden war, lachte Liam zu, dass es den Jungen seltsam berührte. Auch sein Vater wirkte noch seltsam berührt genug, doch das ungewohnte Entsetzen in seinem ganzen Ausdruck war einer felsenfesten Zuversicht gewichen, die - fast - nichts erschüttern konnte. ?Das Ganze,' schienen seine türkisfarbenen Augen zu sagen, ?ist zwar immer noch reichlich komisch, aber irgendwie wird es schon ein gutes Ende nehmen.' Oh ja. Das alles hörte Liam beinahe. "Dass das wirklich Onkel Brian..." Sive machte Glubschaugen, bevor sie auf die Idee kam, die Hand vor den Mund zu nehmen. Nur unauffällig bleiben! Wer wusste schon, wo der Blitz als nächstes einschlagen würde? Im Gegensatz zu Sive schienen andere Mitglieder der Gruppe eine weitaus genauere Vorstellung davon zu haben, wen es als nächstes treffen würde. Nachdem Liam geendet hatte, war God immer hibbeliger geworden. Unablässig schob er einen von Manuas Tellern vor seinen Füßen hin und her. Ein Akt der Selbstzerstörung, die sich im ruhelosen Herumkauen auf seiner Unterlippe der Außenwelt offenbarte, verriet seine angespannte Lage: God zermarterte sich das Hirn, ohne auf einen Ausweg zu kommen. Da gab's nur eins: Snake musste wieder einmal herhalten. Durch die altbewährte Kopfnusstaktik wurde er unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass man ihn brauchte, jetzt und nicht später. "God, was ist denn?" fragte Snake verwundert und rieb sich den Kopf (eine Bewegung, die ihm mittlerweile fast schon in Fleisch und Blut übergegangen war). Falls er enttäuscht war, von dem spannenden Geschehen ringsum abgelenkt worden zu sein, so ließ er es sich nicht anmerken. Lediglich ein "Warum hörst du nicht zu, was Liam und Doc erzählen? Das würde dich bestimmt aufheitern!" äußerte er in wohlgemeinter Absicht. "Schwachkopf!" würgte God hervor und wurde noch eine Spur grünlicher. Er hörte sich an, als wäre er im Stimmbruch, obwohl er den eigentlich längst hinter sich haben musste. Erst jetzt wurde Snake klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Aufmerksam musterte er seinen Freund, bis ihm die Erleuchtung kam: "God! Ist dir etwa schlecht?" Voll Sorge schlug er die Hände zusammen. "Nein, wie kommst du denn schon wieder darauf! Ich tu nur so! Hör mal," God beugte sich vor und deutete fahrig irgendwo in die Richtung zwischen Sive und Doc, "wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann lässt du dir was einfallen!" Wieder hob Doc zu sprechen an, die von der Gruppe stillschweigend als Wortführerin akzeptiert worden war. Immerhin, das musste man President und Boss als Entschuldigung für ihre Unpässlichkeit zugestehen: Sie hatten im wahrsten Sinne des Wortes Familienangelegenheiten zu regeln. Die erste, die den Mund wieder aufkriegte, war Tiger. "Sag mal, Liam," meinte sie gemächlich, "und du hast ihn echt nicht erkannt? Nach deiner Schilderung muss die Verhaltensauffälligkeit doch geradezu ins Auge springen!" "Hättest du?" kam die Gegenfrage, die es an Trockenheit durchaus mit Tigers aufnehmen konnte. Crybaby und Young Lady, in der Ecke sitzend, beäugten einander scheu und ziemlich verlegen, ganz so als sähen sie sich zum ersten Mal. Was unter dem Aspekt der letzten fünf Minuten ja auch irgendwie stimmte. Nerd spielte immer noch Game Boy, und God stieß Snake in die Seite, das tat anscheinend ziemlich weh, denn Snake sagte "Aua" und starrte God verständnislos an. "Sive." erklang bereits Docs Stimme, verhalten zwar, doch so durchdringend, dass alles augenblicklich verstummte. Es war klar, dass sie während dieser ?Zeremonie' eine Sonderrolle voller Autorität angenommen hatte. "Ja? Was?" platzte Sive heraus und streckte Doc vorsichtshalber die Hände entgegen, ich hab nichts gemacht!! Wieder stieß God Snake in die Seite, noch eindringlicher diesmal. Snake fuhr ungestört fort, mit glänzenden Augen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu blicken. "Sive, ich würde dich gern fragen - " hob Doc zum zweiten Mal an, unterbrochen durch einen Schmerzenslaut aus der Menge: "Au!! - Ich meine, ich... ich..." Hilfesuchend sah Snake um sich, als God ihm etwas zuflüsterte. "Was?" kam die kleinlaute Antwort. "Jetzt gebt doch mal Ruhe!" schaltete sich Tiger ein und drehte sich in ihrem Kinosessel um - pardon, ihr wisst was ich meine -, unterstützt von weiteren ungeduldigen Rufen: "Ja! Wir wollen zuhören!" "Sive, wir - " versuchte Doc erneut vergeblich, sich verständlich zu machen. "W-was?" stotterte der unglückliche Snake, "Muss das sein...?" God flüsterte noch lauter, und es hörte sich ziemlich nach Alarmstufe Rot an. "Ach so, ja, ja - Doc!" Snake verschluckte sich, winkte. "Was denn?" Entnervt fuhr Doc herum. "Ich... äh.... äh... ich" Snake verzog das Gesicht à la ?Muss ich?', wie James zu Miss Sophie in ?Dinner for One', schielte noch einmal zu God, der nicht ?Just to please me!' entgegnete, und verkündete resigniert: "...muss aufs Klo!" Augenblicklich wurde fassungsloses Stöhnen neben ihm laut: So doch nicht! "Ja?" meinte Doc gleichmütig, "Dann geh," um sofort das Gesprächsthema Dreh- und Angelpunkt wieder aufzunehmen: "Sive..." Mit einem hellen Klirren zersprang etwas auf dem Steinfußboden. Mehrere der im Raum anwesenden Personen fuhren bei diesem Krach, der wie ein Donnerschlag auf die sensiblen Trommelfelle einschlug, erschrocken zusammen, so hoch war die Kurve der Anspannung in den letzten Minuten geklettert. Erst als sie und God die Scherben ihre Teller, die Manua der Gruppe ausgeteilt hatte, mehr oder weniger mürrisch wieder aufgesammelt hatten, teilte Sive Doc und dem Fußboden beflissen etwas mit, das sich wie: ?Schande!' und noch was davor anhörte, im Klartext aber wohl die Ablehnung einer Auskunft ohne Anwalt bedeuten sollte. Doc seufzte: "Wie du willst, aber bitte überleg' es dir nochmal, ja? Dann werde ich jetzt...", wurde aber schon wieder unterbrochen und es war nicht Snakes Blasenschwäche, sondern Tiger, die voll boshafter Vorfreude, dass es nun dem dritten im Bunde endgültig an die Alimente gehen würde, laut zu lachen anfing. Dann hatte Sheerla genug von all dem Theater, bei dem man sich anstellen musste, um seine Eltern zu finden, sprang auf, zog Neesan mit sich und rannte schnurstracks auf das lachende rothaarige Mädchen von sechzehn Jahren zu, mit der Begrüßung: "Mama! Ich wusste, dass du es bist! Oh Mami! Ich hab dich so vermisst..." Dabei brach sie allen Ernstes in Tränen aus. Tigers Lachen wurde blechern, dann hölzern, ging kurz darauf über in einen Laut, der dem Aneinanderreiben von Knochen ähnelte, bis es erstarb und ihre Stimmbänder sich verknotet zu haben schienen. Ihr Gesicht nahm erst einen roten, einen blassen und schließlich einen gräulichen Farbton an. Durch und durch fassungslos ächzte sie: "Wie bitte?" "Mami!" schluchzte Sheerla und streckte die Arme aus, "Mami! Du weißt das zwar nicht, aber du bist unsere Mami und ich wusste es von Anfang an, auch wenn ich's eigentlich überhaupt nicht gemerkt hab, oh Mami!" Und dann das obligatorische: "Stimmt's, Neesan?" "Mami!" echote Neesan, taumelnd vor Glück, "Mami!" Seine Stimme war ganz kratzig, als er herumwirbelte: "Papi!" President bot einen Anblick zu Recht beleidigter Entrüstung (er fühlte sich irgendwie übergangen) und Tiger war einmal in ihrem Leben sprachlos, bis beider Herz siegte. Neesan fiel President um den Hals, Sheerla flog in Tigers Arme. Erst in diesem Moment schien den bedröppelten Eltern klar zu werden, was das nun eigentlich bedeutete und sofort schossen sie Blicke aufeinander ab, die besagen sollten: ?Das ist meins! Du hast damit überhaupt nichts zu tun!', wobei aber nichtsdestotrotz noch eine Menge mehr mitschwang, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten. Während der eine ein rothaariges, der andere ein dunkelblondes Kind herzte, stellte Boss grinsend fest, ganz so, als sei das alles sein Verdienst: "Und wieder eine Familie glücklich zusammengeführt! Na seht ihr!" Er hatte gut reden. Denn eine Waise war immer noch übrig. "Und du, Sive?" fragte Timid besorgt. "Ich? Ich bin ein Kuckucksei!" knurrte Sive, die sich so allein und verlassen fühlte wie damals vor ein paar Tagen, als sie als einzige partout nicht vom Dreier hatte springen wollen. "Das glaub' ich nicht," schmunzelte Tank. Es war nicht böse gemeint, doch Sive funkelte ihn mit einem Blick an, der eindeutig Verwandtschaft erkennen ließ. "God?" Doc schüttelte den Kopf. Müde war kein Ausdruck. Es war vermutlich inzwischen halb drei Uhr Erdenzeit. "God?" fragte Boss, in seinen blauen Augen blitzte der Schalk. "Himmel, das muss ein Traum sein," brabbelte Tiger zum wohl hundertsten Mal, bevor sie sich aufsetzte, ohne Sheerla loszulassen: "God?" Listig wandte sie sich an ihre Tochter. Die verspürte einiges Mitleid für ihre Freundin Sive, die dort ganz allein der Übermacht ausgesetzt war, aber selbst wenn sie gewollt hätte, hätte Sheerla Tiger nichts sagen können, denn der Grund war: "Kenn' ihn nicht!" "God?" staunte President mit Neesan auf dem Arm und rieb sich die Augen: "Wer hätte das gedacht?" "God?" meinte Princess in jenem unnachahmlichen Tonfall, den jede Frau, die etwas auf sich hält, annehmen kann. "God?" quietschte Gatcha, und es war beim besten Willen nicht herauszuhören, ob die Anteilnahme in ihrer Stimme dem Vater oder der Tochter galt. "God!" entschlüpfte es Snake. ?Level 3!' war das Synonym, das Nerd hierfür wohl gebraucht hätte, wäre er je zum Sprechen aufgelegt gewesen. Aber er spielte, spielte die ganze Zeit. Draußen auf dem Gang war nun ein leises Rattern zu vernehmen, wie von Rädern, die über einen unebenen Steinuntergrund rollten. Langsam erhob sich God, grüner denn je. Sein Gesicht verriet das halbe Dutzend Orte, an denen er sich in diesem speziellen Moment weitaus lieber befunden hätte, aber das kategorische ?Beam me up, Scotty!' würde auf dem mittelalterlichen Planeten der Dinosaurier wohl in neun von zehn Fällen wirkungslos bleiben. "Ähem....", er räusperte sich mit einer begreiflichen Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen, "ähm..." Auf der fieberhaften Suche nach Ablenkung huschte sein Blick durch den Raum, blieb an Sive hängen. Plötzlich schien er sich zu fassen. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen, tat sie nach einem kurzen Moment Überlegung (wohin damit?) doch wieder rein und wandte sich spontan an die versammelten Pfadfinder: "Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass so ein kleines Biest MEINE Tochter ist?" Die Blicke seiner Mitverschollenen, ob groß ob klein, zeigten deutlich, für WIE wahrscheinlich sie diese Möglichkeit hielten. "Das ist doch..." God schluckte, man sah ihm an, wie hart er grübelte, "Totaler Schwachsinn... äh..." - er wischte sich den Schweiß von der Stirn - "Schwachsinn..." - er verschränkte die Arme - "Schwachsinn..." - er faltete sie wieder auseinander - "...Schwachsinn!" - er kratzte sich am Kopf - er verkniff sich ein weiteres ?...ihr wisst schon...' Gods Schwachsinn hatte stets ein Problem: Er war so plausibel. Dieser Meinung schien er selbst jedoch ganz und gar nicht zu sein. "Verdammt nochmal, ihr seid ganz schön blauäugig! Woher wollt ihr wissen, dass die Kinder euch nicht bloß belogen haben? Es braucht keinen besonderen Grips, um aus dem Bordbuch unsere Namen herauszufinden!" hielt er den Pfadfindern vor, mit den Argumenten auch um eine Portion Fassung reicher. Boss sah ihm zu, wie er tobte, und verzog den Mund. "Jetzt mach aber mal halblang! Niemand nennt hier meinen Sohn ungestraft einen Lügner!" Entgeistert starrte God ihn an. "Deinen Sohn? Du scheinst dich ja sehr schnell damit abgefunden zu haben!" "Sich mit Liam abzufinden ist auch nicht schwer, er kommt ja ganz nach mir!" erwiderte Boss überzeugt. "Boss," mahnte Liam verstimmt, die Anrede ?Papa' kam ihm einfach noch nicht so recht über die Lippen. "Und überhaupt," fuhr Boss fort, "in deiner Haut möchte ich natürlich nicht stecken." Er schielte zu Sive, die tat, als sei sie ganz und gar taub, ihre Miene seltsam starr, wie von einer Tonfigur: "Das hast du dir eben selbst eingebrockt!" Liam nahm sich vor, mal ein ernstes Wörtchen mit Boss zu reden. Immerhin waren er und Sive Freunde, und als Vater hatte dieser Kerl neben ihm wahrlich noch eine Menge Erziehung nötig! "Was kann ich dafür, was ich in Zukunft getan habe?" brüllte God. Nichtsdestoweniger klang es kläglich. "Ihr schlaucht!" schrie Sive im Hintergrund und stürzte sich an Liams Seite. "Oh, wenn man's genau nimmt...", Boss grinste, sollte er es sich anders überlegen?, "...Nichts. Aber Vererbung ist alles. Und an deiner Vorbildfunktion könntest du langsam wirklich mal arbeiten." God holte tief Luft, um etwas zu entgegnen, das sich gewaschen hatte, kam aber nicht mehr dazu, weil die Tür aufflog (und beinahe Silences Finger eingeklemmt hätte). Und für den nächsten Akt war - mit wenigen Ausnahmen - jedem von ihnen das Wort abgeschnitten. Das Rattern auf dem Flur, das in den letzten Minuten immer lauter geworden war, verstummte abrupt und eine Stimme, die dem Telephondienst eines Pizzaservice allergrößte Ehre gemacht hätte, verkündete den Pfadfindern die verheißungsvolle Nachricht: "Essen ist fertig!" Er grinste, indem er den rechten Mundwinkel schief hochzog und eine Zahnlücke sichtbar wurde. [Sorry, Prissy, ich weiß, dass das geklaut ist...!] XVII. Kuznikows Mitternachtssuppe Er, das war ein schlaksiger junger Mann von höchstens 20 Jahren mit karottenrotem Haar von einem so intensivem Orange, dass man ihn ohne weiteres als Nebelboje hätte anheuern können, einem von Sommersprossen übersätem Gesicht mit - neben seiner farbenfrohen Erscheinung - höchst bleicher Hautfarbe und einem Mundwerk, das vergeblich seinesgleichen suchte. Sein Name lautete Kuznikow, wie er jedem der Pfadfinder wortreich mitteilte und dabei beinahe vergaß, das Essen, welches in einem Topf auf dem Wägelchen ölig der Ausgabe harrte, zu verteilen. Auf die Frage, wer es gekocht habe, antwortete er mit einem prahlerischen "Na, ich natürlich!" und darauf folgte ein Vortrag, der bei seiner Einstellung als Küchenhilfe im Hause des Bürgermeisters von Lupar anfing und mit seinen Karrierechancen endete. "Und Manua hat dich wirklich eingeweiht? Ich meine, du weißt, wer wir sind?" fragte Boss ungläubig und President verfiel in Hüsteln. "Aber sicher, ja doch, warum?" plapperte das achte Weltwunder munter (dass es drei Uhr morgens war, schien ihn nicht zu stören), "ihr kommt aus einer anderen Welt und seid jetzt hier!", während er sich gemächlich in Richtung Tür bewegte. "Äh... ja." Simpel auf den Punkt gebracht, war das wirklich alles. "So, war das wirklich alles? Na ja, tschüs dann!" Und schneller als hinter einer Sternschnuppe, wenn auch nicht so hübsch anzusehen, schlug die Tür hinter ihm zu. Diesmal waren es Young Ladys Finger, die fast malträtiert wurden. "Ähem... der hat das Reden wohl erfunden, was?" räusperte sich Nerd, bevor er sich wieder seinem Game Boy zuwandte, den er während der 10-Sekunden-Kuzni-Attacke tatsächlich beiseite gelegt hatte. "Mag sein," begann Tank und rieb sich die Hände, "aber jetzt gibt's erstmal Essen! Ah!" Letzteres galt den zu erwartenden Wohlgerüchen, als der dickliche Junge flink den Topfdeckel abnahm und mit dem Kochlöffel im Topf herum zu schaben begann. "Santa Maria, was ist denn das für eine Pampe!" hallte es hohl. Die Wohlgerüche waren offensichtlich ausgeblieben. "Das muss dringend überarbeitet werden!" So nannten Köche wohl das, was für Schriftsteller gewöhnlich Nachwürzen heißt. "Immer rein in den Topf damit, dalli dalli," rief Tank den Kindern zu, die angewidert in ihre Holznäpfe blickten, stand auf und kam mit einem prallgefüllten, hellgelb wattierten Rucksack wieder, dem man schon von weitem ansah, dass er einfach Tank gehören musste. "Und was machst du jetzt?" fragte Liam interessiert, der wie alle anderen seine - Kuzni nannte es: Mitternachtsuppe - brav und erleichtert in den Kochtopf zurück geschüttet hatte. "Ha, Junge, das wirst du sehen!" lachte der Koch, offensichtlich in seinem Element, "oder sollte ich dich Boss Jr. nennen? Aber nein, ich will niemandes Persönlichkeit missachten..." Dies und die Namen einer Unzahl von Kräutern und Gewürzen, die der kulinarisch eher unbedarfte Liam noch nie gehört hatte, murmelte Tank, während er Dose um Dose und Flasche um Flasche aus den Tiefen seines Rucksacks beförderte. "Deine Mutter kann wohl nicht kochen?" "Was?" entfuhr es Liam. Ein heißer Schrecken durchfuhr ihn, doch die beruhigende Antwort kam sofort: "Weil du so dünn bist - da ist es ja!" "Was?" wiederholte Liam, diesmal weitaus ruhiger und von einer unbegreiflichen Neugierde gepackt. "Das Herzstück der italienischen Küche!" stellte Tank befriedigt fest und hielt eine große Flasche hoch, in der eine gelbliche Flüssigkeit wogte: "Nonnas Augapfel!" "Aha," nickte Liam. Ein kurioser Gedanke begann in seinem Kopf zu wachsen... "Tank?" "Hm?" Liam holte tief Luft. "Könntest du mir das beibringen?" "Dir beibringen?" Tank musterte Liam von Kopf bis Fuß, als wollte er verbogene Talente in ihm entdecken. Dann wandelte sich seine Miene in ein Lächeln: "Warum eigentlich nicht?" "Gut," nickte der neuernannte Kochschüler aufgeregt. "Und was muss ich tun?" "Tun?" Tank schien nicht ganz zu verstehen. "Ach, tun! Tun musst du: zugucken, zuhören, merken - und vor allem: Kochen!" "Kochen," echote Liam staunend. Das hörte sich so einfach an... "Es ist einfach, wie jede Kunst," erklärte Tank, - kurz stellte sich Liam die Frage, wer bei ihm zuhause Kochen wohl als Kunst bezeichnet hätte - "alles was du brauchst sind Fantasie, Fingerspitzengefühl und die entsprechenden Zutaten. Am Anfang kannst du dich an Kochbüchern orientieren, doch später wirst du merken, dass du das gar nicht mehr brauchst: Du tauschst Rezepte aus, wandelst sie ab, probierst, würzt nach, und schließlich erfindest du sie." Liam nickte wieder, mit offenem Mund. "Es ist herrlich," fuhr Tank fort, während er 'Nonnas Augapfel' entkorkte, einen Schuss in die Brühe gab und umrührte, "am Anfang werden Misserfolge natürlich nicht ausbleiben," er wischte ein wenig Olivenöl vom Rand des Topfes, "aber als Faustregel gilt: Gut ist, was du selber gern essen würdest. Alles andere kannst du natürlich anderen auch nicht vorsetzen, oder?" "Klingt logisch," meinte Liam. "Finde ich auch. Spirituskocher bitte." Liam reichte ihn Tank, dieser zündete gekonnt die Flamme an und wandte sich wieder dem Jungen zu: "So. Das wären die Vorbereitungen. Jetzt kommen die Gewürze: Oregano, Basilikum, Rosmarin, getrockneter Knoblauch - ein unpraktisches Zeug, aber was will man machen, ist halt Camping -, und.... was war das noch gleich?" "Pfeffer und Salz?" schlug Liam schüchtern vor. Tank fasste sich an die Stirn. "Ach ja! Genau das war es! ...Pfeffer, Salz, Thymian..." Bis in seine Träume begleiteten Liam diese Worte. Was immer die aufgewühlten Gemüter noch bewegen mochte, zwei dringende Faktoren hielten unerbittlich dazu an, alles, was es noch zu sagen gab, zu vertagen: Dies waren einmal der Hunger und zweitens die Müdigkeit. Es war ihr erster Abend in Manuas Haus und nach den nervenaufreibenden Ereignissen der letzten Tage, Stunden, Minuten waren die Pfadfinder einfach nur erledigt. Für alles andere blieb später noch Zeit. So aßen sie also in aller Eile die Mitternachtssuppe, die Tank von einer geschmacklosen Masse zu einem Meisterwerk umkreiert hatte, und fielen fast alle unmittelbar in die Schlafsäcke, nachdem der letzte Löffel gegessen war. Fürs Spülen hatte keiner mehr den Nerv noch die Höflichkeit übrig, abgesehen davon hatten sie ohnehin nicht die geringste Ahnung, wo es hier Wasser gab. Liam widerstand dem Wunsch, sich in Princess' Nähe zu legen, denn er wollte nicht für eine weitere Podiumsdiskussion zwischen Boss und God verantwortlich sein. Da die Kinder aus verständlichen Gründen keine Schlafsäcke hatten mitnehmen können, wurden sie von ihren neuen-alten Eltern pflichtbewusst mit allem nötigen versorgt, was dazu führte, dass Sive beinahe auf dem Boden hätte schlafen müssen, wenn nicht Snakes gutes Herz anders entschieden hätte. Nachdem Tiger Neesan und Sheerla friedlich schlummernd in ihrem Schlafsack entdeckt hatte, hatte sie sich gerührt dünn gemacht, doch President war durch nichts und niemand dazu zu bewegen, es seinen Kindern gleichzutun. Kaum eine halbe Stunde, nachdem Kuzni hereingestürmt war, war nach und nach alles Stimmengewirr verstummt, und nur noch friedliches Schnarchen in allen Variationen und Tonlagen erfüllte den Raum. Sive konnte nicht schlafen. Sie war sich sicher, dass sie nicht die Einzige war, dazu war einfach zu viel passiert, doch mit der ihr eigenen Einbildungskraft wiegte sie sich in dieser Illusion, um so das höchstmögliche Maß an Selbstmitleid erreichen zu können. Natürlich war es wieder einmal Liam, der ihr das vermasselte. "Nicht weinen," flüsterte ihr ihr Cousin-um-ein-paar-Ecken tröstend zu. Auch wenn er im Gepäckdschungel zu weit entfernt lag, um ihr die Hand geben zu können, spürte Sive die Wärme seiner Worte. "Tu ich ja gar nicht," verteidigte sie sich unter Tränen - Liam hatte im wahrsten Sinne des Wortes das Fass zum Überlaufen gebracht - "Es ist nur - ich fühl' mich, als wär' der Weihnachtsmann gekommen und hätte euch allen etwas mitgebracht, nur mir nicht." "Sive... das wird schon werden. Ganz bestimmt. Komm, wir sind doch bei dir." Sive nickte, doch zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, ob sie Liams Worten wirklich Glauben schenken wollte. Sie vermisste ihre Mutter, mit solch einer brennenden Sehnsucht, wie sie sie nicht einmal an ihrem ersten Abend auf Noah verspürt hatte, und selbst der Marmorelefant um ihren Hals vermochte nichts daran zu ändern, egal wie fest sie ihn auch umklammerte. "Deine Mutter ist hier," flüsterte sie Liam zu, "warum hast du nichts gesagt?" "Ich wollte nicht für Aufruhr sorgen," meinte Liam mit gesenkter Stimme, "auch wenn es mir schwer fiel. Aber sie ist mit deinem Vater verlobt, hast du das gewusst?" "Natürlich wusste ich das!" entgegnete Sive hitzig, "Aber der Typ da ist nie und nimmer mein Vater!" Heftig schluchzend drehte sie sich in ihrem Schlafsack zur Seite, und außer einem leisen "Gute Nacht, Liam," war nichts mehr aus ihr herauszubekommen. "Sive," seufzte Liam ratlos, "Sive... schlaf gut, wenigstens das, ok?" Sive nickte (er hörte es am Rascheln ihres Kissens) und versuchte es. XVIII. Frühaufsteher Sive wachte auf, weil ihr der Magen knurrte. Seufzend kniff sie die Lider zusammen, bloß nicht die Augen aufmachen... Sie hatte so einen schönen Traum gehabt. Sie war zuhause gewesen... Obwohl das Licht durch den Türspalt nur so weit reichte, dass ein schummriges Halbdunkel herrschte, gelang es Sive nicht länger, sich der Realität zu verschließen. Sie war nicht zuhause. Sie war hier. Langsam zählte sie bis zehn. Erst dann hatte sie sich soweit durchgerungen, die Augen aufzureißen, die Decke wegzukicken und mit einem Ruck hochzukommen, um der Welt guten Morgen zu sagen. Und was tat diese Welt? Schlief! Und zwar tief und fest, wie Sive empört feststellte, als sie sich forschend umblickte. Da kann ich ja auch gleich wieder weiter schlafen, dachte sie lustlos, aber Pustekuchen. Nicht, nachdem sie jetzt wach war. Außerdem, da war ja immer noch ihr Magen. Sie musste unbedingt was essen! Etwas lebhafter als zuvor puzzlete Sive sich aus ihrem Sponsored-by-Snake-Schlafsack und tappte barfuß hinüber zu dem großen Kochtopf. Ein energisches Klopfen mit dem Kochlöffel bestätigte ihre Befürchtung: Leer. Diese Fressbande gestern nacht hatte wirklich nichts übrig gelassen! Na gut, dann eben nicht. Sinnend wanderte Sive durch den Kellerraum, oder besser gesagt: Das Verlies. Das war nämlich die Sorte Einrichtung, der ihr Aufenthaltsort in ihrer Vorstellung immer ähnlicher wurde. Sie war ein naturverbundener Mensch, brauchte Licht! Luft! Sonnenschein! Stattdessen hatte sie Steinwände, Mief und Augenschäden. Trotz ihrer Abneigung gegen kleine flatternde Viecher konnte sie gut verstehen, weshalb Zans lieber in den oberen Räumlichkeiten von Manuas Haus campierte, während sie sich hier unter Tage die Augen ruinierten. So was wie Noah hätte sie sich freiwillig garantiert nie zum Urlaubsziel gewählt. Aber, und das war die Schlussfolgerung, mit der nicht nur Sive seit zwei Tagen drei Viertel ihrer Gedankengänge beendete, sie waren hier, da gab es nichts zu machen. Hier in diesem feuchten Kellerloch, und schliefen. Während sie sich noch intensiv mit der Frage abmühte, warum das so war, trat sie mit ihren nackten Füßen beinahe auf etwas, das sich bei genauerem Hinsehen als Neesans Hand entpuppte. Sofort wisperte Sive dem Schlafenden, der da eng an seine Schwester gekuschelt lag, ein schuldbewusstes "Tut mir leid" zu. Neesans Entgegnung war ein verschlafenes Piepsen, das den Lauten eines Jungvogels ähnelte. In einer fließenden Bewegung nahm er seine Hand aus der Gefahrenzone und begann, selig am Daumen zu nuckeln. Sive drehte sich um, um nach Liam zu sehen. Auch er lag in unruhigem Schlaf, das Gesicht angespannt und die Stirn ein wenig gerunzelt, als beschäftigten ihn heimliche Sorgen. Mit einem gedämpften Seufzer krümmte er sich zusammen und rollte sich dann auf die andere Seite. Wieder wandte Sive den Kopf und betrachtete ihrerseits nun Sheerla, die ihrem entrücktem Lächeln nach zu schließen wohl gerade einen schönen Traum hatte, genau wie Sive noch vor ein paar Minuten. Ob sie das gleiche träumten wie sie, hier und heute oder morgen und in Zukunft? Wo waren sie in diesem Moment, wie nah lag dieses Anderswo? Sive konnte es nicht sagen. Das Gefühl, im Regen zu stehen, mit nicht mehr als einem T-Shirt bekleidet, und nass zu werden, ohne sich abschirmen zu können, breitete sich in ihr aus. Tropfen für Tropfen. Als sie die drei so unterschiedlichen Gesichter zu ihren Füßen betrachtete, stieg plötzlich eine Woge haltloser Liebe in ihr auf, wie Mütter sie manchmal fühlen, wenn sie ihren Kindern beim Einschlafen zusehen. Übermächtig wollte sie aus ihr heraus sprudeln und die Oberhand gewinnen. Fast ohne dass sie es merkte, begann ein Lächeln ihr ganzes Gesicht zu erleuchten wie das Innere einer Laterne. "Ist ja gut," murmelte Sive leise, ganz in sich gekehrt, "schlaft ruhig. Wenn ich..." Entsetzt unterbrach sie sich. Sie hatte doch nicht etwa Selbstgespräche geführt?! Ach nein, beruhigte sie ein inneres Stimmchen, du hast mit Neesan, Sheerla und Liam gesprochen. Dann war ja alles gut. Apropos - die schliefen doch! Ungehalten über sich selbst - wenn das einer gehört hatte! - sah Sive in die andere Ecke und ihre eben noch weichen Züge verhärteten sich augenblicklich. God und Snake schliefen, ob anscheinend oder auch nur scheinbar wusste sie nicht, und es interessierte sie auch nicht, oh nein, und daneben lag Nerd, das heißt, er lag nicht da, sondern nur sein leerer Schlafsack. Oh. Noch ein Frühaufsteher. Wenn der sie nun gehört hatte? Aber nein, Nerd war nicht im Raum, er war bestimmt raus gegangen. Und das würde sie jetzt auch tun. Da war es wenigstens heller. In den Gängen war es tatsächlich heller, erstens, weil durch alle Ritzen der Tag schimmerte und zweitens, weil jemand - Manua oder einer ihrer Angestellten - auf dem Flur Öllampen entzündet hatte, die in langen Halterungen an der Wand steckten und von Sive zuvor nicht bemerkt worden waren. Mit mittlerweile hellwachen Augen nahm sie sie wahr und überlegte dabei, was sie jetzt tun sollte. Sie war nicht wirklich ungeübt darin, sich vormittags zu beschäftigen. Sive gehörte von klein auf zu den Menschen, die immer zu spät ins Bett gehen und zu früh aufstehen. Das hatte schon im Kindergarten angefangen, als alle anderen bereits um sieben Schlafenszeit hatten, sie selbst aber erst um neun, sich mit dem Erlernen der Grundschuluhr noch weiter gesteigert und sollte hier auf Noah anscheinend seinem Höhepunkt entgegen streben. Sie brauchte einfach nicht viel Schlaf, da es zu ihrer Befriedigung mehr als genug Möglichkeiten gab, einen Vorvormittag auszufüllen. Zum Beispiel blätterte sie in ihrem Geheimnisalbum oder dachte einfach ein bisschen über Gott und die Welt nach. Im Moment fehlte ihr allerdings sowohl das Geheimnisalbum als auch die Laune, sich mit God, der Welt & Co auseinanderzusetzen. Dennoch schien es, als habe das Schicksal ihrer Laune zum Trotz vor, sie mehr oder weniger gerade dem auszusetzen. Sive spazierte gerade barfuß den Gang rechts des Verlieses entlang und gruselte sich, weil der Steinboden sich so eklig kalt anfühlte, als wie aus dem Nichts auf einmal eine quäkende Melodie an ihr empfindliches Ohr drang. Was war das? Eine noahnische Rollenspiel-Party, die hier in Manuas Keller den Fortress-Part abzog? Spaß beiseite. Sive verhielt im Schritt, die Ohren gespitzt. Nachdem sie eine Weile gelauscht hatte, bescherte ihr Assoziationsvermögen ihr nach und nach das lebhafte Bild eines weiteren Frühaufstehers, der da um die Ecke an der Wand hockte und kleinen Monstern den Gar ausmachte, begleitet von Flüchen bzw. Triumpfrufen (je nachdem) und jener Qualmusik. Da saß Nerd also. Oh Mann, die Game Boys damals waren echt Schrott gewesen, gemessen an der Tonqualität. Heute - und das hieß für Sive 2013 - gab es wirklich bessere Teile. Sie hatte zwar erst einmal einen haben wollen, doch nachdem ihre Eltern das ungewohnt streng und kompromisslos abgelehnt hatten, war nach einer Zeit des Schmollens ihr Interesse geschwunden. Liam besaß zwar einen, aber auch er rührte das Ding kaum an. Viel lieber waren er und Sive draußen, fuhren Inline Skates oder kletterten auf Bäume. Aber Nerd spielte häufig, ja - sie dachte nach, wie oft sie ihn gesehen hatte und korrigierte sich - meistens, nein, öfter - eigentlich immer. Das war es, was Sive an frühen Morgen so mochte: Man kam auf die entferntesten Gedanken, konnte den Leser langweilen und wurde noch nicht mal bestraft. Damit aber nun endlich mal etwas Action in diesen ereignislosen Vormittag einbrach, würde sie ihre Aufmerksamkeit eben dem einzig halbwegs interessanten Lebewesen widmen, das sie entdecken konnte. Geräuschlos presste sie sich an die Wand und lugte um die Ecke. Sives Assoziationsvermögen war anscheinend recht fit. Nerd saß unter einer der Öllaternen, die Beine angezogen und den Rücken an die Wand gelehnt. Außerdem sah er nicht aus, als hätte er die letzte Nacht viel geschlafen. Wie lange er wohl schon hier sitzen mochte? Zum ersten Mal sah Sive ihn sich genauer an, und sie musste wahrhaftig zweimal hingucken. Nerd hatte so etwas... Ausdrucksloses. Rotblondes, lockiges Haar und im Gegensatz dazu eine merkwürdig blasse Haut, die im Lampenlicht noch ungesünder schien, Augen von einem warmen Braunton, deren Farbe, stellte Sive fest, gar nicht so leicht zu erkennen war, denn er hielt sie fast ständig gesenkt, zu dem, was er in Händen hielt. Keine hervorstechenden Merkmale, die sich im Gedächtnis verhakten, mit Ausnahme eines ständig piepsenden Game Boys. Doch selbst dieser war grau. Anstatt Nerd hätte der Spitzname dieses Jungen da genauso gut Game Boy lauten können, gemessen an seiner Präsenz. Ja. Unwillkürlich musste Sive gähnen und nahm schnell die Hand vor den Mund, wohl wissend, dass dieses Theater völlig überflüssig war. Sie brauchte sich wirklich keine Mühe geben, leise zu sein. Ebenso gut hätte eine Nashornherde vorübertrampeln können, Nerd würde sie nicht mehr als flüchtig wahrnehmen. Es war einfach todlangweilig. Dieser Typ saß da und spielte und spielte und spielte, und sie langweilte sich. Doch je länger Sive ihn beobachtete, desto überraschter merkte sie, dass sein Gesicht seiner ganzen Erscheinung widersprach. Da war nichts Ausdrucksloses. An ihm ließ sich tatsächlich der Spielverlauf ablesen. Sive spürte geradezu seine angespannte Konzentration - vielleicht war ihm das Spiel so wichtig, dass es tatsächlich all seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Irgendwie unheimlich, dachte sie, ihre Schulterblätter zogen sich leicht zusammen. Ohne dass sie es merkte, griffen ihre Finger um die Ecke und Sive sah noch genauer hin. Irgend etwas fesselte sie an diesem Bild, absurd, ja, wahrscheinlich die Faszination des unterbeschäftigten Geistes. Und dann - Sive traute ihren Augen kaum - lächelte Nerd. Ja, tatsächlich - er lächelte. Kein Zweifel, er war am Gewinnen, man sah es ganz deutlich. Seine Hände bezeugten es. Vorhin hatte er hektisch Knöpfe gedrückt, gepaddelt, um nicht unterzugehen - jetzt schwamm er. Wie Fische im Wasser huschten seine blassen Finger über die Tasten, steuerte er mit einer Leichtigkeit, einer Geschwindigkeit, wie nur jahrelange Übung sie brachte. Wie lange? Anstatt ihr Unbehagen zu zerstreuen, traf dieses Lächeln Sive mit voller Härte. Beklemmung streifte sie wie ein eiskalter Hauch. Das Mädchen aus der Zukunft war zu versunken, um mit der uralten Symbolik der Märchen diesen Hauch als den Atem dessen zu erkennen, was nahte. Nerd lächelte - ja, aber wie! Selbst dieser Ausdruck der Freude hatte bei ihm etwas Hohles, schien wie ein Passbild, gestellt und unecht, obwohl - da gab es für Sive keinen Zweifel: Dieses Lächeln war echt, denn es spiegelte sein Gefühle wider. Es erinnerte Sive seltsam an die starren Grimassen der Personen auf den alten Schwarzweißphotographien, die sie vor Jahren mal in einem Fotoalbum ihrer Eltern betrachtet hatte. Wie eine schlechtsitzende Maske lag es auf diesem bleichen Gesicht... aber was lag darunter? Eine Maske verbarg die Dinge, und was lag darunter? Sah das denn keiner?! Und was sah sie, Sive, die diesen Jungen gar nicht kannte, dass sie aus einem ereignislosen Morgen in dunkle Ahnungen stolperte? Sive war nun soweit um die Ecke gerutscht, dass sie Nerds Haar hätte berühren können, wenn sie gewollt hätte. Fast ebenso sehr wie den spielenden Jungen zog sie das Spiel, das Mienenspiel, das sie ausschließlich als Zuschauer miterlebte, in seinen Bann. Denn Nerd nahm sie überhaupt nicht wahr, sein Lächeln wurde breiter und er schien sich aufzurichten, als er zum letzten Schlag ausholte. ~~~ Confide In Me Performed by Kylie Minogue. I stand in the distance I view from afar Should I offer some assistance Should it matter who you are We all get hurt by love And we all have our Cross to bear But in the name of understanding now Our problems should be shared Confide in me Confide in me I can keep a secret And throw away the key But sometimes to release it Is to set our children free We all get hurt by love And we all have our Cross to bear But in the name of understanding now Our problems should be shared Confide in me Confide in me Stick or twist the choice is yours Hit or miss what's mine is yours Stick or twist the choice is yours Hit or miss what's mine is yours We all get hurt by love And we all have our Cross to bear But in the name of understanding now Our problems should be shared Confide in me Confide in me Confide in me Confide in me ~~~ Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 7: XIX. Der Lauscher an der Wand * XX. Vor und hinter der Traumhülle * XXI. Fragen und Antworten -------------------------------------------------------------------------------------------------------- Falls es Euch interessiert, wie die Kinder eigentlich aussehen: unter http://animexx.4players.de/fanarts/fanart.php4?id=79670&sort=zeichner könnt ihr Euch ein Bild zu Jura Tripper 1 1/2 over ansehen, das meine Freundin Willow/Curse mir zur "Beendigung" geschenkt hat und dem bald noch weitere Illustrationen folgen werden. ~~~ XIX. DER LAUSCHER AN DER WAND * XX. VOR UND HINTER DER TRAUMHÜLLE * XXI. FRAGEN UND ANTWORTEN XIX. Der Lauscher an der Wand Zwei Piepser erklangen, ein Sirren. Der Punktestand stieg, und die Stimmung mit ihm. Treffer. Ausweichen. Treffer. Ausgewichen. Ausgewichen - Treffer. Ja! Es ging voran, fast war es geschafft. Ein Schuss. Treffer. Ein waghalsiger Sprung, gerade noch erreicht. Speed. Drosseln der Geschwindigkeit. Schuss. Treffer. Plötzlich ein Hindernis, falsche Reaktion. Das war noch zu schaffen! Es musste noch zu schaffen sein! Ausweichen. Sprung. Daneben. Straucheln - Fall... Dann ein schriller Doppelton, der alle vorherigen übertönte. Der Bildschirm wurde schwarz. Wie das Zusammenkrabbeln kleiner Käfer formierte sich eine Frage auf der glänzenden Plastikfläche: Continue - End? Nerd gab keine Antwort. Fast achtlos legte er das Ding beiseite, nein, warf es beinahe, ließ den Kopf sinken und sah ins Leere. Das Lächeln war verschwunden, hinweg getrieben in Datenströmen. Auf einmal verspürte Sive eine merkwürdige Traurigkeit. Sie schüttelte den Kopf, bemüht, sie zu verscheuchen, aber es fiel ihr schwer. Sie hatte Mitleid mit diesem Jungen, auch wenn sie nicht ganz verstand, warum. Es war doch nur ein Spiel! Aber für Nerd was es mehr als das, das spürte sie. Mit einem leisen Seufzer richtete er sich nun auf und griff wieder nach dem Game Boy, den er zuvor beiseite geworfen hatte. Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn und der Gesichtsausdruck, mit dem er das Gerät betrachtete, war eine Art gequältes Lächeln, aus dem fast so etwas wie Spott sprach. Gleich würde er ihn wieder anschalten und es noch einmal versuchen, und, sollte es wieder misslingen, eben noch einmal und noch einmal und so weiter. Es war ein Spiel. Man konnte immer wieder von vorn beginnen. "Da bist du." Es war eine Feststellung, nichts weiter, ausgesprochen von God, der mit Snake aus dem Gang auf der anderen Seite kam. Er lag gegenüber von Sive, doch hinter ihrer Ecke verborgen war sie noch immer ungesehen. Nicht dass sie deshalb begeisterter gewesen wäre. Wenn es etwas gab, was ihr gerade noch gefehlt hatte, dann das hier, dachte Sive verstimmt. Der ruhige Morgen war also vorbei. Nerd blickte auf, ohne große Überraschung, jedoch auch ohne den Game Boy beiseite zu legen. "Was ist?", fragte er gleichmütig. Snake antwortete: "God sagt, wir müssen reden!", um gleich darauf eine Kopfnuss zu kassieren. "Aua!" "Wir müssen reden," teilte God Nerd mit. "Das hab ich doch gesagt!" protestierte Snake, doch die beiden anderen schienen ihn nicht zu beachten. God schwieg, sein Blick lag auf Nerd und dem, was er in Händen hielt, der Beschäftigung, der er augenscheinlich schon seit einer ganzen Weile nachgegangen war. Nerd merkte es und die Blicke der beiden trafen sich. Wenn er jetzt eine blöde Bemerkung macht, dann knall' ich ihm eine, dachte Sive inbrünstig, völlig vergessend, dass sie eigentlich nicht gesehen werden wollte. Was wollten die Typen eigentlich von Nerd? Sie verstand nicht, warum er dauernd mit denen rumhing. Das war doch echt keine Gesellschaft, wo lag der Grund? Irgend jemand hatte mal etwas darüber gesagt, aber so sehr Sive auch nachdachte, sich konnte sich weder erinnern, wer, noch, was es gewesen war. Dann sah God weg. Nerd steckte den Game Boy ein und stand auf. "Also, worum geht es?" Jetzt schien God leicht in Verlegenheit. "Äh... um das. Um das, meine ich." "Um deine Tochter?" Volltreffer. Allerdings sah der Ältere aus, als wäre es ihm lieber gewesen, wenn Nerd das ganze etwas weniger direkt ausgedrückt hätte. "Ja, genau darum geht es!" rief Snake. Kopfnuss - "Aua!" Gods Laune schien wahrlich nicht die beste zu sein. "Wir müssen überlegen, was wir tun." Was du tust, dachte Sive boshaft, erst dann wurde ihr siedendheiß klar: Es ging um sie. Da wurde über sie geredet, und sie hätte eigentlich nicht dabei sein sollen, oder? "Was willst du denn tun?", fragte Nerd. God schaute aus der Wäsche, als wüsste er das auch gern, hatte aber nicht den blassesten Schimmer. "Na ja," druckste er mit finsterer Miene, "irgendwas eben." Sive bekam es mit der Angst zu tun. Diese Typen waren so unzurechnungsfähig, was, wenn sie sie kidnappen und dann an die Armee verkaufen wollten? Oder - Aber nein, dachte sie und entspannte sich ein bisschen, soviel Fantasie hatten die gar nicht! "Ich dachte, wir könnten sie vielleicht irgendwo verlieren..." murmelte God. "Das meinst du nicht wirklich, oder?" kam die trockenen Antwort. "Natürlich!" behauptete God sofort, "warum denn nicht? Nichts ist einfacher!" "Ja," entgegnete Nerd lakonisch, "außer, dass Boss in seiner Überbesorgtheit absolut niemanden abhanden kommen lässt, nicht einmal deine Tochter. Ganz besonders nicht deine Tochter." "Danke für die schlauen Ratschläge. Das weiß ich selber," zischte God wütend, anscheinend noch beunruhigter durch den ständigen Gebrauch des schönen Wortes ?Tochter'. Nerd fuhr zurück und schwieg plötzlich. "Warum wollt ihr sie eigentlich unbedingt los werden?" warf da auf einmal Snake ein. "Ich meine, sie ist doch eigentlich recht nett!" Genau, dachte Sive. Ihr Charme ließ sich eben einfach nicht abstellen. "Warum?" rief God aufgebracht und riss die Arme hoch, "Warum?!" Es lag schon wieder eine Kopfnuss in der Luft, Snake ging ein paar Schritte rückwärts, der gegenüberliegenden Wand entgegen. "Ähm... ich mein ja nur..." murmelte er verlegen, "Warum?" "Das fragst du noch?!" "....weshalb?..." "Weil..." Gods Stimme verlor sich. "...wieso?" "Darum!" Triumphierend verpasste God ihm eine Kopfnuss. Snake rieb sich die schmerzende Stelle und taumelte rückwärts... rückwärts... rückwärts... um die Ecke. Sein Kopf schoss etwa zwei Zentimeter neben ihr hervor. "Hallo, Sive!" begrüßte er das Mädchen und winkte ihr direkt in das von tiefster Neugierde gezeichnete Gesicht. Sive bekam einen solchen Schreck, dass sie den Arm von der Wand nahm und umkippte. Hilfsbereit wie stets kam Snake sofort, ihr aufzuhelfen, stolperte dabei allerdings über seine eigenen Spinnenbeine und fiel der Länge nach hin. "Was machst du hier?" kreischte Sive, die neben ihm lag, ihr pochendes Herz beruhigte sich nur schwer. "Deine Seite ist da drüben!!" Anklagend zeigte sie um die Ecke. Snake sah seinen Irrtum sofort ein. "Tut mir leid," meinte er kleinlaut, sprang auf und war bereits dabei, sich auf dem selben Weg zurückzuziehen, den er gekommen war, als er noch einmal den Kopf um die Ecke streckte: "Aber willst du nicht auch hierher kommen? So ganz allein ist dir doch bestimmt langweilig!" Langsam aber sicher begann Sive zu begreifen, weshalb God sich so oft bemüßigt sah, Snake eine zu verpassen. "Mir - ist - nicht - " wollte sie ihm noch wutentbrannt hinterher schleudern, da tauchte hinter Snakes lächelndem Gesicht plötzlich ein zweiter Kopf auf, der sie sah und die Augen zu Schlitzen formte. " - langweilig..." piepste Sive noch, als God mit immer größeren Schritten auf sie zustampfte. Und er sah alles andere als freundlich aus. Er wird mich umbringen!, schoss es Sive blitzartig durch den Kopf.... Oh nein, und ich weiß noch nicht mal, was ein Testament ist!! Die Hände zu Fäusten geballt, blieb God vor ihr stehen und stierte Sive an, die da rücklings auf die Arme gestützt am Boden lag. Was er sah, schien ihm im übrigen nicht sehr angenehm zu sein, denn er verlegte seinen Blick im Laufe des Gespräches souverän auf einen Punkt irgendwo über ihrem Kopf. "Du hast gelauscht," stellte er erbarmungslos fest. Sive nickte ängstlich, es war ja doch unleugbar. "Du hast gelauscht." Verlor es dadurch, dass es wiederholte wurde, irgendwie an Gültigkeit? Sive nickte wieder, mittlerweile etwas genervt. Es war doch offensichtlich, oder? "Du hast gelauscht!" Jaaaaa!, dachte sie mit einem nicht geringen Anflug von Trotz. War der Typ blöd? Ach ja, klar, er war. "Ja, ich hab gelauscht!" rief Sive entnervt, riss die Arme hoch und schlug prompt mit dem Kinn auf dem Boden auf. Sie zog die Beine an und rappelte sich auf, bis sie wieder auf den Füßen stand. Jetzt waren die Positionen wenigstens in etwa gleichmäßig verteilt. "Du hast gelauscht," wiederholte God zum vierten Mal. Er sah irgendwie fassungslos aus. "Wie hast du das gemacht?" "Hä...." ächzte Sive, "äääh... wie bitte?" Die Korrektur war einzig und allein Liams Erziehung zuzuschreiben, nicht jedoch Respekt vor dem Gegenüber. "Ist doch klar, wie sie das gemacht hat," trat Snake vermittelnd ein. "Sie ist halt deine Tochter!" "IST SIE NICHT!" brüllten zwei verstörte Stimmen (in etwa so verstört, dass Sive vergaß, von sich in der 1. Person zu sprechen), aber das schien Snake nicht die Aussicht vermiesen zu können, ein Patenkind zu bekommen. "Sive, wie heißt dein Papa?" erkundigte er sich freundlich. Die jedoch gab sich verstockt. "Sag ich nicht!" grollte sie, und nach einer kurzen Pause: "Mein Papa würde das auch nicht sagen!" "Das hab ich befürchtet..." ertönte irgendwo im Hintergrund ein Gemurmel. "God, wie heißt du?" fragte Snake. Dieser schien ebensowenig zu einer Auskunft bereit. "Sag ich nicht!" "Sag ich ja..." Der Murmler war Nerd. "Also, jetzt kommt schon," rief Snake und rang die Hände, "was habt ihr denn?" "Du bist hässlich," teilte God Sive mit, die Arme verschränkt und grimmig dreinschauend. Sive wusste genau, wenn er so anfing, waren ihm die Argumente ausgegangen. "Stimmt, God, sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten!" fiel Snake ein. Prompt verpasste Sive ihm eine Kopfnuss. "Ich bin keine Blondine!", schimpfte sie, "Merk dir das! Ich hab braunes Haar..." "Aber seht mal," hielt Snake dagegen, sich den Kopf reibend und offenbar fest entschlossen, als Versöhner zu fungieren, "rein theoretisch [Anm. d. Verf.: Kennt er das Wort überhaupt? *__*] könntet ihr doch tatsächlich verwandt sein!" Er wollte es wohl behutsam angehen. Sive schielte unauffällig zu God und God tat dasselbe. Verwandt?! Ein Schauder lief ihr über den Rücken, so schrecklich hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit... ihr fiel kein Vergleich ein, und das war selten in Sives Leben. "Ihr seht euch ähnlich, ihr habt den gleichen Nachnamen, ihr versteht euch prima..." zählte Snake auf, "ihr..." "WAS?!" greinten zwei Stimmen. "Pah." God verschränkte die Arme, verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen, und sah demonstrativ in die andere Richtung. "Hmpf." Sive verschränkte die Arme, verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen, und sah demonstrativ in die andere - andere - Richtung. "...verhaltet euch sogar ähnlich." schloss Snake strahlend. Geplättet ließ Sive den Kopf hängen (und sie wollte gar nicht wissen, was God gerade tat). Das war einfach gemein von Snake. Der machte das extra... der wollte sie nur ärgern... Sive mochte es nicht, geärgert zu werden.... ihr Papa hätte sich nie mit so einem Deppen angefreundet... ihre Mutter hätte so einen Deppen nie geheiratet... sie wäre so einem Deppen nie begegnet... warum sagte Nerd nicht mal was, nur der Abwechslung halber... Pfadfinder waren das Letzte... sie hatten den gleichen Nachnamen.... sie sahen sich ähnlich... sie verstanden sich prima... "Aber... aber... aber... das kann unmöglich mein... mein Papa sein!" schrie Sive in heilloser Verzweiflung. Völlig fassungslos stand sie da, und man konnte beinahe zusehen, wie hinter ihrer Stirn kindliche Illusionen zusammenstürzten. "Mein Papa ist... wunderbar... und nett... und groß.... und... der da..." Sive schluckte hart. "Der da ist einfach nur mittelmäßig..." XX. Vor und hinter der Traumhülle "Sive! Da bist du ja." hatte Liam gerufen und "Was steht ihr hier noch rum? Wir müssen weg!", Boss. "Die Armee ist in der Stadt!" "Liam..." hatte Sive gedehnt erwidert, war aber nicht mehr dazu gekommen, weiter zu sprechen, da Boss sie sich auf höchst unrühmliche Weise unter den Arm geklemmt hatte, davongeeilt war und die anderen damit mehr oder weniger zwang, ihm zu folgen. Während sie durch die Gänge hasteten, teilte er ihnen atemlos mit: "Manua kennt einen geheimen Weg. Wie konntet ihr euch nur in einer solchen Situation von der Gruppe entfernen? Wir haben in aller Eile packen müssen, Presi lag noch auf dem Kopfkissen. Wir müssen uns beeilen." Erst in einem der entfernteren Kellergänge, dessen Ausgang angeblich nur wenige Schritte von ihrem Fahrzeug entfernt lag, fand Sive wieder festen Boden unter den Füßen. "Die Armee ist in Lupar und sucht euch und den Stimosaurus!" erklärte Manua den versammelten Pfadfindern ernst, in der einen Hand eine Laterne. "Im Moment verhören sie gerade meinen Vater und ich habe mich davongestohlen, um euch zu warnen." "Das ist sehr mutig von dir, Manua," erwiderte Boss dankbar, "aber.... äh... was macht der hier?" Aus dem Dunkel trat eine grell leuchtende Gestalt hervor und grinste fröhlich: "Hi!" "Kuzni?", fragte Manua verwundert, mit einem Blick auf ihren Küchenjungen. "Er hilft mir. Wir beide werden euch jetzt erst mal eine Weile begleiten, da es nicht ganz ungefährlich für uns sein dürfte, nach Lupar zurückzukehren, nachdem wir euch zur Flucht verholfen haben. Ich hoffe nur," fuhr Manua fort und tiefe Sorge klang aus ihrer Stimme, "dass sie sich nicht an meinem Vater rächen werden." "Manua... wir sind wirklich sehr froh, dass du all das für uns tust. Wir werden dir nie genug danken können," meinte Princess gerührt. Manua antwortete nicht, sondern nahm nur ihre Laterne und begab sich an den Anfang der Gruppe. Kuzni folgte ihr in einem Abstand von wenigen Schritten. "Schön, dass wir wieder zusammen sind, Zans," meinte Silence, glücklich darüber, seinen Freund wieder auf dem Arm tragen zu können. "Das finde ich auch, Silence," schnatterte Zans, "ich habe mich da oben schrecklich gelangweilt ohne euch!" "Und wo willst du uns jetzt hinbringen, Manua?" fragte President ausgiebig gähnend, um sogleich verlegen die Hand vor den Mund zu nehmen. Wie Boss gesagt hatte, war er gerade erst wach geworden, als ihre Gastgeberin sie alle mit der Hiobsbotschaft überrascht hatte. Noch einmal wandte Manua sich um. Im trüben Licht der Laterne konnten die Kinder ihr Gesicht nicht erkennen, doch der Tonfall ihrer Worte versprach wenig Rat und noch weniger Hoffnung. "Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass wir zu denen müssen, die mehr über die Technik und die alte Kultur wissen. Ich selbst kann euch nicht weiterhelfen. Ich habe dieses Wissen nicht." Und nun waren sie also wieder unterwegs, zu denen, ?die mehr über die Technik und die alte Kultur wussten.', wie Manua als eine Bewohnerin Noahs es ausgedrückt hatte. Wer diese wohl sein mochten? Liam saß im Tricelosa [das, ich weiß, ich weiß, zu diesem Zeitpunkt noch gar keins war! - Amber] und blickte versonnen aus dem Fenster, den Lärm um sich herum fast ganz vergessend. Seit er entdeckt hatte, wer seine Eltern waren, stellte er fest, wie sich das Gefühl, hier zu sein, in ihm wandelte. War es anfänglich beängstigend real gewesen, fast realer als sein wirkliches Leben, begann es nun mehr und mehr einem Traum - Wachtraum? - zu ähneln. Egal was sie machten oder wie sie handelten, unabhängig davon, ob sie diese Weisen finden würden - am Ende würden er und seine Freunde wieder in ihren Leben auf der Erde erwachen. Am Ende. Aber wo lag das Ende? Gab es so etwas überhaupt? Liam ahnte, dass diese trügerische Sicherheit gefährlich werden konnte, doch sie ließ sich nicht abschütteln. Sie stellte eine Art Puffer dar für die ebenso neue geistige Unordnung, Verwirrung, über die er gern in Ruhe mit den anderen gesprochen hätte. Doch bis jetzt hatte sich noch keine Gelegenheit dazu ergeben - wie schon so oft. "Durch und durch mittelmäßig." Das war das einzige, was Sive hatte verlauten lassen, bevor Boss sie gekidnappt hatte. Liam löste seinen Blick von der weiten Landschaft und kehrte langsam ins Innere des altmodischen Gefährts zurück, das sich tapfer seinen Weg über Stock und Stein bahnte. Durch und durch mittelmäßig. Auch God, der ihm gegenüber saß, schien diesen Satz nicht aus dem Kopf zu bekommen, Liam lächelte belustigt. ?Durch und durch mittelmäßig. Durch und durch mittelmäßig.', schien sein Zopf, der im Rhythmus des Fahrzeugs wippte, zu verkünden. Sive hatte anscheinend einen Volltreffer geleistet, wie fast immer auch gleichzeitig ein Blindtreffer. Durch und durch mittelmäßig. Von allen Beleidigungen, die sie God an den Kopf hätte werfen können, war das wohl mit Abstand die schlimmste. Neben Snake begann nun Nerd seinen Game Boy auszupacken. Auch Crybaby, Young Lady, Doc und Tank waren schweigsam, nur die Kleinen redeten fortwährend durcheinander. Man hatte sich schließlich darauf geeinigt, vorerst auf Gondowana zuzufahren, nach Manua der Sitz des Königs und die größte Stadt des Landes. "Liam..." Liam spürte, wie sich eine Hand in seine schob. "Ja, Sive?" sagte er, ohne aufzusehen. Sive sah auf die gegenüberliegende Bank, wie er, wandte dann aber ihren Blick Liam zu. "Es ist komisch, nicht war?" Liam nickte, er konnte nicht sagen, wie Sive ihm aus der Seele sprach. "Ich verstehe nicht. Ich... muss nachdenken." fuhr sie fort, stockend und zerstreut. "Sheerla und Neesan... glaubst du, sie verstehen es?" Liam musste lächeln. "Sicher nicht," entgegnete er. "Sie werden gleich kommen und mit uns darüber sprechen." "Weißt du jetzt etwa alles und bist Wahrsager?" fragte Sive, weit weniger scherzhaft als ihre Worte. "Nein," meinte Liam, "aber wenn wir zu ihnen hinüber gehen, werde ich recht haben." Die beiden erhoben sich und durchquerten den hinteren Teil des Tricelosas. Blicke fielen auf sie, Blicke aller Art und nicht alle hinterließen Angenehmes. "Liam!" rief eine freundliche Stimme, als sie vorbeikamen, "Möchtest du vielleicht etwas essen?" Es war das erste Mal, dass sie ihn beim Namen nannte, und es fühlte sich reichlich seltsam an. Princess hielt ihm ein Stück Obst hin. Ganz Mutter war sie gerade dabei, für die Kinder einige der roten Früchte, die Manua ihnen als Proviant mitgegeben hatte, zu schälen. Wie aus Reflex wollte Liam auf dieses Angebot sofort nein sagen, besann sich dann aber und nahm es fast stürmisch entgegen. Während er aß, fiel es ihm gerade noch ein, sich zu bedanken. Princess schien seine gute Erziehung zu gefallen, sie lächelte. Sie wusste ja nicht, woher er sie hatte, dachte Liam schmunzelnd und stirnrunzelnd in einem. "Mich mochte sie noch nie," murrte Sive. Erst da fiel Liam auf, dass Princess ihr gar nichts angeboten hatte. "Das stimmt doch gar nicht." meinte er sanft. "Sie mag dich sehr, das weißt du doch. Sie hat nur manchmal Probleme, mit deiner Art klarzukommen." "Meinen Papa mag sie auch nicht," schmollte sein Gegenüber, anscheinend unbelehrbar. Überrascht zog Liam die Augenbrauen hoch. Was war denn das? "Ich mag sie auch nicht!" teilte Sive ihm rigoros mit. "Wen?" fragte Blunder kauend, auch Princess sah auf. "Princess!" Sive warf ihr einen zornigen Blick zu und Princess erhob sich brüsk. Tief atmete sie durch und erwiderte dann nadelspitz: "Ach... du magst mich also nicht. Na schön, dann kann ich auch nichts daran ändern. Du kannst allerdings getrost davon ausgehen, dass ich..." "Ich mag dich nicht!" "...ich dich...." Vergeblich versuchte Princess, zu Wort zu kommen. "Ich mag dich nicht!" "auch nicht..." So langsam schien sie es aufzugeben, funkelte Sive nur giftig an. "Ich mag dich nicht!" Das Ganze hätte wie eine von Sives üblichen Antipathietiraden abgehen können, wenn nicht wie auf den Plan gerufen auf einmal God neben ihr gestanden hätte. "Sei nicht so frech zu Princess, immerhin ist sie deine Mutter!" wies er sie scharf zurecht. "Meine..... was?!" kreischte Sive empört und entsetzt, von der peinlich berührten Atmosphäre, die auf einmal im Raum stand, völlig unbeeindruckt. "Moment mal... Ich weiß ja nicht, wie lange du sonst brauchst, um etwas zu begreifen, aber diese rosarote Zicke da war und ist niemals meine Mutter!" Princess sah aus, als ob sie Sive am liebsten geküsst hätte, für das, was sie nicht war. "Sie ist..." - Ach Sive, dachte Liam, du bist die ehrlichste Lügnerin, die ich kenne! - "...Liams Mutter!" Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Sive da und konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Und wenn man sie fassungslos nennen konnte, dann war God wohl völlig aus dem Rahmen. "Du.... du.... meinst.... dass...." Er schnappte nach Luft, man konnte beinahe hören, wie es in seinem Gehirn arbeitete. "Dann..." Was 'dann' war, schien nicht nur ihm schlagartig klar zu werden, denn Princess wurde auf einmal puterrot. "Princess ist Liams Mutter." bekräftigte Sive, offenbar krampfhaft bemüht, ernst zu bleiben. "Liam...!" God wandte seine verstörte Aufmerksamkeit dem Inhalt des Gesprächs zu, der verlegen da stand und trotz allem froh war, dass es endlich heraus war, "Du..." Er ballte die Fäuste, wodurch Sive sich gezwungen sah, einzugreifen. "God," bemerkte sie tadelnd, "Ich erinnere dich daran, dass er nichts dafür kann!" God ließ die Faust sinken und sah zu Boden. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann meinte er langsam, an Sive gewandt: "Das macht dir wohl Spaß, wie?" Verwirrt blickte Sive ihn an, schien nicht zu verstehen. "Du siehst es wohl als einen Sport an, uns hier alle gegeneinander auszuspielen?! Princess ist meine Verlobte, und das weißt du!" "Ich..." Sive öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. "Enthüllungen, Enthüllungen, Enthüllungen! Vielleicht willst du dich wichtig machen und denkst, du kannst dir alles erlauben, weil du ja aus der Zukunft kommst! Aber so läuft das nicht!" God stand da, alles um sich herum vergessend und schien sich als Ziel seiner gesamten Wut nun Sive ausgesucht zu haben. "Ich...." Sive verschluckte sich, ihre Augen wurden glasig. Sie schien kurz davor, loszuheulen. "God, hör auf damit," bat Liam, wurde aber ignoriert. Dann schob Princess Blunder beiseite und stellte sich vor ihren Verlobten hin: "Das reicht jetzt!" Er schien sich ihrer Gegenwart nur allmählich bewusst zu werden, immer noch blickte er an Princess vorbei Sive an. "Wenn es so ist, dass wir in Zukunft nicht mehr verlobt sind, dann ist es eben so!" Fest sah Princess God ins Gesicht. "Dafür kann niemand etwas, auch nicht deine Tochter! Also hör auf, dich wie ein Chauvi zu benehmen, Donivan! Ich weiß nicht, was morgen ist, ich weiß ja nicht einmal, was heute ist! Aber wenn ich in Zukunft mit einem anderen verheiratet bin, dann..." - bewußt schien sie ihre Worte nicht genauer gewählt zu haben - "...bist du froh darüber?" schlug God vor und nur wenig Sarkasmus schwang in diesen paar Worten mit. "...bin ich... ich bin..." Princess schnaubte, was sich ziemlich undamenhaft anhörte, kehrte God jäh den Rücken zu und verschwand in der Mädchentoilette. God sah ihr hinterher. Schließlich räumte auch er das Feld. In diesem Moment kam rein zufällig Boss an, sei's seinem Gespür für peinliche Auftritte zu verdanken oder lediglich dem Aufruf der Autorin, streckte den Kopf durch den Türspalt und rief God, der gerade an ihm vorbeiging, schelmisch zu: "Na? Ehekrach?" Die darauffolgende Morddrohung schien ihn im übrigen nicht im geringsten zu beeindrucken. Erst als Crybaby ihn mit den Worten "Brian, Princess ist Liams Mutter," knapp in den Inhalt der vorangegangenen Szene einweihte, war auch Boss leicht baff. XXI. Fragen und Antworten "Sag mal, hast du eigentlich einen Führerschein?" "Was?!" President bremste Hals über Kopf, legte einen Gang ein, nahm ihn wieder heraus, zog eine verzweifelte Grimasse und beantwortete damit Sheerlas Frage. "Ich hab ja nur gefragt", erklärte diese mit einem milden Anflug von Verteidigung in der Stimme, "Ich hab ja nur gefragt. Stimmt's, Neesan? Wie alt bist du eigentlich?" Neesan seufzte nur, und Sheerla, die sich wirklich vorgenommen hatte sich zu bessern, was die Bevormundung ihres Bruders anging, errötete. "Sorry..." murmelte sie verlegen, kletterte vom Beifahrersitz, auf dem sie geturnt hatte und verkrümelte sich an die Wand. "Ist schon gut," meinte Neesan versöhnlich, "Ich habe mich nur gerade gefragt, was der Krach da hinten eben zu bedeuten hatte." "Princess hat geschrien," ließ sich Tiger beiläufig hören. President fuhr herum, ohne auf die Bäume zu achten, die auf einmal bedrohlich nahe kamen: "Du bist nicht mit Boss raus gegangen?!" "Warum sollte ich?" gab Tiger angriffslustig zurück. Sie hatte die Situation nicht gesucht und die Tür war in greifbarer Nähe. "An deiner Stelle hätte ich es getan," bemerkte Sheerla mit einem gewissen Respekt in der Stimme. "Was?!" Tiger zog eine Augenbraue hoch. Neesan lächelte. "Papas Part." President an seinem Steuer räusperte sich nachdrücklich. Acht sehr ähnliche Augen wandten sich einander zu. "Worauf wollt ihr hinaus?" "Wir sollten einander kennenlernen. Stimmt's, Sheerla?" Das saß. Sheerla nickte heroisch und zog sofort das Gespräch wieder an sich: "Also, President, wie alt bist du? Und du, Tiger, sagtest etwas über Princess. Wie lange kennst du sie?" Einen Moment lang wechselten die Erwähnten nur distanzierte Blicke, als sei es ihnen gar nicht recht, so ausgehorcht zu werden. "Ihr seid direkt," gab Tiger schließlich zu. "Ich weiß," grinste Sheerla, "das ist gesünder und besser, als sich die Köpfe mit Vorurteilen einzuschlagen." Mit dem Kinn wies sie sacht in Richtung Tür. "Ich bin 17," gestand President geknickt. "Ja, ja, sagt nichts. Ich weiß, dass man mir das nicht anmerkt." "Stimmt. Du wirkst älter," räumte Sheerla ein und sowohl President als auch Tiger, die das Gegenteil angenommen hatten, staunten. "Ich kenne Princess noch gar nicht sehr lange, erst, seit wir hier auf Noah sind," antwortete Letztere dann gefasst. "Aha," nickte Sheerla, "und wie - " " - und ihr - " zog Tiger blitzschnell nach, " - hast du - " " - seid - " Tiger hatte gewonnen und Sheerla hielt den Mund, "seid Zwillinge?" Diesmal wandte sie sich ausdrücklich an Neesan. "Ja," gab dieser bereitwillig Auskunft, "zweieiige Zwillinge. Wir sind neun Jahre alt." "Ich kann das alles noch immer nicht recht begreifen," meinte President, den Blick in einer Art verträumter Konzentration auf das Steuer gesenkt, "ich meine... dass ich und Tiger..." "Sag bloß nichts Falsches!" zischte diese sofort und während Princess sich ihrem Kleid angepasst hatte, glich Tigers Gesichtsfarbe nun der ihres Haarschopfes. "Ihr müsst euch nicht streiten", stellte Neesan fest, ganz so, als sei es die natürlichste Sache der Welt: "Ich hab euch beide lieb." Die Eltern schmolzen augenblicklich. Sheerla war es, die in geübter Manier jegliche Ansätze von Sentimentalität im Keim erstickte. "Tiger, du hörst viel zu sehr mit dem Beziehungsohr," kritisierte sie, und "President, ich glaub, du macht gerade eine schwere Identitätskrise durch, nicht wahr?" "Und du... du bist ein ganz besonders kluges kleines Mädchen, kein einziges Mal bist du bei dem Wort ?Identi... Identä..... Identiti...' ...äh... hängengeblieben," versetzte Tiger säuerlich. "Ich weiß," strahlte Sheerla keck. "Das hab ich von dir. Opa sagt das auch immer." Zukunft hin oder her, diese Geschöpfe hatten wohl immer ein As im Ärmel. "Kinder sind wie kleine Engel," sagte President in ruhiger Weisheit. "Die Frage ist nur, wann hören sie auf damit, so zu sein?" Und an Tiger gewandt: "Ich brauche unbedingt ein Buch über schwer erziehbare Kinder. Glaubst du, in Gondowana kann man Erziehungsratgeber kaufen?" "Das weiß ich nicht," entgegnete Tiger, ohne deutlich zu machen, ob sich ihre Antwort auf die erste oder auf die zweite Frage bezog. "Ich weiß nur eins, das wird nicht einfach mit uns." "Du hast den ganzen Schrank voll davon stehen!" - "Schau dir erstmal die hinter der Tür an!" gaben Neesan und Sheerla über Kreuz zurück. "Ach ihr," seufzte Tiger, und dann tat sie etwas, was sie ganz sicher nie getan hätte, wenn außer President auch nur irgend jemand anders anwesend gewesen wäre: Sie kam quer durch den Fahrerraum auf die beiden zu, legte den Arm um Sheerlas Schultern und streichelte Neesan in seinem Sitz über den Kopf. "Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt Kinder möchte. Ich hätte Sorge, was aus ihnen wird, wenn ich sie allein lasse. Ich glaube, ich hätte lieber etwas Freiheit. Ist das sehr schlimm für euch?" Sie wandte den Kopf und sah President ins Gesicht, als ob sie um sein Einverständnis bitten wollte: "Aber wenn... dann hätte ich am liebsten Jungen und Mädchen." "Ich weiß nicht, ob ich ein guter Vater wäre," gab President besorgt zu bedenken. "Ich hätte Angst, meine Kinder falsch zu erziehen. Was ich in Büchern finde, hilft mir nicht immer. Ich würde auch nicht wollen, dass sie zu einsam sind, während ich viel arbeiten muss. Ich glaube, ich hätte gern zwei. Damit sie aufeinander aufpassen können." "Ich weiß," rief ein energisches Mädchen aufgeregt. "Ich hab es mir gedacht," flüsterte ein Junge versonnen und still. "Princess? Princess, bist du da drin?" Zaghaft klopfte Liam an die Tür, auf der groß und deutlich ?irls' stand. Das ?G' war heruntergefallen, weil irgend jemand sie besonders heftig hinter sich zugeschlagen hatte. Seit nahezu einer Stunde hatte sich Princess nun in der Toilette eingeschlossen. Nicht gerade das feinste Boudoir, aber immerhin etwas - Liam selbst, obschon erst seit knapp zwei Tagen da, hatte bereits am eigenen Leib erfahren dürfen, wie schnell man einen Koller bekam, wenn man ständig mit mindestens vierzehn Leuten auf engstem Raum zusammen sein musste. "Princess? Ich... ich bin's. Liam." "Liam?" "Ja?" "...Komm rein." Ein Geräusch war drinnen zu hören, dann öffnete sich die Tür des winzigen Kabäuschens. Bevor er über die Schwelle trat, musste Liam noch einmal mahnend an die heiligste Regel der menschlichen Zivilisation denken, die er nun um der Liebe Willen im Begriff zu brechen war: Keine Jungs im Mädchenklo! Aber eigentlich war ihm das ziemlich egal. Und falls vor Gericht eine Rechtfertigung von Nöten sein würde, die hatte er ja: Dank Princess' Heißblütigkeit stand schließlich nur noch ?irls' dran. Nachdem er eingetreten war, betrachtete Liam aufmerksam ihre Augen, doch Princess erriet seine Gedanken. "Ich habe nicht geweint. Ich wollte nur allein sein. Ich hab es da draußen einfach nicht mehr ausgehalten." Ihr Gesicht blieb abgewandt, der Tonfall teilnahmslos. "Das kann ich verstehen," meinte Liam aufrichtig, bevor er sich neben sie auf den Klodeckel hockte, um fortan nichts weiter zu sagen. Schweigen war seine Art, den Gegenüber reden zu lassen, und auch in diesem Fall schien sie zu wirken. "Du bist ein lieber Junge, der beste, den man sich wünschen kann, aber.... ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich deine Mutter bin!" rief Princess mit erstickter Stimme. Ihre Hände im Schoß verkrampften sich und sie senkte die Lautstärke, während sie weiter sprach, als wollte sie verhindern, dass ihr Ausbruch nach draußen drang: "Ich... ich mag sie ja beide. Aber ich kann die Zukunft nicht ändern, und das macht mir Angst." "Aber die Zukunft kann auch dich nicht ändern," wies Liam sie ruhig hin. Princess sah ihn an und ihr Blick wurde nahezu unmerklich wärmer. "Das mag sein..." flüsterte sie zögernd, nicht völlig überzeugt, "aber... dennoch..." "Du wirst glücklich sein." "Aber jetzt.... nun..." Betrübt ließ sie den Kopf sinken, sah wieder auf ihre gefalteten Hände. "Pst!" wisperte Liam und legte ihr den Finger auf die Lippen, "Ich weiß es. Du singst, während du badest!" Ein Schauer lief durch ihren Körper, der Liam zuerst erschreckte, doch dann wurde ihm klar, dass nicht nur Sive ein höchst wechselhaftes Geschöpf war - alle Frauen waren so beschaffen! Denn Princess kicherte ganz offen. "Ist.... ist das wirklich wahr?" Ein neuer Glanz in ihren Augen verriet, dass sie in diesem Moment nicht nur ihren Sohn in ihm sah. Liam nickte heftig, ein spitzbübisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. "Ja! Es ist wahr! Sogar Sive hat es schon gehört." "Sive..." wiederholte Princess mit einem Anflug von Ratlosigkeit, "glaubst du, sie ist mir böse?" "Das glaube ich kaum." Liam schüttelte leicht den Kopf. "Es ging ihr weniger darum, glaube ich. Sie weiß ja, dass du sie eigentlich magst." "Tue ich das?" fragte Princess unverhohlen. "Äh.... äh...." Liam kugelte sich wieder ein. "Ja. Doch. Aber ihr streitet euch oft." "Ihr seid gute Freunde, nicht wahr? Und sie ist oft bei dir... uns." "Ja," antwortete ihr Sohn warm, "ja, wir... kennen uns schon... lange. Wir sind Großcousins. Und sie kommt jeden Donnerstag, außer... oh..." Das mit dem Kochen lass lieber, schoss in Liams Kopf blitzartig ein Riegel vor. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Princess darauf reagieren würde. Doch diese schien die Pause gar nicht bemerkt zu haben. Etwas ganz anderes schien sie zu beschäftigen. "Ihr streitet oft, sagst du?" "Ihr," korrigierte sie Liam, "du und sie. Und ihr vertragt euch wieder." Princess nickte leicht mit dem Kopf, als würde diese Antwort ihr irgendeine Richtung weisen. "Und ihr beide? Streitet ihr oft?" "N...nein," erwiderte Liam zögernd. "Sie ist schwierig, das stimmt. Du auch, nebenbei, nimm's mir nicht übel. Aber nicht ich bin es, mit dem sie die meisten Probleme hat." "Mit wem dann?" "...Mit der ganzen Welt." beantwortete Liam die Frage kurz und bündig. Princess schwieg. "Was braucht man zum Vertragen?" wollte sie plötzlich wissen. "Du hast keine Geschwister, nicht wahr? Ich auch nicht..." Liam seufzte, er hätte gern welche gehabt... deshalb mochte er auch seine kleine Cousine so gern. Aber Princess' Frage berührte ihn in diesem Moment mehr als das, er spürte, dass sie auf eine Antwort wartete. Er musste gar nicht überlegen, die kleinen Sives und Sheerlas und Neesans in seinem Kopf kannten sie längst: "Streit," zählte er auf und ließ sich auch nicht beirren, als Princess ihn fragte, ob das denn von Belang sei, "ja. Streit. Das ist das Allererste. Und dann... Aufrichtigkeit. Bemühen!" "Aufrichtigkeit... Bemühen... Streit..." Ein Schatten flog über Princess' Stirn, sie wiederholte die Worte mehrere Male und Liam ließ sie, nickte nur ernst. Dann wandte sie sich ihm zu, einen Ausdruck von freudiger Überraschung auf dem Gesicht. Princess öffnete den Mund, um zu sprechen, nahm seine Hände... "Liam, du..." - sie schwieg einen Moment, suchte nach Worten - "du... verstehst es." schloss sie warm. Liam lächelte nur, lächelte sein Liam-Lächeln, dass hier und jetzt viel kindlicher schien als viele Male zuvor und Princess umarmte ihn, drückte ihn ganz fest. Dann fiel ihm noch etwas ein und er musste es Princess sogleich mitteilen. Also nuschelte er direkt in die nach Rosenparfum duftende Schulter, die ihm so vertraut war: "Wie soll ich dich nennen?" Princess ließ ihn los, runzelte die Stirn. "Wie...?" Liam sah auf seine Hände. "Ich kann dich... auch als große Schwester sehen, wenn du das möchtest. Ich meine.... wenn du... wenn dir das lieber ist." Princess blinzelte. "Liam," sagte sie, "nenn mich... Wendy." "Wendy?" fragte Liam, um sicher zu sein, denn er glaubte, ein leichtes Zögern bemerkt zu haben. Der Name schien aus einer anderen Gedankengegend zu stammen als die Zukunft, die sich noch ereignen würde. "Rosarote Zicke?" schlug er schmunzelnd vor. Nun musste auch Princess lachen. "Nein. Das ist mir dann doch etwas zu... unkonventionell. Nenn' mich Mama. Das ist okay." meinte sie kurzentschlossen, stand auf und klopfte sich das Kleid ab. "Okay," meinte auch Liam, "okay... Mama." Er erhob sich ebenfalls, Princess öffnete die Tür und die zwei gingen, hinterließen ein nun wieder verwaistes Kämmerchen, das leer stehen würde - bis wieder irgend jemand merken würde, dass er etwas Einsiedlertum bitter nötig hatte. Und das konnte, realistisch gesehen, bei 15 Leuten gar nicht so lange auf sich warten lassen. ["Weißt du, Liam..." hängte Princess mit dumpfer Stimme an... "Selbst wenn ich... ich, wohlgemerkt!... diese Szene in einem Hollywood-Film gesehen hätte...." "Dann...?" fragte Liam ahnungsvoll.... "selbst dann... brrr... wäre sie mir megakitschig vorgekommen! Das ist alles Ambers Schuld!" Liam wiegte den Kopf. "Nein.... das war alles die Nena-Musik, mit der sie sich dabei zugedudelt hat! War ja klar, dass dabei nix Gescheites rauskommen kann!" ANM. D. AUTORIN: "Hey! Jetzt ist aber Schluß mit dem Geläster! Ihr verhaltet euch völlig OOC! Jetzt lasst mich das Ganze nochmal durchlesen und nervt mich nicht! - Bitte! - Amber!] Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 8: XXII. Badefreuden * XXIII. Familienbande * XXIV. Geschichtenerzähler ------------------------------------------------------------------------------- XXII. BADEFREUDEN * XXIII. FAMILIENBANDE * XXIV. GESCHICHTENERZÄHLER XXII. Badefreuden Und es trug sich zu im Lande Noah, dass das Volk der Pfadfinder auf ein Gewässer stieß, das augenscheinlich den Altarm eines der zahlreichen lebensspendenden Flüsse dieser Welt darstellte. Während die Ältesten noch berieten, ob er zu umfahren oder zu überqueren sei, sprach aber Boss: "Warum machen wir nicht mal eine längere Rast und baden? Wir waren ewig in Manuas Keller und sind seitdem gar nicht mehr an die Luft gekommen!" All dies, so erklärte er vollkommen glaubhaft, läge ihm natürlich nur der Kinder wegen am Herzen, die sich doch noch im Wachstum befänden und dringend etwas Bewegung nötig hätten. "Ich glaube, du bist auch noch im Wachstum, Boss", so sprach Tiger. Doch der Vorschlag wurde angenommen. "Na, was ist denn? Hat er dich wieder geärgert?" Diese wohlwollenden Worte Sheerlas waren an Sive gerichtet, die auf der Treppe zum Amphibienfahrzeug saß und ins Undefinierbare starrte. Von einem Seufzer begleitet entgegnete Sive "Ich hab ihn geärgert", ohne auch nur aufzusehen. "Mit Absicht oder ohne?" wollte ihre praktische Freundin wissen und nahm ebenfalls auf dem Treppchen Platz, wo sie sich gleich selber die Antwort gab: "Ach, stimmt ja, wenn du jemanden ärgern willst, geht es normalerweise zu 100 % schief. Nur wenn du es nicht willst, hast du volle Erfolgsgarantie." Unglücklich nickte Sive. Sheerla klopfte ihr auf die Schulter. "Na komm, so schlimm wird's schon nicht sein. Die sind halt alle in der Pubertät oder wie das heißt. Eigentlich wollte ich dich fragen..." "Kommt ihr?" Liam erschien auf der Bildfläche, schon in Badehose, hinter ihm Neesan, der noch alle Siebensachen an hatte. Das, verknüpft mit der Lokalität, an der sie sich gerade befanden, verriet Sive, was Sheerla sie ?hatte fragen wollen.' Augenblicklich kam Leben in das Mädchen: "Nein! Nicht schwimmen! Hier sind Ferien! Ich geh nicht schwimmen!" "Das dachte ich mir," meinte Sheerla gutmütig, "aber ohne dich macht es leider nur halb so viel Spaß...", klemmte sich Sive unter den Arm und beförderte die Zappelnde schnurstracks zum Wasser, wo schon die anderen waren. "Ihr habt's gut...", brummte Blunder mit einem Blick auf Sheerla, die sich gerade im Glanz ihres Bikini sonnte. "Wir haben keine Schwimmsachen dabei... ob wir in Kleidern gehen können? Ich hab so Lust zu baden!" Er sah hinauf zum Himmel, von dem noch immer grell die Sonne brannte, obwohl es mittlerweile Nachmittag war. "Ich weiß nicht," entgegnete Silence, der Älteste der Kinder, "und wie sollen wir sie wieder trocken kriegen? Was, wenn wir uns erkälten?" "Sind in dem Wasser auch keine ekligen Tiere?" Gatcha schüttelte sich. Doch Timid konnte sie beruhigen: "Nein, die Großen haben Manua gefragt. Nur Kuzni wollte uns weismachen, dass es voller... Pirna... Piran... Piranja... böser Fische ist, aber Manua sagte, es ist... pinra... pira... piran... böse-fische-frei!" "Aber ob wir wirklich in Kleidern...." "Haaaaa-Ya!" Der Schrei kam von Boss, der gerade vollkommen bekleidet das natürliche Schwimmbecken stürmte. "Geht klar!" strahlte Blunder und die Blaukopf-Brigade preschte in die Fluten. "He! Spritzt nicht so!" rief Sive mit angewidertem Gesicht. Ihr Selbstbewußtsein erhielt noch einen weiteren Dämpfer, als auch Gatcha und Silence einander fragend ansahen und dann schulterzuckend das soeben in Mode gekommene Klamotten-Baden ausprobierten. "Na kommt," meinte Liam aufmunternd, "immerhin müssen wir nicht in Kleidern gehen." "Ich - will - nicht - baden!" kam es prompt im wohlbekannten Sive-gibt-nicht-nach-Ton und dann, überraschender: "Ich - will - nicht - vom - Dreier - springen!" auf Sheerla-lass-mich-bitte-Frequenz. "Neesan? Du auch?" "M-hm." Neesan sah zu Boden. Liam seufzte. Bis ins Knietiefe hatten Sheerla und Liam die Wassermuffel gekriegt, aber weiter nicht, da war nichts zu machen. Also ließen sie die beiden eben und gingen stattdessen ihren eigenen wassersportlichen Aktivitäten nach, während Zans ?Ente' machte und Boss unter den Fischen Angst und Schrecken verbreitete. Liam fühlte sich lebhaft an die sonntäglichen Familienausflüge zum Auckland Lake erinnert, die darin bestanden, dass Princess sich sorgfältig mit Sonnenmilch eingecremt auf ein Handtuch legte und dort den Rest der Zeit liegen blieb, während Boss und Liam ins Wasser gingen. Boss verharrte dort etwa dreimal so lange wie sein Sohn, er kam buchstäblich erst raus, wenn seine Haut am Verschrumpeln war. Das, so rechtfertigte sein kindlicher Vater sich, brauchte er eben als Ausgleich für seinen ach-so-stressigen Job. Zum Großteil rührte Liams Geschwisterwunsch von diesen Nachmittagen und den Urlauben. Manchmal nahmen sie Sive zum See mit, aber ein Badetag in ihrer Gesellschaft konnte höchstens als Trockenbaden bezeichnet werden, denn seine Großcousine war ja überhaupt nicht ins Wasser zu kriegen. Aber jetzt war Sheerla da und noch dazu war sie eine verdammt schnelle Schwimmerin, also sollte ich mich lieber beeilen und nicht nachdenken...! Zu spät, denn in diesem Moment hatte Sheerla schon mit dem Wort "Gewonnen!" die Wurzel angeschlagen, die sie als Ziel vereinbart hatten. Boss' Kleiderbaden war auch bei den Älteren in Mode gekommen und so tummelten sich zwar längst nicht alle, aber immerhin Tank, Tiger, Crybaby und sogar Young Lady im kühlen Nass. "Die spinnen. Ich würde das nie tun." bemerkte God spöttisch. Er und der verklemmte Rest saßen, standen oder lagen auf der Böschung oberhalb des Ufers und sahen den anderen mal mehr oder weniger belustigt, mal neidisch zu. "Genau!" unterstützte Snake ihn sofort lautstark. Das sollte wohl ein Trost sein, denn sein sehnsüchtiger Blick verriet so ungefähr das glatte Gegenteil, während er wie alle anderen dort im Gras vor sich hin schwitzte. Sive hockte im Wasser und hatte die Knie bis zum Kinn angezogen. Diese ausgeklügelte Haltung verhinderte, dass irgendein ein Teil ihres Körpers der bösen Sonne ausgesetzt war, bewahrte sie aber dadurch, dass sie im knietiefen Wasser eingenommen worden war, auch gleichzeitig vorm drohenden Ertrinken. Neesan gab sich zumindest körperlich lässiger, er hatte einfach die Beine der Länge nach ausgestreckt und sah unglücklich aus. Gemeinsam bewachten die beiden die Flachwasserzone. Und das, stellte Sive fest, wurde langsam langweilig. Also entschloss sie sich, ein Gespräch mit Neesan anzuknüpfen. Wie sich herausstellte, keine einfache Angelegenheit. Sive mochte ihn, das war ihr immer klar gewesen und seit sie hier waren sowieso... aber sie fand beim besten Willen kein Thema! Dunkel erinnerte sie sich, dass er Kakteen sammelte, konnte damit gesprächstechnisch aber irgendwie nicht so viel anfangen, und das obligatorische "Wie geht's deiner Schwester?" war in diesem Fall wohl auch eher unangebracht. Erst jetzt fiel ihr schlagartig auf, dass sie, seit sie hier waren, noch nie mit Neesan allein gewesen war, von zwei Malen einmal abgesehen. Dass eine Mal war an ihrem ersten Morgen auf Noah gewesen und sich daran bzw. an ihr katastrophales Verhalten zu erinnern, fiel Sive noch schwerer als daran, wie sie sich - wohlgemerkt im dunkelsten Halbschlaf - in Manuas Haus von ihm hatte schleppen lassen. Apropos - da war doch noch etwas fällig. Mit der ihr eigenen geistigen Beweglichkeit sagte Sive also "Danke!" für jenen Vorfall zu Neesan. Der raffte gar nichts. Aber er war höflich. "Bitte," erwiderte Neesan daher mit der richtigen Mischung aus Überraschung und Freundlichkeit im Gesicht. "Schwimmen ist doof, nicht wahr?" fuhr Sive dann fort. "M-hm.", nickte Neesan. "Ich hasse es auch." "Und trotzdem wolltest du vom Dreier springen?" Jetzt wurde Neesan blass um die Nase. "Erinner' mich bloß nicht daran." "Ach komm," meinte Sive und senkte die Stimme, als wollte sie ihm etwas ganz besonders Peinliches anvertrauen: "Ich hab es doch auch mal versucht!" Neesan erbleichte noch mehr. "Und? Bist du wirklich gesprungen?" Sive schüttelte den Kopf. "Nein.", antwortete sie und so etwas wie Befreiung lag in diesen Worten. "...Wer hat dich überredet?" "Liam. Und dich?" "Sheerla." "Sie verstehen das nicht." "Genau." "Meine ich auch." "Stimmt." "M-hm." "Machst du immer ?m-hm'?!" "M-hm." "Neesan!" "Was?" "Wir sind Pioniere!" Dann brachen die beiden in Gelächter aus. Übrigens erhebt das vorangegangene Gespräch nicht den geringsten Anspruch auf Verständlichkeit. "Wenn ich ins Hallenbad komme, kriege ich immer Bauchweh," erzählte Neesan mit stockender Stimme. Sive nickte betrübt. "Ja, das kenn' ich auch. Ich glaube, es kommt vom Chlor. Immer, wenn ich Chlor rieche, kriege ich Angst." "Ich auch. Es wird mir dann ganz flau im Magen und ich würde am liebsten rausgehen." "Aber hier ist kein Chlor!" ertönte Sheerlas Stimme mit freundlicher Bestimmtheit. Die beiden Wasserhasser, die so vertieft in ihr Gespräch gewesen waren, fuhren erschrocken zusammen. "Wir haben euch gar nicht kommen hören!" klagte Sive dann. Im Wasser war sie empfindlich. "Kann ich mir denken," grinste Sheerla und Liam schlug vor: "Wir haben uns etwas überlegt. Wir nehmen euch einfach huckepack, ok?" "Dann braucht ihr auch keine Angst zu haben. Was meint ihr?" ergänzte Sheerla. Die Hände unternehmungslustig in die Hüften gestemmt, wartete sie auf eine Antwort. "...Huckepack?" fragte Sive misstrauisch. "Wie stellt ihr euch das vor...?" wollte Neesan wissen. "Du hängst dich an meine Schultern und Sive an Liams. Oder anders rum, wenn ihr wollt. Und dann schwimmen wir. Bingo." Sheerla sah wieder einmal aus, als hätte sie gerade das Rad erfunden. "...und das haltet ihr aus?" Sive war noch immer skeptisch. "Habt ihr keine Schwimmflügel...?" Neesan machte große Augen. "Neesan!" brüllte Sheerla, "Sei ein Mann!" Und in ?normalem' Ton: "Tut mir leid, aber wir haben wirklich keine.... also. Hopp." Und damit wurde ihr Plan zur Durchführung gebracht. "Viel Glück!" rief jemand von der Böschung und Sive nahm nicht eben erfreut wahr, das fast alles inzwischen zum Trocknen da oben saß und ihnen zuguckte. Aber jetzt gab es kein Zurück. Stumm sandte sie ein Stoßgebet zum Himmel und hängte sich an Liams Schultern wie ein nasser Sack. Nachdem dieser ihr versichert hatte, dass er sehr wohl in der Lage war zu atmen, wenn sein Kopf bis zur Nasenspitze unter Wasser war, konnten sie beruhigt los schwimmen. Das Wasser war kalt. Das Wasser war tief. Das Wasser war jetzt bestimmt schon so tief, dass sie nicht mehr stehen konnte. Mami. Es war nicht so, dass Sive nicht schwimmen konnte. Oder, besser gesagt, nicht ganz. Sie hatte nur einfach Angst vor dem Wasser. In der Schule schwamm sie mit schöner Regelmäßigkeit schon mal zwei Züge im Tiefen, aber dann musste sie sich doch wieder an den Rand klammern und ausruhen, bevor es weiterging. Drei Schwimmlehrer hatte sie damit schon zur Verzweiflung gebracht, denn in Auckland lernten alle Kinder die ganze Grundschule über schwimmen. Zu nah war der Hafen und das Meer, an das regelmäßig Ausflüge gemacht wurden, als das man es hätte unterlassen können. Mr. Brownson war nun Gottseidank geduldig und er förderte den immer mal wieder aufkeimenden Mut seiner 'Verzagten', wie er sie nannte, wie auch in Neesans Fall. Aber bei Sive hatte er bis jetzt wenig Chancen dazu gehabt. Das Wasser wurde schon wieder tiefer. Warum hatten Gewässer eigentlich die blöde Angewohnheit, immer tiefer zu werden, je tiefer es hineinging? Oh. Die Erklärung lag ja schon im Wort an sich. Liam schwamm schön, zügig und relativ gleichmäßig. Allem guten Willen zum Trotz wirkte er dennoch nicht ganz und gar verlässlich. Er schnaufte schon, Sive musste ihm ziemlich zur Last fallen. Und dann.... urplötzlich fielen Sive die Pira... Pirna... Piran... die bösen Fische ein. Was, wenn.... Und da streifte etwas Glitschiges ihren Fuß. Sive bekam beinahe einen Herzinfarkt. "AAAAAAAAAH!" kreischte sie und zog in wilder Hast so gut es ging die Beine ein. Es ging nicht gut. Sive samt Beinen, noch dazu, wenn sie wie verrückt nach seinen trat, war etwas zu viel zum Tragen. Und atmen, wenn er mit dem Kopf unter Wasser gedrückt wurde, konnte selbst Liam nicht. Sive tunkte ihn fachmännisch, um dann ganz nebenbei festzustellen, dass ihr Halt weg war. Und die Piran... Piran... Piranhas! "Hilfe! Hilfe! Hilfe!" Panisch strampelte Sive um sich, ihre Fußspitze ertastete Boden, dann war er wieder weg, und da war auch Liam, irgendwo... Sie würde ertrinken! Sie konnte nicht mehr stehen! Sie würde nicht ertrinken, aber sie hatte trotzdem Angst! Oder doch? Sive schluckte Wasser und begann, aus Leibeskräften zu husten. Sie sah nichts, alles um sie herum war voll dunkler Schlieren, nein, da oben war etwas, die Sonne, ihre Augen taten weh, die Sonne verdunkelte sich, irgendwas packte sie hinten an den Badeanzugträgern wie ein Raubtierjunges von den Eltern am Genick gepackt wird, zog sie hoch... Schwimmflügel forever, Neesan... war ihr letzter Gedanke, bevor sie in Ohnmacht tauchte. XXIII. Familienbande Sive lag im Moos und hustete sich die Seele aus dem Leib. Dann hob jemand ihren Kopf sacht etwas an, damit der Husten aufhörte... jemand... Liam... Liam! Sie hatte Liam ertränkt! Sive schlug die Augen auf. "Liam... lebst du?" murmelte sie, doch das Gesicht, das sie zuerst sah, war Gods. Er tropfte. "Wieso... wieso bist du nass?" platzte Sive nicht eben dezent heraus. Da zumindest ihr Mundwerk noch intakt war, verschwand Gods Gesicht und machte Neesans Platz. "Alles in Ordnung, Sive?" fragte er, tiefste Sorge sprach aus seinen Zügen. Sive sandte ihre Nervenenden aus und durchfühlte ihren ganzen Körper, um schließlich erleichtert festzustellen: "Ja. Du hattest recht, Neesan. Wasser ist ein Teufelszeug." Zwei weitere bangende Gesichter schoben sich in ihr begrenztes Blickfeld. Sive lag der Länge nach auf dem Rücken im Gras und die Sonne schien auf ihre Wangen. Das Licht hatte sich nicht verändert, das hieß, sie konnte höchstens ein paar Minuten ohnmächtig gewesen sein. Aber... "Es tut mir leid," sagte Liam unglücklich, "Es tut mir leid! Sive... es ist alles meine Schuld gewesen. Ich hätte dich nicht gegen deinen Willen da raus bringen sollen." "Red' keinen Quatsch, Liam. Sie ist selber schuld. Du dummes Kind! Hysterisch wie immer. Du hättest echt ersaufen können! Und das in 1,80 Tiefe!" Wie immer verbarg Sheerla ihre Sorge durch Ärger. Und wie immer hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. "Tut mir leid, Liam..." piepste Sive kleinlaut, "tut mir leid, Sheerla... tut mir leid, Neesan..." "Warum?" fragte Neesan ehrlich überrascht. "Weil ich dir so ein abschreckendes Beispiel geliefert hab... und..." "Warum hast du eigentlich auf einmal so losgezappelt?" unterbrach Sheerla energisch. "Da war ein Fisch..." "Ein Fisch!" "Ein Piran... ein böser Fisch..." Sive merkte selbst, wie schwachsinnig sich das anhörte. Sie hatte einfach eine Wasserphobie. "Sive," meinte ihre Freundin grimmig, "Sive...." "Ja...?" "Du bist ein Trottel! Ein gottverdammtes Trottelchen! Du hättest einfach ertrinken können, wenn nicht... Trottel!" Mit diesen Worten nahm Sheerla sie fest in den Arm. "Wenn nicht...?" beharrte Sive, obwohl gerührt, über Sheerlas Schulter und da war schon wieder ein Gesicht. Diesmal gehörte es Snake. Vor Rührung schien er den Tränen nah, als er feierlich verkündete: "God hat dich... aus dem Wasser gezogen." Sive lag da und lauschte und wusste ganz genau, dass sie sich nicht verhört hatte. Snake hatte sogar untertrieben, so war es! ?God hat dich voller Heldenmut vor dem sicheren Tod durch Ertrinken in den Fluten errettet!', so oder so ähnlich musste es in Wirklichkeit heißen! Oh ja. Sive war glücklich. Ihr Papa liebte sie. "Papi?" hauchte Sive ergriffen. Obwohl noch ganz schwindlig, setzte sie sich auf. "Du hast mich gerettet?" Da saß er, komplett angezogen, in Schuhen, und tropfte, und gab sich Mühe, ein die Situation rettendes entnervtes "Ist ja gut. Ist ja gut." hören zu lassen. So wie er guckte, konnte sie eine detailliertere Antwort glatt vergessen. Aber das kümmerte sie nicht. "Weißt du, Papi..." meinte Sive aus tiefstem Herzen, "du hast dich zwar noch dümmer verhalten als Onkel Brian, denn der hat sich wenigstens die Schuhe ausgezogen, bevor er ins Wasser ist, aber..." Sie schwieg und betrachtete God eine Weile, "...das war ganz und gar nicht mittelmäßig..." Sive blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Und ehe sie sich versah, war sie aufgesprungen und heulte God das Hemd voll. Aber das spielte wahrscheinlich keine große Rolle. Es war ja eh schon klatschnass. Irgendwann fiel ihr dann aber auf, dass sie sich in der Öffentlichkeit befanden. Hastig wischte sie sich über die Augen und hörte auf, God mit seinem Hemd zu erwürgen. Er schien darüber recht erleichtert zu sein. Hoffentlich würde er nachher nicht wieder mit ihr schimpfen. Sive hatte wirklich nicht peinlich sein wollen! Dass sie es anscheinend doch war, wurde zweifelsfrei belegt durch die Tatsache, dass der gesamte Pfadfinderclub die beiden anstarrte. Ihr selbst machte das nicht wirklich etwas aus, aber God wahrscheinlich schon. Sie war nur froh, so froh.... und sie war stolz. Stolz auf ihren Vater - weil er ihr Vater war. Wieder waren Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart ein Stückchen näher zusammen gerückt. Zukunft...! Was, wenn das Lederband gerissen war? Sives Hand fuhr an ihren Hals, wo sie aufatmend das vertraute Gewicht auf der Brust spürte. Noch im Wasser hatte sie ihren Elefanten umgehabt, nun hatte sie einen Moment lang schreckliche Angst gehabt, ihn verloren zu haben. Aus irgendeinem Grund erschien ihr der Anhänger jetzt wichtiger denn je. Aber was, wenn er dennoch etwas abbekommen hatte? Sie ließ Gods Schulter los und tastete. "Keine Angst," beruhigte Tiger sie freundlich, "Elfenbein rostet nicht." "Das ist kein Elfenbein," murmelte Sive, so selig versunken, als hielte sie einen Edelstein in der Hand, um den sie nun schützend die Faust schloss, "Das ist Marmor..." Bei diesen Worten wandte God, der bis dahin ziemlich gelähmt gesessen war, ruckartig den Kopf und starrte Sives Anhänger an, den er unmöglich kennen konnte. "Marmor?" hörte man President sagen, "Das ist aber ein ungewöhnliches Material für ein Schmuckstück..." "Lass mal sehen." Plötzlich schien auch Boss' Aufmerksamkeit geweckt. Etwas widerstrebend öffnete Sive ihre Finger und die anderen betrachteten neugierig den Elefanten, der nun offen auf ihrer Handfläche lag. "Woher hast du es? Aus Indien?" fragte Crybaby. Selbst er, der sonst eher Zurückhaltende, der sich nicht die Angelegenheiten anderer einmischte, zeigte nun Interesse. "Ich weiß nicht," gab Sive stockend zurück. Auf einmal fragte sie sich, wem sie das eigentlich alles erzählte. Und vor allem: Warum. "Ich glaube, es ist ein Maori-Schmuck. Er ist von meiner Mutter." "Das ist durchaus möglich. Die Maori sind dafür bekannt, dass die Wurzeln ihrer handwerklichen Kultur sehr weit zurück reichen. Unter den heutigen Kunstschätzen, die man bei Ausgrabungen fand, sollen sogar Darstellungen von Tieren sein, die nach geographischer Wahrscheinlichkeit überhaupt niemals in diesem Erdteil existierten." sagte Doc. "Von deiner Mutter..." Boss unterbrach die Gespräche der anderen, als er sich über Sives Handfläche beugte. Einen Moment lang runzelte er die Stirn. Dann griff er nach dem kleinen Elefanten. Sive, nicht faul, biss ihn kräftig in den Finger. "Auuuua!" Boss schrie auf und starrte Sive fassungslos an. "S-sag mal, spinnst du? Ich wollte doch nur mal gucken!" Noch immer wimmernd pustete er auf den pochenden Finger und steckte ihn dann kurzerhand in den Mund. "Man guckt mit den Augen," belehrte das Mädchen ihn altklug. Wie das Kräutlein Rühr-mich-nicht-an hatte sich ihre Hand augenblicklich um das Schmuckstück geschlossen. "Er gehört ihr," stellte God fast feindselig fest, "und nicht dir. Also lass sie in Ruhe." Es hörte sich an wie ?Nicht alles gehört dir.' Wütend sah Boss ihn an. "Das ist noch lange kein Grund, mich zu beißen! Ich wollte ihn ihr schließlich nicht wegnehmen!" Die prompt nach oben flutschende Augenbraue Sives ließ ihn nicht den Wahrheitsgehalt seiner Worte in Frage stellen. "Er wollte ihn dir wirklich nicht wegnehmen, Sive!" Mit einem Blick auf seinen Bruder sprang Crybaby auf. "Aber es ist wichtig, dass wir den Anhänger einmal sehen. Bitte, gib ihn mir. Nur kurz." bat er eindringlich. Sive sah wieder ein bisschen gnädiger aus und händigte Crybaby schließlich sogar ihren Anhänger aus, wenn auch unter wachsamem Blick. Crybaby betrachtete den Elefanten. Boss vergaß seinen waidwunden Finger und besah sich ebenfalls das sphinxlächelnde milchweiße Ding. Selbst God sah hin. Und Liam lächelte. "Sive," meinte Boss schließlich, und es war wohl nicht weiter verwunderlich, dass er angesichts der vorangegangenen Ereignisse etwas aus der Fassung schien, "das Ding da kann unmöglich von deiner Mutter sein." Angriffslustig entgegnete Sive: "Warum?" Boss sah nahezu beleidigt aus. "Weil meine... unsere Cousine genau das gleiche Teil hat, und das ist schon seit Ewigkeiten in meiner... unserer Familie... und..." Unvermittelt wirkte Boss hilflos. "Stimmt's, Crybaby?" "Hm..." murmelte Crybaby, nicht ganz sicher und doch irgendwie überzeugt, und plötzlich stand Liam zwischen seinem Vater und seinem Onkel. "Du meinst, Sives Mutter kann unmöglich deine Cousine sein," berichtigte er gutmütig. "Nein!" rief God - der ausnahmsweise mal etwas schneller gerafft hatte! - entsetzt, "Bin ich verrückt?" Scharf fasste Boss seinen Sohn ins Auge, ein Auge, das offensichtlich genau die gleiche Farbe hatte wie seine eigenen. Nein, Liam machte sich nicht lustig, er war ernst! Und das hieß - "Oh Gott!" stöhnte Boss, "Das heißt, ich darf jeden Sonntag mit dem Spinner bei Omi tafeln und über Fußball quatschen?" Sehr treffend, dachte Sive empört, ihren Onkel-um-Ecken zum abersten aller abersten Male als kretinösesten aller Kretins einstufend. "Nicht ganz," meinte Liam noch ernsthafter, "allerdings - " Doch Boss war kurzfristig ertaubt. "Und was soll das heißen... soll das heißen... Maé war doch nie geschmacksverirrt!" So langsam schien ihm das Gesicht in Scheiben abzufallen. Wieder einmal zeichneten sich katastrophale Enthüllungen am Horizont ab. Zum letzten Mal, was auch gut so war, denn mit der Zeit wurde es stressig, fand Sheerla, während sie mit den Fingern Elternpaare abzählte: Mami, Papi, Boss, Princess, Sives durchgeknallter Vater und jetzt hatten sie auch ihre Mutter, na bitte, Zeit für einen Kururlaub. Aber Boss schien ganz und gar nicht bereit, sich mit diesen Pseudotatsachen abzufinden. Obwohl Crybaby, der doch mindestens ebenso betroffen war, noch keinen Ton gesagt hatte, verkündete er in ihrer beider Namen: "Nichts gegen dich, Liam, aber nur wegen so einem Elfenbein - " "Marmor!" Sive zog einen Flunsch. "Elfenb... Marmorklumpen lassen wir... lasse ich mir hier nicht meine Lebensperspektiven versauen, nein danke!" Boss schnaubte äußerst ausdrucksstark. "Bruder..." meinte Crybaby leise, "Eigentlich hast du ja recht, es kann Tausende solcher Schmuckstücke geben, aber... ich glaube Liam." "Warum?" schoss Boss sofort in Sive-Manier. "Weil..." Crybaby errötete. "Ich weiß es nicht.", gestand er schließlich. "Aber warum waren wir von diesem Elefanten so angezogen, wenn nicht, weil wir ihn in Wirklichkeit schon viele Male gesehen haben? Und selbst God, der ihn noch gar nicht kennt, schien sich dafür zu interessieren. Ich finde... ich finde, die Zukunft ist etwas... Unheimliches." Er wusste gar nicht, wie sehr er die Wahrheit sprach. "Das war reine Neugierde," protestierte Boss und dann kam ihm ein Geistesblitz: "He, Sive! Das ist alles Quatsch, nicht wahr! Sag schon, wie heißt deine Mutter? Jane Disastertaste?" Sive war mal wieder nahe dran, nichts als "Sag ich nicht!" zu sagen, als Snake sie anstupste. "Komm schon, dir passiert nichts. Dein Papa beschützt dich." God und Umgebung, peinlich berührt, hatten das nicht gehört. "Maé Charteris!" strahlte sie, und Boss fiel fast vom nicht vorhandenen Stuhl. "Den Mädchennamen!" "Maé Symonds!" Zwischen 'Zufall', 'Namenshäufung', 'Telephonbuchspicker' und 'Gedankenlesetrick' plärrte Boss: "Ich hab's gesagt! Ich hatte es schon gesagt! Sie kann das gar nicht wissen!" "Boss," meinte Tiger besänftigend, "ganz ruhig, gaaanz ruhig... du hattest nur den Vornamen deiner Cousine erwähnt." Princess seufzte und sah verlegen aus. So eine Heirat färbte imagemäßig doch ganz schön ab. "Dann hat God es ihr erzählt...!" argumentierte Boss aufs logischste, bis ihm einfiel, dass er God seiner Cousine nie vorgestellt hatte, er wollte schließlich nicht, dass der sie heiratete --- "Halt die Klappe!" empfahl ihm dieser zähneknirschend und offenbar selber ziemlich angeschlagen. "Mafia!" brüllte Boss im Hintergrund, und President schickte die Kinder Holz sammeln. Fürs Lagerfeuer. XXIV. Geschichtenerzähler In der Runde am Lagerfeuer sitzend, war der Keil, der die Gruppe der Pfadfinder spaltete, nicht länger unsichtbar. Ein deutlicher Abstand zwischen Boss und den anderen auf der einen und God, Snake und Nerd auf der anderen Seite unterstrich dies merklicher als alle Worte, die die schwelenden Konflikte lediglich überdecken konnten. Mit einem gewissen Unbehagen bemerkte Sive, dass dieser Riss auch vor ihr und ihren Freunden nicht halt machte, denn sie saß auf der gleichen Seite wie ihr Vater. Dennoch: Sive vertraute fest darauf, dass es wenig gab, was sie, Neesan, Liam und Sheerla jetzt noch trennen konnte. Mittlerweile war es Nacht geworden und die gleichmäßige Glut des Feuers wurde nur gestört durch das immer wieder erfolgende Zischen, wenn ein Wassertropfen in den Flammen verdampfte. Und derer gab es viele, denn überall am und um das Feuer herum hingen oder lagen Kleider von der nachmittäglichen Badeaktion. Natürlich hatten die meisten gewisse Skrupel, sich ganz auszuziehen, weshalb mehr Hemden als Hosen die Botanik zierten und manche, wie Tiger, ohnehin schon leicht bekleidet, lieber die Gefahr einer Erkältung in Kauf nahmen. Dass sie obendrein noch draußen schlafen würden, mochte dem nicht gerade zuträglich sein. Aber in den Minuten am Feuer hatten sie gemeinsam mit Manua entschieden, dass ihre Flucht aus Lupar so unauffällig vonstatten gegangen war, dass die Armee sich über ihren derzeitigen Aufenthaltsort nicht wirklich im klaren sein konnte. Daher konnten sie sich eine längere Rast durchaus leisten, und eine so idyllische Stelle wie dieser ausgetrockneten Flußarm mit all seinen schilfigen kleinen Buchten war dazu geradezu ideal. "Wir werden also diese Nacht und den Rest des morgigen Tages hier verbringen.", schloss Boss. Manua nickte. "In Ordnung. Wenn wir danach bei Dunkelheit fahren, wird es uns auch leichter fallen unentdeckt zu bleiben." "Unentdeckt, pah!" meinte Kuznikow zynisch, "Die kriegen uns doch sowieso, entweder früher oder später, aber wenn, möchte ich dabei lieber was im Magen haben. Warum habt ihr mich nicht kochen lassen?" "Mit deiner Schwarzseherei machst du wirklich schon fast God Konkurrenz," stichelte Tiger und verschwieg, was sie weiter über Kuznis Benehmen denken mochte. Manuas junger Bediensteter war in den ersten Tagen mit der Gruppe recht ruhig gewesen, als ob er sich noch nicht ganz sicher war, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Trotzdem war ihm auch eine gewisse lauernde Art nicht abzusprechen, die den wenigsten gefiel. Prompt verkündete dann aber Tank von der anderen Seite des Feuers die ersehnte Parole: "Essen ist fertig!", den Kochlöffel wie eine siegreiche Waffe schwingend. Großzügig füllte er die Teller, die man ihm zureichte. "Bah! Wieder Suppe?" maulte Gatcha, missmutig den Teller in ihrem Schoß betrachtend. "Probier doch erst mal," entgegnete Tank, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. "Diesmal hat nämlich Liam gekocht!" "Liam?" fragte Princess mit einer Mischung aus mütterlichem Stolz und kollegialem Respekt. "Ich hab Tank nur ein bisschen helfen dürfen," wehrte dieser bescheiden ab, "Ich hoffe, es schmeckt euch." "Hmmm! Ja!" schlürfte Boss, der trotz seiner miesen Tischmanieren den netten Zug hatte, dass er wohl alles gesagt hätte, nur um Liam eine Freude zu machen. "Dann kannst du deiner Mutter ja bestimmt bald in der Küche helfen." Dabei blickte er unverwandt Princess an, die zwar errötete, den Blick aber nicht abwandte. God sah es, und was Princess unterließ, das tat er. Auch wenn er aufgehört hatte, Sive verantwortlich zu machen, war nicht zu erwarten, dass er sich mit dieser Zukunft einfach so abfinden würde. Sive, die seine Missstimmung spürte, sah ihn mitleidig an. "Willst du nichts essen?" fragte Snake. Nerd sah in die Flammen, den Game Boy locker in den Händen. Das helle Feuer verlieh seinem Haar einen geisterhaften Schein, ließ es farblich fast mit ihm verschmelzen. Auf Snakes Worte reagierte er nicht. "He, Nerd! Ich habe dich gefragt, ob du auch etwas essen möchtest." wiederholte Snake und wollte Nerds Schulter berühren. Von einer unbegreiflichen Scheu gepackt ließ er die Hand dann doch wieder sinken. Nerd, der anscheinend gar nicht bemerkt hatte, dass die Worte an ihn gerichtet gewesen waren, fuhr zusammen und blickte auf. "Ja, du solltest wirklich etwas essen," riet auch Sive in plötzlicher Sorge. "Du siehst ganz blass aus." "Blass? Ich?" erwiderte Nerd in einem seltenen Anflug von Selbstironie, "Das ist ja mal was ganz Neues." Den Teller, den Snake ihm hinstellte, aß er dann aber doch. Langsam machte sich eine behagliche Stimmung breit. Die Wärme des Feuers und die zufriedene Entspannung, die die Ruhepause hervorrief, übten ihre Wirkung aus. Mit der warmen Suppe im Bauch und den hellen Monden über ihren Köpfen wurden nicht nur die Kinder müde. Boss, den halb aufgegessenen Teller noch auf den Knien, gähnte auf einmal laut und rieb sich über die Augen, was Liam lächeln machte. Auch er war müde, aber gleichzeitig fühlte er sich so wohl wie schon lange nicht mehr und wollte die schöne Atmosphäre nicht verlassen, indem er in Schlaf fiel. Außerdem würde man ihn dann ins Bett tragen müssen so wie Neesan, der gerade selig seinen Kopf in Tigers und seine Füße in Presidents Schoß gelegt hatte - er hatte besagtes Bett wohl schon gefunden. Sheerla lag quer dahinter und hatte den Kopf auf den Rücken ihres Bruders gelegt, während sie mit halb geschlossenen Lidern in die Flammen starrte. Plötzlich spürte Liam, wie sich eine duftende Hand in sein Haar schob. Sofort begann es in seinem Bauch zu kribbeln wie von tausend glücklichen Schmetterlingen. Auch seine Mutter war bei ihm, und er hätte es fast vergessen. Boss hatte es nicht vergessen, das zeigte das Lächeln, das er ihm und Princess sandte. Obwohl er sich hütete, das Familienbild zu vervollständigen, war er doch in Liams Erinnerungen präsent. Ob auch Sive das Bedürfnis spürte, etwas zum Kuscheln zu haben? Zwischen God und Snake saß sie drüben im Exil und sah mal wieder ganz gemischt aus. Schläfrig winkte Liam ihr zu, das machte, dass sie aufschaute. Aber sie lächelte nicht. Ja, Sive saß im Exil und das spürte sie auch deutlich. God befand sich mal wieder in einer Brütephase, die nur von kurzen verbitterten Blicken auf einen ganz bestimmten Punkt unterbrochen wurde. Er hatte die Beine angezogen und das Kinn auf die Knie gestützt, genauso, wie auch Sive oft saß. Der ihr zugewandte Rücken verriet deutlich, dass er seine Ruhe haben wollte. Ob sich Snake wohl als Kopfunterlage eignete? Oder nein, er war wohl doch zu knochig. Außerdem fühlte Sive sich gar nicht wirklich müde, wahrscheinlich ein Ergebnis jahrelangen Spät-zu-Bett-geh-Trainings. Nur... das Mädchen seufzte und Snake blickte sie mitfühlend an. Auch er sah aus, als fühlte er sich fehl am Platz, bestimmt nicht zum ersten Mal. Sive lächelte kurz und raunte ihm zu, ob er denn nicht wisse, dass er ihr Patenonkel sei, was Snake mit freudiger Überraschung aufnahm. Dann schauten sie beide zu Nerd hinüber, der in seiner Haltung ein umgekehrtes Spiegelbild Gods darstellte. Nicht einmal er brachte es fertig, in dieser Situation Game Boy zu spielen. In diesem Moment wandte Snake ihr das Gesicht zu und blickte sie auffordernd an, als erwarte er sich von Sive auch in dieser Frage eine Antwort. Aber sie konnte nichts damit anfangen und sah schließlich einfach weg, ins Feuer oder zu Boden, oder nirgendwo hin, schloss ganz einfach die Augen, als sie etwas Schweres auf ihren Kopf niedersinken spürte. God hatte den Aufenthaltsort gewechselt und sein Kinn nun auf ihren Kopf gestützt. Beinahe hätte Sive die Augen wieder aufgerissen, aber sie ließ es dann doch, abwartend was kommen mochte. Aber das, was er schließlich sagte, war das Letzte, was sie erwartet hatte, wenn sie denn nun eine konkrete Erwartung gehabt hatte. "Sive. Erzähl mir was von deiner Mutter." bat God und die Veränderung in seiner Stimme war ebenso wenig zu bestimmen wie der Geruch der Luft, die Sive in diesem Moment atmete. Sie nahm an, dass Snake sie hörte, Nerd wahrscheinlich auch, aber jenseits des Feuers würde man ihre Worte kaum vernehmen. Auch God musste das bedacht haben. "Meine Mutter... ist die schönste Frau der Welt." erwiderte sie verträumt, sich mit einer Hand sanft das Haar zurückstreichend. "Sie sieht aus wie eine Elfe. Sie lacht wenig, aber sie lächelt viel." Sive hielt inne, suchte nach dem richtigen Ausdruck in einer Sprache, die es nicht gab. "Und sie hat die... schönsten Worte." "Sieh an. Du wirst ja richtig poetisch," äußerte sich God über ihren Kopf hinweg. Die überscharfe Schneide von Spott in seinen Worten machte, dass Sive zornig auffuhr. "Musst du immer alles kaputtmachen?!" "Verzeih. Ich... ich kann wohl wirklich nicht anders." Bitte, erzähl weiter. Und Sive nahm den Pinsel der Worte und malte ein Zukunftsbild. Mitten in der Nacht wachte God auf, weil sich irgend etwas an seinem Schlafsack zu schaffen machte. Mit dem Erkennen legte sich der Schreck, die Ungehaltenheit über die Störung aber blieb. "Was willst du?" fragte er mitleidlos und verschlafen. "Ich will in dein Bett!" artikulierte das schniefende Geschöpf auf der Wiese klar und deutlich seine Wünsche. "Das ist kein Bett. Das ist ein Schlafsack. Der ist nur für eine Person gedacht." "Ich will in dein Bett." beharrte Zauslöckchen ungerührt jammernd. "Früher hast du mich nie rausgeschmissen!" Was Sive ?früher' nannte, war in Wirklichkeit eine höchst dubiose Zukunft. God aber schien zu müde zum Streiten. Auch wenn er sich nicht zu einer Zusage durchringen konnte - Sive brauchte dergleichen nicht. Mit spitzen Gliedern schaffte sie sich Platz und nahm sodann selig die Igelchen-Position ein - die Stacheln geglättet, versteht sich. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 9: XXV. Erzählende Geschichte * XXVI. Von den kausalen Unmöglichkeiten * XXVII. Die Dinge beim Namen nennen ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Hm... was soll ich dazu sagen.... ich hoffe, dass ihr's nicht allzu sonderbar findet *___* Ich persönlich mag diesen Teil der Geschichte fast am liebsten... von nun an werden auch ein paar mehr Liedtexte dazukommen. (Schreibt mir doch bitte ein paar Kommentare!) XXV. ERZÄHLENDE GESCHICHTE * XXVI. VON DEN KAUSALEN UNMÖGLICHKEITEN * XXVII. DIE DINGE BEIM NAMEN NENNEN ~~~ XXV. Erzählende Geschichte Boss saß im taufeuchten Gras wie ein wartender Dackel und schaute fasziniert in das schlafende Gesicht seines Sohnes. In Haar, Stirn, Brauen, Wimpern, Augen, Nase, Mund, Wangen, Kinn, Ohren, Schläfen, Haut fand er seine und Princess' Züge gleichermaßen wieder, durch ein biologisches Puzzlespiel so geheimnisvoll ineinander gefügt, dass sie eine makellose Einheit bildeten - ein neues Gesicht, ein Gesicht mit einem Namen: Liam. Und kaum weniger faszinierend war die Tatsache, dass er nichts, rein gar nichts davon bemerkt hatte, bevor eine Kleinigkeit seine Erwartungen geweckt hatte. Um so überwältigender war die Flut von Einzelheiten, die nun über ihn hereinbrach. Liam musste einen sehr leichten Schlaf haben, denn er regte sich, als nur Boss' Schatten auf ihn fiel. In einer Bewegung, die dem rastlosen Zittern hauchdünner Schmetterlingsflügel glich, schlug er die Augen auf. "Papa... och nein, ich will nicht Fußball spielen!" Seufzend griff Liam Garrod nach einem imaginären Kissen und ließ es symbolisch auf seine Physiognomie plumpsen, um sämtliche Sonne und Freizeitplanung abzuschirmen. Wie die beiden Menschen in seinem Gesicht schienen auch sein Vater aus der Vergangenheit und sein Vater aus der Zukunft, Traum und Wirklichkeit zu einer Person verschmolzen zu sein. "Liam." Die Stimme von Boss, dem 16jährigen Schuljungen, drang nur dumpf in sein Bewusstsein, aber doch deutlich genug, um ihn hören zu lassen, dass sie heller war als die von Mr. Brian Garrod, 34 Jahre alt. "Liam!" Boss' Tonfall schwankte irgendwo zwischen Melodramatik und Grabesflüstern. "Ich muss mit dir reden. Verstehst du - von Mann zu Mann!" "Gehen wir an den See," schlug Boss vor, bevor er über einen der zahlreichen herumliegenden Schlafsäcke flog. "Sh- Verd- Mist! Voll auf die Fre- die Schnau- den Mund! Welcher Idiot legt sich auch da hin! Mitten in den Weg! Natürlich! Das ist mal wieder typ- Oooh..." Nicht einmal zwei große blaue Mondkalbaugen halfen Boss, das herzerwärmende Bild, das sich ihm nun bot, auch nur annähernd in sich aufzunehmen. Der Schlafsack, über den er gestolpert war, gehörte seinem Rivalen, nur hatte ihm ein energisches Büschel Stroh offenbar einen Großteil des Platzes streitig gemacht. Oder vielleicht war das auch gar kein Stroh, was da oben herausschaute, sondern bloß der kammentwöhnte Haarschopf eines spitzen Bündelchens Knochen, das außerdem ganz gut klammern konnte, denn God war leicht blau angelaufen. Ansonsten ging von dem Ganzen eine Aura friedvollen Fünf-Uhr-Zwanzig-Schlummers aus, der nicht im entferntesten ahnte, dass er beobachtet wurde. Boss' Sprachlosigkeit ging über in Sprachlosigkeit, wandelte sich dann in Sprachlosigkeit und gipfelte in den sprachlosen Worten: "Das ist echt - " "Sag bloß nichts Falsches!" Liam, der hinter ihn getreten war, hielt Boss' Hals-Schulter-Partie mit Schraubstockgriff umklammert. " - ein Foto wert!" Aufgeregt drehte Boss sich zu Liam um. "Mann, Liam, im Ernst.... das ist echt ein Foto wert! Das ist echt - hahaha..." Die nächste Viertelstunde verging mit wahnwitzigen Kicheranfällen auf Seiten Boss'. "Ist gut, Brian. Und jetzt gehen wir zum See, ja?" Auffordernd sah Liam ihn an. Der erwähnte Brian kriegte sich nur mühsam wieder ein. "Ist gut," japste er, "Ich bin schon - haha..." "Du kannst beruhigt sein. Ich werde weder deinen Ruf noch deine Atemwege ruinieren. Komm jetzt, ja?" Boss, noch immer lachend, stand auf, seine Augen blitzten. "Na gut," war seine einzige Erklärung dafür, dass er Liam packte, über die Schulter warf und mit ihm davon stürmte. "Du hast versprochen, das nicht mehr zu machen!!" schrie der kleine Liam sich die Lunge aus dem Leib, zum ersten Mal in dieser Geschichte aus der Fassung gebracht, während sein Sichtfeld irgendwo zwischen 90° und 180° hin und her pendelte, ohne irgend etwas machen zu können als zu staunen, weil sein Vater ihn gegen den Wind entweder nicht hören konnte oder nicht wollte. Er wollte nicht. "Hab ich das?" entgegnete der selfmade Entdecker von Amerika nicht weniger ohrenbetäubend, "Das kann nicht sein, weil ich das nämlich bis jetzt noch nie gemacht hab!" Liam boxte ihn, Boss machte das nichts aus, Liam schloss die Augen, aber da wurde ihm übel, Boss rannte weiter, Liam gab es auf und genoss den Flug. Am Wasser angekommen, wirbelte Boss auf dem Absatz herum und setzte Liam dann wohlbehalten auf dem Ufer ab. Dem Jungen war so schwindelig, dass er beinahe in den See gefallen wäre, wenn Boss ihn nicht aufgefangen hätte. Als er wieder einigermaßen in der Erdumlaufbahn angekommen war, fragte Liam ihn, noch immer etwas atemlos: "Und - worüber wolltest du jetzt mit mir reden?" "Ich - " Boss, ebenfalls außer Atem, stutzte, riss die Augen auf - "Ich hab's vergessen!" Liam konnte nicht anders, er musste mitlachen. Einige Stunden später hatten sich alle zu einem nahrhaften Frühstück zusammengefunden, das sich teils aus der übrig gebliebenen irdischen, teils aus noahnischer Kost zusammensetzte. Nach der ruhigen Nacht und dem gemütlichen Abend zuvor waren die meisten ausgeglichen und ausgeschlafen, und so herrschte eine fröhliche Stimmung. Silence, Gatcha, Timid, Blunder, Neesan, Sheerla, Liam und Sive, mit dem starken Bedürfnis, einmal wieder unter sich zu sein, hatten sich freiwillig an den Kindertisch verzogen, beziehungsweise das ?Kindertuch', denn da sie keinen Tisch hatten, der groß genug für alle war, hatten Tank, Doc und die Kleinen kurzerhand einige der Betttücher aus dem Fahrzeug (die sie wegen ihrer Schlafsäcke sowieso nicht brauchten) auf der weichen Wiese ausgebreitet. Und im Gegensatz zu ihrer Welt war auf Noah gerade Sommer und vom Frühtau nur noch sehr wenig übrig, sodass auch die Feuchtigkeit kaum Probleme machte. So picknickten sie also in den Morgen hinein wie schon lange nicht mehr. "Wisst ihr, Leute," stellte Boss fest, "Ferien sind was Schönes, so wie heute!" Krachend biss er in sein Sandwich. "Was meinst du - Ferien von den Ferien?", kommentierte Tiger, darauf anspielend, dass ihr Aufenthalt auf Noah ursprünglich aus einem Ferienausflug entstanden war, und Boss ließ ein beleidigtes "Mein' ja nur..." hören... "Hey! Ihr da! Kriegen wir nichts zu essen?" beschwerte sich Sheerla lauthals vom Nachbartuch, denn während die Älteren teilweise schon tafelten, stand auf dem Tisch der Jüngeren bisher nicht mehr als ein Krug Wasser. "Kommt schon, kommt schon, kommt schon," rief Tank eifrig, "Autsch!" Beinahe hätte er die Pfanne fallen gelassen, wechselte sie dann jedoch im letzten Moment in die linke und konnte erstmal ausgiebig auf seinen verbrannten Finger pusten. "Dafür kriegt ihr auch was - autsch - ganz Besonderes. Danke." Letzteres sagte er zu Snake, der, als er sah, dass Tank sich verbrannt hatte, von seinem Platz hinter der provisorischen Spüle aufgesprungen war und dem Chefkoch die Pfanne abgenommen hatte. "Und was?", wollte Sheerla wissen, noch lange nicht befriedigt, denn beim Essen war sie pingelig. Snake hielt die Pfanne schräg und die Kinder linsten hinein. "British Breakfast! Das ist gut!" beendete Sheerla ihr Gutachten und rammte Tank ihren Teller fast wie eine Pistole in den Bauch. Als ihr auffiel, dass sie sich irgendwie tyrannisch benahm, senkte sie etwas den Kopf: "Ich hab ja nur Hunger..." "Sag mal, Tank, wo kriegst du eigentlich die ganzen Sachen her?" fragte Sive. Sie war nicht misstrauisch, nur neugierig. Liams Freunde waren auch ihre Freunde, also galt das ab nun auch für Tank. "Oh," der große Junge zwinkerte in die Runde, "das ist mein Geheimnis. Vielleicht erzähl' ich es euch ja, wenn ihr gegessen habt." "Aber es schmeckt doch, oder?" Zweifelnd legte Gatcha den Kopf schief. Tank lachte. "Natürlich schmeckt es! Es wird sogar dir schmecken, kleines Fräulein!", worauf Gatcha beruhigt ihren Teller hinüber reichte. Und schon nach dem ersten Bissen war ihre Sorge geschwunden: "Das hab ich mal im Hotel gegessen!" "Ich, ich, ich hab Hunger!" bestürmten die Zwillinge den ehrenamtlichen Ausfüller. "Ja - aber Tank ganz sicher auch!" bremste Liam die Ungeduld. "Wir haben noch kein Besteck," wiesen Neesan und Silence Tank hin, aber dieser war gerade anderweitig beschäftigt, sodass wieder Snake Abhilfe schaffen musste. Irgendwie war er während der letzten paar Minuten in all dem Tumult aus bittenden, fordernden und durch und durch hungrigen Kindern in die Rolle der Küchenhilfe gerutscht. Aber: "Snake, du wirst bestimmt mal ein prima Hausmann!" lobte Sheerla, als er mit Geschirr beladen wiederkam. "Stimmt!" musste Sive gleich draufgeben, denn bitte schön, nur sie hatte hier das Recht, ihren Patenonkel zu loben!, "Woher kannst du das nur so gut?" "Ach - ich hab zwei Schwestern," gestand Snake und kratzte sich am Kopf, weil er offensichtlich wirklich nicht wusste, wo er das ?Kompliment' hinstecken sollte, "sie - na ja..." "Wie heißen sie?" "Äh - Rachel und Roswitha. Roswitha ist fünfzehn, Rachel ist zehn..." "Und sie lassen dich schuften? Armer Snaky!" Wenn Sive mal Sympathie ausschenkte, dann randvoll. "Aber wart' nur, bis Chantal kommt!" "Wer?" erwiderte Snake ahnungslos und Sive grinste: "Chantal! Kennst du sie nicht?", ohne Sheerlas Rippenstoß zu beachten, weil sie mal wieder frisch aus der Nähmaschine plauderte. Snake aber schien mit dem Inhalt dieses häuslichen Nähkästchens beim besten Willen nicht vertraut zu sein. "Chantal? ...Nein..." [Woher sollte er auch.] "Sicher nicht?" bohrte Sive weiter, sie hätte ihm doch so gern was Schönes erzählt! In seiner Hilflosigkeit wandte Snake sich flugs an Weisheitsquelle Nr. 1: "God, wer ist diese Chantal denn?" Die Quelle war wohl kurzfristig versiegt. "Woher soll ich das denn wissen? Frag lieber diese Miss Neunmalklug da!" schmollte der Vater wider Willen, nahm Sives Zukunftsgedeutel ihn jetzt schon beim Essen in Anspruch. "Sie lässt dich kochen, waschen, putzen, bügeln, Windeln wechseln und Gepäck schleppen!" "Wie?" Snake erbleichte ob der langen Liste. "Aber keine Sorge," besänftigte Sive ihn mit gutgemeinten Worten, "Sie ist wunderbar." Dann wandte sie sich dem British Breakfast zu und ließ einen verdatterten Snake zurück, dem vor seiner Zukunft graute. "Kann ich bitte noch Milch haben?" "Was für Milch, das war Wasser, was du da gerade getrunken hast!" "Ups!" - so etwa klang der Originalton Timid und Blunder. "Und was war jetzt in dem Essen drin?" fing Gatcha wieder an, als Einzige schon fertig. Tank, mittlerweile endlich auch am essen, schien sie nicht gehört zu haben. Dafür aber Liam, der grinsend bemerkte: "Aida Lawrence, wenn du weiterhin so neugierig bist, wirst du noch als freischaffende Journalistin arbeiten müssen..." Gatcha verzog das Gesicht - Liam war kaum älter als sie und irgendwie nett, aber bei diesen Zukunftskindern konnte man einfach nie wissen, was Scherz und was ernstgemeint war. "Leute - ich will euch ja ungern stören, aber seid ihr sicher, dass es so gut ist, wenn ihr allen von ihrer Zukunft erzählt?" Nicht von Sheerla kam diese warnende Äußerung, sondern von Neesan, der sich mit leiser Stimme an seine drei Freunde wandte. Schuldbewusst sah Sive ihn an. Sie musste nur an die zurückliegenden Ereignisse denken, um zu wissen, dass er recht hatte. "Neesan, ich find's gut, dass du das sagst," meinte sie deshalb, "Ich - ich sollte ein bisschen nachdenken, bevor ich rede, ich weiß..." Neesan errötete, murmelte: "So war das nicht gemeint..." "Aber glaubst du denn, dass sie sich daran erinnern werden?" stellte Sheerla die Frage in den Raum. Bei diesem Gedanken standen ihnen allen die Haare zu Berge. "Nein, nein, nein, nein!" quietschte Sive. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet sie das sagte, betrachtete man ihr nicht gerade memoriables Verhalten. Aber die Lautstärke, mit der dieser Ausruf erfolgt war, ließ die anderen Kinder aufblicken. "Wisst ihr was," meinte Liam mit gesenkter Stimme, seinen Löffel noch im Mundwinkel, "wir sprechen später darüber, wenn wir unter uns sind. Wir hatten ohnehin wenig Gelegenheit dazu, seitdem..." Der Reihe nach blickte er sie an. "Es hat uns getrennt, aber wir haben einander auch etwas zu erzählen, glaube ich. Zumindest ich..." Ist gut, Liam, teilten sie ihm wortlos mit. Sie verstanden wohl, was er meinte. XXVI. Von den kausalen Unmöglichkeiten Nach dem Frühstück verdrückten sich Neesan, Sive, Sheerla und Liam alle mehr oder weniger unauffällig und fanden sich schließlich wieder in einer kleinen, sandigen Bucht des Flusses - barfuß, die Hemden ausgezogen und in Badeanzügen, fast genauso, wie sie erst vor wenigen Tagen in dieser Welt gestrandet waren. Die Sonne schien noch immer vom Himmel mit jener urzeitlichen Intensität, an die sie sich noch immer nicht gewöhnt hatten, und noch immer hätte jeder von ihnen gern Flügel gehabt, um den Dingen, die an ihnen zerrten, zu entfliehen, aber noch immer bot auch keine andere Welt die Möglichkeit dazu. Vielleicht war das auch ganz gut so, denn ein Leben ohne Probleme war in der DNA des Menschen erfahrungsgemäß nicht vorgesehen, und nicht zufällig war das Wort ?bittersüß' aus den Sprachen der Erde entstanden. Ihnen selbst war mit der starren Beharrlichkeit der grellen Sonne und der weicheren, aber dennoch unaufhaltsamen Macht des Wassers in dieser kurzen Zeit klar geworden, was es bedeuten konnte. Eine zeitlose Ewigkeit waren die Kinder still gesessen, hatten diesen Wellen gelauscht und diese Wärme gespürt, denn neben vielen anderen Dingen hatten sie auch eines gelernt: Dass Schweigen nicht immer schlecht war. Vielleicht war ein Zeichen für Freundschaft nicht, wie so oft behauptet, miteinander reden zu können, sondern vielmehr - miteinander schweigen zu können. Und sie - was war aus ihnen, die einander und sich selbst noch vor wenigen Tagen nur flüchtig gekannt hatten, inzwischen geworden? "Sive. Liam. Sheerla. Ihr - ihr seid meine Freunde, nicht wahr?" Es war Neesan, der am meisten schwieg, Neesan, der nun sprach. Und wieder war es das Schweigen, das antwortete. Aber die Frage war nicht Neesans Sorge gewesen. "Und werdet ihr es auch noch immer sein, wenn wir zurück gekehrt sind?" Obwohl sein Blick aufs Wasser gerichtet blieb, war es eine Frage an sie. "Weshalb glaubst du das nicht, Neesan?" erwiderte Liam ruhig. "Weil... weil ich Angst habe, dass wir alles vergessen werden." "Möchtest du das denn nicht? Obwohl du weißt, dass deine Eltern ab jetzt für dich immer zwei Gesichter haben werden? Obwohl du weißt, dass das dich anders macht?" Liam sah nach rechts, nach links, in mehr als zwei Gesichter und antwortete selbst: "Ich möchte es nicht. Ich möchte mich an das erinnern, was geschehen ist - geschieht - geschehen wird. Ich teile deine Meinung, Neesan, aber nicht deine Angst. Glaubst du wirklich, du könntest all das je vergessen?" Langsam schüttelte Neesan den Kopf. Nun stellte Sive eine Frage, die ihr auf dem Herzen lag. "Werden - wir denn je zurückkommen?" Ihr Blick verriet ihre Sorge. "Nicht, dass ich es nicht hoffe, aber - haben wir Gewissheit? Kennen wir die Zukunft so genau?" "Ich glaube nicht, dass wir sie so gut kennen wie wir meinen. Aber ich glaube, dass wir zurückkehren werden. Und zwar bald." Erst jetzt fiel Liam auf, dass seit einer guten Weile er allein alle Fragen beantwortete. Verlegen fuhr er sich durchs Haar. "Lacht mich ruhig aus - ich kenne die Zukunft nicht. Ich glaube nicht, dass ein Mensch sie kennen sollte. Aber wir müssen zurückgekehrt sein, denn sonst könnten wir gar nicht hier sein." Das war mal wieder komplett zu hoch für Sive. "Was?" Aber Sheerla verstand und versuchte, es ihr zu erklären: "Wenn unsere Eltern nicht zurück gekehrt wären, dann könnten sie gar nicht unsere Eltern sein, weil wir ja erst in der Zukunft auf der Erde zur Welt kommen, versteht du?" Sheerla machte eine Pause, musste selber grübeln. "Aber - " fuhr sie dann fort, "wenn sie zurückgekehrt sind, dann müssen auch wir zurückgekehrt sein, denn sonst könnten wir nicht ihre Kinder sein." Sive zog eine Augenbraue hoch, dann eine zweite, dann eine dritte. Irgendwie blickte sie das trotzdem nicht so ganz, und irgendwie konnte sie sich auch nicht durchringen, daran zu glauben. "Aber Sheerla - unsere Eltern sind doch hier!" warf Neesan ein. Lange dachte Sheerla nach, bevor sie antwortete: "Ja - und sie sind auch in der Zukunft und in der Vergangenheit. Aber wo sind wir? Wo gehören wir wirklich hin?" "Wir werden zurück kehren, wir kehren in die Gegenwart zurück und wir sind zurückgekehrt - und trotzdem sind wir hier, in unseren Erinnerungen." spann Liam den Faden weiter, den Blick unablässig aufs Wasser gerichtet, dessen Wellen stetig eine auf die andere folgten, in Tropfen spritzten und wieder ineinander übergingen. "Oh - hört auf!" rief da auf einmal Sive, stand auf, nahm einen kleinen Kieselstein und ließ ihn übers Wasser flitzen. Wieder entstand ein Kreis, der sich nach außen hin verbreiterte, größer wurde, bis die klaren Ränder verschwammen und als Wellen auf den Strand schlugen. "Das ist mir zu hoch! Ihr mögt schlauer sein als ich, aber mit soviel Logik kann ich nichts anfangen. Die Hauptsache ist, dass ich weiß, dass es sich richtig anfühlt." Liam musste lächeln, plötzlich gerührt. In solchen Momenten fiel ihm wieder ein, wofür er sie mochte. Und als Letzter sprach Neesan aus, was sie alle als Kinder jenseits von Zeiten, Welten und Wissenschaft empfanden: "Egal wo wir sind, wir sind bei unseren Eltern. Und wir sind zusammen. Es ist schön, dass jeder Mensch überall einen Platz hat." Sheerla atmete tief ein. "Ja, Neesan. Da hast du recht. Es ist gut so. Ich bin froh darüber." "Ich auch," sagte Liam. "Ich hätte nie gedacht, dass - nun - ich weiß nicht..." Er grinste, wie sollte er die Unvollkommenheiten seiner Eltern in Worte fassen? "...Papi mal so niedlich war, stimmt's, Neesan? Und Mama hat trotzdem schon ein Auge auf ihn geworfen, da kann sie sagen, was sie will!" "Sie alle kennen die Zukunft, auch wenn sie es nicht wissen," Neesan lachte, "wie bei deinem Anhänger, Sive, erinnerst du dich? Auch er hat Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt - wie ein Mensch. Er hat deiner Großmutter, deiner Mutter und dir gehört, und was weißt du, wem noch? Und wem du ihn mal geben wirst?" "Ich weiß es nicht," bekannte Sive zerstreut, "ich bin auch glücklich, versteht mich nicht falsch. Aber - " Sie sah auf vom Sand, in den sie endlose Kreise gemalt hatte und die anderen konnten erkennen, dass der Ausdruck ihrer Augen entgegen ihrer Worte Beunruhigung offenbarte. "Das ist noch nicht das letzte Kapitel. Ich frage euch,", eindringlich blickte sie sie an, "Sheerla - Liam - Neesan - seid ihr sicher, dass es nur eine Zeit geben kann? Nur eine Gegenwart? Nur eine Zukunft?" Alarmiert packte Sheerla sie bei der Schulter. "Sive," sagte sie, "Sive, ich bin mir über nichts im Klaren. Was meinst du?" Sive stützte das Kinn auf die Arme, hielt ihre Knie umschlungen. Sie bemühte sich, die anderen anzusehen, während sie erklärte, konnte aber nicht verhindern, dass sich ihr Blick in die Ferne verlor. Vorwärts - oder zurück? "Ich hab meinen Vater gefunden, und viele Teile der Vergangenheit. Es war schön. Aber - irgendwas - versteht ihr - irgend etwas ist nicht, wie es sein sollte. Ein Strich passt nicht ins Bild." Kreise im Sand. Wolken am Himmel. Wellen des Wassers. "Und ich weiß nicht, was er ist. Ich weiß nur, dass er fehlt." Es war Liam, der die Frage stellte. "Wer ist es?" "Nerd." "Nerd!" rief Sheerla aus. "Er ist ein Freak." "Sag nicht so was!" Aus irgendeinem Grund verletzten die Worte Sive. "Entschuldigung." Sheerla wirkte tatsächlich beschämt. "Du weißt ja wirklich nicht, wohin er gehört. Aber das war das erste, was mir einfiel, und ich glaube, es ist auch das einzige." "Du bist klüger als ich, Sheerla. Auch wenn du nicht weißt, woher Nutella kommt." gab Sive zu, seufzte. "Was ist es, Sive?" fragte nun auch Neesan, der so still und doch so verlässlich war. "Es war.... am Morgen in Manuas Haus. Ich war früher wach als ihr und bin durch die Gänge geschlichen. Und da hab ich Nerd beim Spielen gesehen. Ich habe ihn beobachtet, und - ich weiß nicht!" Sive seufzte wieder, zupfte an ihrem Elefanten. "Aber das meine ich!" Fest blickte Sheerla sie an. "Er spielt den ganzen Tag! Es gibt nicht mehr, was ich über ihn sagen könnte! Und was sagst du - glaubst du, so ein Typ ist normal?" Sive zog es vor, nicht zu antworten. Ihr Blick wanderte zu Liam, zu Neesan. Aber was sie da las, war Zustimmung für Sheerlas Worte, mal milder, mal mitleidiger, aber deutlich vorhanden. "Vielleicht habt ihr recht. Aber das ist es nicht - es ist - ich brauche ein Orakel!" Und das war sie, die Lösung: "Ich frage Snake!" Augenblicklich sprang Sive auf, und sie war schon im Weglaufen, als sie die Rufe der anderen vernahm: "Wirst du wohl warten?!" Der kleine Platz vor dem Amphibienfahrzeug war voller Menschen, die sich unterhielten, lachten, spielten oder einfach nur faulenzten. Aber Sive achtete nicht darauf, als sie angerannt kam, dicht gefolgt von Neesan, Liam und Sheerla, die es schließlich doch noch geschafft hatten, sie einzuholen. "Snake," rief sie atemlos in die Runde, "Wo ist Snake?", und man machte ihr Platz, obwohl - oder gerade weil? - ihr Verhalten mehr als auffällig war. "Snake!" Er saß im Schatten, einmal nicht in der üblichen Konstellation, denn God war gerade irgendwo anderswo und Crybaby und Young Lady besetzten seinen Platz, kirschenessend und flüsternd. "Snake!" verlangte sie zum dritten Mal, doch es genügte nicht, um dem Jungen ihre tatsächliche Anspannung begreiflich zu machen, "Wer ist Nerd?" "Wo Nerd ist?" War Snake taub, dass er sie falsch verstand!? Weil er ebenfalls Kirschen gegessen hatte, hatte er noch einen Kern im Mund, den er ausspuckte. Sive drehte sich um, um zu sehen, wo er gelandet war. "Hinter dir." Das sah sie nun auch. Da saß er, hatte zu spielen aufgehört, als sein Name gefallen war und starrte sie nur an mit jenem eigentümlichen Blick, der ihr schon vorher aufgefallen war, der ihr alles hätte verraten können, wenn sie nur darauf geachtet hatte. Es spielte keine Rolle. Vielleicht war Sives größter Fehler in diesem Moment, dass sie Nerd in ihrer Aufregung nicht als Mensch sah, sondern als eine dringliche, bohrende Frage, die es zu lösen galt. "Nicht wo! Wer!" Sive umklammerte Snakes Schultern und zwang ihn, sie anzusehen. Sie musste völlig durchgedreht wirken, aber das war jetzt nicht wichtig. "Wer! Wer ist Nerd! Wer ist Nerd?" Snake öffnete den Mund, doch die Kirsche, die er hatte hineinstecken wollen, blieb in der Luft hängen, da er jetzt für andere Sachen gebraucht wurde. Zum Antworten nämlich. "Nerd? Er ist - Gods Bruder - dein Onkel!" "Mein Onkel!" Sive schrie fast, als es ihr endlich einfiel, einfiel, was Snake gesagt hatte, damals, in Manuas Keller, als jene verfluchte Bordbuch-Geschichte sich abgewickelt hatte.... 'Ich wollte nur sagen, dass ihr Nerd vergessen habt. Ich meine, er hat auch den gleichen Nachnamen wie Sive, schließlich ist er Gods Bruder.' Und sie hatte ihn ebenfalls vergessen, sie hatte - "Aber das kann nicht sein! Das ist unmöglich!" Verzweifelt schüttelte Sive Snake, der ihr die Antwort gegeben hatte, die sie brauchte und die sie nicht hören wollte. Dann ein Ton, nur ein einziger. Ein Geräusch hinter ihrem Rücken. Ein undefinierbarer Blick. Sie wusste genau, was er ihr mitteilte, denn wie oft hatte sie selbst schon jemanden ganz genauso angesehen! Das war kein Freak, das war ein ganz normaler Junge, der ihr sagte: Das hättest du nicht sagen sollen. Warum hast du das gesagt?, und der nun auf dem Absatz kehrtmachte und davonlief, in der Hand nur seinen Game Boy. "Was ist unmöglich?" Auf einmal war auch God da, was hatte er gesehen, gehört? Sive gab ihm keine Antwort. Sie hätte lügen müssen. Sie musste jetzt tun, was Liam getan hatte, sie musste hinterher. Sie würde lügen müssen. ~~~ Samhain Night Words and Music by Loreena McKennitt. Performed by Loreena McKennitt. When the moon on a cloud cast night Shone above the tree tops' height You sang me of some distant past That made my heart beat strong and fast Now I know I'm home at last You offered me an eagle's wing That to the sun I'd soar and sing And if I heard the owl's cry Into the forest I would fly And in its darkness find you by. And so the love's not a simple thing Nor our truths unwavering But like the moon's pull on the tide Our fingers touch our hearts collide I'll be a moonsbreath by your side ~~~ XXVII. Die Dinge beim Namen nennen Was war es nur, das ihr dieses Bild so vertraut machte? Sie hatte es nur einmal gesehen, das war an jenem Morgen gewesen, bevor sie gewusst hatte, was sie nun wusste. Damals war es ihr seltsam und beunruhigend vorgekommen - und jetzt? Jetzt lächelte Nerd nicht, er hatte auch keinen Grund dazu. Warum hatte sie sich nicht besser in der Gewalt gehabt? Bloß weil sie nicht die Klappe hatte halten können, nicht an Liams und Neesans Warnungen gedacht hatte, mit der Zukunft nicht leichtfertig umzugehen! Aber wenn sie nun käme, würde sie nicht alles noch viel schlimmer machen, wie schon so oft? Sive konnte sich vorstellen, was Nerd in diesem Moment empfand. Die chronischen Piepgeräusche waren zu Schüssen geworden - wahrscheinlich ein Ballerspiel. Nein, es ging nicht anders. Sie musste es wenigstens versuchen. Sie durfte ihn nicht so lassen. Aber Sive war eine schlechte Lügnerin, wie ihr Vater. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte - vielleicht traute sie sich auch nicht - also machte sie es wie Liam, kam aus den Büschen hervor und setzte sich stumm neben ihren - wie sie soeben erfahren hatte - Onkel. Aber sie wusste genau, dass sie ihn so nicht zum Reden kriegen würde. Der Zug war an ihr, und sie hatte Angst vor dem schachmatt. An die Konsequenzen, die sich bereits ereignet hatten, wollte sie gar nicht denken. Sive knetete die Hände im Schoß, sie fühlten sich so kalt an... Ein Punkt an ihrem Kopf hatte zu schmerzen begonnen, seit sie sich gesetzt hatte, direkt an der Schläfe, aber nur an einer. In ihrem jungen Leben hatte Sive noch nie Kopfschmerzen gehabt, deshalb wusste sie nicht, dass sie sich eigentlich anders anfühlten als dieser Schmerz - als hätte sich eine Kugel in ihren Kopf gebohrt. Bei diesem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Nerd hatte noch immer nicht gesprochen. Vielleicht hatte er gar nicht gemerkt, dass sie sich neben ihn gesetzt hatte? "Es... es tut mir leid. Es ist nicht so, dass ich nicht möchte, dass du mein Onkel bist. Wir haben... nur sehr lange nichts mehr von dir gehört, Nerd." Sives Stimme zitterte, ganz leicht nur, aber sie wusste, dass sie log, und dass Nerd es auch wusste. Er antwortete noch immer nicht, Sive war sich nicht mal sicher, ob er sie tatsächlich gehört hatte. Da war ein dicker Kloß in ihrem Hals, und während sie versuchte, ihn hinunterzuschlucken, rief sie voller Verzweiflung: "Es tut mir wirklich leid! Ich wollte dich nicht verletzen. Bitte, du musst mir glauben..." Sive unterbrach sich, schwieg. Dann sagte sie langsam, zögernd, als sei es ihr selbst erst eben, in diesem Moment klargeworden: "Ich... ich mag dich, Nerd." Und, endlich. Auf einmal machte es ?klick' und Sive hörte, dass er den Game Boy ausgeschaltet hatte. "Ist schon ok, Sive." Sie beugte sich vor, um ihn anzusehen, und sah, dass er lächelte - ein bisschen nur, nicht viel, nicht direkt ihr zugewandt. Aber Sive spürte, dass es an sie gerichtet war. Und auch es wenn es nur ein bisschen lächeln war, passte es doch viel besser zu diesem Jungen als das andere, das fremde, das sie in Manuas Haus beobachtet hatte. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Es war nur einer von vielen, aber es machte sie froher. "Nerd..." Sive stupste ihn, unsicher, ob sie das durfte, "...oder... soll ich dich Cross nennen?" Die Pause dauerte nur einen Wimpernschlag. "Ist egal." hörte sie dann die ausweichende Antwort, "Wie du willst." "Ich... ich mein ja nur," erwiderte Sive stockend, "Ich meine... ?Nerd' ist ja nicht gerade nett." Unerwartet sah sie ihn wieder lächeln, ein Lächeln voller Selbstironie. "?Crybaby' ist auch nicht netter. Das ist schon in Ordnung." "Ich meine... Cross ist schon ein sehr ungewöhnlicher Vorname," versuchte Sive zu erklären. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das Thema Nerd auf die Nerven ging, andererseits war da einfach das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Ein Klicken, eine quäkende Melodie. Jetzt hatte er den Game Boy doch wieder angeschaltet. Hilflosigkeit begann sie zu übermannen, ohne dass sie es zu verhindern wusste. Das Terrain, auf das sie sich gewagt hatte, war ihr fremd, und es war nicht die Art von Terrain, auf das man eingeladen wird. Sive hatte das ungute Gefühl, dass er weggeblickt hatte, sobald sie den Namen erwähnt hatte, und nun spielte er wieder. "Ja." Schussgeräusche, Salven und ein Schrei, als das Männchen auf dem Bildschirm Game Over ging. "Wer... hat ihn dir gegeben?" "Weiß nicht. Meine Eltern, nehme ich an." Je länger er sprach, desto ausdrucksloser wurde seine Stimme, gleichsam flach, zweidimensional. Warum musste sie weiterfragen? Es war nicht gut. Sie würde wieder alles schlimmer machen. Egal wo sie ihre Nase rein steckte, sie machte immer nur alles schlimmer. Wie ein dummes, neugieriges kleines Kind - Kind, das sie war. Warum fragte sie weiter? Er wollte nicht darüber sprechen! "Und... was bedeutet er?" fragte Sive. "Cross. Englisch: Das Kreuz. Leiden, Trübsal, Not, Widerwärtigkeit. Mürrisch, verstimmt, verdrießlich. Verzerrt, schräg, verkehrt. To cross off: Durchstreichen. To cross someone's path: Jemandem in die Quere kommen. Einen Plan durchkreuzen." Zwischen jedem Wort ein Knopfdruck, ein Schuss. Der starre Staccatorhythmus von Tatsachen. Der Schmerz in ihrem Kopf. Sive erschrak. Obwohl Englisch ihre Muttersprache war, hatte sie nicht gewusst, dass das Wort derartig viele Bedeutungen hatte. "Hast du... das auswendig gelernt?" fragte sie heiser, fast gegen ihren Willen, und ganz und gar gegen ihren Verstand. Es war nicht besser geworden. Aber es bewirkte, dass Sive besser verstand. Nerd antwortete gar nichts. Dennoch war es wie eine Erleichterung. Auf einmal schien das Leben in seine Stimme zurückgekehrt. Denn jetzt war er es, der fragte: "Sive, wie heißt du?" Als ein Kind hatte Sive ein Gefühl für das Unausgesprochene. Deshalb verstand sie auch sofort: Nerd war nicht an ihrem Namen interessiert, denn den kannte er ja. Nicht 'Wie heißt du?' besagte die Frage, sondern: 'Wer bist du?' Dennoch schwieg zuerst sie einen Moment lang. Sie musste überlegen, um nicht voreilig zu antworten. Sie hatte das Gefühl, dass viel von ihrer Antwort abhing. "Sive," erklärte Sive schließlich, den Kopf in die Hände gestützt, "Si-ve. Siiiii-ve.", um den Klang in den Kopf zu bekommen. Sie wusste noch immer nicht, ob sie ihn nun mochte oder nicht, ihren Namen. "Ich glaube, er ist keltisch. Meine Eltern haben mir den Namen gegeben, ich weiß nicht genau, wer von ihnen. Vielleicht waren sie es auch beide zusammen." Als sie bemerkte, wie aufmerksam Nerd zuhörte, wurde sie mutiger. "Es heißt, glaube ich, so was wie Güte oder Freundlichkeit. Ich weiß," das Mädchen seufzte, senkte verlegen den Blick, "....es passt nicht sehr gut zu mir." "Ich finde, es passt sogar sehr gut." widersprach Nerd überraschenderweise. Freudestrahlend blickte Sive auf: "Ja? Wirklich?" Nerd nickte. Schüchtern meinte er: "Ich glaube, wenn ich... wenn ich groß bin, hätte ich auch gern eine Tochter... wie dich, Sive." "Danke," rief Sive überglücklich, "danke! Cross passt auch... ich meine - ich meine... " Bestürzt brach sie ab. Mit einemmal fühlte sie sich so elend, sie hätte heulen können. Was um Himmels Willen tat sie? Wie konnte sie die Dinge so schnell vergessen? Auf einmal lag wieder die Spannung in der Luft, Ruhe vor dem Sturm. "Es passt," gelang es Sive, mühsam zu Ende zu sprechen, "überhaupt nicht zu dir. Überhaupt, überhaupt, überhaupt nicht!" Sie musste schlucken, sah wieder weg. Als sie aufblickte, streckte Nerd ihr statt einer Antwort die Hände entgegen. Er hatte beide Zeigefinger im rechten Winkel übereinander gelegt. Sie bildeten ein Kreuz, und auf einmal fiel ihr auf, wie sehr dieses Zeichen der Button-Taste auf einem Game Boy ähnelte. "Überhaupt nicht!" schrie Sive, "Überhaupt nicht!" Ruckartig hob sie ebenfalls die Hand, wie um einen bösen Geist abzuwehren. "Überhaupt nicht!", und immer wieder die selben vier Silben, überhaupt nicht, überhaupt nicht, überhaupt nicht... Nerd ließ die Hände sinken, entsetzt und erschrocken, was er angerichtet hatte. "Sive," stammelte er, "es ist doch egal... Sive... komm schon, beruhig' dich..." Er rutschte ein wenig näher heran und nahm das mittlerweile schluchzende Mädchen unbeholfen in den Arm. "Sive, es ist egal," wiederholte er fast beschwörend, "Sive..." Es war ein sonderbarer Chor, dieses ständige ?Es ist egal', und ?Überhaupt nicht!'. Wusste er es denn wirklich nicht? Konnte es sein, dass er nicht wusste? Sive schluchzte noch heftiger, soviel zu Güte und Freundlichkeit. Sie wäre jetzt gern weggelaufen, denn sie spürte die drohende Katastrophe über ihrem Kopf schweben. Aber diesmal ging das nicht, sie konnte Nerd nicht so hier lassen. Also zwang sie sich zu einem "Du hast recht. Es ist egal." und versiegelte das nutzlose Schluchzen in ihrem Bauch. Es war egal. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 10: XXVIII. Unter Freunden * XXIX. Du hättest tot sein können * XXX. Theater ------------------------------------------------------------------------------------ XXVIII. UNTER FREUNDEN * XXIX. DU HÄTTEST TOT SEIN KÖNNEN * XXX. THEATER XXVIII. Unter Freunden Gerade als sie begannen, zu überlegen, ob sie nicht zurückgehen sollten, waren in den Büschen schnelle Schritte zu vernehmen und kurz darauf tauchten Young Lady und Crybaby auf. Obwohl sie nicht gerannt waren, wirkten sie doch beunruhigt, und als Crybaby den Mund aufmachte, wurde Sive klar, woran das lag. "Es sieht so aus, als wäre die Armee wieder in der Nähe. Boss und Tiger haben am Waldrand ein paar Berittene gesehen." Und Young Lady ergänzte: "Er sagt zwar, dass sie uns anscheinend noch nicht aufgespürt haben, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Wir müssen wieder weg." "A-ach so. Kommt ihr deshalb?" fragte Nerd. Für Sive war es einmal mehr unbegreiflich, wie sich die Stimme eines Menschen innerhalb weniger Sekunden so verändern konnte. "Ja..." erwiderte Young Lady zögernd, erst jetzt schien sie Sives verheultes Gesicht zu bemerken: "Sive, was ist denn?" Besorgt kam sie heran und beugte sich über das jüngere Mädchen. "Du musst doch nicht weinen! Nerd hat dir doch bestimmt verziehen, oder?" Freundlich lächelte Young Lady die beiden an und Sive sah mit neuen Augen, dass Nerd rot wurde. "Ja, schon," murmelte sie vage, gab sich dann einen Schubs und hängte Young Lady zuliebe ein etwas aufschlußreicheres: "Ja, doch," und ein Lächeln an. Irgendwie war es schwer, garstig zu sein, wenn so nett mit einem geredet wurde. Young Lady war ein liebes Mädchen, älter als sie, aber trotzdem noch ein Kind, wie sie und Nerd und Crybaby. Ja, ganz genau wie sie, Liam, Neesan und Sheerla. Seltsam, dass ihr das erst jetzt auffiel. Vielleicht war es ihr langsam doch langweilig geworden, sie alle blöd zu finden? "Seid ihr so weit oder sollen wir noch einen Moment warten?" erkundigte sich nun auch Crybaby, Boss' rücksichtsvoller Bruder, und dabei fiel Sive ein, dass er ebenfalls mit Liam verwandt war. Sie wechselte einen Blick mit Nerd. Wie schon sein veränderter Tonfall hieß er ?Ja, wir können gehen.' Also erhoben sie sich aus dem Gras und gingen zügig zum Fahrzeug zurück, denn obwohl noch keine direkte Gefahr bestand, war es doch ganz gut, nicht zu trödeln. In Gedanken jedoch war Sive die Armee herzlich egal, sie war mit ganz anderen Dingen beschäftigt. "Schön, dass ihr euch wieder vertragen habt," hatte Young Lady gesagt, aber über den Grund des ?Streits', wenn man es denn so nennen konnte, hatten weder sie noch Crybaby Worte verloren. Aber das, was Sive zuvor so taktlos und unachtsam herausgerufen hatte, hatten alle gehört. Und da sie sich wahrscheinlich - oder hoffentlich! - keinen Reim darauf machen konnten, würden sie es wissen wollen, oder? Bald, demnächst. Aber bis jetzt nicht, bis jetzt waren da nur zwei freundliche, zurückhaltende, taktvolle Kinder - nein, drei. Sich selbst allerdings konnte Sive nicht dazurechnen. Nach dem Eintrudeln von Sive, Nerd, Young Lady und Crybaby war alles weitere nur noch Routine gewesen, etwas, was sich in den letzten Tagen einfach zu oft abgespielt hatte: rein ins Auto, Gas gegeben und losgefahren. Armee, Dinos, Zans - das plärrende Vieh, das sich dadurch in seiner Wichtigkeit wieder einmal so gesteigert fühlte, dass es nicht die Klappe halten konnte - und trotzdem ging das alles so an einem vorbei, als wäre man tatsächlich nicht mehr als ein Besucher aus einer anderen Welt. Aber das stimmte auch nicht, sie erlebten hier ihre eigene Geschichte, und die war weniger mit Noah verbunden als mit dem Aufeinandertreffen von zwei Zeiten. Sheerla seufzte und sah nach Neesan, der ihr bei all dem Trubel ein bisschen abhanden gekommen war. Er war am anderen Ende der Bank und ließ sich von einem stolzen Timid oder Blunder - Sheerla hatte sich schon immer dafür geschämt, Zwillinge nicht auseinander halten zu können, obwohl sie selbst einer war - irgendwelches Kruppzeug präsentieren, Muscheln oder so, die er vom Flußufer gesammelt hatte. Neesan sah dabei alles andere als fasziniert aus, aber er blieb geduldig, so war er eben. Auch wenn sie nicht mehr diese Aufpass-Manie für ihren Bruder hatte, war sie doch noch ganz froh zu wissen, wo er gerade steckte. So was ließ sich nicht so einfach ablegen. Tiger schien das zu ahnen, sie lächelte ihrer Tochter wissend zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss, um Boss vorn am Steuer zu helfen. "Na, haben sie dich mal wieder nicht fahren lassen?" stichelte Sheerla gutmütig in Betrachtung des mürrischen Gesichts neben ihr. Zu Eltern von Freunden konnte man so was sagen, zu gemeingefährlichen Spinnern nicht. Auch jetzt antwortete der Nicht-mehr-gemeingefährliche-Spinner bloß mit einer Grimasse, die Sheerla stark an Sives Was-soll-denn-das-Gesicht erinnerte. Apropos, wo war die eigentlich? Sheerla schaute nach links und rechts, aber da saßen nur Liam und God. Normalerweise war Sive dann auch nicht weit, aber dieses Mal entdeckte Sheerla sie erst nach längerem Suchen in einem Winkel am Fenster, in der Nähe des spielenden Nerd. Sie wollte aufstehen und zu ihr hingehen. "Lass sie. Sie wird kommen, wenn sie etwas will." Liams Blick war schwer einzuordnen und auch seine Formulierung hörte sich mehr als ungewohnt an. Sheerla kniff die Augen zusammen. "Das glaube ich nicht." Sie erhob sich und durchquerte das Fahrzeug, während Liam sich auf ihre Worte hin nun doch gezwungen sah, zu folgen. Als sie gerade in der Mitte waren, ging auf einmal ein solcher Ruck durch das Tricelosa, dass sie sich aneinander festhalten mussten, um nicht zu fallen. Bremsenquietschen tönte ohrenbetäubend, ein klatschender Laut vom Fenster verkündete, dass Sive, die einzige, die ebenfalls nicht gesessen hatte, gegen die Scheibe gefallen war. Dann standen sie still. Sheerla warf die Haare in den Nacken. Das letzte Mal, dass Fahren so selbstmörderisch gewesen war, war God am Steuer gesessen, aber jetzt sprang eben dieser von seinem untätigen Platz auf und brüllte genervt: "Verdammt nochmal, was hat dieser Idiot da vorne jetzt schon wieder?" "Die haben uns eingekreist!" tönte es dumpf zurück, "Und überhaupt - mach's erst mal besser!" Ja, selbst eingekreist und durch eine Tür konnten diese zwei Trottel durchaus noch streiten. "Ja was, dann fahr doch, dass du die Reihe durchbrichst!" wetterte God. Jetzt musste er doch nach vorne und da rumzetern, aber auf dem Weg kam er an Sive vorbei und sah, wie sie sich eine violette Stelle an der Stirn rieb. Sie war wirklich voll gegen die Scheibe gekracht. "Du Idiot! Das ist ja gemeingefährlich, was du da zusammenfährst!" erklang es daraufhin hinter der Tür. "Als würde so einer wie du viel Wert auf Gemeinschaft legen! Schnallt euch eben an!" rechtfertigte sich Boss und hätte wohl fast die Soldaten vergessen, wenn President ihn nicht daran erinnert hätte. Dann hörte Sheerla die Stimme, auf die sie gewartet hatte, der vernünftige, manchmal etwas zu direkte Tonfall ihrer Mutter: "Ja, sie haben uns von drei Seiten eingekreist. Aber das hier ist ein Amphibienfahrzeug. Und wir sind an einem Fluß." "Hä?" war Boss' einzige Reaktion. "Verdammt nochmal! Fahr ins Wasser!" brüllte God, und Boss war so verblüfft ob dieses genialen Einfalls, dass er genau das tat, was die anderen gesagt hatten: er fuhr. Princess seufzte und Sheerla konnte beim besten Willen nicht ausmachen, ob aus Erleichterung wegen dieses Auswegs, oder aus Sorge: Würden die beiden Streithähne es jetzt auch noch schaffen, sie alle zu ertränken? Hoch spritzten die Wellen, aber den letzten Pfeil konnten sie nicht abwehren. Er traf auf der Seitenscheibe auf, Gatcha fuhr erschrocken zurück, der Pfeil prallte ab - Panzerglas forever. Hatten die so was damals überhaupt schon? Mittlerweile hatten Liam und sie es geschafft, sich zu Sive durchzukämpfen. Sheerla musste brüllen, um das Motorengeräusch zu übertönen. Hier im Wasser war es tatsächlich ungeheuer laut, außerdem hörten sie die ganze Zeit vom Ufer die Rufe der Soldaten, die nun offenbar auch mitgekriegt hatten, was abging. "Sive? Schramme?" "Blauer Fleck!" giekste Sive zurück, nicht halb so laut wie Sheerla. "Regenbogenfarbener Fleck!" berichtigte sie, wenn es etwas gab, womit sie sich auskannte, dann waren das blaue Flecken. "Was war mit Nerd?" fragte sie dann das, was ihr auf der Zunge lag, aber wie Liam vielleicht erwartet und Sheerla nicht geglaubt hatte: Sive wurde verschlossen wie eine Auster. "Nix. Liam weiß es doch." "Was weißt du, Liam?" rief Sheerla gegen den Lärm. Dieser zog sie am Arm und sprach erst wieder, als sie bei Neesan und aus Nerds Nähe weg waren. "Ich weiß nicht - ich..." Das Tricelosa schwankte wieder, im Wasser noch mehr als auf dem unebenen Boden. "Was?" forderte Sheerla energisch zu wissen. Jetzt sagte Sive: "Ich möchte nichts sagen. Es ist nicht so, dass ich euch nicht vertraue -" Aber das reichte schon. "Was?! Du dummes Kind! Hör bloß auf! Glaubst du wirklich, die Dinge werden besser, wenn du sie für dich behältst? Das macht dich kaputt! Hör auf! Gewöhn' dir das bloß nicht an! Hörst du? Du..." Sheerla verlor den Faden, schnaubte. "Sive, Sheerla hat recht. Du musst reden, wir beide verstehen es sonst nicht." Einmal, zweimal musste Neesan die wenigen Worte wiederholen. Neben dem Dröhnen der Motoren war ein weiteres Wasserrauschen dazu gekommen, das sie noch nicht recht einordnen konnten. Dafür schienen die Stimmen der Soldaten plötzlich wie verschluckt, ferner, leiser. "Ich... ich..." stammelte Sive unglücklich. Jetzt schimmerten Tränen in ihren Augen. "Lasst mich doch!" "Sive," sagte Liam, "Sive..." Seine Augen waren weit aufgerissen, Sheerla schrieb es zuerst seinem Mitgefühl zu, erkannte dann aber, dass da mehr war. "Er weiß es, nicht wahr! Liam weiß es und wir wissen es nicht!" Unerwartet heftig wandte sich Liam an sie: "Hör auf! Sie kann nichts dafür!" Noch nie hatte Sheerla ihn so erschüttert erlebt. Hatte er schon zuvor gesehen, oder war ihm eben erst klar geworden, was diesen Schrecken ausmachte? Sheerla tippte auf Letzteres. "Nein, es ist nicht so..." verteidigte Sive hilflos und ungehört gegen den brausenden Wasserlärm. Was war das nur? Warum zitterte das Tricelosa wie ein gespannter Draht? Schließlich hatte sie ihre Stimme wieder gefunden: "Nein! Liam weiß es, weil... er ist... mein Cousin..." "Sive, du..." redete Sheerla dagegen. "Er kennt - ich.... hört zu, ich will nichts mehr darüber sagen, niemandem! Es darf nicht sein...." "Sive! Du..." "Ich will nichts sagen!" "Du... du...." Dieser Lärm war nicht mehr normal. Ruckartig drehte Sheerla sich ab und rief in den Raum: "He, ihr! Was ist das?" Die Antwort kam prompt: "Ein Wasserfall! Und wir fahren direkt darauf zu!" "WAAAAAAAAS?!" "Sive... hör mir zu.... du musst nicht.... ich glaube dir auch so, dass wir Freunde sind..... Du musst nichts..." schrie Sheerla. Oh Gott, dachte Neesan stumm, das war wirklich wie ein Sprung vom Zehn-Meter-Brett. Sives Schramme war nichts dagegen. Sie klammerten sich an alles, was noch niet- und nagelfest war, und das war nicht mehr viel. "Hoffentlich kommt kein Wasser in meinen Game Boy," hörten sie irgendwo Nerd zu Snake sagen. Dann fielen sie. XXIX. Du hättest tot sein können Er hatte seine Ängste etwas zu niedrig gesetzt. Es war kein Sprung von einem Zehn-Meter-Brett, sondern mindestens fünfundzwanzig Meter. Warum sie noch lebten, falls sie es denn taten, war ihm zwar unklar, aber offensichtlich musste es der Fall sein, denn als Toter konnte man sich schwerlich so nass fühlen. Und ein Toter konnte auch nicht diesen Seufzer ausstoßen, den Neesan nun von sich gab. Noah war wirklich Phobienparadies Nr. 1. Wenn er zurückkehrte, würden zu Neesans langer Ängsteliste, auf der an vorderster Stelle Springen, Fliegen und Schwimmen gestanden hatten, noch Auto fahren, Auto-im-Wasser-fahren, Im-Auto-der-Armee-davon-fahren und als oberstes: Mit-dem-Auto-den-Wasserfall-hinunterfallen hinzugekommen sein. Das zweite Wunder - nach der überraschenden Tatsache, dass sie noch lebten, und zwar ziemlich komplett - war wohl, dass auch ihr Auto noch ganz war. Nur durch die Ritzen war Wasser hinein gekommen, alles schwamm. Und wenn ich ?alles' schreibe, dann meine ich alles. Decken, Taschen, Hausrat und Nahrungsmittel dümpelten im Innenraum herum. Plötzlich fiel Neesan auf, dass Sive, genauso verblüfft wie er, seit gut fünf Minuten fasziniert ein kohlkopfartiges Etwas vor ihrer Nase anstarrte. Das Ding allerdings schien sich nicht darum zu kümmern, es wippte fröhlich hin und her. Dann war auf einmal ein Sog zu spüren und all das Wasser samt Ding verschwand rauschend wie es gekommen war. Irgendeine geistesgegenwärtige Person hatte die Türe aufgemacht. Etwa eine Stunde später war der Alltag wieder eingekehrt. Zwar war nichts mehr trocken genug als das man es zum Aufwischen hätte gebrauchen können, aber Sonne und Wind taten ihr bestes. Der Wasserfall war in ein Gewässer gemündet, das wegen seiner Größe und Breite - ein Ufer war nicht in Sicht - wohl ein See sein musste. Während Boss, Tiger und Manua rätselten, wo sie wohl sein mochten, hatten President und Tank auf der Außenbrüstung des Tricelosas eine Wäscheleine aufgespannt, an der nun Young Lady, Doc und Princess all die Dinge, die nass geworden waren, vor allem aber die dringend benötigte Kleidung, aufhängten. Die meisten liefen deshalb mal wieder ohne Hemd herum. God schien sich nicht angesprochen zu fühlen zu helfen. Er und Snake standen in einer Ecke herum, ohne am Geschehen ringsum teilzunehmen. Der Streit mit Boss, bevor sie den Wasserfall hinuntergestürzt waren, musste doch heftiger gewesen sein als Neesan angenommen hatte. Er selbst hatte sich mit Liam über die Brüstung gelehnt und freute sich ebenfalls an der Sonne, nachdem sie zuvor gemeinsam mit den anderen Kindern all ihr im Fahrzeug verstreutes Hab und Gut wieder zusammen gesammelt und etwas aufgeräumt hatten. Sheerla hatte noch immer nicht genug davon, es machte ihr einfach Spaß, einmal so richtig ihr ?Organisationstalent' zur Schau stellen zu können. Und Sive schien sie zu meiden. Neesan machte das betroffen, aber er bemühte sich, es zu respektieren. Was immer es war, es schien Sive selbst heftig an die Nieren zu gehen. "Snake!" Neesan wandte sich um. Hinter ihnen kam Nerd aus dem Innenraum. In der Hand trug er seinen Game Boy vor sich her wie eine Erntedankgabe. "Snake! Er geht nicht! Es muss Wasser hinein gekommen sein!" "Zeig mal," erwiderte Snake. Nerd gab ihm den Game Boy und sah dabei dermaßen bedrückt aus, dass Neesan sich unwillkürlich fragte, ob sonst wirklich nichts passiert war. "Bitte! Kannst du ihn reparieren?" "Ich weiß nicht. Es muss irgend etwas mit den Drähten zu tun haben. Wir machen das gerade in Physik." sagte Snake etwas hilflos und drehte das Ding in den Händen. Neesan sah schweigend zu und bemerkte, dass God und Liam das selbe taten. "Bitte, Snake!" rief Nerd nun verstört, "Er muss doch wieder zu reparieren sein! Liegt es an der Batterie? Ich hab noch welche mit!" "Nein..." meinte Snake. Er schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen, kein Wunder. "Er ist einfach nass. Wir müssen ihn irgendwie trocken kriegen, erst dann kann ich die Batterie auswechseln und mir die Drähte ansehen." "Ach, das war es," sagte Nerd, "Ich hab ihn nämlich aufgemacht und irgendeinen Schlag gekriegt." Die anderen starrten ihn an. "Du hast WAS?" "Ich hab ihn aufgemacht, und da habe ich einen Stromschlag bekommen, oder so was." wiederholte Nerd geduldig. Jetzt sagte God doch etwas. "Du hättest tot sein können." äußerte er fassungslos. Nerd sah nicht beeindruckt aus. "Ja, ja. Aber wie kann ich ihn wieder trocken kriegen?" "Ein Fön..." murmelte Neesan ratlos. Liam nahm es auf und rief in die Runde: "Hat jemand einen Fön dabei?" "Ja, ich," antwortete besagter Jemand. Es war President. Tiger streckte den Kopf um die Ecke, um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch. "Wozu brauchst DU einen Fön?" Auch Neesan musste lächeln, oh ja, er kannte die Eitelkeit seines Vaters. "Was - ich... nur so!" rief President errötend und gab ihn Nerd, "Hier..." Nerd vergaß ganz, sich zu bedanken. Eiligst zog er Snake hinein, um eine Steckdose zu suchen. Unbewegt sah God den beiden nach. Dann streckte er den Kopf in die Höhe, als ginge ihn das alles gar nichts an und ließ sich über die Reling sinken. Mittlerweile glaubten Boss, Tiger und Manua herausgefunden zu haben, wo sie sich befanden. Eine Ahnung zumindest hatten sie schon, erzählte Boss, während Manua unverhohlen ängstlich aussah: Es war ein See, ja, aber nicht irgendein See, sondern laut der Frau aus Lupar ein heiliger See. "Heilig?" fragte Doc. "Niemand außer den Priestern darf hierher. Die Götter werden uns dafür die Beine lähmen." So lautete die Sage, aber was an der Geschichte tatsächlich dran war, konnten sie nicht ausmachen. Manua glaubte felsenfest daran, während Tiger und einige der anderen (God sowieso) eher skeptisch aussahen. Liam tat sie leid, es musste ein grässliches Gefühl sein, in seiner Angst nicht ernst genommen zu werden. "Es gibt einen Tempel hier auf dem Wasser... der Schrein der Götter." erzählte Manua mit schwacher Stimme. "Aber man darf ihn auf keinen Fall betreten! Entschuldigt mich..." Abrupt drehte sie ihnen den Rücken zu und ging davon. "Ich frage mich, was wirklich an der Sache dran ist.", murmelte Doc. "Oft haben solche Sagen einen wahren Kern, wenn auch aus ganz anderen Gründen als erzählt wird." "Ach kommt," winkte Boss ab, entschieden ungläubiger. "Manua hat Angst, ja, aber auf solche Prophezeiungen braucht man doch nichts geben. Ich jedenfalls würde diesen Schrein gern mal sehen. Wer weiß, vielleicht finden wir ja etwas, was uns weiterhilft. Zum Beispiel, wie wir wieder nach Hause kommen." "Nach Hause..." echote Liam. Er sah in die Ferne. XXX. Theater Nachdem sie ein paar Minuten gefahren waren, begannen auf einmal die Wellen in Kreisen gegen ihre Bordwand zu schlagen. Sie wurden breiter und heftiger, bis deutliche Erschütterungen durch das Fahrzeug gingen. Doc meinte, es wäre genauso, wie wenn sich Delphine einem Boot näherten, nur dass die Wellen, die Delphine verursachten, nicht annähernd so stark waren. Bevor aber jemand anfangen konnte, sich vor urzeitlichen Killerdelphinen zu ängstigen, wurden die langhalsigen Auslöser des Bebens am Horizont sichtbar. Es waren Brachiosaurier, die diesen See bewohnten. Eine ganze Herde von ihnen näherte sich gemächlich dem in ein Boot verwandelten Amphibienfahrzeug. Ein großer, der der Anführer zu sein schien, streckte neugierig seinen Kopf über den Rand und zwinkerte (konnten Dinos zwinkern?!) den menschlichen Anführern Boss und President wie zum Gruß zu. "Na, wer seid ihr denn? Bewacht ihr diesen See?" scherzte Boss und kraulte dem gut zehnmal so großen Tier den Kopf. President, bleich, schien nicht ganz so tierfreundlich zu sein und hielt sich lieber vornehm im Hintergrund. Den anderen nahm Boss die Angst. Bald scharten sich weitere Dinosaurier rings um das schwimmende Tricelosa, von Gatcha und Timid und Blunder und Neesan gestreichelt und von Zans in einer seltsamen, schreienden Sprache ausgefragt. Wie ihr Vater war auch Sheerla bleich geworden, als sie die Brachiosaurier gesehen hatte. Der Tag, an dem sie beinahe von einem zertrampelt worden wäre, lag noch nicht lange genug zurück, als dass sie vergessen hätte, welches Unheil die Riesen allein durch ihre Größe anrichten konnten. Und sie selbst... war so klein. Sheerla bibberte und machte sich noch kleiner. "Papa," stammelte sie tonlos, sie hatte wirklich Angst! "Ist schon gut, Sheerla," beruhigte President sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Sheerla atmete auf, jetzt fühlte sie sich sicherer. "Willst du nicht gucken?" God verzog geringschätzig das Gesicht. "Kinderkram," winkte er ab. "Du hast bloß Angst vor ihnen," stellte Sive richtig, während sie ihm folgte. War sie zu weit gegangen? God drehte sich um und blickte sie an, und wenn Blicke töten könnten...! "Ich mag sie auch nicht." gab Sive klein bei, "Genaugenommen... hab ich auch Angst vor ihnen." Mit zögernden Schritten kam das Mädchen heran und dann standen sie da nebeneinander, über das Geländer gelehnt, und sahen auf den See. "Weißt du, wo Nerd und Snake sind?" "Nein." "Interessiert es dich überhaupt?" "Nein." Sive fühlte sich zu einer bissigen Bemerkung hingerissen, doch sie unterdrückte sie. "Mich interessiert es schon," gab sie angriffslustig zurück. "Dann geh' doch zu ihnen." "Nerv' ich dich etwa?" Wenn er jetzt ?ja' sagte, würde es wahrscheinlich sogar stimmen. Sive fühlte sich vollkommen durcheinander. Sie war doch gar nicht gekommen, um Streit anzufangen! Nichtsdestotrotz waren sie gerade voll dabei. Musste das Leben denn so kompliziert sein? "Nein," sagte God. Sive war erleichtert. Er log zwar, aber immerhin bemühte er sich. "Ich..." begann sie tapfer und brach ab. Was genau wollte sie eigentlich? Beweise sammeln für etwas, das sie längst wusste? Für etwas, das sie ohnehin nicht ändern konnte? Sie wollte es nicht einsehen, das war der Grund. Sie war noch nie gut darin gewesen, Dinge einzusehen. "Versteht ihr euch gut, du und N... Cross?" Wie sie ihn nun nennen sollte, hatte sie noch immer nicht herausgefunden. Sive mochte keinen der beiden Namen, also würde sie God die Wahl überlassen. "Wie meinst du das?" entgegnete er gleichgültig, während er ins Wasser sah, wo unruhige Wellen ihrer beider Spiegelbilder durchbrachen, ein schillerndes Gewirr aus Fragezeichen bildeten. Die Frage war heikel, Sive hatte es geahnt. Und trotzdem enttäuschte sein Verhalten sie. Konnte er nicht einmal ihr gegenüber offen sein? Sie war nahe dran, das auch noch zu fragen, als God unvermittelt meinte: "Wir akzeptieren einander." Er schien es aufgegeben zu haben, Sive war froh darüber. "Hast du... ihn lieb?" fragte sie leise. Und kaum dass sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, God würde darauf nicht antworten. Es gibt Dinge, die fragt man, und es gibt andere, die fragt man, wenn man vertraut ist, aber es gibt auch Dinge, die man nie fragen sollte, selbst wenn man ein Kind war wie Sive. Es könnte sein, dass man die Antwort nicht wissen will. Sive hatte schon einmal so eine Frage gestellt in ihrem Wunsch zu verstehen, und schon einmal hatte sie eine richtige Antwort bekommen, die doch gleichzeitig so falsch war. God ließ das Geländer los und trat einen Schritt zurück. Langsam wandte er den Kopf und sah seine Tochter an. Zusammengekniffene Augen weiteten sich ein wenig, als ihm aufzufallen schien, wie ähnlich sie einander sahen. Sive hatte schon Angst, dass auch God jetzt anfangen würde, verfreaktes Zeug zu reden so wie Nerd, wenn er gut drauf war, aber das einzige, was er tat, war, ebenfalls eine Frage zu stellen: "Was ist unmöglich, Sive?" Sive wich zurück und hob ihren Kopf. "Du weißt es doch," rief sie anklagend. Und als sie sein Gesicht sah, wurde ihr klar, dass er es tatsächlich wusste oder zumindest ahnte, so wie sie es alle hätten wissen können, wenn sie nur einmal die Augen aufgemacht hätten. Und sie fragte sich, wenn er es doch wusste, warum er dann fragte. God wurde ausweichend. "Darum geht es nicht. Wenn du es weißt, musst du es sagen. Du weißt, warum." 'Du weißt, warum'? Wusste sie es? Sie wusste, dass sie Angst hatte. Sie wusste, dass sie verwirrt war. Sie wusste, dass sie unglücklich war. Verwirrung, Angst und Unglücklich-sein schienen sie zu erdrücken. Die Wahrheit schien sie zu erdrücken. Sie, die sonst so freimütig jede dumme Wahrheit und jede gutmütige Lüge aussprach, durfte nicht sprechen, weil nicht abzusehen war, was sie damit kaputtmachen würde. "Sive, es wird dich kaputtmachen und ihm nicht helfen. Du musst die Wahrheit sagen." Wie sonderbar, dass diese Worte Gods denen von Sheerla fast aufs Haar glichen. Und war das tatsächlich Sorge, was sie da herauszuhören glaubte, oder pures Wunschdenken? "Die Wahrheit! Wie kannst du das wollen? Du kannst doch selbst niemals die Wahrheit sagen!" erwiderte sie hitzig und bereute es im nächsten Augenblick, als ihr klar wurde, wie verletzend ihre Worte waren - weil sie wahr waren. God sah zu Boden. "Das heißt ja noch lange nicht, dass du das auch tun musst, oder?" "Aber... es ist grausam..." flüsterte sie hilflos und entsetzt, "Wie kannst du nur..." "Hast du vielleicht eine bessere Idee? Es ist besser als nichts!" rief er heftig, ohne dass Sive sich seine Heftigkeit erklären konnte. Sie verstand nicht, was meinte er mit ?nichts'? "Sive. Sprich es aus. Sag es Cross." beharrte er. "Aber... ich... ich kann nicht! Ich kann wirklich nicht! Oh bitte... hör auf, lass mich doch!" wehrte Sive verzweifelt ab, schon fast in die Enge getrieben. "Ich kann nicht! Ich darf nicht!" wiederholte sie immer wieder, wie eine Beschwörung. War es wirklich God, dem sie die Worte in den Kopf hämmern wollte, als eisernen Vorsatz, der langsam rostete? "Es wird ihn unglücklich machen. Ich will nicht, dass er unglücklich ist!" beteuerte Sive, schluchzte auf. "Es ändert nichts, ob du es sagst oder nicht." behauptete God, "Es ist doch ohnehin schon geschehen, oder?" Widerstrebend nickte Sive, schüttelte den Kopf, nickte wieder, hin und her gerissen, her und hin... Manche Dinge wurden erst real, wenn man sie aussprach. Aber dieses hier durfte nicht real werden. Es war zu schmerzhaft. Sie durfte es nicht aussprechen. Aber vielleicht stimmte Gods Behauptung ja tatsächlich. Vielleicht war es wirklich nicht mehr zu ändern. Und wenn es nicht mehr zu ändern war, dann machte es vielleicht auch gar keinen Unterschied, ob sie es aussprach oder nicht. "Sive," sagte God. Sein Gesicht war eine seltsame Mischung aus den misslungenen Überresten eines gewinnenden Lächelns und etwas anderem, das sie nicht recht erkennen konnte. Er ging auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern; Sive wich nicht mehr zurück. "Sive. Bitte sag es. Ich verspreche dir, dann wird alles gut." Sie hätte ihrem Vater jetzt gern so blindlings vertraut wie Neesan, Sheerla und sogar Liam es taten, wie sie selbst es in einer gar nicht so fernen Zukunft getan hatte. Aber sie war nicht sicher, ob sie es konnte. Sie wusste stets, wann er log und wann nicht, denn sie war genauso. In diesem Moment hätte sie auf dieses Wissen allerdings gern verzichtet. Plötzlich legte sie den Kopf in den Nacken und sah in Gods Gesicht, mit diesem Blick, der eine ganze Reihe Leute schon entsetzlich genervt hatte. "Guck nicht so dumm," wies Sive ihn konzentriert an, "Jetzt grins doch nicht so, du kannst das eh nicht!" und starrte weiter. Ein Anflug von Befremden auf ihre Worte - "Jetzt guck doch nicht so mondkalbmäßig, das stört!" - dann hatte Sive ihre Analyse beendet. Er log nicht. Er mochte Schwachsinn reden, aber er glaubte was er sagte. Also würde auch sie ihm glauben. Sive wollte es sagen, sie wollte es aussprechen. Sie wollte ihrem Vater vertrauen und das Risiko eingehen, damit vielleicht den größten Vertrauensbruch gegenüber Nerd zu begehen. Es brachte nichts mehr, Fragen zu stellen. Es war Zeit, eine Antwort zu geben. "Was ist unmöglich, Sive?" wiederholte God. Sein Ton war weder drohend noch erzürnt, nur entschlossen. "Vieles," sagte Sive, während sie sich abwandte und sich mit gesenktem Kopf in Richtung Dinohälse bewegte. Sie wusste, damit hatte sie ihr Einverständnis gegeben. Die anderen standen in Grüppchen zusammen, manche waren noch immer mit den Dinos beschäftigt, doch die meisten hatten das Interesse verloren. Irgendwo am Rand konnte Sive Nerd und Snake entdecken. "Warum ist es unmöglich, dass Cross dein Onkel ist?" God hatte nicht einmal laut gesprochen, dennoch drehte sich plötzlich alles nach ihnen um. Und war es Zufall, dass sie ausgerechnet so standen, dass sie eine direkte Gasse zu Nerd hin bildeten, der jetzt zusammenfuhr und Sive anstarrte? Er hatte Angst, sie wusste es. Er hatte noch mehr Angst als sie. Es war grausam, was sie zu tun im Begriff war. "Warum ist es unmöglich, dass Cross in Zukunft dein Onkel ist, Sive?" wiederholte God eindringlich, seine Worte um diesen einen Zusatz erweitert. "Ich..." hauchte Sive. Nerds Blick blieb auf sie gerichtet und schien sie auf der Stelle festzubannen, ihre Zunge zu lähmen. Sie sah nur sein Gesicht, sein nun gar nicht mehr so gleichmütiges Gesicht, das immer schwarz-weißer zu werden schien, wie ein Photo, wie ein Photo... Wie konnte sie es wagen, die Nadel mitten in dieses Photo zu stechen, es zwingen, seine Farbe zu wählen? Schwarz-weiße Worte, schwarz-weiße Zukunft. Sie wollte es nicht sagen und wollte es doch sagen, wollte es doch sagen und wollte es nicht... "Sive, warum ist es unmöglich? Sag es. Sag es uns allen!" drängte God, während die anderen langsam unruhig wurden. Getuschel wurde laut, Köpfe steckten sich zusammen. Als Sive sieben gewesen war, hatten sie in der Schule ein Krippenspiel aufgeführt. Damals war sie der Stern gewesen, der den Hirten die frohe Botschaft verkündigt. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie stolz sie auf ihre Rolle gewesen war und wie schrecklich sie sich gefühlt hatte, als sie da vor all den Leuten auftrat und plötzlich nicht mehr wusste, was ihr Text war. Sie war einfach nur auf der Bühne gestanden, geblendet von dem all dem Licht und unfähig etwas zu sagen. Dann hatte Liam ihr das Stichwort gegeben und alles war gut. Genauso kam es Sive jetzt vor: Als sei dies alles nur ein idiotisches Theaterstück, das sie spielte, mit God als Souffleur. Und als hätte sie beinahe ihren Text vergessen, wenn er sie nicht daran erinnert hätte. "Weil er sich umgebracht hat, als er vierzehn war!" schrie Sive ihren Text, den magischen Text und brach in Tränen aus. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 11: XXXI. Zukunftslos * XXXII. Ganz oder gar nicht * XXXIII. Spiegelsinne --------------------------------------------------------------------------------- Hab ich jetzt mit dem letzten Teil irgendwen geschockt? (Oder war das alles genauso vorhersehbar wie der Rest? *__*) XXXI. ZUKUNFTSLOS * XXXII. GANZ ODER GAR NICHT * XXXIII. SPIEGELSINNE ~~~ You're Dead Written and performed by Die Toten Hosen. "Ladies and gentlemen! Just so we understand each other, in my right hand I have a gun. So let's not have any problems, hey?" You don't know where you're going You don't know where you've been You don't know why your life is a lie It goes by like a train You're stuck in this ratrace Your job drives you insane You know you're getting older It's not gonna stop You're locked inside a prison Where they beat you drop by drop You wake up and you wonder What are they getting out of this You've sold your soul to the corporate goal And you want a new life instead Bang bang you're dead There's a gun at your head But it's only a game If they shoot you down You can get up and start again Bang bang you're dead But your blood's still running red If you look at your life with different eyes You don't know how to start again You can't break out of the circle Your life's not going anywhere Nobody's going to help you 'cause none of them really care You could lose your life on a crowded street They wouldn't even turn their heads It's all gone wrong, the pressure's too strong Better get a new life instead You don't know where you're going You don't know where you've been You can open your eyes and the innocence dies And your past life is a dream Dead but your blood keeps pumping Dead but your heart still beats You don't know why you're here You don't know who you are And you know who you wanna be Bang bang you're dead There's a gun at your head But it's only a game If they shoot you down You can get up and start again Bang bang you're dead Bang bang you're dead If you look at your life with different eyes You don't know how to start again ~~~ XXXI. Zukunftslos "Es ist jetzt gut, Sive." God war der Einzige, der mit ihr sprach, was die anderen ausmachte, waren Blicke. Blicke voller Bestürzung, Entsetzen und Verlegenheit. Blicke von Unglaube, Abscheu und Zorn. Aber über all dem thronte eines: Das ohnmächtige Gefühl, nicht zu wissen, was man fühlen sollte. Sive wusste es nicht. Und auch God wusste es nicht, egal welche Worte er real zu machen versuchte, indem er sie aussprach. Snake stand da drüben und wusste es nicht. Crybaby, Young Lady, die so alt waren wie Nerd, wussten es nicht. Die anderen wussten es nicht. 'Es ist jetzt gut, Sive.' hatte ihr Vater gesagt. Aber nichts war gut. Hatte ihr Vater etwa gelogen? Dann lief ein Junge zu ihr, überquerte den unsichtbaren Trennstrich so mühelos, als sei er gar nicht vorhanden. Es war Neesan. "Es tut mir leid..." teilte er Sive mit, scheu ihre Hand suchend. "Was wirst du jetzt tun?" fragte Sheerla, die ihm wie selbstverständlich gefolgt war, vor ihr in der Hocke sitzend und erschüttert eines ihrer ?Sorgenkinder' musternd. Und nur ihr Name, "Sive..." von Liam, wie eine sachte Erinnerung. Ihre Freunde, ihre Freunde wussten es. Was sie fühlten. Was Sive fühlte. Sie selbst hatte es vergessen, sie erinnerten sie daran. Sie musste das andere Ende des Fadens suchen. Hier und jetzt war das Sives Aufgabe. Also machte sie sich los und ging auf die Suche. All das Stimmengewirr verlor sich, nur wenige Meter entfernt auf ein und demselben Boot schien die Stille des Sees selbst ein Herzklopfen kaum ertragen zu können. "Cross!" Mit brüchiger Stimme rief sie seinen Namen. Er war wieder weggelaufen, war den Blicken der anderen entflohen. Und es war ihre Schuld. Wieder kamen Sive die Tränen. Sie fühlte sich, als hätte sie soeben einen Freund verloren, als hätte sie ihn mit eigenen Händen umgebracht, obwohl sie genau wusste, dass es einen anderen Weg gab. Wo war er hin gelaufen, wo war er nun? Dann sah sie ihn und anstelle von Traurigkeit war es wieder die Angst, die ihr mit eiskalten Fingern ans Herz griff. Denn Nerd saß einfach nur da auf dem Geländer, ganz allein, im Wind und lächelte. Beim Geräusch ihrer Schritte drehte er sich um, aber das Lächeln blieb, nun ganz ihr zugewandt. "Hör auf zu lächeln!" bat Sive am ganzen Körper zitternd, während sie herankam, "Oh bitte, hör auf damit! Wenn du nur endlich weinst, dann weiß ich, dass du normal bist! Bitte, hör auf damit, Cross! Ich hab solche Angst!" Irgendwie hatte sie nicht erwartet, dass er antwortete. Er wirkte zu fern, als dass sie ihn noch hätte erreichen können. Aber sie hörte ihn ganz deutlich, diese etwas unsichere, ernsthafte Stimme eines zwölfjährigen Jungen, der ein Lächeln trug, das nicht seines war, ein umgekehrter Timm Thaler - cross eben. "Warum, Sive? Du hast mir doch nur gerade erzählt, dass ich tot bin. Da macht es doch gar keinen Unterschied mehr, ob ich lächle oder nicht." "Doch, das macht es!" widersprach Sive verzweifelt, "Du bist nicht tot! Du lebst! Noch lebst du und wir wissen, dass du lebst! Ich weiß, dass du lebst!" "Aber das stimmt doch gar nicht," stammelte Nerd. Das Lächeln schien erschüttert, verblasste und verschwand in Sekunden. "Ich habe mich erschossen. In zwei Jahren erschieße ich mich. Das ist doch so, als sei es schon passiert. Es ist egal, Sive." "Überhaupt nicht!" erinnerte Sive ihn an den alten Chor, flehentlich, wie nur konnte sie ihn glauben machen? Sie vergaß dabei, dass Gods Worte fast genauso gelautet hatten und dass sie sie geglaubt hatte. "Überhaupt nicht, Cross! Es ist egal, was dein Name bedeutet. Es ist nur wichtig, wer du bist." "Wer ich bin," wiederholte Cross gepresst, "Sive - verstehst du nicht? Ich bin tot! Ich will nicht tot sein!" Ein Schaudern ergriff ihn und plötzlich verlor er das Gleichgewicht. Sie konnte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen, als er vornüber kippte. Und dann weinte Cross, weinte, weinte nasse, salzige, schier unerschöpflich scheinende Tränen, weinte, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Sein Körper bebte von Schluchzern geschüttelt und weil er größer war als sie, konnte Sive ihn kaum festhalten. Aber das musste sie, denn sonst wäre er einfach von der Brüstung hinuntergefallen. "Ich werde nie eine Tochter haben. Ich habe keine Zukunft. Ich bin tot. Ich werde nur ein vergilbtes Bild in irgendeinem Familienalbum sein - vielleicht noch nicht einmal das." "Du bist nicht tot. Du kannst noch weinen," flüsterte Sive, ihn fest umarmend. "Ich hab es geahnt. Ich hab so gehofft, dass du es nicht sagst. Ich wollte es nicht wissen." rief er, ohne auf ihre Worte einzugehen. Ja, Cross hatte es nicht wissen wollen. Und dennoch hatte sie es ausgesprochen, hatte dem Drängen seines Bruders nachgegeben, blindlings geglaubt, was sie glauben wollte. Sie, ein dummes kleines Kind, das sich einbildete, die Welt zu verstehen. Sie schämte sich, sie hasste sich. Musste sie die letzten zwei Jahre vor seinem Tod mit diesem Wissen überschatten? Vielleicht hätte er zumindest diese Zeit noch glücklich verbracht. Die letzten zwei Jahre vor seinem Tod - vor seinem Selbstmord. Und da ging Sive auf, dass auch dieser Gedanke der glatte Hohn war. Sie musste sich nur an die letzten Tage zurückerinnern, die wenigen, die sie hier verbracht hatte. Andere hatten mehr Zeit hinter sich, andere hatten ein ganzes Leben gehabt, doch ihr reichte diese wenige, um zumindest eines zu verstehen: Selbstmordgründe fielen nicht vom Himmel, auch nicht in zwei Jahren! Ob Gods Wahrheit wirklich die Wahrheit war, das, was sie getan hatte, nun falsch oder richtig, wusste sie nicht. Aber Sheerlas Worte waren wahr: Zu schweigen wäre auch nicht richtiger gewesen. Denn es gab kein Schwarz. Es gab kein Weiß. Es gab nur Grau. "Cross. Nerd. Ich... Ich musste es sagen. Verstehst du? Erst wenn du weißt, dass du sterben wirst, merkst du, dass du lebst. Ich will, dass du es weißt und dass sie es alle wissen. Vielleicht ändert es etwas." erklärte Sive und wischte sich eine Träne aus dem Auge. "Ich weiß es nicht. Aber ich kann nicht leben, ohne zu hoffen, dass es so ist. Hör auf damit. Du darfst nicht glauben, dass du tot bist. Du musst glauben, dass du lebst. Bitte!" "Sive... ich hoffe nicht! Ich lebe nicht! Es ist alles... nur ein Spiel..." murmelte er, den Blick voll Scham abgewandt. Die Worte schienen seine Stimme nur zu streifen, seltsam ziellos und verloren - wo? "Dann musst du es lernen," fuhr Sive eindringlich fort, irgendwie musste sie sie festhalten, die Worte, an einen Gedanken bannen, "und du musst jetzt damit anfangen. Du hast noch zwei Jahre Zeit." Sie hatte alles gesagt, verstand nun selbst zum ersten Mal die Gründe. Manche Dinge wurden erst real, wenn man sie aussprach. Sie hatte sie ausgesprochen - würden sie sich bewahrheiten? Langsam ließ das Schluchzen, das Nerd schüttelte, nach. Er begann langsamer zu atmen und sich zu beruhigen, als wollte er seine gesamte Lebensenergie nicht sofort aufbrauchen. Sein Tonfall, der ein hektisches Schreien gewesen war, veränderte sich und wurde zu einem Mittelding aus Flüstern und Sprechen. "Donivan wollte, dass du es sagst. Deshalb hat er dir die ganze Zeit die Frage gestellt, nicht wahr?" "Ja," antwortete Sive leise, "ja, das wollte er." Dass sich ihr Denken ähnelte, hatte sie schon gemerkt, bevor sie gewusst hatte, dass er ihr Vater war. Und dass sich ihr Fühlen ähnelte, war ihr nun klar. Es war ihm nicht egal gewesen. Sie wusste es, und sie war glücklich darüber. Sie hoffte, dass auch Cross es wissen und verstehen würde. "Sive," begann Nerd noch einmal, hilflos und verängstigt, "es ist so schwer. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Ich habe Angst. Ich... ich weiß nicht, was ich tun soll." Sive hatte Vorschläge: "Auf einen Baum klettern und Kirschkerne hinunter werfen. Schwimmen gehen und dabei halb ersaufen. Kein Geld fürs Schwimmbad haben und sich mit dem Schlauch nass machen. Flieder vom Nachbarn klauen. Äpfel vom Nachbarn klauen. Kochen lernen. Zu Mittag essen. Mathehausaufgaben abschreiben. Auf der Straße nach verlorenem Geld suchen." Das Mädchen hielt inne, überlegte kurz und versuchte weiter, mit ihren hauseigenen Erleuchtungen die Erleuchtung in Nerds Kopf zu entfachen: "Schlittschuhlaufen. Ins Café gehen. Das ganze Taschengeld für Süßigkeiten ausgeben. Das ganze Taschengeld für Mamas Geschenk ausgeben. Turnbeutel verlieren. Science Fiction-Bücher lesen. Ein Geheimnis-Album führen. Kakteen sammeln. Streiten. Oma und Opa besuchen. Singen. Dumme Witze machen und darüber auch noch lachen. Keine Witze machen und trotzdem lachen. Sich kloppen. Leute aus dem Bett schmeißen. In die Kerze fassen und sich die Finger verbrennen. Sich das Knie aufschlagen und heulen. Strafarbeiten aufkriegen. Ferien haben. Frühstücken. Ein Krippenspiel aufführen. Ins Kino gehen. Malen. Sein Zimmer nicht aufräumen wollen. Versuchen, Kaugummis aus dem Kaugummiautomaten zu angeln. An den Hafen gehen und ins Wasser spucken. Abendessen. Tulpen ausruppen und sie für Unkraut halten. Sich vor Nacktschnecken ekeln. Den Mond angucken. Luftballons aufpusten. Inline Skates fahren. Komische Sachen auf Kassette sprechen. Die Sachen auch noch anhören. Gewitter betrachten. Regentropfen zählen. Barfuß auf der heißen Straße laufen. In die Sonne gucken und den Rest des Tages nichts mehr sehen. Gummibärchen essen..." Ihr war die Luft ausgegangen. Entschuldigend legte Sive den Kopf schief. "Tut mir leid, mehr fällt mir auch nicht ein... Was ist denn? Was guckst du mich so komisch an??" Nerd schien nachzudenken. Sein Gesicht war sehr ernst und er lächelte nicht. Eine plötzliche Windbö zauste sein rotblondes Haar und griff auch nach Sives Strubbelmähne. Auf einmal fiel ihr ein, dass jemand sie mal ?Zauslöckchen' genannt hatte. Minuten verstrichen, in denen Sive sich wie aus einem Traum langsam wieder in die Wirklichkeit zurückversetzt fühlte. Der Traum war zuhause, die Wirklichkeit hier. Oder war es umgekehrt? Sie konnte nicht sagen, was sie sich mehr wünschte. Da waren so viele Dinge, die sie gerne den gesagten hinzugefügt hätte. Mitten in ihre Gedanken hinein begann Cross endlich zu sprechen. "Sive... ich möchte dir nur sagen, dass ich sehr froh bin, dich kennengelernt zu haben und.... der Bruder deines Vaters zu sein. Ich will... dir das jetzt sagen, denn in Zukunft werde ich wohl keine Zeit mehr dazu haben. Aber ich möchte, dass du es weißt." Hier und jetzt war es Wirklichkeit. "Ich auch, Cross." XXXII. Ganz oder gar nicht "Was um Gottes Willen hast du dir dabei gedacht? Wie konntest du das nur tun?!" Ungläubig starrte Boss God an. "Das ist dein Bruder und er wird sterben!" Boss' Stimme wandelte sich und aus der vorherigen Empörung klang nun mühsam bezähmte, echte Wut. "Das ist deine Tochter! Willst du, dass sie sich ihr Leben lang Vorwürfe macht, sie sei schuld gewesen?" "Verdammt nochmal, ich..." hob God an. Dann schienen ihm die Worte ausgegangen zu sein, er schwieg und presste die Lippen aufeinander. Dafür hatte Boss um so mehr zu sagen: "Seit der Sache mit Princess habe ich dich nur für einen Idioten gehalten, aber jetzt sehe ich, dass du auch noch ein Sadist bist!" Das schien God aus seiner Starre zu reißen. In etwa der gleichen Lautstärke wie Boss verkündete er: "Hör auf, dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen! Ich weiß schon, was ich - " " - Du weißt schon, was du tust?" höhnte Boss, aber es schwang ein harter Unterton mit, der zeigte, wie zornig er war. Liam hatte seinen Vater selten so gesehen, weder hier noch in Zukunft. Normalerweise war er ein Mensch, der die Dinge mit Humor nahm, aber die Widersinnigkeit, diese offenkundige Ignoranz, die er in Gods Verhalten sah, brachten ihn in Rage, weil er sie sich nicht erklären konnte. "Du weißt also, was du tust, das wolltest du doch sagen, oder? Tut mir leid, dass ich lache! Du! Kennst du eigentlich so etwas wie - sagen wir - Taktgefühl? Ein weniger untertriebener Begriff fällt mir auch nicht ein! Ich sage dir nur eins: Wenn mein Bruder, Jack..." Boss sah aus, als ob er God am liebsten geschlagen hätte. Aber das hier war zu ernst, zu ernst für eine Prügelei. Er hob die Faust, die er schon lange geballt hatte und schlug gegen die Wand, wieder und wieder, ein harter, metallischer Ton, und Liam konnte sich gut vorstellen, wofür das der Ersatz war. Es war an God, etwas zu sagen. Ihm war das Recht zur Verteidigung gegeben, ob er die Mittel hatte, war eine andere Sache. "Verdammt, ich wollte - ich wollte... wer gibt dir das Recht..." schien er zu einer Erklärung anzusetzen, um Boss dann trotzig entgegen zu schleudern: "Es geht dich nichts an! Es geht dich verdammt nochmal nichts an, also hör auf dich einzumischen! Halt einfach den Mund! Jetzt kannst du groß reden, aber vorher hat es dich auch nicht interessiert! Was interessiert es euch jetzt, was..." God brach ab, obwohl niemand ihn unterbrochen hatte. "Ich!" wiederholte Boss entgeistert, "Ich! Groß reden! Sag bloß, dich hat es je interessiert, was mit deinem Bruder los ist! Mich, jeden einzelnen hier kümmert es mehr als dich, wie man an deinem Verhalten ja unschwer erkennen kann. Du bist nichts als ein Egoist, vielleicht solltest du mal nachdenken, was du tust. Aber dafür, mein Freund, dürfte es jetzt wahrscheinlich zu spät sein, und das tut mir leid, sei dir sicher, es tut mir leid, und zwar um Nerds Willen - ", Boss unterbrach sich, atmete tief durch und schloss: " - und um Sive, dass sie so einen Vater hat!" God fuhr zusammen. Zumindest wirkte seine ganze Haltung so, obwohl er sich tatsächlich nicht von der Stelle gerührt hatte. Die Augen weit aufgerissen und die Lippen ein schmaler Strich, starrte er Boss an, der selbst mehr als überrascht von der Wirkung seiner Worte schien. Obwohl keiner sprach, ging doch eine Art stillschweigender Zustimmung für Boss' Worte von den anderen aus. Blicke, wiederum nur Blicke schienen ihm Rückendeckung und Schild zu sein. Dann schob sich Princess an Boss vorbei. Im Gegensatz zu diesem wirkte sie nicht zornig, noch nicht einmal aufgebracht. Aber da war etwas anderes, das sie ausstrahlte, eine Art eisiger Ruhe, die Liam von ihr nicht gewöhnt war und die ihn deshalb um so mehr befremdete. "Wie konntest du das tun?" stellte sie God die Frage, die auch Boss schon gestellt hatte, die sich wohl alle insgeheim stellten. Nur wirkte sie bei ihr viel endgültiger, es war kaum noch eine Frage als vielmehr eine Feststellung von Tatsachen. Und das war wohl der Grund, weshalb God auch jetzt nicht antwortete. Er erinnerte Liam unheimlich an Sive, wie er so dastand. Und genauso wie bei Sive verstand er, dass Gods Verhalten Gründe hatte, auch wenn sie sich ihm nicht völlig erschlossen: Es waren gutgemeinte Gründe. Das war wahrscheinlich auch so ein vererbbares Gen: So ziemlich alles was man gut meinte, ging schief. Selbst er war zunächst verwirrt, dann entsetzt gewesen, als Sive mit ihrer Mitteilung herausgeplatzt war. Obwohl er als ihr Großcousin die Hiobsbotschaft gekannt hatte wie er auch ihre Familie kannte, war es ein Schock gewesen. Nerd war nur ein paar Jahre älter als er, und in zwei Jahren würde er tot sein. Die Beklemmung, die dieser Gedanke brachte, hätte ihn fast dazu gebracht, Nerd herzliches Beileid zu wünschen! Mitleid anstatt Beileid, das Mitleid, das er nun empfand, hatte sich aus dieser Verwirrung viel zu langsam entwickelt. Liam hatte nicht erwartet, dass sie vor allen sprechen würde und er ahnte, dass das auch nicht unbedingt Sives Wille gewesen war. God hatte sie dazu gedrängt, und weil seine Tochter alles tat, was er sagte, hatte sie auch dies getan, froh, von der Last endlich erlöst zu werden. Er erinnerte sich... Sive war in Tränen ausgebrochen und er hatte wieder nur diesen Drang verspürt, sie in den Arm zu nehmen, ihr zu sagen, dass alles gut war. Aber das hatte God schon getan, ohne Gewissheit zu haben oder zu geben. Da war mehr, was sie tun mussten, um die Dinge in Ordnung zu bringen, also hatte er sich damit begnügt, Sive daran zu erinnern, er, Neesan und Sheerla, ihre Freunde. Und da war Sive nun und tat es, denn wenn sie etwas anfing, würde sie es auch zu Ende bringen, ganz egal, was es für eine Dummheit war. Ganz oder gar nicht, so lautete ihr unumstößliches Lebensmotto. Nur war das, was bei Sive ganz hieß, wohl bei God eher ein ausgeprägtes gar nicht. Und deshalb machte sich Liam auch wenig Sorgen um das, was sich nur wenige Meter entfernt zwischen einem zwölfjährigen Jungen und einem neunjährigen Mädchen abspielte, sondern verfolgte mit flauem Magen den Dialog über seinem Kopf, der ihn wieder das werden ließ, als was er hierher gekommen war: Ein Zuhörer, Zuschauer aus der Zukunft, kein Teilnehmer. Es gab kein ganz. Es gab kein gar nicht. Es gab nur vielleicht. Princess sah God nur an, ohne ihre Frage zu wiederholen. Obwohl er aufrecht stand, schien er unter ihrem Blick irgendwie in sich zusammenzusinken. Sie hatte eine Antwort nicht wirklich erwartet, eher erhofft. Diese Hoffnung war enttäuscht worden. Ohne ein Wort wandte sie sich ab. Boss warf God einen Blick zu, den Liam schwer einzuordnen wusste. Was immer er auch sagen mochte, God erwiderte ihn nicht. Er blickte niemanden mehr an außer den blanken, hellen Holzdielen, mit Silikon oder einem ähnlichen Kunststoff verschleißt. Abgenutzt von vielen Füßen, nass vom Wasser des Sees. Gleich würde er das Feld räumen, Liam verstand nicht, warum er noch blieb. Vielleicht wusste es die dritte Person, die jetzt sprach, jemand, von dem selbst Liam es nicht erwartet hatte. "Ich.... ich verstehe das nicht, God. Warum hast du Sive so gedrängt? Warum wolltest du, dass sie verrät, was sie wusste? Du kannst doch nicht wollen, dass Nerd und Sive unglücklich sind. Ich... ich versteh das nicht. Bitte erklär' es mir." bat Snake zögernd, eingeschüchtert von der Macht der Worte, die vor ihm gesprochen worden waren. "Du willst doch bestimmt nicht, dass er stirbt. Du willst doch, dass er lebt. Aber jetzt hat er bestimmt solche Angst, dass er gar nicht mehr denken kann. Und Sive hat geweint. Sie sind beide weggelaufen. Warum hast du das getan, God?" Da endlich ging God. Zurück ließ er die anderen. Und einen verwirrten Snake, der noch immer um Verständnis bemüht nach Antworten suchte. XXXIII. Spiegelsinne Die langhalsigen Dinosaurier waren nach und nach weggeschwommen, je weiter sie fuhren und je näher sie dem unsichtbaren Zentrum des riesigen Sees kamen. Der Horizont, in der Physik ihrer Welt die totale Linie, war unterbrochen worden durch ein Bauwerk, das zu erhaben schien als das Menschen es geschaffen haben konnten. Und auch sie, junge Menschen in einem strombetriebenen Boot, das sich mit dem Surren einer Technik, die ihren Ursprung in der gleichen Physik hatte, nun dem Gebäude näherte, unterbrachen durch ihre bloße Anwesenheit mehr als ihnen wohl sein konnte. Wie eine mahnende Faust sah die von Nebelschwaden umhüllte Kuppel aus, die sich auf viele Meilen hin zu sehen in den bewölkten Himmel erstreckte. Fast sah es aus, als ob sie schwämme, eine gigantische Seerose aus Stein. Doch als die Pfadfinder näher kamen, erkannten sie, dass das Gebäude auf Stelzen gebaut worden war, die aber unter Algen- und Muschelbewuchs fast völlig verschwunden waren. "Wie die Pfahlbauten alter Hochkulturen", bemerkte Doc, dann schwieg auch sie. Ein Vogel, nein, in dieser Welt war es ein Flugsaurier, zog über der Kuppel seine Kreise und schrie heiser in den Nebel hinein, doch sein Schrei verklang ohne Antwort und auch Zans sprach nicht. Als sie das nächste Mal hinsahen, war er verschwunden und es war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Hoch oben, wo Wolken und Nebel eins wurden, musste er verschluckt worden sein von fremden Gewalten, die mehr als das Wetter zu beeinflussen vermochten. Manua und Kuznikow, Boss, President, Tiger, Princess, Doc, Tank, Snake, Crybaby und Young Lady, Silence und Zans, Gatcha, Timid und Blunder, Liam, Neesan, Sheerla, Sive und Nerd, selbst God standen vorn am Bug und starrten auf das Ziel ihrer Bootsfahrt. Denn dass sie dort anlegen würden, erschien ihnen allen, weitab von Vernunft oder Absichten, ganz und gar unausweichlich. "Der Schrein der Götter," nannte Manua schließlich den Tempel bei dem Namen, den die Menschen von Noah ihm gegeben hatten. Ihre Stimme war von Ehrfurcht erfüllt, doch auch die Angst war noch immer da, der Glaube an Legenden, Sagen, Mythen, Kindergeschichten, der gesunde Glaube, der über Jahrhunderte hinweg bewirkt hatte, dass die Menschen sich manches Problem ersparten. "Der erste Tempel der Sieben." setzte Kuznikow hinzu und keiner verstand so recht, was er damit meinte, selbst Manua sah ihn fragend an. Doch dies war kein Ort für Erklärungen. Dieser Ort erklärte sich selbst. Liam hatte sich durch die Reihen der anderen geschlängelt und war auf das Geländer geklettert, wo er nun saß, wacklig und jederzeit in Gefahr herunterzufallen in das grünlich schimmernde Wasser, das diesen Ort umgab. Seine Augen waren nach vorn gerichtet, forschend, grübelnd, nachdenklich, bemüht, das seltsame Gefühl zu begreifen, dass er in ihm, seinen Freunden, ihnen allen weckte. Sheerla kam ihm nach, setzte zum Sprechen an, ließ dann aber die Worte sein. Irgendwie scheute sie sie, wagte es nicht, sie dieser Stille aufzuzwingen. Vielleicht waren sie auch gar nicht nötig. Sie wusste, was Liam dachte, sie spürte seine aufgeregte Ruhe: sie teilte sie. Der See, der Tempel, der Himmel, die Luft - all das löste eine Stimmung von Ankunft und Aufbruch in ihnen aus. Und mochten diese beiden Dinge auch noch so widersprüchlich sein, hier waren sie eins. Nah, fern, aber unausweichlich. Und es war gut so. Von allem, was der uralte Tempel in den Menschen auf dem Boot auslöste, konnte die Angst ihnen, den Kindern aus der Zukunft, am wenigsten anhaben. Sie empfanden Verwirrung, Erregung, Erwartung, aber sie hatten keine Angst. "Es ist der Schrein der Zeit." sagte Nerd, die Wangen erfüllt von jenem zarten, aus Blässe entstandenen Rosaton eines Kranken, der nach vielen Monaten wieder Luft atmen kann. Verstörte Blicke wandten sich ihm zu. Sein Dasein war noch nicht normal genug, als dass seine Worte den Klang einer Prophezeiung los wurden. Sive drückte seine Hand und sah zum Bug, wo sich Liam und Sheerla aufhielten. Neben ihnen huschte Neesan vorbei und zog sich ebenfalls am Geländer hoch, bis er schwankend, aber stolz neben Liam hockte. Als Sheerla das aus dem Augenwinkel sah, löste sie ihre Augen von dem Tempel. Sie warf einen Blick über die Schulter: President und Tiger standen dort. Da streckte sie sich und schlang die Arme um die Hüfte ihre Bruders, hielt ihn fest, damit er nicht herunterfiel. "Komm," sagte Sive, zog Nerd mit sich, um zu ihren Freunden zu gehen. Mit der anderen Hand zupfte sie an Gods Ärmel. Dieser versteifte sich und machte sich los, ohne ein Wort zu sagen. Betroffen blickte sie ihn an. Was war los? Aber jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken. Etwas war seltsam hier, so seltsam. Es war - die Luft. Die Luft, die Luft schien durch ihre verschlungensten Atemwege ihr Erinnerungsvermögen zu erreichen und zu erobern. Auf einmal wurde es flau in Sives Magen, ein nervöses, kribbelndes Bauchweh, das ihr bekannt vorkam. Sie griff wieder nach Nerds Hand, sie wusste nicht wieso, und nahm ihn mit sich, nach vorn zu Neesan, Liam und Sheerla. Erwartungsvolle Mienen: Merkst du es auch? Was ist das? Und ein jammervoller Neesan, der ebenfalls die Hand auf den Bauch gepresst hielt. Ein Gespräch, noch nicht lange her, als sie zusammen die Flachwasserzone bewacht hatten und eine Zeit, viel früher, viel ferner... Die Wellen schienen ihrem eigenen Willen zu folgen, als sie das Amphibienfahrzeug mit Jadefingern anstupsten und gegen den hölzernen Steg stoßen ließen, der zum Eingang des Tempels führte. Ein leichter Wind kam auf, strich ihnen über Haar und Haut wie eine sanfte Hand. Er streifte auch ihre Nasen, sie atmeten tief ein. Und wie eine Stichflamme in der Dunkelheit kam die Erleuchtung. Ihre Augen fanden einander, als ihnen allen gleichzeitig klar wurde: Die Luft roch nach Chlor. Im Innern des Tempels herrschte ein schummriges Licht, das fast so grün strahlte wie das Wasser da draußen. Sie sahen nicht, woher es kam, es schien einfach aus den Spalten und Ritzen um sie herum zu fließen. Seltsame, gleichzeitig modern und mittelalterlich anmutende Geräte standen herum, die die Pfadfinder in Aufregung versetzen und Manua zu Schreckensrufen alarmierten, vor allem, wenn sie zufällig gegen eines stieß. Alles wirkte kristallen und fremd. In der Mitte des Raumes, dort, wo die Kuppel am höchsten war, war ein Bassin, in dem Wasser sprudelte, ähnlich einem Springbrunnen. Es war höchstens knietief, sodass man den perlartig schimmernden Grund sehen konnte. "Das ist schön!" freute sich Gatcha. Ohne Scheu steckte sie die Hand ins Wasser und planschte ein bisschen darin herum. Wenn Manua erwartet hatte, dass sie ihr abfiel, dann hatte sie sich getäuscht. Es geschah überhaupt nichts. Die anderen liefen bald im ganzen Schrein herum und wandten sich staunend den anderen Geräten zu, denen, die vielleicht zur Erklärung ihrer Reise beitragen konnten oder sogar eine Rückkehr ermöglichen würden können. Doc, ganz in ihrem Element, folgte langsam den steinernen Gängen und betrachtete alles. Vor lauter Faszination schien sie sogar zu vergessen, etwas zu fotografieren oder sich Notizen zu machen. Timid und Blunder spielten auf einer breiten Treppe, die den großen Vorteil hatte, dass sie eine Rolltreppe war. Dass sie so etwas hier nie erwartet hätten und dass sie ohne einen erkennbaren Antrieb rollte, machte sie zum Spielen nur noch interessanter. Anders als die Pfadfinder nahmen Liam, Sheerla, Neesan und Sive wenig oder nichts von dem wahr, was um sie herum geschah. In einem Halbkreis standen sie um das Wasserbecken herum, auf dessen klarer, grüner Oberfläche sich ihre schmutzigen Gestalten spiegelten. Noch immer trugen sie die Pfadfinderuniformen, die ihnen Silence geliehen hatte, orange-braun waren sie und jeder hatte sie auf seine Art: Das Hemd offen und wehend wie eine Fahne, jackenartig mit einem ärmellosen Hemd darunter oder als Top über dem Bikinioberteil geknotet, ein Halstuch wie ein Lätzchen umgebunden. Liam wirkte erschöpft und froh zugleich, sein braunes Haar stand ihm aus der Stirn, aber dennoch lächelte er. Sheerla sah gelöst und auch etwas wehmütig aus. Zum ersten Mal seit langem schien sie nichts in Angriff nehmen zu wollen und hatte keine Hand suchend ausgestreckt. Neesan stand etwas abseits von ihr, neben Sive und keinen Schritt hinter den anderen. Er sah erwartungsvoll aus und mutig, denn in diesem Wasser konnte er schwimmen. Die Letzte war Sive, oder nein, nicht ganz, denn sie hielt noch immer die Hand von Nerd. Ihre Augen, sonst leuchtend und schimmernd und erbost funkelnd, waren halb geschlossen und ebenfalls auf die fluoreszierende Wasserfläche gerichtet. Sie sah aus, als ob sie träumte und hielt dabei die Hand ihres Onkels umklammert. Sie sah nicht was sie hielt, sie sah nur die Spiegelbilder von vier Kindern - aber das von Cross sah sie nicht. Das Wasser war an dieser Stelle unruhig, obwohl in der Halle kein Wind wehte, es glitzerte, dabei brach sich das milde Licht sonst nirgendwo. War es möglich, dass er tatsächlich keines hatte, so wie ein Vampir, ein lebender Toter? Sive kniff die Augen zusammen, aber das machte das Bild auch nicht klarer. Sie konnte einfach nichts erkennen, doch die Hand in ihrer Hand blieb - wirklich, lebendig und warm. "Wir müssen Silence noch seine Kleidung wiedergeben und uns bei ihm bedanken." Dieser Satz von Liam lenkte sie blitzartig ab von dem Rätsel, denn er erinnerte sie an all das was noch zu tun war, bevor sie gingen. "Wir müssen uns doch noch von ihnen verabschieden!" rief Sheerla aus und es klang klagend. "Das heißt, ihr geht." sagte Nerd. Fragend konnte man seine Worte schon nicht mehr nennen. Es war logisch so. Die Geschichte näherte sich ihrem Ende. Sie waren hier angelangt und es war der natürliche Laufe der Dinge, dass sie nun gehen würden. Die Luft roch nach Chlor, nach Hallenbad und ihre Spiegelbilder stammten aus einer anderen, zukünftigen Zeit. Und diesmal war es die tatsächliche Zukunft, die dieser Gegenwart hier folgen würde. Bald. Aber Sheerla hatte recht. Sie mussten sich noch verabschieden. Obwohl es Zeit war zu gehen, fiel es ihnen nicht leicht. "Komm, wir gehen sie suchen, Sheerla." ermutigte Neesan seiner Schwester. Obwohl sie es kaum gezeigt hatte, merkte er, dass sie auf einmal sehr unglücklich war, deshalb hatte er tröstend und beruhigend mit ihr gesprochen. Sheerla nickte, folgte Neesan und zusammen liefen sie in die Halle hinein. Noch einmal, ganz kurz, blinzelte Sive nach der Wasseroberfläche, dann löste sie ihre Hand. "Ich muss zu Papa, Cross." murmelte sie, "Wo ist er?" Suchend sah sie sich um, plötzlich erinnerte sie sich wieder seines abweisenden Verhaltens. "Er ist irgendwo dort drüben hin gegangen, Sive," drang Liams Stimme an ihr Ohr, "und Princess war dabei." Etwas in seinem Ton ließ Sive aufhorchen. "Was ist?" fragte sie, plötzlich bedrückt. Liam gab ihr die Antwort: "Während ihr weg wart, gab es ziemlichen Streit. Weißt du... sie alle sehen sich immer nur in die Gesichter, aber nicht in die Augen. Sie - sie haben nicht verstanden. Es ist nicht gut, Sive." bemühte er sich, zu erklären. Er war sich bewusst, dass auch Nerd zuhörte, aber er nahm es in Kauf. Manche Dinge mussten gesagt werden. Stumm nickte Sive, musste dann aber noch einmal fragen, um dem ängstlichen Zweifel keinen Raum zu lassen: "Aber du hast es verstanden, oder, Liam?" "Ich glaube schon, Sive." Er lächelte sie an, beide, Sive und Cross. Es war ein Liam-Lächeln. ~~~ Claire in Heaven Words & Music by Manus Lunny. Performed by Capercaillie. I was no more than three days old Too young to speak too young to count my toes I think of fields where I might run This mortal twilight I was plucked from Up here we have no goals You tear your hearts, you claw your souls I wonder at this life that passed me by But still I smile Although I'm not with you down there I sit alone up here and stare It's me my name is Claire Claire in heaven I wait for my next life patiently I'm in no rush because of what I see It's hard for me to understand I gaze from poisoned sea to poisoned land Up here we see a new tomorrow Your world's not round your world is narrow For me I just had a while But still I smile Although I'm not with you down there I sit around up here and stare It's me my name is Claire Claire in heaven Claire in heaven Claire... in heaven Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 12: XXXIV. Egal was * XXXV. Werd? nicht zu schnell erwachsen * XXXVI. Auf Wiedersehen --------------------------------------------------------------------------------------------- XXXIV. EGAL WAS * XXXV. WERD' NICHT ZU SCHNELL ERWACHSEN * XXXVI. AUF WIEDERSEHEN ~~~ You'll be in my heart Words & Music by Phil Collins. Performed by Phil Collins & Glenn Close. Come stop your crying, it will be all right Just take my hand, hold it tight I will protect you from all around you I will be here, don't you cry For one so small, you seem so strong My arms will hold you, keep you safe and warm This bond between us can't be broken I will be here, don't you cry 'Cause you'll be in my heart Yes, you'll be in my heart From this day on Now and forever more You'll be in my heart No matter what they say You'll be here in my heart always Always Why can't they understand the way we feel? They just don't trust what they can't explain I know we're different, but deep inside us We're not that different at all And you'll be in my heart Yes, you'll be in my heart From this day on Now and forever more You'll be in my heart No matter what they say You'll be here in my heart always Always Don't listen to them, 'cause what do they know We need each other to have to hold They'll see in time, I know When destiny calls you, you must be strong I may not be with you, but you've got to hold on They'll see in time, I know We'll show them together You'll be in my heart Believe me, you'll be in my heart I'll be there from this day on Now and forever more You'll be in my heart No matter what they say You'll be here in my heart always Always ~~~ XXXIV. Egal was Es war der Streit. Es waren Worte, die durch einen Türspalt klangen. Obwohl die Tür vorgab, sie verbergen zu wollen, klangen sie kein bisschen gedämpft und sie brannten sich ins Gedächtnis ein. Auch wenn die Stimmung die Wachsamen nicht belügen konnte, waren solche Worte der erste wirkliche Beweis für ein Kind, dass seine Eltern vor der Scheidung standen. Ob es zu früh aus der Schule gekommen oder mitten in der Nacht aufgewacht und auf leisen Sohlen vorbeigeschlichen war, diese Worte zu hören, war der Anfang eines Endes. Es war keine Abweichung vom Normalen. Es war der Beginn einer neuen Normalität. Die beiden Kinder, die vor der Tür standen, hörten diesen Streit und sie spürten, was er bedeutete. Und auch wenn sie keine Geschwister waren und es nicht jedes eigene Eltern waren, machte es sie betroffen und unglücklich. Es war nicht richtig, diese Worte zu hören. Wie konnte es richtig sein, wenn selbst die Menschen, die sie ausgesprochen hatten, sie irgendwann bereuten? "Wir sollten vielleicht lieber gehen." "Ja, das sollten wir." Aber in diesem Moment flog die Tür auf. Schon einmal hatte Princess sie mit solcher Heftigkeit bewegt. Dass sie sie damals zugeschlagen hatte, änderte nichts an der Situation. "Liam!" Atemlos blieb sie stehen, eine Mutter, die sich und ihr Kind in einer sogenannten ?schlechten Gesellschaft' entdeckt und kurz davor ist, es wegzuholen. "Komm mit!" Sie nahm Liam bei der Schulter und schob ihn weg, weg von jener verräterischen Tür und allem, was dahinter war. Sive fing noch seinen Blick auf, er war bekümmert, genauso wie sie sich fühlte. Es war nicht gut, dass sie gerade jetzt gehen würden. Sie würden die Dinge nicht mehr im Auge behalten können. Aber war dieses Gefühl von Verantwortlichkeit nicht viel eher Anmaßung zu nennen?, dachte Sive und schauderte. Sie konnten die Zukunft nicht ändern - wie konnten sie sich da einbilden, mit der Vergangenheit sei es anders? Fast alles, was sie tun konnten, war nun getan und das war trotz allem ein gutes Gefühl. Nur noch eines blieb. Die Worte hinter der Tür hatten sie abgelenkt, aber jetzt wusste sie wieder, weshalb sie gekommen war: Um sich zu verabschieden. "Papa?" fragte Sive in den Raum hinein. Eben noch hatte sie geglaubt, ihre Scheu überwunden zu haben, aber jetzt war sie doch wieder da und schwang in ihrer Stimme mit. Sie zögerte, weiter zu gehen, ohne dass sie herein gebeten worden war. Eben noch war ihre größte Sorge gewesen, dass er traurig sein würde, dass sie ging, aber hier und jetzt war wieder alles ins Gegenteil verkehrt: vielleicht würde er erleichtert sein. Es war so schwierig, andere zu verstehen. Vielleicht hatte sie wieder alles falsch gemacht, falsch verstanden. Sive ging einen Schritt rückwärts, zauderte, trat wieder vor. Warum antwortete er nicht? Verstand er nicht, wie wichtig es war? Als sie schon fast am Boden festgewachsen war in ihrer Unschlüssigkeit, hörte sie ihn endlich sagen: "Sive. Was ist?" Er hörte sich auf irgendeine Art erschöpft an, aber auch gutmütig genug, ihr das nicht zeigen zu wollen. Natürlich merkte sie es doch. Aber für Sive reichte dieser Versuch aus, denn er zeigte ihr, dass sie willkommen war. Sie stand neben ihm, bevor das Schweigen fiel. "Was ist?" hatte er gefragt und ihr die erste Antwort damit leichter gemacht. Die folgenden würde sie dafür kaum über die Lippen bringen. Dass sie willkommen war, hieß, dass er nicht damit rechnete, dass sie gehen würde. "Ich wollte mich von dir verabschieden." sagte sie. God starrte sie an. Sie glaubte fast, das ?Jetzt?' von seinen Lippen ablesen zu können. "Ja, jetzt" wollte sie sagen, doch die Worte steckten in ihrem Hals und wollten nicht heraus. Es tat ihr leid, aber es musste sein. Sie waren Zuschauer und keine Teilnehmer. Sie durften das nicht vergessen. Sive nickte bloß und sah zu Boden, wie ein Kind, das bei einem Fehler ertappt worden ist. So hörte sie die Worte auch nur und sah sie nicht, die Worte, die bewiesen, dass die Zeit, die sie hier verbracht hatte, nicht umsonst gewesen war, trotz allem, was passiert war und passieren würde. "Das... tut mir leid. Du wirst mir sehr fehlen, Sive," und hier machten die Worte eine ziemlich auffällige Pause, bevor sie noch leiser wurden, als sie ohnehin schon waren, "ehrlich gesagt... wünschte ich, ich könnte mit dir mitkommen... und... und so was wie dein großer Bruder sein. Ich weiß, dass das totaler Schwachsinn ist und sowieso nicht geht, aber..." ?Aber' blieb in der Luft hängen mit dem Wissen, dass es eigentlich etwas anderes war, dass noch hatte folgen sollen, als das, was er dann tatsächlich sagte: "Aber ich bin glücklich, dass du bei mir warst. Du wirst mir fehlen. Ehrlich gesagt... ehrlich gesagt fehlst du mir jetzt schon..." "Aber du mir doch auch!" rief Sive aus und jetzt musste sie doch heulen, gerade weil sie sich zum hundertsten Mal vorgenommen hatte, es nicht zu tun [und ich ebenfalls -___- Sive nicht heulen zu lassen, meine ich] "Aber du mir doch auch." murmelte sie bestätigend, die Stimme noch immer kaum zu gebrauchen, streckte sich und umklammerte seine Schultern, sodass er gezwungen war, in die Hocke zu gehen. "Ich.... ich will dich nicht alleine lassen," erklärte sie unbeholfen, weil ihr irgend etwas an ihrer Aussage verdreht vorkam, denn wer war hier eigentlich das Kind? Aber Verdrehtheit war und blieb irgendwie die vertrauteste Denkweise für Sive. Ihr Herz fühlte sich so übervoll an, dass sie spürte, wenn sie richtig auspackte, würde es eine Überschwemmung geben. Wie immer, wenn sie etwas mitnahm, hatten sich ihre Finger fast von selbst zu dem Lederband um ihren Hals vorgetastet, an dem ihr Schmuck, der Marmorelefant ihrer Mutter, hing, "ich..." Mit festem Griff schlossen sich ihre Finger um den Anhänger, spannten sich, "ich...." Bevor er oder sie etwas dagegen einwenden konnten, zog Sive ihn sich über den Kopf und hängte ihn God um den Hals. Blitzschnell erhob sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. "Egal was du machst, du bist immer mein Papa." Und dieser Code schloss alles ein, was sie noch in 108 Seiten hätte sagen können, Cross, Wendy, Brian, die anderen, ganz Noah und die Zukunft. Ohne etwas zu sagen, griff er schließlich nach dem Anhänger wie sie zuvor. Eine angedeutete Bewegung, ein Ausdruck und Sive glaubte mit einer seltsamen Mischung aus Wehmut und Zufriedenheit zu erkennen, dass er ihn annehmen würde. Dann ein plötzliches Anspannen der Hand, so fest, dass sie sich die Delle richtig vorstellen konnte. Das lächelnde Ding hing wieder zwischen ihnen. "Nicht...?" fragte sie leise. Schon wieder hatte er diesen nervigen Frag-mich-nicht-Blick drauf. "Du brauchst ihn doch noch." Zögernd streckte Sive ihre kleine Hand aus und nahm ihren Elefanten wieder an sich. Um ein paar Fingerabdrücke reicher. "Es wird nicht für lange sein. Nur 18 Jahre. 18 winzige Jährchen...." versuchte sie ihn zu trösten, während sie ihn wieder umhängte und dabei den Kragen betrachtete, der jetzt schon ganz nach ihr roch und der doch so bald schon wieder Silence gehören würde. "18 ist mein halbes und dein doppeltes Leben." gab er zurück und Sive konnte sich nicht helfen, irgendwie fühlte sie sich beobachtet. "Aber es ist morgen und heute und gestern und immer und überall!" "Wann hast du eigentlich rechnen gelernt?" "Immerhin weiß ich, was Koordinaten sind!" entgegnete sie frech aus einer Eingebung heraus. "Cross ist tot, oder?" fragte er auf einmal, als das Sonnenlicht sich zu zerstreuen schien. "Cross lebt.... heute und morgen und gestern. Das heißt, er kann leben, aber nur, wenn wir ihm dabei helfen. Auch du." erwiderte Sive, rätselhaft oder bloß gestört und vor allem mit zwei großen, großen blaugrünen Kinderaugen. "In deinem Kopf ist heute und morgen und gestern, Zauslöckchen." "Bäh!" Sive streckte ihm die Zunge raus, und obwohl es in dieser vergangenen Gegenwart das erste Mal war, war es wie der Chlorgeruch ein weiteres Puzzleteil neuer alter Normalität, das sich löste und sie mit sich nahm. XXXV. Werd' nicht zu schnell erwachsen Durch einige Türen und surrealistisch beleuchtete Gänge schob Princess ihn noch vor sich her, ohne dabei ein Wort zu sagen. Obwohl er ahnte, dass ihre Gedanken noch immer ein paar Türen zurück beschäftigt waren, lag ihre Hand fest auf seiner Schulter. Ihre Augen waren zu Boden gerichtet, doch sie zeigten keinen abwesenden Blick. Princess schien einer unsichtbaren Spur zu folgen und er sollte das auch tun. In Liam machte sich mehr und mehr das Gefühl breit, dass er gerade ein Missverständnis erlebte, das es nötig hatte, aufgeklärt zu werden. Behutsam verlangsamte er seine Schritte, um Princess in ihrer Hast ein wenig zu stoppen. Als er glaubte, das in etwa erreicht zu haben, wandte er den Kopf und teilte ihr über die Schulter mit: "Ich kann nicht länger mit dir gehen, Mama." In plötzlichem Aufmerken hoben sich ihre niedergeschlagenen Lider und Liam sah prompt: Sie hatte überhaupt nicht zugehört. Was hatte er gesagt? Was hatte er gemeint? "Ach so," erwiderte Princess schließlich unter verlegenem Lachen, "ich soll meine Hand von deiner Schulter nehmen. Tut mir leid, natürlich. Ich wollte - " "Nein, Mama," sagte er nachdrücklich und nahm die Hand, die sie verwirrt weggezogen hatte, "ich muss gehen. Wir gehen. Zurück." "Zurück?" echote Princess. So unerwartet war die Woge des Bedauerns, die plötzlich von seiner Mutter ausging, dass sich unwillkürlich etwas in ihm verkrampfte. "Ja, leider." lenkte er ein, ein Versuch, das ganze als Nebensache abzutun und sie aufzumuntern, wie er es immer tat. Angestrengt verrenkte er sich die Gesichtsmuskeln, nur um das Lächeln, das zu seinem Markenzeichen geworden war, hervorzuzaubern, aber er wollte und wollte es nicht finden. Es war nicht ehrlich gemeint, war ihm doch ganz und gar nicht nach lächeln zumute. Das Liam-Lächeln konnte nur ehrlich sein. Er hätte so gern ehrlich gelächelt, während er sich einfach nur traurig fühlte. "Ja..." brachte er schließlich viel zu leise heraus. "Liam..." sagte sie zu ihm, mit einer solchen Fürsorge, Anteilnahme, Mitgefühl - kurzum: Liebe, dass es ihn irgendwo wieder fast hinweg spülte. Sie stand einfach nur so da, wie ein kleines Mädchen, das nicht abgeholt worden war, am Bahnhof zum Beispiel, den Strohhut auf dem Kopf und das Körbchen mit selbstgepflückten Erdbeeren in der Hand. Ein sonderbares, absurdes Bild und alles, was Liam in diesem Moment sah. Er konnte selbst nicht mehr benennen, was er erwartet hatte. Händeringen, Klagen, Bitten - Princess tat nichts dergleichen. Sie sah ihn bloß an. "Liam!" rief es von hinten. Ohne dass er es hören, gar sehen musste, wusste er, da stand Boss auf der Matte. Mochte es Zufall, Schicksal, Pech oder passend sein - hinter ihm, das war sein Vater. Vor ihm, das war seine Mutter, noch immer das selbe Bild. Nun, außer dass der Strohhut langsam begonnen hatte, sich an der Krempe aufzulösen. Sie standen einander gegenüber. Liam stand zwischen ihnen. Er konnte sie beide zugleich sehen, wenn er es wollte, und doch verriet es ihm gar nichts. Es war wie dieses Spiel, bei dem sich zwei Menschen über den Kopf eines Dritten hinweg einen Ball zuwarfen und der Mittlere versuchen musste, ihn zu fangen. Es war ein schwieriges und ermüdendes Spiel, denn den Ball zu fangen war schwer und aussichtslos. Selbst wenn man einmal Glück hatte, landete man letztendlich doch wieder in der Mitte, immer wieder. Liam hatte ihn niemals gefangen. Ewig in der Mitte, in der friedlichen Schusslinie, konnte er sie beide sehen, den Ball hoch über seinem Kopf, aber er war ratlos. Neesans Angst war der Rand, Sheerlas das Zurückbleiben, Sives die Gegenseite. Seine Angst war die Mitte. Das war die Wahrheit: Er war ratlos. Er war dabei, sich von ihnen zu verabschieden, aber er wusste noch immer nicht, was sie von ihm erwarteten, wusste es weniger denn je. Vielleicht würde er es nie wissen. "Liam?" Es rief nicht mehr, es fragte. Liam wünschte sich, dass Princess Boss die Antwort geben würde, wohl wissend, dass dies seine Aufgabe war und blieb. Wie war das noch? Sive, Neesan, Sheerla? Manche Dinge mussten gesagt werden. Na los. "Ich gehe zurück. Es... es ist leider so." Zum dritten Mal nahm seine psychische Modelliermasse Abwehrstellung ein, als er sah, wie sich Boss' Miene veränderte. Boss sagte: "Schade." War das alles? Hatte Liam aufgeatmet oder geseufzt? "Das ist wirklich schade. Ich hätte dir gern noch so Vieles gezeigt. Aber ich verstehe, dass du zurück musst. Du sehnst dich doch sicher auch nach zuhause, nicht wahr?" Tat er das? Vor langer Zeit hatte er es einmal getan. Jetzt fühlte er sich, als hätte er völlig den Kopf verloren, genauso wie wenn sein Vater ihn hochhob und herumwirbelte. Auf einmal wusste er nicht mehr, was oben und unten war, sah nicht mehr links, rechts, mittendrin. Es gab zu viele Seiten. "Boss hat recht. Wir dürfen nicht so egoistisch sein und dich da behalten wollen. Obwohl ich.... trotz allem...." Der Rest des Satzes verschluckte sich, weil Princess schniefte. Ja, tatsächlich: Sie schniefte und zog die Nase hoch. Bestürzt fing Liam an, in seiner Tasche zu wühlen, aber er fand nichts, mal abgesehen von ein paar versteinerten Knöchelchen, die natürlich zum Verleiher gehörten. Das frisch gebügelte Taschentuch, das er sonst immer in der Hosentasche hatte, lag unbefleckt in seiner Schwimmtasche in einer fernen Umkleidekabine. "Nimm das hier." Boss lächelte Princess à la ?No Woman No Cry' [das ist von ?dem unvergleichlichen Bob Marley, dem King of Reggae', Zitat einer Freundin] entgegen und drückte ihr ein graugeflecktes textiliares Etwas in die Hand, das dem Aussehen nach zu viele Jahre in nächster Nachbarschaft mit Kaugummis, Münzen, Schlüsseln, Apfelkernen und was weiß ich noch alles verbracht hatte. Gut zehn Sekunden lang starrte seine Mutter angewidert auf das Pseudo-Taschentuch. In der elften überwand sie sich sichtlich und putzte sich erstmal geräuschvoll die Nase. Danach sah sie tatsächlich getröstet aus. "Ich hätte dich gern besser kennengelernt, Liam." sagte Princess, das schluchzende Gesicht noch immer von Zeit zu Zeit im Taschen-Etwas vergraben, weitaus öfter als nötig, als scheue sie den Blickkontakt mit ihm. "Es ist so sonderbar, zu spüren, wie... wie wahnsinnig lieb ich dich habe, ohne dich überhaupt wirklich zu kennen, während du mich wahrscheinlich bloß für eine hysterische Zicke hältst. Ich bin so stolz auf dich, dabei ist wahrscheinlich nichts an dir überhaupt meiner Erziehung zuzuschreiben, denn was hättest du schon von mir lernen können? Ich bin so ungeschickt, ich kann ja nicht einmal kochen." ?....nicht einmal kochen...' Genau das hatte er gedacht und sich innerlich ein bisschen lustig gemacht, wenn er es auch zum Glück niemals ausgesprochen hatte - und dennoch schämte er sich entsetzlich, war doch der kleine Unterschied zwischen Gedanken und Worten angesichts dessen fast belanglos. Er hätte wissen müssen, dass es Princess verletzen würde. Hatte er sie in Wirklichkeit vielleicht tatsächlich belächelt und für eine ?hysterische Zicke' gehalten, seine eigene Mutter? Aber was war dann dieser seltsame Knoten, der sich langsam in seiner Brust bildete, seit sie das alles sagte? "Du wirkst so erwachsen, Liam, und so... klug. Wenn du mich anlächelst... nein, ich glaube, selbst wenn du irgendwen anlächelst.... machst du mir Mut. Ich frage mich, wie kannst du mein Sohn sein? Wie kannst du mich ernst nehmen, wenn wir uns so wenig ähnlich sind? Trotzdem.... liebe ich dich irgendwie, so albern es sich auch anhören mag..." Der Knoten wurde dicker und dicker, stieg seine Kehle hinauf und umklammerte seine Stimmbänder, sodass er nichts hätte sagen können, selbst wenn er etwas zu sagen gehabt hätte. Aber er war sprachlos, ganz und gar sprachlos. In seinem Kopf hatten sich so viele Gedanken ausgekippt, dass Stau herrschte, er konnte all das gar nicht mehr ausdrücken. Jetzt kam Boss dazu, legte Princess den Arm um die Schultern. Sie ließ es geschehen und er räusperte sich, eine Geste, die Liam bei President, ganz sicher aber nicht bei seinem Vater erwartet hätte. "Mir.... mir geht's genauso..." Mit einem Riesensatz schoss der heimtückische Knoten seinen Kehlkopf hinauf und machte sich in seinem Schädel breit. Lungen und Stimmbänder wollte er aber offensichtlich ebensowenig freigeben, sondern okkupierte stattdessen gemütlich ganz Liam und die Erfolgsaussichten stiegen sekündlich. "Ich meine... ich find es klasse, so einen Sohn zu haben.... deshalb hoff' ich, du kannst mich wenigstens ein bisschen ab, auch wenn ich manchmal wohl etwas nervig war. Aber.... irgendwie kam es mir vor, als hätte es dir Spaß gemacht - als ich dich herum gewirbelt hab, meine ich...." Es hatte ihm Spaß gemacht. Hatte Boss das nicht gemerkt? Er fand es toll, so einen Vater zu haben, einen Vater, der ihn dazu bringen konnte, dass er alle Seiten aus den Augen verlor. Er war glücklich, eine Mutter zu haben, deren Blick ihn hinweg spülen konnte. Weshalb also wehrte er sich dagegen? Warum hatte er solche Angst, die Fassung zu verlieren? Warum musste er seine Eltern stets beneiden oder belächeln, anstatt sie zu lieben? Dem siegreichen Knoten waren Hände gewachsen und er hatte von innen seiner Unterlippe einen Stups verpasst, sodass sie jetzt zitterte wie sonst was. Seine Nase lief wie ein defekter Wasserhahn, er hatte noch immer kein Taschentuch, und hinter seinen Augen - hinter seinen Augen lag ein Druck, bloß nicht blinzeln... "Und überhaupt - wir sehen uns ja schon bald wieder, aber bitte.... ich mein das nicht nur wegen mir, weil ich mir dann so seltsam vorkomme, aber auch so... ich wollte dir noch sagen,... Werd' nicht zu schnell erwachsen, Liam." schloss Boss. Er war überzeugt, dass sie ihn anlächelten, aber er konnte es nicht beschwören. Die Gestalten seiner Eltern verschwanden hinter feuchten Schleiern, er sah nur noch ein komisches Farbsammelsurium von rosa und blau.... nicht blinzeln, nur nicht blinzeln, sonst würde das alles überlaufen und.... Erst als es so warm auf seine Nasenspitze tropfte wie die Worte, realisierte Liam, dass er weinte. XXXVI. Auf Wiedersehen "Komm, Sheerla," redete Neesan seiner Schwester gut zu und vergaß dabei, sich über sein Benehmen zu wundern. Sheerla sah elend aus und schien sich auch wenig Gedanken darum zu machen. Hand in Hand stiegen, oder eher, kletterten die beiden die Rolltreppe hinauf, was gar kein einfaches Unterfangen war, denn sie fuhr nach unten. Oben auf der Galerie sahen sie Tigers roten Haarschopf leuchten. Auch President war dort hinaufgegangen. Während Neesan an nichts anderes dachte, schien Sheerla immer widerwilliger. Und dabei war doch sie es gewesen, die so klagend "Wir müssen uns doch noch verabschieden!" gerufen hatte. President und Tiger standen an der Brüstung und hatten die Blicke auf das schimmernde Wasserbecken im Zentrum des Tempels gerichtet. Etwas an den ruckartigen Bewegungen, mit denen sie sich umdrehten, verriet Neesan, dass sie in ein Gespräch vertieft gewesen waren. Die Zeit, als sie deswegen errötet wären, war allerdings längst vorbei. "Papa... Mama... Auf Wiedersehen..." sagte Neesan zu den beiden. Er spürte noch immer Sheerlas Hand in seiner. Wie ein plötzlich ablaufender Film wurden aus fragenden Gesichtern lächelnde und aus lächelnden traurige. "Ihr geht also. Darüber haben wir gerade gesprochen." meinte Tiger leise. "Dann wusstet ihr es also?" fragte Neesan verdutzt. "Wir haben doch euer Verhalten bemerkt," erklärte President, und ein trauriges Gesicht wurde wieder lächelnd. "Als stünde Weihnachten vor der Tür." "Ich.... ich freue mich auf Zuhause," gestand Neesan bedrückt. "Weil ich weiß, dass ihr da sein werdet!" "Das ist doch klar," rief Tiger. Jetzt lächelte auch sie, als hätten erst Neesans Worte eine geheime, von ihr und President gehegte Angst zerstört, dass ?Auf Wiedersehen' nicht in Wirklichkeit ?Lebt wohl' heißen sollte. "Und wer könnte etwas dagegen haben, wenn jeder von uns nun etwas Schönes zum Zurückerinnern und zum Vorausschauen hat?" Sie bückte sich zu Neesan hinunter und küsste ihn auf die Wange. Da brach Sheerla in Tränen aus. Neesan sagte nichts, denn obwohl er den Grund ihres Kummers nicht kannte, gestand er ihr doch das Recht zu, ihn zu haben. Tiger fasste ihn um die Hüfte und hievte ihn sich auf den Arm, während sie einen besorgten Blick auf seine Schwester warf. "Sheerla! Warum weinst du denn?" "Willst du nicht gehen?" fragte President seine Tochter ruhig. Sheerla schüttelte den Kopf, weinte weiter. "Und warum nicht?" "Weil.... weil..." schluchzte sie, "Ich weiß nicht..." "Findest du nicht, dass wir eine schöne Zeit hatten?" fuhr President fort, setzte sich vor ihr hin und nahm ihre Hände. Sheerla ließ es geschehen, wie sie in diesem Moment alles geschehen ließ. "Doch..." konnte man mühsam aus ihrem Schluchzen heraushören, "Aber... sie war so kurz... und..." "Was denn?" fragte President gutmütig und streichelte ihr über das verweinte Gesicht. "Ich hab sie nicht genutzt," platzte Sheerla flüsternd heraus und fiel ihm um den Hals. President hob sie hoch, obwohl ihn die väterliche Fürsorge ab da bereits ins Schnaufen brachte. "Ich hasse es, wenn Dinge enden," sprudelte Sheerla hervor, "ich versuch' immer, die Dinge so lange halten zu lassen wie möglich... aber dann nutz' ich sie nicht richtig..... ich versuch immer auf die Leute aufzupassen, damit sie mir nicht weglaufen... und dabei vergess ich das Wichtigere - ich benehm' mich ganz falsch und anders als ich eigentlich wollte, und sag nicht die Dinge, die ich eigentlich sagen sollte oder wollte... und zeig nicht... was ich eigentlich zeigen wollte..." Sie blinzelte. "Wolltest du das jetzt sagen?" erkundigte sich Tiger freundlich. Sheerla holte tief Luft. "...Nein." "Dann ist ja gut." meinte ihre Mutter verschmitzt. Sheerla warf ihr einen Blick zu, der gleichzeitig Unsicherheit und Ärger ausdrückte. "Ich wollte sagen..." begann sie noch einmal, "ich wollte sagen..." Sie unterbrach sich, als sie President verhalten "Hnnnngh" machen hörte. "Gib sie mir," schlug Tiger trocken vor, "ich bin ohnehin stärker." Rasch löste Sheerla ihre Arme vom Hals des keuchenden President, ließ sich herunter rutschen. "Ich wollte sagen: Auf Wiedersehen." sagte sie klar und deutlich. "Auf Wiedersehen!" rief Sheerla dem ganzen Tempel zu, so laut, dass die Worte von der Kuppel widerhallten. Sie stellte sich vor, wie sie von Echo zu Echo hüpfen, sich dann zerstreuen und ins grüne Wasser hinabsinken würden, um dort spurlos zu verschwinden. Nein, nicht spurlos. Ihr Nachhall füllte noch immer jedes Ohr. Vom Ohr gingen sie in die Köpfe. Und von dort in die Erinnerung ein. Boss und President hatten die anderen zusammengetrommelt, um die Kinder zu verabschieden. Die Nachricht, dass sie gehen würden, war für die meisten ebenso unerwartet wie erahnt gekommen. Irgendwie, dachte Doc, waren sie niemals wirklich dagewesen, und ebenso wenig würden sie jemals wirklich fort sein. Sie waren Zuschauer gewesen, keine Teilnehmer, doch ein paar Mal zu oft hatten sie ihre Rollen vergessen. Und nun standen sie sich gegenüber, Liam, Sheerla, Sive und Neesan, die Kinder aus der Zukunft, und Boss, Princess, God, President, Tiger, Tank, Doc, Snake, Nerd, Crybaby, Young Lady, Silence, Gatcha, Timid und Blunder, die Kinder aus der Gegenwart. Die Szene schien ein merkwürdiges Déjà-vu ihrer Ankunft zu sein - wie lange war es her, seit sie aus einem Busch gepurzelt waren? Und nun standen sie sich wieder gegenüber, und nur noch wenige Schritte trennten sie von der grün schimmernden Grenze ihrer Zeit. "Tschüs, Snake. Pass gut auf dich auf, ja? Und danke, dass ich in deinem Schlafsack schlafen durfte." murmelte Sive und umarmte ihn ganz schnell, bevor sie noch auf die Idee kommen konnte, Abschiedsschmerz zu spüren. "Hab ich doch gern gemacht," erwiderte Snake und streichelte ihr über den Kopf. "Grüß Chantal von mir, wenn du heimkommst, auch wenn ich noch immer keine Ahnung hab, wer das nun eigentlich ist..." Sive nickte heftig. "Auf Wiedersehen, Jack... Garnet... ich.... ich wünsch' euch alles Gute..." sagte Liam, zuerst noch stockend, doch dann spürte er, wie es immer leichter wurde: "Nanae-Ife... ist ein sehr liebes Mädchen..." Sie lächelten ihn an, noch immer zaghaft, aber Liam wusste, dass die Freude kommen würde. "Ein schöner Name," bemerkte Young Lady, und das klang wie ein Dank. "Danke für das hier, Silence. Den Sachen in der Hosentasche ist auch nichts passiert," lächelte Liam und klopfte zum Beweis auf die Tasche. Er zog die rostrote Uniform aus, die ein paar Tage lang ihm gehört hatte und legte sie ordentlich zusammen, bevor er sie Silence auf den Arm gab. Neesan folgte seinem Beispiel. Sheerla hatte ein paar Probleme mit dem Knoten, denn Hemdzipfel waren nun einmal nicht dazu gedacht, als Top zusammengebunden zu werden. Sie entschuldigte sich bei Silence für die zusätzliche Bügelarbeit, die sie seiner Mutter damit aufhalste. Auch Sives Hemd hatte am Rand sichtlich den Dreck zu spüren bekommen. Als Silence schließlich da stand, fast verschwindend unter einem Haufen zerknüllter Wäsche [nicht alles ist Liam ;] und Zans noch auf der Schulter, warf er den Kindern in ihren Badesachen einen merkwürdigen, fast erstaunten Blick zu, der die Verwunderung darüber ausdrückte, dass Menschen, die kamen und gingen wie Geister, so schmutzig werden konnten. "Nicht zu neugierig sein, Gatcha," zwinkerte Liam ihr zu, drehte sich um und stieg in das Perlmuttbecken. Sein Eintauchen erzeugte augenblicklich kreisförmige Wellen, die die zuvor makellose Oberfläche trübten. Neesan ließ sich hinein plumpsen, Sheerla sah noch einmal zurück und ging dann hinterher. Allein Sive zögerte noch. Sie stand dort, wo sie von Snake Abschied genommen hatte. Ihre Augen lagen auf der Menge, durchforschten sie. Dann schien sie gefunden zu haben. Entschlossen ging sie zu Nerd hin und nahm ihn bei der Hand. Schritt für Schritt zog sie ihn zum Wasser. Nerd folgte, zögernd zwar, aber er folgte. Mit der einen Hand stützte Sive sich am Beckenrand ab, während sie hinein kletterte, die andere dachte nicht daran, loszulassen. Sives Griff verstärkte sich, umklammerte, hatte Angst, zurück zu lassen. Sie zog, einmal, zweimal, stärker. Komm mit, sagten ihre Augen. Nerds Hand begann zu zittern, aber er wehrte sich nicht. Sive stand in den Wellen und zog weiter, den Blick auf sein Gesicht geheftet. Irgendwo weiter hinten löste sich God aus der Gruppe und lief auf sie zu. Mit beiden Händen umfasste Sive Nerds Hand und hielt sie über das Wasser. Unwillkürlich spreizten sich seine Finger, eine Bewegung, die genauso gut Abwehr wie Erwartung ausdrücken konnte. Nur wenige Millimeter trennten seine Fingerspitzen noch von der Oberfläche. Mit einem heftigen Ruck zog er die Hand zurück. Er entglitt Sive, die platschend in die Fluten fiel. "Nein, Sive. Du kannst mich nicht mitnehmen und ich kann nicht mit dir kommen." Sie starrte ihn an. Wassertropfen liefen ihr Gesicht hinunter. Auch Cross' Augen schimmerten. Aber das sahen nur sie und ihre Freunde, nicht die anderen, denen er den Rücken zugewandt hatte. Er sagte: "Auf Wiedersehen." Von hinten legte sich Gods Hand auf seine Schulter, weitaus fester als nötig schien, und auch er sagte: "Auf Wiedersehen." Sie musste antworten. Das war wichtig. Sive hob ihren Kopf. Der kleine Elefant baumelte. Er wusste: Ein Griff konnte sie trennen und zusammenbringen. Sie sagte: "Auf Wiedersehen." Sie nahm den Elefant. Sie streifte ihn sich über den Kopf. Sie hängte ihn über die Wasseroberfläche im Zentrum des Beckens, des Tempels, der Welt. Liam nahm ebenfalls einen Teil der Lederschnur. Sheerla packte das andere Ende. Neesan schloss vorsichtig seine Hand darum. Der Elefant lächelte. Es war ein Liam-Lächeln. "Bis bald, Chefkoch Signor Moko Giordano! Und vielen, vielen Dank für alles!" Überrascht öffnete Tank den Mund, konnte das denn sein? Er hatte Liam niemals seinen vollen Namen gesagt! Meinte er etwa... ...er wollte noch fragen, ...den Jungen rufen... ...doch in diesem Moment war seine Existenz bereits Erinnerung geworden. ~~~ Goodbye Written by Spice Girls/Stannard/Rowe. Performed by Spice Girls. Listen little child, there will come a day When you will be able, able to say Never mind the pain, or the aggravation You know there's a better way, for you and me to be Look for a rainbow in every storm Fly like an angel, heaven sent to me Goodbye my friend (I know you're gone, you said you're gone, but I can still feel you here) It's not the end (Gotta keep it strong before the pain turns into fear) So glad we made it, time will never change it - no no no Just a little girl, big imagination Never letting no-one take it away Went into the world, what a revelation She found there's a better way for you and me to be Look for a rainbow in every storm Find out for certain, love's gonna be there for you You'll always be someone's baby Goodbye my friend (I know you're gone, you said you're gone but I can still feel you here) It's not the end (you gotta keep it strong before the pain turns into fear) So glad we made it, time will never change it - No no no no You know it's time to say goodbye - No no no no The times when we would play about The way we used to scream and shout We never dreamt you'd go your own sweet way Look for a rainbow in every storm Find out for certain love's gonna be there for you You'll always be someone's baby Goodbye my friend (I know your gone, you said you're gone, but I can still feel you here) It's not the end (you gotta keep it strong before the pain turns to fear) So glad we made it time will never never change it No no no no - you know it's time to say goodbye No no no no - and don't forget you can rely No no no no - you know it's time to say goodbye No no no no - and don't forget on me you can rely No no no no - I will help, help you on your way No no no no - I will be with you every day ~~~ Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 13: XXXVII. Ein ganz normaler Mittwoch Teil 2 * XXXVIII. Eine Mischung aus Kuskus und Irish Stew * XXXIX. Nichts zu Essen * XXXX. Das Klingeln an der Tür ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- So, das ist nun wirklich der allerletzte Teil. Dafür sind's diesmal auch 4 Kapitel. Ich wünsche allen Lesern alles Gute und danke ihnen, dass sie mich auf diesem 'Weg' begleitet haben.... wünsche Euch noch einmal viel Spaß mit diesem letzten Teil. Für mehr lest die DEEVANS :) ~~~ XXXVII. EIN GANZ NORMALER MITTWOCH TEIL 2 * XXXVIII. EINE MISCHUNG AUS KUSKUS UND IRISH STEW * XXXIX. NICHTS ZU ESSEN * XXXX. DAS KLINGELN AN DER TÜR XXXVII. Ein ganz normaler Mittwoch Teil 2 Nie mehr... nie mehr... würde er... betete Neesan stumm, als ihm plötzlich auffiel, dass der Gedanke so etwas Abgegriffenes an sich hatte. Auf einmal spürte er einen Tritt irgendwo unter sich, und geistesgegenwärtig packte er das zappelnde Objekt. Das hätte er nicht tun sollen. Sive wehrte sich panisch, machte nur einen kurzen Ausflug an die Oberfläche, wo sie ca. 3 Liter Wasser ausspuckte, um dann sofort wieder abzutauchen. Diesmal nahm sie den verdutzten Neesan mit. "Ja, bist du denn verrückt! Einfach da reintauchen, wenn die anderen gerade springen!" empörte sich eine Stimme, die ihnen vage bekannt vorkam. Schnelle Schritte klapperten auf dem gefliesten Hallenboden. "Ertrinkt mir ja nicht! Um Himmels Willen!" ordnete Schwimmlehrer Brownson ängstlich an. Sheerla und Liam blickten sich an. Dann tauchten sie zum zweiten Mal, was Mr. Brownson zu einem weiteren entsetzten Ausruf alarmierte. Das folgende sah aus wie ein nach allen Regeln der Kunst durchgeführter Unterwasserringkampf. Sekunden später tauchten nacheinander die Köpfe von Neesan, Sheerla, Sive und Liam auf. Neesan rang nach Luft, Sheerla hatte die Augen zugekniffen, Sive hustete erbärmlich und Liam rezensierte fortwährend etwas, das sich wie: "Es gibt keine Piran.... Piran.... Piran... bösen Fische... es gibt keine." anhörte. Mr. Brownson und die Schüler in seinem Rücken starrten noch immer, als zu Neesans Füßen plötzlich wieder etwas zu treten begann. Und zu zerren. Und zu ziehen. Nein, ein zweites Mal würde er den Fehler nicht machen, wer immer das war, konnte ihm gestohlen bleiben, und überhaupt... Mit diesem Gedanken begab sich Neesan erneut unfreiwillig auf Tiefseeexpedition. "Hi!" grinste ein Kopf, der sie entfernt an etwas erinnerte, sie hatten nur Probleme zu sagen, ob an einen lebenden Menschen oder an eine Möhre. "Kuzni!" brüllte Neesan, nachdem er wieder das Tageslicht erblickt hatte, "Du verdammter Idiot!" Es war unmöglich auszumachen, ob die darauffolgenden Maul-offen-Blicke Neesans Wortwahl (von Seiten der Schüler) oder Kuznis Identität (von Seiten der Kinder) galten. Denn es war Kuzni. Elegant stemmte er sich aus dem Wasser, wrang seelenruhig seine Haare aus und wandte seine weitere Aufmerksamkeit dann seinen Klamotten zu, die frei nach Noah-Mode recht abenteuerlich aussahen und überall um ihn herum schlackerten. Er ertrank geradezu in Altkleidern. Denn Kuzni war geschrumpft. Er wirkte kleiner - jünger - das 'niedlich' lass ich jetzt mal so dahingestellt - er wirkte, um genau zu sein, keinen Tag älter als neun Jahre. Und um noch genauer zu sein: er war keinen Tag älter als neun Jahre. "Nett habt ihr's hier," stellte Kuzni fest, nachdem er den Blick hatte wandern lassen. "Ich glaub, hier könnt's mir gefallen." Er grinste, wobei er den rechten Mundwinkel schief hochzog und eine Zahnlücke sichtbar wurde. Später schlenderte er wie zufällig am Schwimmlehrer vorbei, wo er dem nun völlig aus dem Häuschen Geratenen so gut er es vermochte und soweit er Bock hatte, Rede und Antwort stand, sich zu guter Letzt von Mr. Brownson adoptieren ließ, fortan das Hallenbad als sein persönliches Eigentum betrachtete und nicht mehr viel gesehen wart. Eine halbe Stunde später standen Sheerla, Neesan, Liam und Sive am Zebrastreifen vor der Grundschule, wo sie sich ein halbes Leben zuvor die Köpfe gerammt, Mathehefte verloren und tiefschürfende Diskussionen geführt hatten. Von hier aus würden sie getrennte Wege gehen, Neesan und Sheerla zusammen nach rechts, Sive und Liam nach links, wo sie sich an der nächsten Kreuzung ebenfalls trennen und nach Hause gehen würden. Am nächsten Tag dann würde Sive, sofern die Welt noch stand, wieder auf den letzten Drücker an eben jener Kreuzung stehen, mit Liam den Zebrastreifen erreichen, Sheerla und Neesan von weitem ignorieren und das Köpfe-einschlagen, Mathehefte-verlieren und tiefschürfende-Gespräche-führen konnte weitergehen. "Sheerla. Wieviel Uhr ist es?" fragte Liam. Sheerla warf einen Blick auf ihre wasserdichte Armbanduhr. "4 Uhr 23." "Und was ist morgen für ein Tag?" Sheerla überlegte eine Weile und sagte schließlich: "Donnerstag." "Gut. Dann kocht meine Mutter nicht. - Und heute?" "Wahrscheinlich Mittwoch. Logischerweise, mein' ich." "Das Datum?" Ein weiterer Blick aufs Ziffernblatt und Sheerla stellte fest: "Der 30. April 2013." Überrascht blickte sie auf. "Heute ist Beltane." "Was?" platzte Sive verständnislos heraus, "Was'n das?" "Beltane. Die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai." erklärte Sheerla, "Das keltische Fest der Fruchtbarkeit." "Woher weißt'n das?" verständnislos-ierte Sive weiter, offenbar nicht fähig, den Slang abzulegen. "Mama hat irische Vorfahren." klärte Neesan sie auf. "Und Papa schottische." "Aha. - Und warum ist sie dann so braun?" "Afrikanische!" rief Sheerla, schon im Weggehen, oder nein, eher im Rennen, und Neesan fügte hinzu: "Auf Wiedersehen!", bevor auch er sich abwandte. ~~~ Honey, I'm Home Words & Music by Twain/Lange. Performed by Shania Twain. The car won't start -- it's falling apart I was late for work and the boss got smart My pantyline shows -- got a run in my hose My hair went flat -- man I hate that (hate that) Just when I thought things couldn't get worse I realized I forgot my purse With all this stress -- I must confess This could be worse than PMS This job ain't worth the pay Can't wait until the end of the day Honey, I'm on my way Hey! Hey! Hey! Hey! Honey, I'm home and I had a hard day Pour me a cold one and oh, by the way Rub my feet, gimme something to eat Fix me up my favorite treat Honey, I'm back, my head's killing me I need to relax and watch TV Get off the phone -- give the dog a bone Hey! Hey! Honey, I'm home! I broke a nail opening the mail I cursed out loud 'cause it hurt like hell The job's a pain -- it's so mundane It sure don't stimulate my brain (Bridge) (Chorus) Oh, rub my neck will you Honey, I'm home and I had a hard day Pour me a cold one and oh, by the way Rub my feet, gimme something to eat Fix me up my favorite treat Honey, I'm back, my head's killing me I need to relax and watch TV Get off the phone -- give the dog a bone Hey! Hey! Honey, I'm home! I'm home, that feels much better ~~~ XXXVIII. Eine Mischung aus Kuskus und Irish Stew Mr. Gordon McPherson saß in der Küche, als Sheerla und Neesan die Tür aufstießen. Der gleichzeitig so vertraute und fremde Anblick ließ sie einen Augenblick innehalten. "Papa! Was machst du denn hier? Warum bist du nicht in deinem Arbeitszimmer?" fragte Sheerla verblüfft. Er fuhr zusammen und sah verdattert auf. "Ich dachte, ich setz' mich hierhin, dass ich euch klingeln höre, wenn ihr kommt..." antwortete President und schob zerstreut den Salzstreuer beiseite. Unmengen von Papierstapeln und Aktenordnern türmten sich auf dem Tisch, an dem sie beide noch an einem Morgen, der ewig her schien, gesessen und gefrühstückt hatten. Sorgfältig zusammengefaltete Servietten und korrekt gestapelte Teller, von Neesan erst vor wenigen Stunden errichtete Inselchen der Ordnung, waren nach und nach im Meer des Chaos versunken. Rechts vom Ellbogen ihres Vaters hatte sich die offene Ketchupflasche mit dem halbleeren Nutellaglas angefreundet, während am anderen Ende des offensichtlich nicht abgewischten Tischs munter die Corn Flakes-Krümel lagen. Die Hälfte des Geschirrs stand an der Spüle und wartete nach wie vor vergeblich darauf, abgewaschen zu werden. President hockte auf dem wackligsten der vier Küchenstühle und schrieb. Zuvor hatte er noch wie Neesan versucht, der Unordnung Herr zu werden, indem er die Getränke nett gruppierte und seine Mappen nach Farben sortierte, aber irgendwann mittendrin musste ihn die Resignation übermannt haben. "Du hast uns aber anscheinend nicht gehört," erwiderte Sheerla. "Siehst du jetzt, wie gut es war, dass ich euch das hier abgeschwatzt habe?" Triumphierend klingelte sie mit ihrem eigenen Schlüsselbund. "Wo ist Mama?" wollte Neesan wissen. "Sie ist nochmal ins Fitnessstudio. Aber vorher hat sie uns freundlicherweise etwas zu essen vorbereitet." Mit dem Kopf wies President in Richtung Herd. Sheerla ging zur Kochplatte und lugte in den Topf, der dort vor sich hin köchelte. "Sieht aus wie eine Mischung aus Kuskus und Irish Stew," bemerkte sie. "Na und? Ich mag Irish Stew." verteidigte Neesan die Kreationen von Mrs. McPherson. Seine Schwester grinste. "Ich sag ja auch gar nicht, dass ich es nicht mag. Es ist nur nicht die gängigste Kombination." Sie wandte sich zur Tür und ihr "Ciao, bin Hände waschen!" hallte über den Flur. President richtete sich auf, was sein Stuhl mit bedenklichem Wackeln quittierte. "Sheerla? Moment mal!" "Was?" klang es durch die Wand. "Dein Lehrer schreibt, du hättest in eurem Klassenzimmer die Tür eingetreten." Schweigen. "Oh Mann," maulte Sheerla, von Wasserplätschern untermalt, "Ich wollte sie doch auftreten. Nicht eintreten." "Wie das?" erkundigte sich President skeptisch. "Ich dachte, sie wär' auf," erklärte Sheerla aus dem Badezimmer, "hab dagegen getreten und - bums, war ein Loch drin. Und außerdem war ich das nicht allein." "Sheerla, Sheerla," murmelte President, ohne nach den Mittätern zu fragen, seufzte und legte den Brief auf einem der zahlreichen Stapel ab. Inzwischen hatte Neesan seine Schuhe ausgezogen und schickte sich an, ebenfalls auf dem Tisch Platz zu nehmen. Mit großen Augen thronte er über Presidents Aktensammelsurium, sah seinem Vater beim Schreiben zu und genoss die Höhenluft. Hin und wieder tippte ein nackter Zeh über die Zeilen, bis ein nervöses "Lass das, lass das" ihn zum Rückzug motivierte. "Wie war die Schule?" erkundigte sich sein Vater bei ihm. Auf der an sich alltäglichen Frage lag ein sonderbares Gewicht, einerseits durch den merkwürdig leisen Ton, andererseits durch den sorgenvollen, mitfühlenden Blick, der sie begleitete. "Gut." meinte Neesan lächelnd, "Wir hatten Schwimmen." President zog ein verdutztes Gesicht. "Liam und Sive waren bei uns," erzählte sein Sohn immer strahlender, "und Einiges war neu und anders, und es war schön, und es hat Spaß gemacht, und - " "Sive, ist das nicht das Mädchen, das deine Schwester nicht leiden kann?" unterbrach sein Vater ihn verwirrt. Neesan lachte fröhlich. "Nein, Papa," gluckste er, "Wo lebst du nur? Das ist ihre beste Freundin!" "Auuuuuuuuuua!" machte ein plötzlich in der Wohnung erschallender Schrei ihrem Gespräch ein Ende. "Das ist Mama!" hörten sie Sheerlas Stimme von der anderen Seite. "Auaauaau," jaulte Tiger, als sie in die Küche herein wankte, einen verbeulten roten Stöckelschuh in der Hand und sich mit der anderen heftig den Fuß reibend, "wer zum Teufel hat die Wohnungstür zugemacht?" Sheerla kam über den Flur gerannt. "Mama, Mama, was ist denn?" "Ich hatte die Tür aufgelassen," erklärte Tiger und zog sich kurzerhand den Strumpf aus, um die Bescherung in ihrer ganzen Pracht anzusehen, "weil ich ja nur kurz rüber bin und du mich sowieso nicht hörst, wenn du einmal am Schreibtisch sitzt, Gordon. Und als ich zurückkam, wollte ich sie mit dem Fuß aufkicken, weil ich ja die Tasche auf dem Arm hatte, und dann..." Sheerla pfiff und ließ unauffällig ihren eigenen Hausschlüssel verschwinden, dessen bestes Pro-Argument sich hiermit als nichtig erwiesen hatte. "Doreen!" ächzte President, denn nicht nur ihm kam die soeben geschilderte Szene bekannt vor. Mit einem Ruck stand er auf und schlug die Hände auf die Tischkante, vergaß dabei allerdings, den Stuhl zurückzuschieben. Das altersschwache Möbelstück erbebte, kippte zur Seite. Und es rollte die Lawine - Akten, Ordner, Teller, Flaschen, Krümel und Neesan fielen mit lautem Gepolter zu Boden. Im gleichen Moment entfuhr es Tiger schrill: "Das Essen!" Das Essen war übergekocht und rote Sauce vermischte sich mit den Scherben. XXXIX. Nichts zu Essen Sie hatten die Kreuzung erreicht. Einen Moment verhielt Liam noch, zögerte zu gehen, drehte sich nach Sive um. "Freust du dich, nach Hause zu kommen, Liam?" fragte Sive ihn. "Ehrlich gesagt..." Liam lächelte etwas verlegen, "Ich kann's kaum erwarten." "Auf Wiedersehen, Liam." "Auf Wiedersehen, Sive!" gab Liam zurück. Dann ging er. Er rannte nicht. So hielt sich die Freude länger. Mrs. Wendy M. Adlington-Garrod stand an der Treppe, eine geflochtene Einkaufstasche neben sich, als Liam nach Hause kam. Kaum war er eingetreten, schlug ihm schon die Unruhe wie ein Schwall heißer Luft entgegen. "Liam!" rief seine Mutter erleichtert. Obwohl sie sich bemühte, ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen, schwang Panik mit und kam langsam an die Oberfläche. Verzweiflung malte sich auf ihrem blassen Gesicht. "Wie gut, dass du kommst.... Mrs. Palmer ist die Treppe heruntergefallen und hat sich den Fuß verstaucht! Eben ist sie abgeholt worden. Und wir haben nichts zu essen! Ich hab es schon beim Dell' Isola Misteriosa versucht, aber Moko hat ja heute Ruhetag! Und..." "Nichts zu essen...?" wiederholte Liam gedehnt. Sein Blick war während der letzten Worte von der erregten Miene seiner Mutter weg zu der Einkaufstasche zu ihren Füßen gewandert. Die große Korbtasche quoll förmlich über, randvoll mit den leckersten Delikatessen. Princess musste gerade erst vom Einkaufen gekommen sein. Rote Tomaten, schwarze Oliven, zwei große Baguette-Stangen, ein Glas eingelegte Artischocken, Brokkoli, Reis im Beutel, mehrere Päckchen Nudeln, drei Flaschen tropischer Fruchtsaft, grüne Oliven, Schafskäse, ein Kopfsalat, Oliven mit Sardellen-Füllung, eine Flasche Olivenöl, ein Eisbergsalat, rote Paprika, grüne Paprika, gelbe Paprika, Zwiebeln, drei Becher Sahne... Liam musste nicht weiter sehen. Seine Mutter liebte Einkaufen. "Mama," erwiderte er ungläubig, "nichts zu essen...? Das..." Sie unterbrach sofort den Redefluss, der während seiner Minuten stummen Staunens unaufhörlich weitergeplätschert war. "Liam." sagte Princess betreten, "Du weißt doch, ich kann nicht kochen." Hektisch begann sie, an ihrem Kleid zu nesteln. "Und du hast sicher Hunger, und dein Vater kommt bald heim, und..." "Mama." meinte Liam bestimmt, "Beruhig dich. Wir kochen jetzt was." "Und ich muss die Tomaten nicht schneiden, sondern nur mit heißem Wasser überbrühen?" fragte Princess zum zehnten Mal. "Ja," gab Liam zum zehnten Mal bereitwillig Auskunft, während er die Nudeln knickte, "und dann pellst du sie. Weißt du, Mama, kochen ist gar nicht so schwer. Alles was du brauchst sind Fantasie, Fingerspitzengefühl und die entsprechenden Zutaten. Dann kann es direkt Spaß machen." "Ja..." meinte Princess gepresst, "aber weißt du... ich hab solche Angst, etwas falsch zu machen. Ich bin so nervös, dass ich mich laufend vertue. Manchmal kann ich vor Aufregung das Rezept kaum lesen. Und woher soll ich denn wissen, ob es euch nachher überhaupt schmeckt? Ich will doch, dass es euch schmeckt." "Wenn es dir schmeckt, wird es auch uns schmecken." bestärkte Liam sie ernst. "Und außerdem sind Misserfolge am Anfang etwas völlig Normales. Dazu gibt es ja auch Rezepte, an denen du dich orientieren kannst. So wie Spaghetti Napoli, das, was wir gerade kochen. So, und jetzt gib mir bitte die Tomaten." "Woher kannst du das nur, Liam?" fragte Princess, die ihm eine ganze Weile nur fasziniert zugeschaut hatte, auf einmal. Liam blickte auf, ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Das hab ich gelernt, während ich in der Schule war." "Mama," meinte er dann, schon wieder mit der Sauce beschäftigt, "weißt du was? Frag doch mal Moko, ob er dir Kochunterricht gibt. Das kann er bestimmt gut." "Meinst du?" fragte Princess zweifelnd, "Und wenn er das gar nicht will? Ich meine, er hat doch viel zu tun und ich will ihn auch nicht belästigen..." "Aber ja," bekräftigte Liam, "bestimmt macht er das. Frag ihn doch einfach mal." "Soll ich...?" fragte Princess, plötzlich ganz versunken, in den Raum hinein. Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. "Soll ich wirklich..." Vielleicht würde sie. Liam lächelte. "Was riecht denn hier so lecker?" hörte er auf einmal eine bekannte Stimme hinter seinem Rücken. Als Liam sich umdrehte, sah er, dass sein Vater hereingekommen war. Er umarmte Princess von hinten und küsste sie in den Nacken. Princess erwiderte den Kuss und antwortete: "Das hat Liam gekocht." Liam berichtigte: "Das haben wir gekocht." "Das habt ihr gut gekocht, ich hab nämlich einen Bärenhunger." meinte Boss, reckte die Arme und warf Liam einen kleinen, überraschten Blick zu. "Ach - ihr habt übrigens was stehenlassen." Er hechtete hinaus, um kurz darauf mit der nun halbleeren Einkaufstasche wiederzukommen. "Was ist denn da Leckeres drin?" "Brian Garrod," befahl Princess, "stell das hin." Sie hielt den dampfenden Topf in den Händen, blickte starr geradeaus, bereit, die Nudeln abzuschütten. "Ihr könnt schon mal den Tisch decken." "Tischdecken?" beschwerte sich Boss halb im Scherz, "Bin ich ein domestizierter Mann?" Princess' Hände zitterten ein wenig. Der Topf war schwer. Liam hätte nie gedacht, dass Nudeln abschütten für einen Menschen so eine Überwindung bedeuten konnte, dass er dabei strikte Ruhe brauchte. "Komm, Papa" meinte er beschwörend und drückte seinem Vater einen Stapel Teller in die Hand, "Mama will allein sein." "Wäre es nicht besser, wenn," wollte Liam vorschlagen, als Boss anfing, die Teller auf dem Esszimmertisch zu drapieren, doch er kam nicht mehr dazu. Boss fuhr herum, "Ich hab dich ja noch gar nicht begrüßt!", packte seinen Sohn um die Hüfte, hob ihn hoch in die Luft und fing an, mit ihm im Zimmer herumzurennen. Liam jauchzte, lachte, zog seinen Vater an den Haaren und am Hemd, aber er wehrte sich nicht. Kurz darauf ging es in den Garten, "Woll'n wir Fußball spielen?" - Liam strampelte - am Gartentisch vorbei "...wir da draußen decken?" schrie Liam und beendete damit seinen Vorschlag, einmal rund ums Haus und um die Winkelachse... bis sie beide erschöpft ins Gras fielen. "Ich... wollte sagen..." keuchte Liam auf der Wiese liegend, obwohl doch er gar nicht derjenige war, der gerannt war, "dass wir den Tisch draußen decken sollten. Schließlich ist heute Beltane, das keltische Fest des Lichts. Deshalb zünd' auch eine Kerze an, ja?" Aus dem Gras neben ihm blickte sein Vater ihn verblüfft an: "Woher weißt du das denn?" "Nun," Liam rappelte sich auf, klopfte sich das Gras ab, "du hast doch keltische Vorfahren, oder?" "Ja, väterlicherseits," gab Boss zu. "Und Maori, stimmt's?" "Mütterlicherseits," nickte sein Vater, "die Mutter meiner Mutter und ihrer Zwillingsschwester... aber dass du das weißt..." Liam lächelte. "An Beltane stehen die Türen zwischen den Welten offen wie zu Samhain an Allerheiligen, nicht wahr?" Boss nickte wieder, mittlerweile etwas irritiert. "Aber an Beltane," schloss Liam und sah ihm fest in die Augen, "an Beltane siegt das Licht über die Dunkelheit..." ~~~ Together Again Written and performed by Wonderwall. ...hayeahhhh... A red black beetle crawls over my feet Its little steps tickle It gives me the creeps I wash my hands and I wash my face A fresh summer breeze catches my hair and I say ...hayeahhhh... ...hayeahhhh... Went long the river it was a red night My teddy fell asleep Closed his black button eyes It was a red night when I walked on my own When my teddy awoke there's something I knew 'cause we're Together again Yeah forever together Your heart is my home Together again Yeah forever together Your heart is my home The golden field, the sense of red nights There's something lost 'cause we've forgotten to fight The field is broken but the dream will survive Plant a new appletree, sisters of night Together again Yeah forever together Your heart is my home ...hayeahhhh... A red black beetle crawls over my feet Its little steps tickle It gives me the creeps I wash my hands and I wash my face A fresh summer breeze catches my hair and I say ...hayeahhhh... Your heart is my home ...hayeahhhh... Your heart is my home ~~~ XXXX. Das Klingeln an der Tür ...An Beltane siegt das Licht über die Dunkelheit... Sive rannte. Der Schulranzen flog auf ihrem Rücken hin und her, als wollte er ihr zuflüstern: "Achtung, ich reiße gleich." Doch das Mädchen achtete nicht darauf, obwohl der Verlust des letzten verbliebenen Riemens ziemlich unangenehm sein würde. Zu eilig hatte sie es, nach Hause zu kommen. Sie kam an der Mauer des Nachbarn vorbei, sah aus dem Augenwinkel die lila Blütenbüsche aufleuchten. Sie hielt inne, sah sich kurz um und nahm dann Anlauf, um sich an der Mauer hochzustemmen. Als sie den Fliederzweig packte und brach, schürfte sie sich das Handgelenk an der Steinwand auf, aber sie hatte ihn. Sive ließ los, fiel zurück und folgte schon wieder ihrem Weg, bevor sie auf dem Boden aufkam. Mrs. Maé Charteris hörte die hastigen Schritte und öffnete, bevor das Sturmklingeln beginnen konnte. "Für dich! Weil du nächste Woche Geburtstag hast!" kam es ihr atemlos entgegen und ein riesiger Ast violetter Fliederblüten war das erste, was das Haus betrat. "Danke. Das ist zwar etwas früh, aber sie riechen so gut..." meinte Maé und versenkte das Gesicht in den Blüten. Mit keiner Regung zeigte sie, dass sie die doppelt gefüllten Dolden sofort als vom Busch des Nachbarn erkannt hatte. "Ich weiß doch, dass du Flieder magst! Ich kann auch noch mehr holen, wenn..." wollte Sive eifrig vorschlagen, aber ihre Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. "Dieser eine genügt. Komm, wir stellen ihn ins Wasser." Als Sive die Küche betrat, sah sie, dass bereits auf dem Essstisch und auf der Anrichte Blumen standen. Und das waren mit Sicherheit keine Geburtstagsgeschenke. An der Spüle war ihre Mutter gerade dabei gewesen, eine dritte Vase zu richten, aus der schon junge Birkenzweige ragten. "Sive," bat Maé, während sie eine vierte für den Flieder mit Wasser füllte, "könntest du vielleicht kurz in den Garten gehen und noch ein paar Zweige Weißdorn holen? Du weißt schon, der Busch mit den kleinen weißen Blüten." Sive nickte und atmete tief ein. In der Küche roch es gut, irgendwie gemütlich, ein Duft aus Blumen und Essen, das im Backofen warten musste. Im Hinausgehen sah sie, dass es sich bei den Blumen auf dem Tisch um Ringelblumen handelte, die lustigen kleinen gelben, die sie früher immer aufgegessen hatte, und auf der Anrichte, das waren Rosen. "Wie schön," murmelte Sive, obwohl sie nicht verstand, warum ihre Mutter all diese Blumen gepflückt hatte. Das machte sie zwar manchmal, aber nie so viele auf einmal. Nachdem sie Maé geholfen hatte, die langen Weißdornzweige mit den Birken aus der Spüle zu nehmen, fragte Sive: "Was ist jetzt eigentlich mit deinem Geburtstag, Mama?" "Ich habe beim Dell' Isola Misteriosa angerufen. Moko hat für Montag noch genug Tische frei." antwortete Maé. "Natürlich werden wir ihm in der Küche helfen, er kann ja nicht die ganze Arbeit allein machen, vor allem nicht, wenn er selbst eingeladen ist." "Kommt Liam auch?" wollte Sive sofort wissen. Maé lächelte. "Brian und Wendy und Jack und Garnet kommen, also nehme ich mal an, dass sie ihre Kinder mitbringen. Will und Chantal kommen auch mit ihrem Sohn und dem Baby. Und Doreen und Gordon auch, ihre Kinder sind übrigens in deiner Parallelklasse." "Ich weiß!" rief Sive und hüpfte wie eine Bekloppte in der Küche umher, "Ich weiß! Ich weiß! Ich weiß!" Sie strahlte. Maé beugte sich zu ihr hinunter und strich ihrer Tochter übers Haar. "Wissen ist gut. Das ist das Kind von Denken und Fühlen." Eine kleine Weile hockten sie zusammen am Küchenboden und zählten die Fusseln. Dann meinte Maé: "Hörst du? Da ist ein Schlüssel im Schloss." Sive blickte sie an. Sie sprang auf und rannte zur Tür. Sie würde sie nicht öffnen, sie würde warten, bis sie aufging. Sie würde... sie würde... sie würde gleich, wenn nicht endlich...! Die Tür ging auf. "Papa!" rief Sive und fiel ihm um den Hals. "Hallo, Zauslöckchen." Sie ließ nicht los, sie wollte nie wieder runtergelassen werden. Aber während sie ihren Vater umarmte, konnte sie nicht anders, als noch einen zweiten Blick durch den Türspalt zu werden, über seine Schulter, die Straße hinunter, wo noch immer die Sonne stand. Ein, zwei, Sekunden starrte sie und fühlte unter großer Freude einen kleinen Schmerz stechen. Schnell schlug sie mit der freien Hand die Tür zu und vergrub ihren Kopf an der Stelle am Hals ihres Vaters, die sie immer 'den Schwalbenknochen' nannte [Ist doch viel schöner als 'Schlüsselbein' und sieht tatsächlich aus wie 'ne Schwalbe.] Ohne etwas zu sagen trug God sie bis in die Küche. Maé saß noch immer am Boden, die Knie angezogen und den Blick durch das Fenster ebenfalls zur Sonne gerichtet, die nun langsam, fast unmerklich begann, sich rötlich zu färben. Auf der Anrichte stand ein warmer Mandelkuchen. Sie lächelte ihnen entgegen, hob ihre Hand. God nahm sie, mit der anderen Sive umklammernd, die jetzt bedrohlich ins Schwanken geriet. "Willst du aufstehen oder sollen wir uns setzen?" fragte er seine Frau. "Ich stehe auf." erwiderte sie, "Das Kartoffelgratin sagt, es will raus aus dem Backofen." Er zog sie an sich und ließ Sive herunter, jetzt war sie bereit loszulassen. Während Maé das Essen von seinen Hilferufen erlöste, fragte er: "Wie geht es dir?" "Ich bin barfuß durchs Haus gelaufen, habe meine Gedanken in einen Computer gehauen, gekocht und Blumen gepflückt." "Ein Kinderbuch über den Planeten der Dinosaurier... Ich hätte nie gedacht, dass..." begann er und brach ab. "Ich auch nicht. 121 Seiten. Aber noch bekommt es keiner zu sehen." bestätigte sie. Er sah um sich. "Das ist... schön. Ist heute ein besonderer Tag?" Maé lächelte. "Es ist Frühling, Donivan. Heute tanzen die Menschen ums Feuer in den Mai." "Und ein paar Tage danach hast du Geburtstag." "Wollen wir tanzen?" schlug sie vor. "Nachher." Sive, in der Ziellosigkeit des Raumes stehend, entschloss sich, etwas Gutes zu tun und den Tisch zu decken. Gerade als sie einen Stuhl so plaziert hatte, dass sie an die Teller herankam, ohne sich den Hals zu verrenken, hörte sie ihre Mutter sagen: "Danke, dass du den Tisch deckst, Sive, aber warum holst du denn nur drei Teller? Wir brauchen doch vier." Vier? Vier. Vier! Ihr Herz begann, wie wild zu klopfen. Sie schwankte und beinahe wären sämtliche Teller auf dem Boden zerschellt. Im letzten Moment sprang God auf und nahm sie ihr ab. "Papa." hauchte Sive heiser. Ihre Stimme zitterte und ihr Körper fing jetzt auch damit an. "Mama. Der Elefant lügt nicht, richtig?" "Nein, Sive." erwiderte Maé ruhig. "Solange du selbst die Wahrheit sagst." Und die Wahrheit war, dass es an der Tür klingelte. Jetzt fiel Sive tatsächlich vom Stuhl. Aber erst ein Genickbruch hätten sie eventuell dazu veranlassen können, das als Problem zu sehen. Irgendwie brachte sie sich wieder auf die Beine und rannte mehr oder weniger zielgerade los. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte... wie in Zeitlupe schien alles an ihr vorüberzufließen. Zeit. Lupe. Die Zeit unter die Lupe nehmen. Herzklopfen. Schritt. Schwindel. Schritt. Freude. Schritt. Angst. Schritt. ...Sie hatte Angst. Was, wenn es nur der Briefträger war? Ihre Hand lag auf dem Türgriff. Sie öffnete. Sive schloss die Augen und die Zeit hielt an. "Auf Wiedersehen, Sive." Sie hatte nicht gewusst, dass diese Worte auch eine Begrüßung sein konnten. "Auf Wiedersehen, Cross." Sive öffnete die Augen und die Zeit lief weiter. Dann fiel sie. Cross konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen, als sie vornüber kippte. Als sie zum dritten Mal an diesem Tag in die Küche kam, waren ihre Eltern gerade dabei sich zu küssen. Sie trennten sich auch nicht, als Cross und Sive sich setzten. "Hallo, Cross." meinten die beiden dann und Maé küsste auch ihn auf die Wange. Sive saß auf seinem Schoß und hielt seine Hand. Sie war größer als in ihrer Erinnerung, aber sonst fühlte sie sich noch genauso an. Der einzige Unterschied war, dass sie sie heute nicht mehr würde loslassen müssen. Heute gab es keine Veranlassung dazu. Und auch morgen nicht. Und auch sonst nie mehr. Nun, außer vielleicht zum Essen... God und Maé deckten den Tisch zu Ende und Cross und Sive halfen, so gut es mit einer Hand eben ging. "Aber Sive, Cross kommt doch fast jede Woche zum Essen," meinte ihre Mutter verwundert, während sie den Salat verteilte und Sive noch immer keine Anstalten machte, die Hand ihres Onkels loszulassen oder sich auf ihren eigenen Platz zu verziehen. "Lass sie, sie freut sich eben," beschwichtigte Cross. Er lächelte. Sive sah es in seinen braunen Augen funkeln und da war es ihr, als würde sie ihre ein zweites Mal öffnen. Er wusste es. Die anderen mochten es vergessen haben, mussten sogar, um ihre Zukunft nicht zu gefährden, aber Cross wusste. Denn er lebte. Und das würde er niemals mehr vergessen. "Ja," flüsterte Sive, "ja, ich freue mich sehr, dass du da bist." Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Kapitel 14: ~*DEEEVANS*~ ------------------------ DANKSAGUNGEN * ERKLÄRUNGEN * ENTSCHULDIGUNGEN * ENTHÜLLUNGEN * VORWORT * ANMERKUNGEN * NACHWORT * SONSTIGES ...und was ich sonst noch hier reinkritzeln könnte / sollte / möchte /... Ich habe Jura Tripper 1 1/2 over am 17. März 2001 begonnen und am 1. August 2002 beendet, das heißt, ich habe rund ein Jahr und 4 Monate gebraucht. Die Geschichte umfasst jetzt 123 Seiten der Schriftgröße Times New Roman 12, 40 Kapitel, 70.726 Wörter, 6.183 Zeilen und 375.823 Zeichen. Damit ist sie das Umfangreichste, was ich bis jetzt geschrieben habe. Ich hatte nie geplant, dass es so lang werden sollte und mehr als einmal habe ich nur hemmungslos die Schnapsidee verflucht, die ich mir da eingebrockt hatte. Teilweise hat es mir großen Spaß gemacht, teilweise war es um des lieben Durchhaltevermögens willen und teilweise war es der totale Krampf. Wie auch immer. Jetzt bin ich fertig. Ob es gut oder schlecht geworden ist - ich bin fertig. Das Ergebnis sehe ich mit gemischten Gefühlen. Da 1 1/2 over eine Alternativgeschichte ist, die parallel zum Anime spielt, ergaben sich dabei diverse Probleme, die mich mehr als einmal fast zur Verzweiflung gebracht haben. Da die Handlung des Anime einerseits feststand, ich aber andererseits eine eigene Geschichte mit eigener Handlung schreiben und nicht nur den Anime nacherzählen wollte, musste ich das unter einen Hut bringen - mit dem Ergebnis, dass dieser 'Hut' jetzt ziemlich verbeult aussieht. Ähnlich war es mit den Charakteren, die erst einmal wahnsinnig viele sind (glaubt mir, wenn ihr einmal versucht habt, ALLE in einen 'sinnvollen' Dialog einzubeziehen, meint ihr das auch!) und sich zweitens wieder mit meinen eigenen dazu erfundenen das bisschen Platz teilen mussten. Schließlich habe ich die vier Kinder zu meinen Hauptcharakteren gemacht und auch strikt (ok, mehr oder weniger...) aus ihrer Sicht erzählt. So kommt es, dass ich viel von der Handlung des Animes und die Beziehungen der Animecharaktere als bekannt vorausgesetzt oder nur am Rande angesprochen, aber nicht vertieft habe, da es ja schon im Anime erzählt wurde. Ich kann mir vorstellen, dass das für Leute, die den Anime nicht oder nicht mehr genau kennen, äußerst verwirrend wirkt. Das ist, denke ich, der größte Schwachpunkt von Jura Tripper 1 1/2 over: Im Grunde ist es nur eine halbe Geschichte, die andere Hälfte ist der Anime. Unter diesen Umständen kann ich wohl auch schwerlich sagen, dass es wirklich gut geworden ist. Trotzdem finde ich, dass ich es unter den gegebenen Umständen so gut wie es mir möglich war gemacht und auf jeden Fall etwas gelernt habe (und sei's nur Ausdauer). Deshalb bin auch durchaus zufrieden damit. Mir ist klar, dass manche der Charaktere mehr im Vordergrund stehen als andere und dass viele wahrscheinlich finden werden, dass ich Animecharaktere falsch dargestellt habe. Das liegt daran, dass ich mich in manche eben besser hineinversetzen konnte als in andere und es mir darum auch leichter fiel, über sie zu schreiben. Bei anderen hat es mich mehr Mühe gekostet, mir ein Bild zu machen, deshalb mögen sie auf Leser, die ein anderes haben, 'falsch' wirken. Das tut mir leid, lässt sich aber nicht ändern, da wohl letztendlich jeder seine eigenen Vorstellungen hat. Ferner hoffe ich inbrünstig, dass die Geschichte weder zu lang, langatmig oder langweilig ist, die Dialoge sich nicht wie direkt aus dem "Mami"-Heftchen "Rührende Kinderschicksale" aus dem Supermarkt entlehnt lesen, keiner meine Sive (und nach Möglichkeit auch sonst niemanden!) hassen wird, Kuzni's misslungener Auftritt mir vergeben sein mag, Nerds von mir frei erfundene Hintergründe keine Zweifel an meiner geistigen Gesundheit aufkommen lassen werden, und, natürlich, dass die Geschichte euch gefällt. Mir selbst fehlt leider völlig die Objektivität, obengenannte Punkte zu überprüfen. Ich wünsche allen viel Spaß beim Lesen und würde mich sehr über Feedback jeder Art und über Kommentare freuen. Amber, den 4. August 2002 Ich möchte diese Geschichte einer Reihe von Personen widmen, die mir sehr geholfen haben, die mir geholfen haben, ohne es zu wissen und die mir nicht geholfen haben... um ihnen dafür zu danken: Meine Schwester Svenja/Nightingale/Sonnenstimme: Für unermüdliches und oft sofortiges Lesen meiner geisteskranken Ergüsse teilweise spät in der Nacht und mit allerletzter Kraft, für unzählige hilfreiche Anmerkungen, Ideen, Kommentare und Verbesserungsvorschläge, für Humor, falsche Interpretationen und überflüssige Bemerkungen, für Lob, Kritik, kurzum, für die beste Lektorin und Beta-Leserin, die man sich vorstellen kann. Danke!!! Isabell/Willow: Für unsere kleine Sive, für die schönsten, niedlichsten und verrücktesten Illustrationen, für stetiges Mitlesen von Anfang bis Ende, für Liam, Sheerla, Neesan und deren Namen, ganz klar für die vollkommen schwachsinnige Idee dieser ganzen Geschichte und vor allem dafür, dass ich dich angerufen habe und du sie schön fandest. Olga und Anna: Ihr habt erst sehr spät einen Teil der Geschichte zu Gesicht bekommen und mir dass, glaube ich, ein bisschen übel genommen. Letztendlich spielt das alles keine Rolle mehr, ich danke euch und widme euch diese Geschichte dafür, dass ihr meine Freunde wart. Und ihr habt mir geholfen. Valle: Auch du hast ein Jahr und vier Monate lang den Regen gestörter Mails mit noch gestörteren Anhängen über dich ergehen lassen, mit Engelsgeduld die Stellen wiedergefunden, an denen du warst, weil ich nicht fähig war, sie zu markieren, mich stets dezent darauf aufmerksam gemacht, wenn ich das Kombinationsvermögen der Leser überschätzt - sprich, ein paar Sachen als glasklar hingestellt hatte, die ein normaler Mensch nicht nachzuvollziehen in der Lage war - (ich hab sie alle abgeändert!) und mir gesagt, was dir gefiel. Danke. Prissy/Prisi/Prissi/Prisca/Priss-chan: Auch wenn mir noch immer nicht klar ist, wie man deinen Spitznamen schreibt, vielen Dank für viele beratende Telefonate, die Idee mit dem Schwimmbad (Hört ihr? Das war Prissy! Ich war ja für die Klimaanlage im Schulklo...), das freundliche Studieren der zerfledderten Ausdrucke, die ich dir zukommen ließ und deine Bereitschaft, dir demnächst die kompletten 123 Seiten Amberschen Irrsinn reinzuziehen. Lydia/Sushi: Ebenfalls für anfängliches getreues Entziffern meiner Hieroglyphen, bis ich sie später unter Geheimverschluss stellte, für dein Interesse (ja.... ab und an *fg*)... und dafür, dass du sie ganz lesen willst. Bei ?Kaltes Wasser' hab ich erlebt, was das bei dir heißt... du gehst jeden Satz einzeln mit mir durch und das stärkt mein Selbstbewusstsein ins Unendliche! Aurélie/Spirit: Dafür, dass du Sive magst und bist wie du bist. Conny, Luisa/Caílin und Tanja/Hato: Für euer Interesse und eure Freundlichkeit. Stefan R.: Dafür, dass du mich jede Französischstunde gefragt hast, ob meine Geschichte fertig ist - ich freu' mich schon drauf, endlich 'Ja!' sagen zu können! Koneko-chan, Ai-chan und Jacky: Zwar kenne ich euch nicht persönlich, aber ihr habt meine Geschichte gelesen und mochtet sie. Dafür danke ich euch sehr. Hitomi16, lucky_ann und Taya-Star: Ihr habt mir unablässig auf jeden einzelnen verdammten Teil nette, anspornende, Balsam-für-meine-Seele-seiende Kommentare geschrieben und mir so das Gefühl gegeben, das meine 1 1/2-jährige Arbeit vielleicht doch ihren Wert hatte. Vielen Dank dafür und ich bin sehr froh, dass es euch so gut gefallen hat. Und dass du, Hitomi16, dafür deine Hausaufgaben hast sausen lassen... Hier noch ein paar Enthüllungen, die interessant sein könnten... Warum diese Geschichte den Titel 'Jura Tripper 1 1/2 over' trägt: Der 'Arbeitstitel' von mir und Willow lautete eigentlich ?Jura Tripper 3', wurde dann aber irgendwie, irgendwo, irgendwann... zu Jura Tripper 1 1/2 over. 'Jura Tripper', man glaubt es kaum, weil es eben eine Jura Tripper Fan Fiction ist, '1 1/2', da es weder direkt zur Animeserie, noch aber eine Fortsetzung ist und 'over', weil es einfach ein bissel abgehoben ist.... So kam ein geistreicher Titel zustande. Wie Sive zu ihrem Namen kam: Willow blätterte in einer Liste irischer Vornamen und ihr Blick blieb an 'Sive' hängen, was laut ihrer Aussage 'Goddess' bedeutete und da Sive Gods Tochter ist, natürlich perfekt (das lassen wir mal so dahingestellt, ok?) gepasst hätte... Leider hatte sie sich verlesen, in der Liste stand nämlich GOODNESS. Passt aber auch nicht schlecht :) Wie Sheerla zu ihrem Namen kam: In obengenannter Liste stand auch der Name 'Sheila', den ich sehr schön finde, dessen Bedeutung aber leider 'blind' ist, was irgendwie meinen Vorstellungen widersprach. Glücklicherweise fand sich ein paar Zeilen tiefer 'Saoirse' [SEERsha] mit der Bedeutung 'Freedom'. Das passte schon besser, aber der dazugehörige Name klingt so unästhetisch, vorausgesetzt, man kann ihn überhaupt aussprechen... Was macht also Amber? Flugs die beiden Namen 'Sheila' und 'Saoirse' zusammen geschmissen, einmal geschüttelt und heraus kam 'Sheerla' und das heißt jetzt eben 'Freedom', basta! Obwohl Willow später meinte, sie hätte den Namen tatsächlich wo gelesen... heißt das dann in Wirklichkeit 'blind freedom'?! Beim Schreiben von Jura Tripper 1 1/2 over habe ich zum ersten (und letzten!) Mal Musik gehört, und die Auswirkungen dürften, glaube ich, ziemlich deutlich sein... Hier die Liste der Übeltäter, die meine Stimmung (wohlgeplant *tropf*) beeinflusst haben und mich sowohl klanglich als auch inhaltlich inspirierten: - Disney's Tarzan-Soundtrack von Phil Collins und Marc Mancina , besonders "You'll be in my Heart" als God-und-Sive-Image Song. Der ganze Soundtrack passt mit seinem Dschungel-Sound und den Texten sehr gut zu Jura Tripper allgemein und speziell auf 1 1/2 over. - Das Album "Witchcraft" von Wonderwall - Das "Ring Ring"-Album von Abba , besonders "Me and Bobby and Bobby's Brother" - "Suzy-Hang-Around" von Abba's "Waterloo"-Album - "Yume miru shojo ja irarenai" von Nanase Aikawa als Wunsch-OP... vor allem am Anfang fand ich, dass es vom Klang her (vom Text weniger...) so hübsch zur Geschichte passt - keine Ahnung, warum... - "Book of Days - Far and Away" von Enya als Wunsch-END - "Confide In Me" von Kylie Minogue ...das Lied hat so eine unheimliche = coole Stimmung, passt irgendwie auf die Geschichte mit Nerd (allein das mit dem 'Cross'!), obwohl man es auch für andere Leute interpretieren könnte... - "You're Dead" von den Toten Hosen (für Nerd) - "Samhain Night" von Loreena McKennitt (für Sive und Nerd) - "Claire in Heaven" von Capercaillie (für die vier Kinder als Zuschauer) - "Cielo E Terra" von Nek (für Liam, Boss und Princess) zumindest klanglich... den Text versteh' ich leider nicht... aber hierbei kommt mir immer die Abschiedsszene in den Sinn. - "Goodbye" von den Spice Girls (für die Abschiede) - "Honey, I'm Home" von Shania Twain (für President, Tiger, Sheerla und Neesan)... ich denk' dabei immer an die Heimkomm-Szene... Lieder von Shania Twain passen im Allgemeinen gut zu Tiger, finde ich. ...und ohne besonderen Hintergrund, einfach, um was Ruhiges zum Hören zu haben: - Celine Dions "All the Way - A Decade of Songs" (kann mir mal einer sagen, warum man gerade in der Mitte von "My Heart will go on" wieder zu hören anfängt??) - Nenas "NENA - DIE BAND" Kapitel 15: Bemerkung zu den Namen ---------------------------------- Eine kleine Bemerkung zu den in Jura Tripper 1 1/2 over und meinen anderen JT-Fan Fictions verwendeten Namen: Die Spitznamen, mit denen die Personen im Allgemeinen angesprochen werden, entsprechen denen, die auch in der deutschen Fassung des Anime verwendet wurden, wie z.B. "Boss", "God". Die sogenannten 'vollen Namen' sind von mir und Willow mit Berücksichtigung der japanischen Originalnamen und der Buchvorlage "Zwei Jahre Ferien" von Jules Verne zusammengebastelt worden. Für die Nachnamen musste ein Neuseeland-Reiseführer und diverse Agatha-Christie-Krimis herhalten ;), wie z.B. "Doreen O'Connor" vergl. "Dole" aus "Zwei Jahre Ferien" und "Aida Lawrence" vergl. "Aida" im Japanischen. Über die japanischen Originalnamen der Charaktere herrscht meines Wissens nach hierzulande viel Unklarheit. Ein Teil wurde in einem Artikel in der alten AnimaniA genannt und auch die Fans haben Vieles dazu erfunden, interpretiert und vermischt. Die hier angegebenen japanischen Originalnamen sind von Willow in mühsamer Kleinstarbeit aus verschiedenen Kanji-Dokumenten übersetzt worden und müssten deshalb im Großen und Ganzen stimmen. Im Allgemeinen sind sie Übersetzungen bzw. "Japanisierungen" der im Deutschen bekannten Spitznamen, wie z.B. "Princess" vergl. "Hime" und "Tank" vergl. "Tanku" [Dt. Name - voller Name bei mir - Jap. Name - Name in d. Buchvorlage] President - Gordon McPherson - Sachou - Gordon Boss - Brian Garrod - Kashira - Briant God - Donivan Charteris - Goddo - Doniphan Tiger - Doreen O'Connor - Taiga - Dole Princess - Wendy Malika Adlington - Hime - Webb Doc - Starch Findlay - Hakase - Baxter Tank - Moko Giordano - Tanku - Moko Snake - Will Conly - Sune-ku - Wilcox Nerd - Cross Charteris - Otaku - Cross Crybaby - Jack Garrod - Beso - Jacques Briant Silence - Jenkins Lorrimer - Danmari - Jenkins Gatcha - Aida Lawrence - Aida - Iverson Amber Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)