Endlos von -Ray- (Story about Alec and Ray) ================================================================================ Kapitel 2: Part 2 ----------------- In Kunst mussten wir Partnerarbeit machen. Normalerweise ging die Klasse mit Ausnahme von mir immer auf. Wir waren 29 Schüler, mit Raymond jetzt 30. Weshalb sich dieser auch automatisch mir zu wandte und mich lächelnd musterte. Wir sollten einen kleinen Aufsatz verfassen, über die äußeren Details unseres Banknachbarn. Also sollten wir den Gegenüber genau erklären und genau beschreiben. Schrecklich. Die nächsten zehn Minuten durfte ich mich also von so einem quatschenden Spinner anstarren lassen. Nicht sehr berauschende Vorstellung. Seufzend drehte ich meinen Stuhl etwas in seine Richtung und begann mir systematisch Notizen zu seiner Visage zu machen. Wie gesagt, er hatte pechschwarzes Haar und wie ich jetzt endlich bemerkte, braune Augen. Seine Haare waren etwas länger und fielen ihm in die Stirn. Ähnlich wie meine. Mein Haar war auch etwas länger und abgestuft nach unten. Allerdings war mein Haar nicht so dunkel wie seins. Ich habe nussbraunes Haar. Seine Haut war braungebrannt was irgendwie ziemlich gut zu seinen dunklen Augen passte. Ansonsten hatte er eher weiche Gesichtszüge und ein kleines Grübchen am Kinn. Beim näheren Hinsehen sah er eigentlich wirklich nicht schlecht aus. Mein Gegenüber musterte mich ziemlich genau. Es war mir unangenehm, dass er mich so anstarrte und richtig gehend analysierte. Ich wusste genau was er sah. Einen ziemlich gut aussehenden Typen, mit bräunlichem, dickem Haar, das selbst ungestylt ziemlich gut fiel. Augenmerk sind im Prinzip meine Augen. Sie sind braungrün und klar. In meinen Mundwinkeln bilden sich kleine Grübchen wenn ich lächelte. Ich habe sehr feine Gesichtszüge. Auffallend gut aussehend, was mir oft genug zum Verhängnis wurde. Schon als Kind... Nach der Schule war ich froh endlich nach Hause zu kommen. Ich schmiss meine Jacke über den Stuhl und machte mir schnell etwas zu essen. Dann setzte ich mich noch für ein paar Stunden vor die Glotze. Irgendwann am Abend ging ich dann ins Bett. Ich machte mir noch eine weile Gedanken über diesen Neuen. Er war wirklich ziemlich aufdringlich auf den ersten Blick. Vielleicht ist er ja auch ganz nett, versuchte ich mir einzureden. Schließlich gab ich meine Grübelei auf und drehte mich gähnend auf die andere Seite. Ich schlief schlecht und hatte Albträume. Die ganze Nacht über träumte ich von meinem Vater. Wie immer war es schrecklich. Am nächsten Morgen wachte ich auf, und hatte das Gefühl kein Auge zugedrückt zu haben. Als hätte ich die ganze Nacht durchgemacht. Müde machte ich mich für die Schule fertig und ging zur Bushaltestelle. Endlich am Schulgebäude angekommen atmete ich erleichtert aus. Es war immer wieder ein gutes Gefühl, aus diesem Gedränge wieder herauszukommen. Ich ging ins Klassenzimmer und entdeckte gleich hinten in der letzten Reihe den Neuen, der auf seinem Tisch saß und sich angeregt mit Tina und ihrer Freundin Steff unterhielt. Langsam kam ich auf sie zu. Tina sah auf und lächelte mich an. „Guten Morgen, Alec.“ Sagte sie leise. Ich nickte ihr zu und konnte mir sogar ein leichtes Lächeln abmühen. Dann setzte ich mich auf meinen Platz und schmiss den Rucksack unter den Tisch. Gähnend schlüpfte ich aus meiner Jacke und hängte sie mir über den Stuhl. Tina und Steff gingen zurück zu ihren Plätzen und Raymond setzte sich auf seinen Platz. Neben mich! „Ich nahm an, du würdest zu den anderen sitzen?!“ gab ich zu und starrte ihn leicht verwundert an. Er erwiderte den Blick. Er sah mir dabei tief in die Augen und ich hatte das Gefühl, als könnte er mir bis auf den Grund meiner Seele blicken. Diese Vorstellung schockte mich so sehr, dass ich leicht zusammenzuckte und schnell den Blick abwandte. War ja wirklich Heavy. Martin und Marko drehten sich zu uns um und verwickelten Raymond in ein Gespräch. Ich war ziemlich erleichtert nicht mehr so angestarrt zu werden. Dieser Blick. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl gehabt, meinem Vater gegenüber zu stehen. Sein Blick damals...genauso schaurig wie der von gerade eben. Ich spürte wie sehr ich mich versteifte und versuchte meine Gedanken zu verdrängen. Das ist doch quatsch, dachte ich. Was hat mein Vater schon mit diesem Typen gemeinsam... Trotzdem entschloss ich mich, Abstand zu halten. Ich sprach nicht mehr viel mit dem Fremden. Er versuchte mich zwar öfters in ein Gespräch zu verwickeln doch ich blockte immer ab. Beruhigt ging ich danach nach Hause und schloss die Tür hinter mir ab. Müde ging ich in mein Zimmer und legte mich hin. Nach einer weile Schlief ich ein. „Ehrlich gesagt, halte ich von ihrer Idee rein gar nichts.“ Grollte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte mal wieder Therapie. Und mein Psychologe versuchte mir ernsthaft klar zu machen, weshalb er so überzeugt war, von seiner Idee, mir einen Mitbewohner an den Hals zu hetzen. „Ja, Alec. Ich weiß schon. Doch ich hab mir gedacht, dass wir einfach zu anderen Mitteln greifen müssen. Ich finde das ist eine gute Idee um dich wieder auf sozialer Ebene Kontaktfähig zu machen. Übertrieben ausgedrückt. Es ist ja nicht so, als würde ich dir nicht zutrauen mit anderen Menschen mal ein normales Gespräch zu führen, denn mit mir schaffst du das ja auch, doch es ist wichtig, das du wieder vertrauen in andere Leute fasst. Es gibt niemanden dem du uneingeschränkt dein Vertrauen schenkst. Du besitzt im Prinzip so gut wie keine Freunde. Du kennst zwar ein paar Leute, doch sie kennen dich nicht. Überhaupt nicht. Außerdem wurde ja eh schon alles geklärt. Mit dem Jugendamt und deiner Mutter. Also bringt dein Ärger eh nichts mehr. Es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Deine Sozialarbeiterin macht sich auf die Suche nach einem geeigneten Mitbewohner.“ Ich knurrte wütend und starrte zu Boden. „Sie wissen ganz genau, wie sehr ich es hasse, wenn andere Leute sich in meine Angelegenheiten einmischen.“ „Ja natürlich weiß ich das. Sonst hätte ich sicher kein halbes Jahr dafür gebraucht, um überhaupt an dich ran zu kommen. Ich kenne dich besser als du denkst. Also komm schon...erzähl mir endlich von dem neuen Mitschüler, den du vorher angedeutet hast.“ Ich seufzte und fing schließlich an zu erzählen. Ich wusste dass es mir gut tat, mit dem Psychologen zu reden. Er war zwar ein Kerl und schon Hundsalt, und doch war er der einzige Mensch, zu dem ich immer offen und ehrlich war. Selbst mit Manuela redete ich nicht sehr viel. Es lag einfach an meinem Wesen. Ich war schon immer ein ziemlich ruhiger Typ. Mein Psychologe war der einzige Mensch seit Jahren, der es geschafft hatte, meine unsichtbare Mauer, die ich mir aufgebaut hatte, zu durchbrechen. Er wusste alles. Absolut alles von mir. Er kannte all meine Probleme. Die aus meiner früheren Schulzeit, die Probleme mit meiner Mutter, das Kindheitstrauma, dass mich bis jetzt verfolgte und auch die Probleme mit meinen früheren Freunden, die mich jedes Mal im Stich gelassen hatten, wenn sie erfahren hatten, was mir damals passiert war. Damit konnte nicht jeder umgehen... Nachdem ich meinem Psychiater von dem neuem Mitschüler erzählt hatte, der mir nun schon seit drei Tagen tierisch auf die Nerven ging, mit seinen dämlichen Fragen, fragte er mich nach meinen Träumen. Bisher hatte sich dieser Raymond ja nur für Schule interessiert. Was mich anging, hatte er sich relativ zurückgehalten. Nervig war er nur heute geworden. Er war mir nach der Schule nachgerannt und hatte mir angeboten mich ein Stück nach Hause zu begleiten. Grausame Vorstellung. Während wir nebeneinander hergingen fing er plötzlich an, mich nach meinen Eltern zu fragen. „Weshalb bist du so früh ausgezogen?“ fragte er leise und sah mich interessiert an. Sein Blick war wieder so tief. Langsam nervte es mich. Je länger er mich anstarrte desto unsicherer wurde ich. „Hör auf mich anzustarren.“ Er grinste. „Wo liegt dein Problem?“ Ich stöhnte genervt. „Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anstarrt.“ Lachend klopfte er mir leicht auf die Schulter. Seine Hand blieb dort liegen und ich riss mich los. Mein Blick verfinsterte sich und ich blieb stehen. Als er checkte, warum ich so eigenartig reagiert hatte, hob er die Hände zur Besänftigung. „Sorry. Wollte dir nicht zu nahe treten.“ Ich biss die Zähne zusammen. Ich nervte mich ja selbst dafür, dass ich zu jedem so abweisend war. Doch bei diesem Raymond sah ich es langsam als berechtigt an. Seine Fragen nervten mich tierisch. „Das geht dich nichts an.“ Antwortete ich wie immer. Standartantwort bei diesem Typen...dachte ich und musste lächeln. „Lag es an deinen Eltern?“ Ich schwieg. „Oder lag es an dir?“ Kein Kommentar. „Vielleicht lag es auch an deinen Geschwistern?“ „Meine Eltern!“ unterbrach ich ihn und biss erneut die Zähne zusammen. Er machte mich wütend. „Wieso?“ „Macht das Spaß?“ „Was denn?“ „Mir tierisch auf die Nerven zu gehen?“ „Ähm..“ „Du fängst schon wieder an, dämliche Fragen zu stellen.“ „Ich interessiere mich halt dafür.“ „Was ist daran bitte interessant?“ „Ich will dich kennen lernen.“ „Woher willst du wissen, ob das auf Gegenseitigkeit beruht?“ Er lächelte. Das Lächeln war nicht beleidigt, sondern eher belustigt. „Was ist daran bitteschön lustig?“ fragte ich zornig. Seine Reaktion störte mich. Weshalb war er so ruhig? „Nichts.“ Wieder hob er beide Hände zur Besänftigung. Ich schüttelte genervt mit dem Kopf und ging schweigend weiter. Er folgte mir nach kurzer Zeit und verfiel in leichten Trab um wieder aufzuholen. Den restlichen Weg schwieg er. Kurz vor der Kreuzung, bei der ich abbiegen musste, verabschiedete ich mich schließlich und wandte mich schnell nach rechts. Er folgte mir nicht. Gott sei Dank! „Unverändert. Zurzeit wird es schlimmer. Vor ein paar Wochen war es ruhiger, “ antwortete ich schließlich auf die Frage meines Therapeuten, „...doch jetzt... Ich träume jede Nacht da-von. Heute Nacht habe ich kein Auge zugedrückt. Ich... kann es nicht steuern. Ich habe es nicht im Griff. Ich komm...einfach nicht darüber hinweg. Ich schaffe den Sprung nicht...“ „Nein Alec. Das darfst du dir nicht einreden. Die letzten Monate hast du dich so gebessert. Mit jedem Tag den du aufstehst, kommst du besser damit klar. Außerdem ist es kein Wunder, wenn du nach wie vor davon träumst. Viele in deiner Situation packen nicht mal das erste Jahr. Bei dir ist es jetzt vier Jahre her. Seit vier Jahren war nichts mehr. Seit vier Jahren lebst du nicht mehr mit ihm unter einem Dach.“ Ich nickte. „Ja...doch...jeden Tag stehe ich auf, und hab das Gefühl erdrückt zu werden. Ich...kann nicht mal normal Bus fahren, ohne dass ich Angst bekomme, mich fast einer an.“ „Das wird besser werden, glaube mir. Wenn wir glück haben und du dich noch ein bisschen mehr öffnen kannst, dann schlägt die Therapie bei dir an und wir kriegen die Kurve. Antidepressiva brauchst du ja schon seit einer ganzen weile nicht mehr, stimmt`s?“ „Ja, stimmt. Ich nehme sie bestimmt schon seit zwei Jahren nicht mehr. Manchmal wünsche ich sie mir zurück, denn manchmal glaube ich, damals ging es mir besser als jetzt, doch andererseits bin ich auch froh, nicht mehr nur von Tabletten zu leben. Man empfindet kein eigenes Glücksgefühl mehr. Wenn ich jetzt ab und zu glücklich bin, dann weil ich es selbst so empfinde, und nicht weil es mir irgendwelche Tabletten einreden.“ „Ja. Ich hab immer gesagt, dass du sie nicht brauchst. Aber dein Hausarzt war anderer Meinung.“ Ich nickte leicht. Damals war ich vier Wochen im Krankenhaus gelegen. Der Arzt hatte mir damals schon zwei Monate nachdem meine Mutter mit mir ausgezogen war, Antidepressiva verschrieben. Mit vierzehn war Tablettenabhängigkeit allerdings ziemlich zu übel. Vor zwei Jahren mit sechzehn hatte ich sie ganz von allein abgesetzt. Ich hatte sie einfach nicht mehr nehmen wollen. Und seit ich meine eigene Wohnung hatte, und nicht mehr mit meiner Mutter unter einem Dach lebte, hatte ich auch nicht mehr so den Drang zu Tabletten. Ich hatte eine Packung Aspirin daheim, mehr nicht. Und selbst die Packung hatte ich noch kein einziges Mal selbst gebraucht. Kim schluckte sie regelmäßig, wenn er sich eine Flasche Wodka gönnte, in meiner Bude. „Ich habe übrigens noch eine Überraschung für dich.“ Mein Therapeut lächelte leicht und holte ein Din A 4 Buch heraus, schwarz, eingebunden. Ich runzelte die Stirn und nahm es entgegen. „Ein Tagebuch. Ich will dass du Tagebuch führst. Keine Sorge, ich will es nicht lesen, doch ich will, dass du es zur Therapie mitbringst, damit ich sehen kann, ob du auch voran kommst. Ich überlasse dir vollkommen freie Hand. Es wäre natürlich gut, wenn du regelmäßig rein schreibst. Und ich möchte, dass du alles niederschreibst, was dich bewegt, und was deine Kindheit betrifft. Ich hoffe, dass es dir in gewisser weise auch helfen kann, alles zu verarbeiten.“ Ich sah ihn erstaunt an. Ich und Tagebuch...das passte sogar irgendwie. Eh schon von Natur aus ein ruhiger Typ würde ein Stift in der Hand ziemlich gut zu mir passen. Mit den Fingerspitzen fuhr ich über den schwarzen Ledereinband des Buches. Ich nahm mir vor, gleich nach der Therapiestunde anzufangen. Der Therapeut und ich redeten noch ein bisschen über den Neuen und den Mitbewohner, den ich bald bekommen sollte. Mir fiel ein, dass der Neue ja nach einer Wohnung suchte, und war froh, dass er nichts von meinem freien Platz in der Wohnung wusste. Der Typ war zu redselig, das hatte ich in den letzten Tagen schon zu genüge festgestellt. „Also dann, Alec. Ich entlasse dich aus meiner unerträglichen Gesellschaft, und lasse ich wieder auf die Bevölkerung los.“ Ich verdrehte die Augen. „Wohl eher die Bevölkerung auf mich.“ Mein Therapeut lachte leise und schüttelte mir die Hand zum Abschied. Lächelnd ging ich aus dem Raum und nickte den Leuten zu, die auf ihre Therapiestunde warteten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)