Tage der Erinnerungen von Stiffy ================================================================================ Prolog: Grau in Grau -------------------- ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Warnung: Shonen Ai, Depri Pairing: Original ^^ Entstanden: April 2002 - 14. Mai 2006 Disclaimer: MICH, MICH MICH!! *muhahaha* ^^* ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ Kommentar: Also wie ihr bei "Entstanden" seht, ist diese Story im Grunde schon seeeehr alt.... Ich hab damals einen Großteil geschrieben aber irgendwie habe ich sie nie zuende geführt [ich glaub ich wusste nicht, wie ich sie Enden lassen sollte].... Als ich nun vorgestern mal meinen Ordner umsortieren und ausmisten wollte, ist sie mir wieder über den Weg gelaufen (Fic: Hallo Stiffy *wink*).... und irgendwie habe ich sie dann komplett überarbeitet und wusste zudem auch noch genau, wie ich mir jetzt das Ende vorstelle...... so, und nun ist sie also fertig, sozusagen druckfrisch, und wartet darauf, von euch gelesen zu werden *lool* Ich muss dazu sagen, dass sie wohl etwas sehr depri geraten ist, aber bei dem Thema ging das einfach nicht anders... Kommentar speziell zu diesem Kapitel: Der Prolog verrät noch nicht wirklich viel... aber ich hoff ihr verzeiht mir das und lest trotzdem weiter^^ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ TAGE DER ERINNERUNGEN Prolog – Grau in Grau Ab und zu sieht man hier einen kleinen Vogel fliegen. Für mich ist er der Inbegriff der Freiheit... Einmal so frei sein. Frei wie ein Vogel. Fliegen soweit einen die Flügel tragen. Einfach genießen. Wiesen und Felder überfliegen. Die Grausamkeit der Welt hinter sich lassen. Diese grauen Mauern vergessen und sich in der farbenfrohen Landschaft verstecken. Einer unter vielen und doch einzigartig sein... Hier wo ich bin, ist niemand mehr einzigartig. Schon längst bin auch ich kein Individuum mehr, nur noch ein Teil des großen Ganzen... Einer wie sie alle, niemand anders. Jeder von uns lebt hier für sich allein, wird aber doch von den anderen mitgezogen. Keiner sticht heraus, schon lange nicht mehr. Neue versuchen oft anders zu sein, doch keiner hat es je geschafft. Selbst die von der anderen, von der ‚guten‘ Seite, sind schon längst nichts besonderes mehr. Selbst sie könnten hier sein, wie wir. Selbst sie haben Fehler gemacht. Manche sogar ähnliche wie wir und doch sehen sie sich als was Besseres, werden sie von außen als was Besseres gesehen. Sie dürfen über uns entscheiden, über uns bestimmen. Doch egal wie schrecklich es zunächst ist, nach spätestens ein paar Wochen hat man sich daran gewöhnt nur noch einer unter vielen zu sein. Ständig zu hören, man sei nichts besonderes. Ja, das Selbstwertgefühl ist einem nach ein paar Tagen geraubt. Man fühlt sich schlecht, leer, tot. Keiner interessiert sich für einen. Wann hat man hier das letzte Mal ein Lachen gehört? Wann hat man selbst gelacht? Diese Zeiten werden langsam vergessen. Man ist es nicht wert, hier fröhlich zu sein. Man ist grau wie alles Andere. Wie die Mauern, die Wände, der Boden. Sogar der eine verkrüppelte Baum in der Mitte des Platzes scheint grau. Farblos. Selbst er schenkt kein Leben mehr... Durch ihn gibt es höchstes Tote, wenn es einer von uns geschafft hat, dieser grauen Welt zu entfliehen... Wenn sich jemand den Strick genommen hat und gesprungen ist, von einem Ast des Baumes. Doch selbst dann ist man nur einer unter vielen. Ob nun auch körperlich tot oder doch nur seelisch, wenn die Hülle gerettet werden konnte... Es ist zum Alltag geworden, zu hören, jemand hätte es wieder versucht. Wetten, ob er es schafft oder nicht, werden nur noch selten abgeschlossen. Eigentlich ist es schlichtweg egal. War einer dieser Aasgeier – wie die ‚Guten‘ bei uns heißen – schnell genug, ist der, der dieser Welt entfliehen wollte, kurz darauf wieder bei uns. Waren die Aasgeier zu langsam, da sie schlichtweg keine Lust hatten zu helfen, ist wieder einer einen einsamen Tod gestorben. Doch nicht nur der Tod ist einfach hier, auch das Leben. Und das, obwohl hier doch so viele sind. Man ist dennoch allein, Tag und Nacht, egal, von wie vielen man umgeben ist. Innerlich ist man allein. Keiner von uns hat auch nur einen da draußen, der sich für ihn interessiert. Anfangs vielleicht, doch kurz darauf ist auch diese Person weg. Da können es Mutter, Vater, Geschwister, Freund oder Freundin sein, spätestens nach einem Monat wenden auch die Nettesten sich ab. Vielleicht haben sie Angst, auch wie so wir zu werden. Oder sie haben einfach keine Lust mehr, sich um uns zu sorgen... Schlussendlich hat niemand mehr jemanden. Anfangs tut es weh, doch dann wird das Gefühl betäubt und man hört auf, darüber nachzudenken. Auch daran, hier wegzukommen, denkt bald keiner mehr. Die Zeit ist einfach zu lang. Manche sitzen schon ewig hier fest, manche werden noch ewig hier bleiben. Andere nur eine halbe Ewigkeit, doch kaum einer weniger. Allerdings, wirklich beneidet werden auch diese nicht, denn jeder hier kennt die Grausamkeit des Lebens da draußen. Sie hat einen hier her gebracht, hier gefesselt. Da draußen wie auch hier drinnen ist es grau. Einzig allein die Vögel werden die Farben sehen, nur sie sind dazu im Stande, denn sie sind frei. Freier als jeder einzelne da draußen. Denn Menschen bleiben Menschen... Keiner wird je die bunten Farben wieder sehen. Mit den Jahren vergisst man sie. Und im Stande, etwas anderes als Grau zu sehen, ist nur ein Kind. Es kann noch lachen und fröhlich sein, doch bald wird auch das fröhlichste Kind dies verlernen. Bald, Tag für Tag, nähert es sich mehr dem Kollektiv an, wird ein Teil davon. Wieder ein Individuum weniger in dieser grauen Welt. Grausam ist es hier, sogar an den schönsten Tagen, wenn die Sonne wie heute die Wolken vertreibt. Es ist wieder Frühling. Unser kleiner verkrüppelter Baum beginnt wieder zu blühen, wie jedes Jahr. Doch von Mal zu Mal werden es weniger Blüten und bald werden auch die letzten Vergangenheit sein. Der Boden hier ist und bleibt grau, dafür wird gesorgt. Kein Moos wird hier je wachsen, kein Gras. Es soll grau bleiben, perfekt zur Welt hier drinnen passen. Interessieren von uns tut es längst keinen mehr. Jeder hat sich an das Grau gewöhnt, an das Grau, welchen grauer ist als draußen. Das einzige, was dies vertreiben kann, ist der Sonnenaufgang. Einen Moment wird grau zu goldrot, bis dies wieder der Alltäglichkeit weicht. Nur selten sehen wir den Sonnenaufgang, und den Sonnenuntergang sowieso nicht. Selbst wenn man ihn von hier erkennen könnte, wir haben nie die Chance dazu. Immer ist unser Tag schon vorher vorbei. Unser Tag, aber nicht der Tag der Aasgeier. Diese gehen mit hämischen Grinsen ihren Weg. Versuchen etwas zu sein, schaffen es trotzdem nicht. Nur einer hat es je geschafft... und erst da beginnt meine Geschichte wirklich. Denn erst damals habe ich angefangen zu leben, ein zweiten Mal zu leben, auch wenn ich kein Kind mehr war. Es war Winter. Ein Winter und ein Frühling, der genau war wie jetzt. Nur der Kalender zeigt, dass seitdem vier Jahre vergangen sind. Vier Jahre seit diesen paar Monaten, in denen ich wirklich wieder leben durfte. Damals wusste ich wieder, was es heißt Farben zu sehen und was es heißt zu lächeln. Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich, ob es vielleicht doch erwachsene Menschen gibt, die diesem Grau entfliehen können, so wie ich damals. Ob sie Farben sehen können, wenn sie das fühlen, was ich damals gefühlt habe? Bei mir hing alles mit einer Person zusammen, mit einem dieser Aasgeier. Er war anders als die anderen. Ganz anders. Er war nicht genauso grau wie die anderen, nicht für mich. Für mich strahlte er Farben aus, nicht diese graue Alltäglichkeit. Er war etwas besonderes... Und er schaffte es für kurze Momente mir klar zu machen, dass ich auch etwas besonderes sei. Doch nicht so grau und kollektiv wie alle anderen. Heute, knappe vier Jahre später, ist es wieder schwer geworden, so zu denken. Doch beginnen sollte ich nicht am Ende, sondern ganz am Anfang... PROLOG - ENDE Kapitel 1: Scherben von mir --------------------------- Alles Verhängnisvolle, was je mein Leben bestimmte, was auch jetzt noch meine Situation ausmacht, hat vor vielen Jahren mit meiner ersten Zigarette begonnen. Wie alt ich war? Elf... Vielleicht Zwölf. Ich habe sie geraucht, weil alle anderen auch rauchten. Sie sagten, ich sei ein Feigling, ein Außenseiter, wenn ich es nicht tun würde, also rauchte ich. Ich wollte dazugehören, wollte einer von ihnen sein, kein einzelner Idiot. Wie froh wäre ich heute, wenn ich nicht auf sie gehört hätte, wenn ich ein einzelnen Idioten geblieben wäre. Letztendlich wäre es mir damit wohl um einiges Besser ergangen... Doch ich begann zu rauchen... und schnell stahl ich auch und war manchmal dabei wenn jemand verprügelt wurde... schlug dann und wann selber zu. Mit einem mal, ganz plötzlich, waren alle Skrupel, die ich vielleicht irgendwann besaß, einfach verschwunden. Kurz: Ich machte, was die anderen machten. Hätte ich je ‚nein‘ gesagt, wäre ich ein Außenseiter und ein Weichei gewesen, und das wollte ich auf keinen Fall. Doch Zigarette waren uns schnell nicht mehr genug und jedes Wochenende besoffen sein, war auch zu wenig. Irgendeiner schleppte Exctasy an und wir waren alle neugierig, auch ich. Meine erste Pille nahm ich mit 13, doch es blieb nicht bei dieser einen. Bald wurden sie alltäglich, bei mir, wie auch bei den andren. Ohne Exctasy ging es mir scheiße, mit gut. Ja, ich war süchtig und vollkommen abhängig von dem Zeug, wie auch von der Clique. Ohne sie wäre ich nichts gewesen, doch mit ihnen fühlte ich mich stark. Ich bildete mir ein jemand zu sein, und war doch kleiner, dümmer und unbedeutender als mein fünfjähriger Bruder, den ich begann zu verachten. Er wurde mir zu einem Klotz am Bein, was er sehr schnell merkte. Er wehrte sich gegen meine Beschimpfungen und schließlich auch gegen meine Schläge, doch ich hörte dennoch nicht auf damit. Ich schlug ihn immer öfter und ich schlug bald auch Fremde ohne weiteres, auch wenn sie mir nichts getan hatten. Ganz früher war ich nicht aggressiv, im Gegenteil, ich konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, war eher eine Art Muttersöhnchen, doch die Drogen machten mich zu einem andren Menschen. Einem gewalttätigen, ekelhaften Menschen. Anfangs war es noch eine Maske, später wurde es mehr. Mein wahres ‚ich‘ verschwand und es ist für Jahre verschwunden geblieben... Auf Exctasy folgte zwei Jahre später Kokain. Der schwache Stoff reichte uns einfach nicht mehr. Die Schule vernachlässigte ich schon lange und es war mir egal. Ich kam nach Hause wann ich wollte und ging wann ich wollte. Mein Zimmer sah schlimmer aus denn je und auch ich selbst sah schrecklich aus. Doch ich fand mich toll wie ich war, fand es gut, akzeptiert oder gar ängstlich beobachtet zu werden. Es gab mir das Gefühl, stärker als alle anderen zu sein. Ja, ich dachte ich sei etwas besseres. Ich fühlte mich cool, und dabei war ich schwach. Und wegen diesem ‚starken’ Leben, habe ich schließlich alles verloren, was ich je hatte. Über kurz oder lang wandt ich mich von meiner Familie ab, obwohl sie, wie ich heute bestens weiß, eigentlich die einzige Liebe in meinem Leben darstellte. Ich stritt mich immer wieder mit ihnen, sobald wir uns nur sahen und irgendwann war es nicht mehr wirklich meine Familie für mich. Ich wollte von ihnen nichts mehr wissen. Irgendwann warf mich mein Vater aus der Wohnung. Ob er realisierte, dass er damit eigentlich genau das Falsche tat, dass er mir so niemals helfen könnte? Oder war ich ihnen schon so egal geworden, dass es ihnen nichts ausmachen würden, wenn ich auf der Straße verreckte? Zu der Zeit war ich 15, schon lange drogenabhängig und nun auch noch obdachlos. Mir machte es nichts. Zu dem Zeitpunkt habe ich meine Familie gehasst und war froh, nichts mehr mit ihnen zutun haben zu müssen. Alles was ich brauchte war Drogen und ab und zu etwas zwischen die Zähne. Was ich nun noch besaß, war ein Schlafsack und die Kleider an meinem Leib, sowie ein wenig Geld und einen Rucksack mit ein paar Habseeligkeiten. Bald besaß ich aber auch davon nichts mehr außer meine Kleider, da ich alles für Drogen weggegeben hatte. Ich schlief entweder im U-Bahn-Bahnhof oder auf irgendeiner Parkbank. Und ja, ich fand es toll, so wie es war. Ich fühlte mich wohl, solange ich die Drogen hatte, vergaß, was ich eigentlich für ein beschissenes Leben führte. An der Nadel hing ich kurz nachdem ich das erste Mal Koks gezogen hatte. Ich fühlte mich unabhängig und frei, obwohl ich in meiner Drogensucht gefangen war wie in einem Käfig mit elektrischen Gittern. Ein Wunder, dass ich noch lebe und nicht schon längst den goldenen Schuss hinter mir habe, wie andere, die ich kannte. Meine Clique bestand zu Anfang aus zehn Jungen und zwei Mädchen, dann Jahre später nur noch aus fünf Jungs – mich inbegriffen. Wie viele von den vieren jetzt noch am Leben sind, weiß ich nicht. Wahrscheinlich keiner, außer sie leben heute so wie ich, was ich ihnen nicht wünschen würde, denn lebenswert ist auch das nicht gerade. ~ * ~ Meine zittrigen Finger greifen nach einer Zigarette. Ja, ich rauche immer noch. Ich bin immer noch süchtig nach Nikotin, aber auch nur danach. Richtig drogensüchtig bin ich nicht mehr. Vielleicht würde es nun meine Schmerzen heilen, die ich empfinde... aber ich habe es ihm versprochen und das Versprechen will ich halten. Schnell schiebe ich die Zigarette zwischen meine schmalen Lippen und zünde sie an. Dann lasse ich mich langsam an der Wand, an der ich Tag für Tag stehe, zu Boden sinken und schließe die Augen. Genüsslich stoße ich den Rauch aus. Eigentlich würde ich auch gerne damit aufhören, doch es geht nicht. Dazu bin ich einfach zu schwach. Außerdem macht es eh keinen Unterschied mehr, meine Gesundheit ist im Arsch. ~ * ~ Damals habe ich das nicht begriffen. Ich habe nicht verstanden warum mich die Leute argwöhnisch und herablassend begutachten, oder einfach angewidert woanders hinsahen, wenn sie mich sichteten. Wie erschreckend bleich ich war, wusste ich nicht. Ich war schon immer eher der helle Typ, doch früher sah ich wenigstens noch gesund aus. Zu der Zeit jedoch war dies schon lange nicht mehr der Fall. Die vergangenen Jahre hatten mich krank und bleich gemacht. Und abgemagert war ich auch, doch wirklich Hunger bekam ich nur alle paar Tage, da ich mich bald daran gewöhnt hatte, nichts zu essen zu haben. Das wichtigste für mich waren Drogen. Jeden Tag spritzte ich mir eine Dosis, oft auch zwei. Klar ging das Geld und darum hatte ich bald nichts mehr. Schnell war meine Not groß. Ich begann zu betteln und zu stehlen. Anfangs konnte ich meine Drogensucht ja noch durch das Geld meines Vaters finanzieren – wie ich fand, auch das Einzige wozu er gut war – doch nach meinem Rausschmiss ging das nicht mehr. Irgendwann, als ich halb nüchtern auf einer Bank lag, kam einer meiner ‚Freunde’ vorbei und fragte ob ich Geld verdienen wolle. Er selbst ging schon länger arbeiten und konnte dadurch seine Sucht super finanzieren. Wo wusste ich nicht... Doch natürlich stimmte ich zu. Wir gingen durch einige abgelegene Gassen und kamen schließlich an ein großes Gebäude. Es war verwittert und fürchterlich dreckig, nur aufgefallen war mir das damals nicht, denn verwittert und dreckig war ich ja auch, genau wie die Welt in der ich mittlerweile lebte. Ich weiß noch genau wie es aussah, als wir einen größeren Raum betraten. Zunächst war ich geschockt. Auch hier war es dreckig, doch das war es nicht, was mich störte. In dem Raum standen vielleicht sechs Betten, ein paar Sofas, Stühle und sonstige Möbelstücke. Vier Betten und ein Sofa waren besetzt, mit Leute, die es auf die unterschiedlichste Art und Weise trieben. Überall um mich herum hörte ich Stöhnen und Schreie. Zu der Zeit war ich 16 und hatte noch nie Sex gehabt, hatte noch nicht mal geküsst. Mir wurde schlecht. Ich starrte meinen Kumpel an und er zog mich wieder aus dem Zimmer hinaus. Dann erklärte er mir, dass er hier arbeitete. Man müsse einfach die Leute befriedigen und bekäme einen angemessenen Preis für diesen Dienst. So kam ich zur Prostitution. Erst wollte ich nicht, doch als ich realisierte, dass ich anders keine Drogen bekommen könnte, fing ich an, dort zu ‚arbeiten’. Tagtäglich sollte ich nun mit wildfremden Leuten schlafen, hauptsächlich mit Männer. Ehrlich gesagt ekelte es mich an, doch ich gewöhnte mich daran. Ich musste die Kundschaft verwöhnen und das tat ich. Es war schrecklich. Du fickst mit irgendwem und etwa zwei Meter entfernt sind andre am Gange. Es kam vor, dass alle Betten und Sofas besetzt waren. Jeder konnte jeden sehen und hören, das war das unerträglichste, ekelhafteste. Meine ‚Kollegen‘ und ‚Kolleginnen‘ waren allesamt Drogenabhängig und sahen dementsprechend ziemlich scheiße aus. Dass ich selbst so aussah, wusste ich nicht. Dennoch hatte ich eigentlich ziemliches Glück – wenn man da von Glück sprechen kann – denn ich hatte ziemlich viele Kunden. Die meisten standen auf mein ungewöhnliches Aussehen – blond und blauäugig fand man hier nur selten. Wenn man es genau nimmt, hatte ich wirklich ein gutes ‚Einkommen’ und so konnte ich mir an so manchen Tagen zweimal was spritzen und für Essen war auch noch genügend Geld über. Doch egal, wie ich mir das alles zu verherrlichen versuchte, war damals wohl die schlimmste Zeit in meinem jungen Leben angebrochen... Ich hatte mich lange nicht mehr im Spiegel gesehen, denn instinktiv mied ich den Blick in das spiegelnde Glas. Doch irgendwann kam dann die Konfrontation. Ich war damals knapp 17 Jahre alt und hatte mir grad wieder auf einer Bahnhofstoilette eine Spritze gesetzt, als ich mich plötzlich im Spiegel sah. Ich starrte hinein und dachte einen anderen Menschen zu sehen. Meine blonden Haare waren dreckig, verklebt und reichten mittlerweile schon bis zu den Schultern. Meine Haut war bleich und ebenfalls dreckig. Jeder Ausdruck des Lebens war aus meinem Gesicht gewichen und ich sah aus wie eine wandelnde Leiche. Auch mein Gesicht war eingefallen. Doch das Schlimmste waren meine Augen. Früher glänzten sie wie Diamanten – sagten zumindest einige – und dieses Glänzen war verschwunden. Sie schienen stumpf. Zudem waren sie nun blau umrahmt und sahen müde, krank aus Voller Wut trommelte ich mit dem Fäusten auf mein Spiegelbild. Worauf ich wütend war, weiß ich nicht genau. Auf mich selbst? Wahrscheinlich. Ich bekam irgendwas zu fassen und mit einem Schlag zersplitterte der Spiegel in duzende Teile. Ich sank am Boden zusammen und starrte ins Leere. Erleichtert war ich, dass das Grauen im Spiegel verschwunden war. Kleine Bluttropfen zersprangen auf den Scherben, doch ich realisierte nicht, dass ich mich geschnitten hatte. Ich beobachtete das Blut, wie es den Weg meine Hand hinunter bis auf den Boden oder die Scherben suchte, und war fasziniert. Wie in Trance griff ich nach einer Scherbe, setzte sie an meinen Unterarm und schnitt hinein. Es war nur ein kleiner Schnitt, doch noch heute hab ich dort eine Narbe. Das Blut floss langsam aus der Wunde und ich beobachtete es dabei. Es tat nicht weh, kein bisschen. Vielleicht wusste ich auch gar nicht mehr was Schmerz war. Ich hatte mein Denken im Zusammenhang damit ausgeschaltet. Denn es tat weh, wenn einer der Männer mich fickte, sie waren grob und passten nicht auf, ob sie mich verletzten. Doch da ich an das Geld wollte, ertrug ich den Schmerz, verdrängte und vergaß ihn. Daher merkte ich wohl auch diesen Schnitt in meine bleiche Haut nicht. Wahrscheinlich hätte ich mich an jenem Tag sogar umgebracht – nicht aus dem Willen heraus, sondern eher weil ich zu fasziniert war, das Blut zu beobachten – doch soweit kam es nicht, denn plötzlich kam ein Mann rein, starrte mich, der ich mitten in den Scherben saß, erschrocken an. Er riss mich schließlich vom Boden hoch. Wie von weit weg starrte ich ihn an. „So geht es nicht Junge! Löffle die Suppe, die du dir da eingebrockt hast, gefälligst wieder aus, anstatt einfach so die Kurve zu kratzen!“, schrie er, obwohl er doch eigentlich gar keine Ahnung hatte, und schmiss mich aus der Toilette. Ich glaube, seine Worte werde ich nie vergessen, auch wenn sie mir damals nur ein bisschen halfen. Sie hielten mich am Leben, und auch wenn ich es dem Mann wohl nie sagen kann, so danke ich ihm. Zwar hat er mir nicht geholfen, aus dem Sumpf der Drogen zu entschwinden, jedoch wäre wohl alles schon da zuende gewesen, wäre er nicht hereingekommen. Dann hätte ich nie den Menschen kennen gelernt, den ich liebe und bewundre wie niemanden sonst. Doch besser wurde mein Leben in den Monaten, Jahren dennoch nicht, im Gegenteil. Mein erster Arbeitstag als Prostituierter war wohl erst der Anfang gewesen. Tagsüber befriedigte ich die Kundschaft und nachts, nach einer Dosis, war ich manchmal mit ‚Freunden’ oder alleine unterwegs, brach in kleinere Läden ein, überfiel Leute und verprügelte andere... und alles nur, weil ich unzufrieden mit mir selbst war, auch wenn ich das nie zugegeben hätte. Nach und nach realisierte ich zwar, dass es so nicht weitergehen konnte, doch es ging trotzdem weiter, denn ich konnte nichts tun. Wie hätte ich diesem Sumpf auch entkommen können? Ich war doch eigentlich vollkommen allein. Legal machte ich so gut wie gar nichts mehr, dennoch war ich nie von der Polizei geschnappt worden, auch wenn es manchmal erdenklich knapp war. Dabei war ich schon längst bekannt bei den Polizisten der ganzen Stadt. Sie suchten mich, und fanden mich jahrelang nicht. Es gab so viele Dinge, für die sie mich bestrafen wollten: Einbruch, Diebstahl, Überfall und vielen Körperverletzungen. Wie ich es schaffte, ihnen so lange zu entkommen, verstehe ich heute selbst nicht mehr. Doch auch ich beging irgendwann einen Fehler. An dem Tag hatte ich weder Spritze, Geld noch Kundschaft und so war ich halb am Durchdrehen. Ich stürmte in einen Laden und hielt dem Kassierer ein Messer an die Kehle. Er gab mir, was ich wollte und ich rannte wieder davon. Da geschah es. Ohne hinzusehen lief ich geradeaus und ein kleines Mädchen auf ihrem Fahrrad musste mir ausweichen. Sie verlor das Gleichgewicht, geriet auf die Straße und wurde von einen Auto erfasst. Geschockt blieb ich stehen und starrte zur Straße. Schnell bildete sich eine rote Pfütze um das Mädchen und Leute kamen herbeigerannt. Niemand beachtete mich und ich hätte problemlos verschwinden können, doch es ging nicht. Meine Beine waren wie aus Stein und meine Augen hingen an dem leblosen Körper des Mädchens. Sie verlor ihr Leben bei dem Unfall. Die kleine Jenny wurde gerade mal sechs Jahre alt. Eine Zeit, in der man noch sorglos bunte Farben sehen kann, fröhlich sein und lachen kann. Ich verfluche mich seit dem Tag wegen diesem Unfall. Es war meine Schuld, dass Jenny ihr so junges Leben verlor, und es gibt dafür keine Entschuldigung. So wurde ich mit 19 zum Mörder – wenn auch nur fahrlässig – und vor dem ‚Titel‘ flüchte ich nicht. Ich weiß was ich getan habe, ich weiß, dass ihre Eltern meinetwegen ihr Kind verloren haben. Ich weiß, dass sie meinetwegen leiden... und zu gerne, würde ich alles rückgängig machen, auch wenn ich weiß, dass das niemals gehen wird. Als ich da an der Straße stand und dem Mädchen bei ihrem letzten Kampf zusah, erinnerte ich mich wieder an den Satz, den der Mann in der Toilette zwei Jahre zuvor zu mir gesagt hatte ‚Löffle die Suppe, die du dir da eingebrockt hast, gefälligst wieder aus.‘ Damals schwor ich mir eines: ich wollte mit den Eltern der kleinen Jenny reden, mich bei ihnen entschuldigen, obwohl sie mir verständlicherweise nie verzeihen können... ich würde mich sogar von ihnen umbringen lassen, wenn es ihnen half. Und diesen Schwur halte ich noch immer aufrecht. Irgendwann, werde ich zu ihnen gehen! An dem Tag konnte auch die Polizei über mich siegen. Ich stand noch regungslos da, als ich die Sirenen hörte. Ich wollte wegrennen, doch ich konnte nicht. Ich glaube auch die Polizisten waren mehr als erstaunt, als sie mich festnehmen konnten und ich mich kein bisschen wehrte. Ich war wie in Trance und flüsterte immer wieder ‚Es tut mir leid‘ vor mich hin. Sie brachten mich aufs Revier. Dort befragte mich einer der Polizisten. Er wollte wissen warum ich Drogen nahm. Er schrie mich an, beschimpfte mich, gab mir sogar verbotenerweise eine Ohrfeige, doch ich reagierte nicht ein einziges Mal auf ihn. Ich nahm mein erstes Verhör wie aus weiter Ferne wahr. Schließlich sperrten sie mich in eine Zelle. Das war meine erste Nacht hinter Gittern, doch darauf sollten noch unzählige folgen. In jener Nacht bekam ich allerdings nicht wirklich mit, dass ich eingesperrt war. Ich kauerte mich nur in eine Ecke und sah noch immer Jennys Blut vor mir. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich etwas bereute, dass ich getan hatte, doch helfen sollte mir diese Einsicht nicht. Denn spätestens als ich am ganzen Leib zu zittern begann, mir alles weh zu tun schien, waren alle Gedanken daran, die Drogen vielleicht nun wegzulassen, sofort wieder vergessen. Wenige Tage später saß ich vor Gericht. Seit ich festgenommen wurde, hatte ich kein einziges Wort gesprochen und hatte es auch weiterhin nicht vor. Mein Urteil lautet: Zehn Jahre. Es hieß, bei guter Führung vielleicht auch kürzer, doch daraus wurde nichts. Ich bin noch immer hier. Es ist kein Gefängnis, in dem ich mich befinde, sondern in eine Mischung aus Therapiezentrum und Knast. Hier sitze ich nun seit etwa acht Jahren fest und werde noch lange hier bleiben... Hier ‚lebe‘ ich... und hier habe ich zum ersten Mal geliebt. Teil 1 - Ende Kommentar: ich hoffe, ich hab es geschafft, das ganze eiiiiinigermaßen realistisch über die Bühne zu bekommen... wenn nicht, verzeiht es mir... hab so was leider (^^*** oder besser gesagt zum Glück!) selbst nie erlebt, weshalb ich es vll nicht 100% naturgetreu wiedergeben kann *g* Kapitel 2: Einfach nur du... ---------------------------- Langsam öffne ich meine Augen und ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette, bevor ich sie am Boden ausdrücke. Meine Augen überfliegen den Platz. Es ist nur ein kleiner Platz, vielleicht 80 – 100 m², und in der Mitte steht der kleine verkrüppelte Baum. Ich bin hier einer unter vielen. Insgesamt sind in dieser Anstalt im Moment knapp 90 Insassen, soviel ich weiß. Von den Aasgeiern – oder besser gesagt, den Wärtern – gibt es fünfzehn. Nur vier davon kenne ich seit Anfang an. Diese fünfzehn Personen interessieren sich nicht für uns, sie wollen nur ihre Arbeit erledigen, um am Ende des Monats ihr Geld zu bekommen. Während ich ein solch ‚langweiliges’ Leben früher verabscheute, so beneide ich sie heute. Wir Insassen haben eigentlich jeden Tag den gleichen Rhythmus. Schlafen dürfen wir bis 7 Uhr, dann werden wir in einen der vier großen Waschräume geführt und haben dort etwas Zeit, bis es um halb acht Frühstück gibt. Dann bis Mittags um zwei Uhr müssen wir arbeiten und/oder haben unsere Therapiestunden. Arbeiten gibt es hier viele – Wäscherei, Küche, Putzdienst, usw. – mittlerweile habe ich sie schon alle mal gemacht. Wie viele Therapien man hat, ist unterschiedlich. Besonders schwierige Insassen haben fast täglich eine Therapiestunde, die leichtesten Fälle, von denen es hier kaum welche gibt, vielleicht eine in der Woche. Der Durchschnitt ist vier Mal pro Woche. Zu Anfang durfte ich jeden Tag dort antanzen... mittlerweile nur noch zwei Mal in der Woche. Die Therapiestunden laufen immer unterschiedlich ab. Mal versucht der Therapeut dich auszuquetschen, mal sollst du malen, was dir gerade einfällt oder eine komische Grafik deuten. Dann wieder sollst du einfach erzählen – wozu ich persönlich immer umsonst gezwungen werde – und manche lassen sich auch ganz besondere Sachen einfallen. Sie spielen mit dir, lesen dir etwas vor – manchmal aus der Bibel, einem Geschichts- und ab und zu aus einem Kinderbuch – und so weiter. Jeder hat seine eigne Methode, um die Insassen aus der Reserve zu locken. Doch schaffen tun es nur wenige. Manche von uns haben, seit sie hier sind, ein und denselben Therapeuten, andere haben schon mehr als die Hälfte durch. Ich persönlich bekam anfangs ständig einen Neuen, da keiner mit mir klar kam. Nun habe ich ein und denselben Psychodock schon seit zwei Jahren. Ob er mit mir klar kommt? Eigentlich schon, aber das auch nur, da mir mittlerweile alles egal ist. Interesse an den Stunden zeige ich heute genauso wenig wie früher, nur bin ich nicht mehr so aggressiv und launisch. ~ * ~ „Einschluss“, ertönt es plötzlich. Ist es also wieder soweit. Langsam drücke ich mich vom Boden ab und gehe mit ein paar anderen hinter einem Aasgeier her in das graue Gebäude. Nun müssen wir in unsere Zellen und kommen erst morgen zum Frühstück wieder raus. Es gibt Einzelzellen und Doppelzellen. Kurz nachdem ich meine betreten habe, höre ich hinter mir das Klicken des Schlosses. Ich bin also wieder eingesperrt. Ich hab zwar nur eine kleine Zelle, doch wenigstens bewohne ich sie allein. Das war seit Anfang an so. Ich habe einen Schrank für meine wenigen Kleidungen, ein Bett mit einem kleinen Nachtschränkchen und an der andren Wand steht ein Schreibtisch. Zwei Türen gibt es hier. Eine führt nach draußen in die Halle, die andere in ein winziges Bad. Dort gibt es ein Klo und ein Waschbecken. Fenster hat meine Zelle nur eines, genau wie alle andren. Es ist nur ein kleines Loch und natürlich ist es vergittert, doch ich kann es selbst öffnen um wenigstens frische Luft zu bekommen. Dies ist mein kleines eigenes Reich und ich habe es mir so gemütlich wie möglich gemacht. Ich lasse mich auf das kleine Bett fallen. Aber nun zurück zum Ablauf meines Tages... ~ * ~ Wenn es zwei Uhr ist, gibt es Mittagessen im großen Esssaal. Nach dem Mittagessen hat man frei, bis es dann irgendwann ‚Einschluss‘ heißt. Nachmittags kann jeder machen was er will, vorausgesetzt man hat keine weitere Therapiestunde. In dieser Zeit nun gibt es den kahlen Außenhof und eine große Halle mit ein paar Unterhaltungsmöglichkeiten. In einer Ecke steht ein Fernseher, der gerade mal drei Programme empfängt und der eigentlich kaum besetzt ist. Ein Stück weiter steht ein Flipper und daneben ein Kickertisch. Dann gibt es noch eine Tischtennisplatte und ein Regal mit verschiedenen Büchern. Diese sind fast alle langweilig. Ich habe mittlerweile jedes einzelne gelesen in den letzten vier Jahren, aber begeistert hat mich kaum eins... und neue kommen fast nie dazu. An die Halle grenzen die Zellen. Sie sind geöffnet und man kann Nachmittags rein und raus wie man will. Ich bin oft hier drinnen, denn hier habe ich meine Ruhe, doch genauso bin ich auch oft draußen auf dem Platz und hänge dort meinen Gedanken nach. Am Anfang meiner Zeit hier kreisten meine Gedanken um Drogen und Ausbruch. Letzteres habe ich nie versucht, doch ersteres ist dafür umso leichter zu bekommen. Alle hier drinnen haben Drogenprobleme und manche schaffen es tatsächlich loszukommen, von dem Zeug, doch ich war lange Zeit nicht stark genug dafür. Schnell bekam ich heraus, wie ich auch weiterhin an meine Drogen kommen konnte. Es gibt eine Schwachstelle in diesem Knast, auch wenn ich selbst nicht weiß, welche es ist. Natürlich bemerken auch die Wärter, wenn weiterhin Drogen konsumiert wurden, doch sie können nicht wirklich etwas dagegen machen. Bisher hat keiner es geschafft, die Schwachstelle zu finden. Aber ich glaube den meisten ist es ohnehin egal und sie überlegen gar nicht erst, was sie dagegen machen könnten. Wie schon erwähnt, gibt es hier auch viele Tote – bestimmt einen pro Woche – doch das liegt dann meist nicht an den Drogen, sondern daran, dass besagter Insasse hier drin verrückt wird und Selbstmord vorzieht. Ich habe auch schon öfter daran gedacht – besonders am Anfang – doch versucht habe ich es nie. Warum weiß ich selbst nicht. Ich ‚lebe’ hier tagein tagaus, vegetiere wie all die andren vor mich hin. Eigentlich ist es wahnsinnig ätzend, aber dennoch versuchte ich bisher nie, dem auf diese Weise ein Ende zu setzen. Dabei ist es langweilig und ich habe Lust auf nichts. Ich esse nur, weil ich essen muss, trinke nur, weil ich trinken muss... und schlafe wann immer ich müde genug bin, um dem langweiligen Trott zu entgehen. Von meiner Familie habe ich seit meinem Auszug nichts mehr gehört. Ich weiß nicht mal, ob sie wissen, dass ich hier drinnen sitze. Wahrscheinlich würde es sie nicht einmal interessieren. Mein kleiner Bruder lebt sein eignes Leben und hat mich bestimmt schon vergessen, wenn er sich überhaupt je an mich erinnerte, und meine Eltern führen wahrscheinlich immer noch ihre unglückliche Partnerschaft. Klar, mittlerweile bereue ich, dass ich damals so ungerecht zu ihnen allen war, doch mir fehlt bis heute der Mut, mit ihnen zu reden. Außerdem weiß ich nicht, was es bringen soll. Sie wollen doch eh nichts mehr von mir wissen, genau wie die Familien und Freunde der anderen Insassen hier drinnen. So was erlebt man doch immer wieder... viel zu oft. In der Anfangszeit dachte ich über das alles nicht nach. Ich hatte weder Freunde noch wirkliche Feinde. Mein eigentlicher Feind waren die Drogen, doch nach ihnen sehnte ich mich auch als Einzigstes. Ich konnte dagegen nichts machen – Wollte ich das überhaupt? Sie ließen Illusionen in mir entstehen. Ließen mich Freiheit fühlen, obwohl ich nie frei war. In gewisser Weise brauchte ich die Drogen sogar um nicht durchzudrehen. So nahm ich sie weiterhin einfach um flüchten zu können. Wenn ich unter Drogen stand, verfiel ich in einen Rauschzustand aus dem ich meist lange nicht erwachte. Ich glich zunehmend einer lebenden Leiche, das wusste ich ohne es zu sehen. Den Spiegel hatte ich gleich am ersten Tag aus dem Fenster geworfen und ich vermied jeden Blick in die Glasscheiben, wenn die Sonne so stand, dass ich mich darin hätte spiegeln können. Selbst im Waschraum tauchte ich unter meinem Spiegelbild hinweg. Und doch, trotz all dem, was ich in den letzten Jahren geworden war, gab es jemanden, der merkte, dass ich nicht nur ein kaputter wertloser Mensch bin, der mir für einige Zeit das zurückgab, was ich schon längst vergessen hatte: Den Glauben an mich selbst. Für diese Momente, wo ‚Er’ da war, existierten ich seit langem zum ersten Mal wieder. ~ * ~ Mein Finger streicht sanft über ein kleines Foto an meiner Wand. Darauf ist die Person, die mir für eine kurze Zeit mich selbst zurückgegeben hat. Damals hatte ich schon lange allen Glauben in die Menschen verloren... damals. Die Aasgeier waren für mich wie wilde Tiere, die einen am liebsten töten würden, es jedoch nicht taten, weil sie es nicht durften... und auch die Therapeuten verabscheute ich zutiefst, einfach nur weil es sie gab, weil sie so unglaublich fromm taten und uns für nutzlose Idioten hielten. Nie hätte ich gedacht, dass mir eines Tages einer von ihnen besonders werden würde. Ich glaubte ja nicht einmal mehr daran, dass es überhaupt noch nette Menschen gab. Doch aus Fehlern lernt man und so lernte auch ich drei Jahre nachdem ich hier eingesperrt wurde. ~ * ~ Es begann im Winter vor vier Jahren, als ich 22 war. Der Winter, der mich zum zweiten Mal in meinem Leben von Grunde auf ändern und prägen sollte. Es war ein Tag wie jeder andere. Ich hatte mir mal wieder eine Spritze gesetzt und wartete darauf, zu meinem neusten Therapeuten gebracht zu werden. Ich wurde wie jeden Tag zu einer der weißen Türen geschliffen, hinter denen die Therapiestunden abgehalten werden. Man hatte mir schon gesagt, dass ich wieder einmal einen neuen Therapeuten bekommen sollte. Es interessierte mich reichlich wenig und ich war mir sicher, spätestens nach ein paar Monaten würde auch er es mit mir aufgeben, wie alle vor ihm. Doch er war anders, und das merkte ich schnell. Ich wurde in das Zimmer geschupst und stand mitten im Raum. Vor mir stand einer dieser kahlen Schreibtische und ein Stuhl für den jeweiligen Insassen. Auf der anderen Seite des Tisches saß ein Mann. Als die Tür geschlossen wurde, stand er auf und kam zu mir. Ich blickte stur an ihm vorbei, auch als uns nur noch knapp ein Meter trennte. „Also, da wo ich herkomme, gibt man sich zur Begrüßung die Hand.“, waren die ersten Worte, die ich je von ihm hörte... und mir fiel sofort auf, wie sanfte und doch rau seine Stimme klang. Außerdem waren es keine forschen Worte, die er sprach, sondern eine fast normale Aussage... Sekundenlang war ich gewillt, ihm tatsächlich die Hand zu geben, bis ich wieder zu mir selbst fand, besser gesagt zu meinem beschissenen Selbst. Ich machte es doch einem Therapeuten nicht so leicht! Mit einem „Und jetzt sind Sie hier!“ ging ich an ihm vorbei zu meinem Stuhl und ließ mich fallen, fingerte nach einer Zigarette und rauchte. Er ließ sich mir gegenüber nieder, sah mich still an. Ich spürte es deutlich, auch wenn ich woanders hinsah... Es störte mich irgendwie. Mein Kopf arbeitete – wie könnte ich denn diesmal am besten zeigen, dass mich dieser ganze Therapiekram nicht interessierte? – doch mein Gehirn war leer. Nichts wollte mir einfallen, also tat ich nichts. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie er aufstand und sich einen Hocker neben meinen Stuhl zog, um sich darauf niederzulassen. Da spürte ich seine Finger unter meinem Kinn und ich zuckte zurück. Doch er ließ sich nicht abschrecken und legte seine Hand wieder unter mein Kinn. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, als er meinen Kopf ein Stück drehte, so dass unsere Gesichter einander genau gegenüber waren. Doch ich sah ihn immer noch nicht an, fragte mich, wieso ich ihn nicht einfach wegstieß. Bis heute ist es mir unerklärlich, wie er es da schaffte, mit einem einfachen „Bitte seh mich an“ meinen Blick doch noch auf sich zu lenken. Wie er es schaffte, dass ich ohne weiteres sofort meine Augen öffnete. Bei keinem andren war ich je einer so einfachen Bitte nachgegangen. Ich hob also den Blick... und ich vergaß zu atmen. Es war das erste Mal, dass ich in seinen Augen versank. Noch nie zuvor hatte ich solch wunderschöne Augen gesehen, und das, obwohl sie fast gänzlich schwarz waren. In seiner Dunkelheit schien es mir dennoch entgegen zu strahlen und er schien zu lächeln, obwohl er es nicht tat. Seine Augen lächelten. Erst seine Worte, die bald folgten, holten mich zurück in die Gegenwart. „Du hast schöne Augen“. Erschrocken über mich selbst, da ich ihn ja förmlich angestarrt hatte, schlug ich seine Hand unter meinem Kinn weg und sprang auf. „Lassen Sie das!“, schrie ich. „Wie heißt du?“, ging er nicht darauf ein. „Das steht in meiner Akte“, erwiderte ich schroff. Ich hatte wieder meinen Abwehrmechanismus aktiviert. Keiner sollte es schaffen zu mir durchzudringen, denn ich schaffte es ja nicht einmal selbst. „Ja, aber ich möchte es von dir hören.“ Seine Stimme war nah und er stand nur ein kleines Stück hinter mir. Das beunruhigte mich, obwohl ich es nicht wollte. Es machte mich nervös. „Zachery Black“ Zum zweiten Mal innerhalb von nur wenigen Minuten hatte er meine Abwehr damit gekappt. Ich fragte mich selbst warum, doch ich kam zu keinem Ergebnis. Noch nie in meinem Leben, das ich seit meinem 11. Lebensjahr führte, hatte irgendjemandem so schnell nachgegeben. „Zach, also?“ „Ja...“ „Gut...“ Er war der Erste in der Anstalt der mich so nannte. Hier war ich von Anfang an immer nur Black gewesen, höchstens Zachery. Ich habe keine Ahnung, wieso mich diese Sache so berührte... „Ich bin Nathan“ Sein Name hallte noch ein paar Sekunden in meinem Kopf nach, so als solle ich ihn mir merken. Und ich habe ihn mir gemerkt, werde ihn niemals wieder vergessen. Teil 2 - Ende Kommentar: Also da ich ja nun zum Glück keine eigenen Erfahrung im Gebiet Knast u.ä. habe und auch niemanden kenne, der man da war, konnte ich mich bei diesem Teil auch nur auf Vorstellungen stützen, die ich selbst davon habe. Dass natürlich alles ganz anders aussehen kann (und es wohl auch tut) ist mir dabei bestens bewusst... *lach* Ich hoffe, dass ich die Situation dennoch glaubhaft geschildert habe ^^ Kapitel 3: Zum ersten Mal... Liebe? ----------------------------------- Der erste Tag verlief danach sehr ruhig, was vielleicht hauptsächlich daran lag, dass ich selbst kaum sprach. Er fragte mich nach meinem Alter und ich antwortete kurz, worauf er sagte, er sei 27 – was mich zugegeben irgendwie wunderte, obwohl ich gar nicht darüber nachdenken wollte. Einerseits sah er so jung aus und andererseits... Kann man mit 27 schon Beamter in so einer Anstalt werden? Er fragte weiter, ob ich Geschwister hätte und ich verneinte. Die Wahrheit erfuhr er erst später irgendwann... wenn er sie nicht schon aus den Akten kannte, wie alle anderen Antworten, die er von mir hören wollte. Er fragte auch nach meinen Eltern, doch zu dem Thema bekam er nichts aus mir heraus. Was hätte ich ihm auch sagen sollen, außer, dass sie mich wahrscheinlich hassten? Ebenso wollte er wissen, ob ich Freunde draußen oder hier drinnen hätte. Als ich langsam den Kopf schüttelte, sahen wir uns direkt in die Augen... und es war ein irgendwie sehr intimer Blick. Mehr bekam er an dem Tag nicht aus mir heraus, genau wie an den folgenden, auch wenn er es immer wieder versuchte. Besonders bei der Frage, wie mein Leben vor der Anstalt aussah, blockte ich immer wieder ab. Darüber sollte er nichts erfahren, darüber sollte niemand was erfahren, nicht mehr als das, was sie wahrscheinlich ohnehin schon wussten. Zumindest hatte ich mir das vorgenommen, doch zum ersten Mal war ich irgendwie gewillt, über mein Leben zu reden. Das machte mir... Angst. Sowieso wunderte es mich, dass er trotz allem immer noch so freundlich zu mir war... Sein Interesse wirkte nicht einmal geheuchelt, sonder aufrichtig interessiert. Vielleicht machte mir seine Anwesenheit deshalb Angst... auf diese ganz abstruse Art und Weise. Vielleicht weil sich durch sie alles viel zu schnell änderte, meine Erfindungen, meine Gleichgültigkeit... Ich verstand es einfach nicht, wieso meine Gedanken plötzlich so oft ihm galten, wieso ich schon am dritten Abend nicht mehr so gut einschlafen konnte und stattdessen stundenlang die Decke anstarrte, ohne diese überhaupt zu sehen. Ich verstand nicht, wieso mir abwechselnd heiß und kalt wurde, wenn ich an ihn dachte... wieso ich ständig sein sanftes Lächeln vor mir sah. Nicht einmal die Drogen halfen dabei, dies zu unterdrücken. Seit langem schon hatte ich mir über niemanden mehr solche Gedanken gemacht und genau darum beunruhigte es mich. Am folgenden Montag – nach einem Wochenende, durch das mich meine Gedanken schwer gequält hatten – wurde ich wieder zu ihm gebracht. Wie auch an den Tagen der vergangenen Woche saß ich still auf meinem Stuhl und er versuchte wieder, mich zum Reden zu bewegen. Dieses Mal merkte er allerdings schnell, dass es nichts brachte, also schwiegen wir die gesamten fünf Stunden der Therapiestunde. Ich versuchte mich mit irgendwelche Gedanken abzulenken, was nichts brachte, da diese eh bei der einzig noch anwesenden Person hingen. Dennoch ertrug ich unser Schweigen gut. Bei niemandem zuvor hätte ich es ausgehalten – mal abgesehen davon, dass es sie nicht gab, da die Typen das nicht zuließen – Ich wäre verrückt geworden. Genauso wenig hätte ich Blickkontakt gehalten, was bei Nathan jedoch nicht selten vorkam. Immer wieder blickte ich verstohlen zu ihm und oft trafen sich dabei unsere Blicke. Jedes Mal ließ es mich erschaudern. So verging eine weitere Woche, in der ich selbst nicht mehr als knapp zehn Sätze von mir gab. Dafür begann nun er aber, die Stille zu brechen. Einmal brachte er Musik mit. Klavierstücke von Mozart oder so. Wir schwiegen und lauschten... und Abends fühlte ich mich seit langem irgendwie gut, keine Ahnung wieso. Und schließlich, am nächsten Tag, begann er zu erzählen, beantwortete für sich selbst die Fragen, die er mir gestellt hatte. Er erzählte mir von seinen Hobbys, seiner Vergangenheit... dem Leben draußen. Ich erfuhr so vieles und egal wie oft ich mir einredete, dass es mich kein bisschen interessierte, so hörte ich ihm doch unglaublich gerne zu. Mehr noch... ich wartete fast begierig darauf, weitere Details über ihn zu erfahren... Mit Anbruch dieser Woche verging bald kaum eine Stunde, in der ich nicht an ihn dachte... Ich fragte mich, was mit mir los war, denn ich verstand nicht, warum ich mich so zu ihm hingezogen fühlte, warum ich mich plötzlich auf die Therapiestunden freute... und wieso ich meine Drogen nur noch Abends nahm, wenn gerade kein Treffen mit ihm bevorstand. Konnte es wirklich sein, dass ich diesen freundlichen Augen glaubte? Ja. Ich denke unterbewusst hatte ich schon da ein gewisses Vertrauen zu ihm, auch wenn ich bis heute nicht weiß, wie er dies geschafft hat. Tatsächlich war seit Anfang an diese gewisse Spannung zwischen uns, die alles anders sein ließ... die ihn so komplett unterschied, von all den andren Therapeuten. Ich denke, er tat mir einfach von Anfang an gut... Dann brach die dritte Woche an und wieder schien es, als würde sich nichts ändern. doch an dem Tag wollte eine Frage aus mir hinaus, die ich seit ein paar Tagen hegte. Es war mir peinlich ihn zu fragen, doch ich tat es dennoch. Nur mühsam und nach mehreren Anläufen kamen die Worte „Was bedeutet es, wenn man nur noch an eine Person denken kann?“ über meine Lippen. Das Lächeln, welches darauf auf seinen Lippen erschien, war das Bezauberndste, was er mir bis dahin geschenkt hatte. Doch ich konnte es nicht lange genießen, denn er wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. „Um dir eine Antwort geben zu können, muss ich ein paar Sachen wissen...“, begann er, fragte dann: „Denkst du im guten oder schlechten an die Person?“ Ich wurde rot, weil es mir vor mir selbst peinlich war, antwortete natürlich das im Grunde Positive. Am liebsten wäre ich geflüchtet. „Wenn du an die Person denkst, bist du glücklich? Geht es dir gut?“, fragte er weiter. Über diese Frage musste ich etwas nachdenken, bevor ich antwortete. War ich glücklich wenn ich an ihn dachte? Ging es mir... gut? Schließlich antwortete ich wirklich mit einem einfachen „Ja“, denn alles andere wäre gelogen gewesen. Er stellte noch ein paar derartiger Fragen und mir wurde das Ganze zunehmend unangenehmer – bis dato ein vollkommen unbekanntes Gefühl. Irgendwie fühlte ich mich ein kleinwenig ausgeliefert. Dann setzte er sich auf den Hocker direkt neben mich und sah mir fest in die Augen. Ich erwiderte den Blick mit einem unguten Gefühl. Es folgte seine letzte Frage: „Denkst du, dass es Liebe ist?“ Diese Frage erschreckte mich, mit so etwas hätte ich nicht gerechnet. Ich senkte meinen Kopf und lief rot an. Er bekam keine Antwort, jedenfalls nicht mit Worte. Aber ich denke mein Schweigen war für ihn genug, auch wenn ich mir selbst der Antwort nicht sicher war... oder vielleicht auch einfach kein ‚Ja’ zulassen wollte. Den Rest des Tages schwieg ich beharrlich und war mit meinen Gedanken weit entfernt. War es Liebe? Ich wusste es nicht, denn ich wusste nicht, was Liebe war. Nicht all zu oft hatte ich etwas davon gehört, aber ich wusste, dass es als das schönste Gefühl der Welt definiert wurde. Doch welches Gefühl? Und was würde ich tun, wenn er recht hatte? Am jenem Abend nahm ich mir zum ersten Mal eines der Bücher, ein altes Lexikon. Und tatsächlich fand ich etwas über den Begriff ‚Liebe‘. Hier wurde Liebe als etwas sexuelles definiert, als eine Art Trieb, zwar mit Gefühlen, aber dennoch auch mehr mit Verlangen. Ich weiß nicht mehr genau, was dort stand, aber es passte kaum auf das, was ich empfand. Ich dachte nicht darüber nach, mit ihm ins Bett zu steigen oder ähnliches... ich fand es einfach nur schön, bei ihm zu sein. Wenn es so nicht in diesem Buch stand, war es dann keine Liebe? Am meisten erschreckte mich, dass mich diese Erkenntnis traurig stimmte. In jener Nacht schlief ich nicht, da mich die Frage quälte, was es dann war, das ich empfand, wenn nicht Liebe. Ich kam mir dumm und unwissend vor, zum ersten Mal. Am nächsten Tag ging ich mit gemischten Gefühlen zu Nathan und als ich ihn vor mir sah, rutschte mir mein wild schlagendes Herz in die Hose. Er merkte wie verkrampft ich an der Tür stand und kam auf mich zu. „Bist du zu einer Erkenntnis gekommen?“ Es war so klar, was er meinte, und ich bekam augenblicklich weiche Knie. Seinem Blick hielt ich nicht stand, meine Hände zitterten wie Espenlaub und ich begann zu schwitzen. Was stimmte denn jetzt schon wieder nicht mit mir? Er merkte es. Ich glaube mittlerweile, er merkte sowieso alles, was in mir vorging. „Was hast du denn heute?“, fragte er vorsichtig und strich mir durch die Haare. Die erste Berührung seit langem, die mich nur noch mehr erzittern ließ. Ich schreckte zurück und wich seinem Blick noch mehr aus. „Was... ist Liebe?“, fragte ich leise. „Etwas schönes.“ Er hob meinen Kopf an, lächelte. „Es ist genau das Gefühl, was du mir gestern beschrieben hast. Bei einer Person sein zu wollen, immer an sie zu denken, sich gut zu fühlen, wenn sie da ist...“ Er ließ seine Hand sinken und nun sah ich ihn von alleine an. „Und es ist auch das Gefühl, diese Person berühren zu wollen, sie küssen und spüren zu können...“ „Ein sexueller Trieb?“, platzte es aus mir heraus und ich wurde rot. Daraufhin lächelt er nur noch mehr. „Ja, irgendwie schon... Aber es gehört viel mehr dazu als das.“ Seine Worte gefielen mir und beruhigten mich langsam wieder ein wenig. War es also doch Liebe, dieses Gefühl in mir, das ich nicht verstand? Durfte ich es so nennen? Darüber, dass ich dieses Gefühl eigentlich gar nicht empfinden durfte, dachte ich nicht nach, in dem Moment, in dem ich irgendwie glücklich darüber war, dass ich überhaupt so etwas empfinden konnte. Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal andere Gefühle, außer die meiner Sucht gehabt? „Und?“, fragte er schließlich. „Ist es Liebe?“ Ich nickte... und ich glaube es war das erste Mal, dass ich ihn anlächelte. „Das freut mich“, sprach er sanft und ich nickte noch mal, fühlte mich nackt wie nie zuvor. Doch zum ersten Mal störte es mich nicht, dass jemand so viel über mich wusste. Wir standen einige Minuten einfach so da, irgendwie ziemlich nah beieinander, bis ich ein herzhaftes Gähnen einfach nicht mehr unterdrücken konnte. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Müde?“ „Ja.“ Ich dachte an meine schlaflose letzte Nacht, und nun, da ich endlich zu einem Ergebnis gekommen war, spürte ich endlich die Müdigkeit. „Na komm...“ Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die Liege an der linken Wand. „Wenn du willst, kannst du dich etwas hinlegen...“ Wieder nickte ich, ging hinüber und folgte sogar seiner kommenden Anweisung, mir mein Hemd auszuziehen und mich auf den Bauch zu legen. Ich schloss die Augen und fühle mich irgendwie wohl, ein wenig erleichtert. Nur kurz darauf spürte ich zwei kalten Hände auf meinen Schulterblättern, was mich zusammenzucken und die Augen wieder aufreißen ließ. „Ruhig... Entspann dich.“ Seine Stimme glich einem Flüstern. Langsam strichen seine Fingerspitzen über meine Haut bis hin zu meinem Nacken und begannen dann leicht damit, mich zu massieren. Es fühlte sich... toll an, atemberaubend. Noch nie hatte ich dergleichen erlebt, konnte mich nicht an solch zärtliche Hände erinnern. Wann immer mich andere Personen berührt hatten, war es grob gewesen, unfreundlich... doch dies hier war wiedereinmal so ganz anders. Sein heißer Atem strich über meinen Nacken hinweg, verriet mir, dass er mir mit seinem Gesicht sehr nahe sein musste. Ich wurde nervös, irgendwie, obwohl ich mich wirklich entspannen wollte. Doch das ging einfach nicht, bei dem Gedanken, was hier gerade vor sich ging. Und schon wieder etwas, das ich nicht verstand. Seine geschickten sanften Händen wanderten langsam an meinen Seiten tiefer, bis hin zum Hosenbund und von dort aus wieder hinauf zum Nacken. Seine Finger brannten regelrecht auf meiner Haut. Doch ich spürte noch etwas anderes, das ich ebenso wenig kannte. Ich spürte ein unglaubliches Verlangen in mir, welches ihn meinerseits berühren und streicheln wollte. War das diese andere Art von Liebe, von der er sprach? Es wurde noch schlimmer, als ich plötzlich etwas anderes auf meiner Schulter spürte. Leicht feucht und schön weich. Ich verkrampfte mich eine Sekunde, entspannte mich jedoch sofort wieder, als ich verstand, was mich da so sanft berührte, so sanft küsste. Dafür begann mein Herz wie wild zu rasen. Er hatte mich geküsst... und beließ es nicht bei diesem einen Mal, sondern begann nun vorsichtig meinen Rücken mit weiteren Küssen zu benetzen. Er wanderte hoch bis hin zu meinem Hals, leckte sanft darüber, knabberte sogar kurz, ließ dann jedoch ab. Mein Herz klopft wie noch nie zuvor und erst als er aufhörte, öffnete ich wieder meine Augen und sah ihn an. Ich wollte protestieren, wollte, dass er weiter macht, doch mehr als seinen Namen bekam ich nicht über die Lippen, als ich seine Augen mich anfunkeln sah. Es war ein ganz anderer Blick als alle zuvor, und ein kleines, fast schüchtern oder ängstliches Lächeln umspielte seine Lippen. Es machte mich sprachlos und als er die Worte „schließ deine Augen“ flüsterte, ging ich dem nach, in der Hoffnung er würde sein Lippenspiel auf meinem Rücken wiederholen. Doch ich wurde enttäuscht, wanderten doch nur noch die sanften Hände über meine Haut. Dafür war ich einige Minuten später eingeschlafen. Vielleicht war all das auch nur ein Traum gewesen. Ohnehin musste ich etwas schönes geträumt haben, denn ich fühlte mich ausgeschlafen wie nie zuvor, als er mich nach fast vier Stunden weckte. Zuerst spürte ich nur etwas weiches auf meiner Wange und erst als es wieder verschwand, war ich so wach, dass ich verstand, dass das ein Kuss war. Mir wurde ein sanftes „Aufwachen“ ins Ohr geflüstert. „Du musst gleich gehen.“ Spätestens da war ich mir nicht mehr sicher, was nun Realität und was Traum war. Das konnte schließlich alles nicht wirklich geschehen sein. Ich glaub, den Rest des Tages lief ich wie in Trance herum und es war der erste Tag, an dem ich mir nichts spritze. Ich dachte gar nicht daran, so war ich in meinen Gedanken um Nathan vertieft. Erst als sich mein Körper am nächsten Morgen bemerkbar machte – schließlich war ich vor allem körperlich abhängig – erinnerte ich mich wieder an die Drogen... und zum ersten Mal freute ich mich mehr auf die bevorstehenden Stunden mit Nathan als über die Spritze. Teil 3 - Ende Kapitel 4: Ewige Sucht ---------------------- Ich war unglaublich nervös, als ich am nächsten Tag zu ihm ging. Ich wusste, dass er etwas in mir verändert hatte und auch wenn dies ein schönes Gefühl war, so war es doch auch immer noch merkwürdig. Er bedeutete mir so viel, nur wie sollte ich das zeigen? Ich hatte verlernt meine Gefühle einer andren Person zu offenbaren, da ich einfach keine Gefühle zu den Menschen hatte. Doch jetzt war so viel anders. Ich hatte mir die ganze Nacht darüber Gedanken gemacht, doch als er vor mir stand war all diese Sorge vorbei. Er lächelte und ich erwiderte sein Lächeln. Da sah ich einen ungewohnt schönen Ausdruck in seinen Augen. „Setz dich.“, bat er und ich tat es. Er nahm neben mir auf dem Hocker platz. Erwartungsvoll sah ich ihn an. Einen Moment schwiegen wir, dann griff er plötzlich nach meinem Arm, schob den Ärmel hoch und blickte mir dann wieder in die Augen. Seine sahen enttäuscht aus. „Warum nimmst du immer noch Drogen?“ Sein Finger strich über eine der Einstichstellen und ich zuckte kaum merklich zusammen. Ich konnte zunächst nichts sagen, sondern senkte nur meinen Kopf. Es war das erste Mal, dass ich mich wirklich dafür schämte, dass ich Drogen nahm. Und zudem war ich auch zum ersten Mal gewillt, diese Frage irgendjemandem zu beantworten. Nein, nicht irgendjemandem, sondern ihm. Nur ihm. „Ich kann nicht mehr aufhören...“, flüsterte ich und es fiel schwer. Zu lange hatte ich mir vorgelogen, ich könne aufhören wenn ich nur wollte, doch eigentlich wusste ich immer, dass es eine Lüge war. Ich war süchtig nach diesem Zeug, konnte mir nicht vorstellen, wie ein Leben ohne es aussehen würde... Nun hatte ich das erste Mal die Wahrheit ausgesprochen. „Willst du aufhören?“ Er betonte das erste Wort stark und sah mich fest an... Ich denke es war genau dieser kleine, ach so winzige Moment, in dem es mir bewusst wurde... In dem ich zum ersten Mal den Gedanken hatte, dass es wirklich ein Leben ohne dieses Zeug geben könnte... Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich es nicht mehr wollte, dass ich es wahrscheinlich schon sehr lange nicht mehr wollte. So viele hatten schon versucht mir genau dies einzureden, doch nie hatte es einer geschafft. Nur er... und das, obwohl er noch nicht mal irgendwas besonderes getan hatte. Er hatte es geschafft, indem er mich nur fragte... und mir so mein eigenes Inneres bewusst machte. Ich nickte langsam. Er lächelte... und dann beugte er sich vor, küsste vorsichtig die frischeste Einstichstelle vom Morgen. Ein Kribbeln ging durch meinen Körper, stärker als dann, wenn das Gift meine Adern durchfloss. Er sah mich wieder an ohne ein Wort zu sagen. Und auch wenn ich mich wohl fühlte, wuchs gleichzeitig diese Sorge in mir. Zum ersten Mal gab es diesen Gedanken aufzuhören überhaupt... Doch... ob ich es überhaupt schaffen könnte? Garantiert würde ich es nicht einfach so weglassen können... Ich würde Schmerzen haben, würde leiden... Hatte ich wirklich die Kraft, es zu schaffen? Seine Hand ruhte mittlerweile auf meiner. Ich sah sie an, seine schöne und meine bleiche Hand. Er sah schrecklich aus, dieser extreme Gegensatz, und dennoch empfand ich es irgendwie als schön... denn genau dort wünsche ich mir seine Hand. Bei mir. Ich kann mich noch so genau an den Tag erinnern, an diese Situation. In mir arbeitete alles wie wild, während er still bei mir saß und mir einfach nur dadurch half, dass er da war. Sein Blick ruhten die ganze Zeit auf mir und als ich meinen Kopf hob, um ihn anzusehen, traf ich ihn sofort. Seine Augen waren wunderschön und geheimnisvoll. Sie zogen mich an, hielten mich gefangen, auf eine ganz sanfte Art. Ob ich es schaffen konnte, irgendwann ein Recht darauf zu haben, seine Hand in meiner zu halten? Hatte ich wirklich diese Kraft? „Hilf mir...“, sprach ich leise und wurde rot. War es richtig ihn das zu fragen? Konnte ich das wirklich von ihm verlangen? Ja, heute weiß ich, wie richtig es war. Ohne ihn hätte ich es niemals geschafft. „Natürlich helfe ich dir“, sprach er ebenso leise und gleichzeitig schlossen sich seine Finger warm um meine, drückten sie leicht und liebevoll. „Erzählst du mir, wie das alles angefangen hat?“ Ich erstarrte in dem Moment, als er mir diese Frage stellte. Ich spürte meinen Körper sich verspannen. Irgendwie hatte ich gehofft, dass er dies nie wieder fragen würde... und doch war nun der Augenblick gekommen. Doch welcher Augenblick... wirklich der, in dem ich ihn über mein Leben berichten würde? Dieses abscheuliche Leben in Worte fassen? Ich hielt seinem Blick nicht mehr stand, ich konnte nicht. Schnell stand ich auf. Nein... Egal, wie nahe ich ihm gerade vielleicht gekommen war, so ließ es mich doch diesen Schritt nicht gehen. Ich wusste, dass ich kein einziges Wort über die Lippen bekommen würde. Ich ging zum Fenster hinüber, blickte durch die Gitterstäbe nach draußen in die graue, grausame Welt. Es war kein schöner Tag, denn es goss in Strömen. Von dem Fenster aus sah man nicht weit, da einen große Häuser den Blick versperrten. Keine Menschenseele war zu sehen. Nie hatte es mich wirklich interessiert was um mich herum geschah, doch an dem Tag fand ich es unglaublich interessant. Bloß nicht daran denken, was ich jetzt sagen sollte. So viele Jahre fühlte ich mich stark, war jedoch schwach. An diesem Tag jedoch fühlte ich mich schwach, war aber wohl stark wie nie zuvor. Eigentlich wollte ich es ihm erzählen und ich hätte wahrscheinlich auch die Kraft dazu gehabt... doch blieb ich ihm eine Antwort schuldig. Einige Zeit geschah nichts, dann plötzlich spürte ich zwei Hände an meinen Schulter, die sanft hinunterglitten, um meine Hüften... Arme, die mich an seinen Körper zogen. Vor Schreck zog sich alles in mir zusammen und für ein paar Sekunden sah ich diese schrecklichen Bilder vor meinen Augen. Bilder aus meiner Vergangenheit, die noch gar nicht so lange zurück lag. Ich sah mich mit einem andren Mann im Bett, wie dieser sich an mir verging und ich nichts tat außer zu schweigen, wie ich es damals immer getan habe. Für die Drogen war das ein angemessener Preis, hatte ich mir immer wieder eingeredet. Plötzlich schämte ich mich dafür, dass ich so gedacht hatte... dass ich mich für Geld dieser Arbeit hingegeben hatte. Das konnte ich ihm doch unmöglich erzählen! Nathan bemerkte wahrscheinlich, dass ich mich verspannte und seine Berührung nicht so gut ertrug... und so ließ er mich schnell wieder los, selbst wenn ich mir im selben Moment wünschte, er hätte es nicht getan. „Ich weiß nicht, was dir angetan wurde, dass du dich so sehr anderen Menschen verschließt...“, flüsterte er sanft. Seine Hand griff nach meiner und ich erwiderte ihren Druck. Tränen stiegen mir in die Augen. Wie lange hatte ich nicht mehr geweint? „Doch ich wünschte, du könntest mir vertrauen...“, sprach er weiter, was mich zu ihm herumfahren ließ. „Das tue ich!“, rief ich, hielt seine Hand noch fester. „Ja?“ Ich nickte... und senkte dann meinen Blick, da ich Seinen nicht halten konnte. „Aber es ist... so schwer...“, gestand ich, „Ich kann nicht einfach so alles erzählen... ich...“ Ich schüttelte den Kopf. Sein Daumen strich über meinen Handrücken, was mich ein wenig beruhigte. „In Ordnung... Erzähl es mir einfach dann, wenn du es willst...“ „Danke...“, hauchte ich und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben ein kleinwenig verstanden. An diesen Tag sprachen wir lange darüber, wie ich am besten aufhören könnte. Er sagte, ich müsse mir irgendwas anderes suchen, das mich glücklich macht, etwas, nur eben keine Drogen.... Irgendein Hobby vielleicht, dem ich ab nun nachgehen konnte. Auch meinte er, wir sollten uns von nun an auch Nachmittags treffen. Er müsse ein bisschen was dafür umlegen, aber das würde schon gehen. Er sagte, er wolle besser auf mich aufpassen können und seine Augen unterstrichen nur, wie ernst er es meinte. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wieso ich ihm so wichtig geworden war... doch es freute mich unheimlich. Von dem Tag an war ich sein winziger Patient, da auch die andren Wärter meinten, ich sei einer dieser besonders schwierigen Fälle. So hatte ich fast täglich Morgens und Mittags je fünf Stunden Therapie. Die anderen zwei Insassinnen, die dadurch nun einem anderen Therapeuten zugesprochen wurden, waren nicht gerade davon begeistert, das spürte ich deutlich. Sie setzten sogar schon am zweiten Tag das Gerücht in die Welt, dass zwischen uns etwas wäre, doch niemand schenkte dem Glauben. Es hätte wohl keiner damit gerechnet, dass sie, zumindest was mich anging, gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt waren... Ich sagte nicht viel dazu, stritt es mit einfachen Worten ab oder schwieg ganz. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich liebte ihn, dessen war ich mir nun sicher. Was mit ihm war... ich wusste es nicht. Er war zärtlich mit mir und kümmerte sich so liebevoll um mich, doch durfte ich mir Hoffnungen machen? Es war nicht das einzige Gerücht, das in diesen Tagen in Umlauf kam... Da gab es noch ein anderes, unter dem ich mehr litt. Ich erfuhr davon am vierten Tag, nachdem mein Entzug begonnen hatte: Nathan sollte ein Verhältnis mit einer der Wärterinnen haben. Als ich das hörte, fühlte ich mich mit einem Mal schrecklich allein. Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte oder ob ich wirklich eingeredet hatte, dass es für ihn nur mich gab... doch dies zu hören tat weh. Es gab jemanden, der ihm mehr bedeutete als ich. Eigentlich war dies vollkommen logisch, war ich doch nur einer seiner Patienten, aber die plötzliche Erkenntnis und vermeintliche Wahrheit konnte ich in meiner momentanen Lage nicht so gut verkraften. Ich brauchte ihn, ich liebte ihn... ich wollte, dass er wirklich nur für mich da war. Ich besorgte mir Stoff. Ich wusste, dass die körperlichen Schmerzen, die ich die ganze Zeit empfand, dadurch weggehen würden – schließlich schrie mein Körper nur so nach diesem Zeug, von dem er nur noch winzige Dosen zugeteilt bekam – und ich dachte, auch meinen Kummer, meine Eifersucht, die ich plötzlich empfand, könnte ich dadurch verschwinden lassen. Dem war nicht so. In der Nacht weinte ich bitterlich. Es tat weh, wenn ich daran dachte, er könnte jemand anderem nahe kommen, und die Droge lenkte mich nicht ab. Es war das erste Mal, dass ich diese Art von Schmerz empfand. Als ich am nächsten Tag bei Nathan ankam, sah er mich gleich so durchschauend an. Er kam auf mich zu, sein Blick war besorgt und eindringend, und ich hatte das Gefühl, gleich würde er es in meinen Augen lesen können, warum ich geweint hatte. Es war mir peinlich. Er nahm mich an der Hand und zog mich zum Stuhl, drückte mich ins Polster. Ich wollte mich wehren, doch ich konnte nicht. Ich wollte schon wieder weinen und verfluchte mich deshalb selbst. Er setzte sich mir gegenüber und sah mich weiterhin an. Am liebsten hätte ich einfach die Flucht ergriffen, doch das ging natürlich nicht so einfach... „Du hast wieder Drogen genommen...“, sagte er und auch wenn es wohl eher enttäuscht klang, so konnte ich diesen Vorwurf nicht ertragen. Nicht von ihm, nicht in diesem Moment. „Sag mir was passiert ist...“ „Lassen mich in Ruhe!“ Ich fuhr ihn forsch an. Er interessierte sich doch eh nicht für mich... „Dann behalte es meinetwegen für dich, wenn du es nicht nötig hast, mit mir zu reden...“ Ein kleinwenig erschrak ich bei diesen Worten. Ich spürte, dass ich ihn tatsächlich verletzt hatte, doch konnte mir nicht erklären wieso. Ich war doch von Anfang an nicht wesentlich zugänglicher, warum verletzte ihn dann gerade diese Anfuhr? Ich bekam ohne es zu wollen ein schlechtes Gewissen. „Tu- tut mir... es...“ Ich spürte einen Finger auf meinen Lippen und er seufzte. „Schon gut... du musst nichts sagen, was du nicht willst.“ Ich konnte nichts erwidern, noch etwas tun. Ich konnte ihn nur anstarren, wie ich es so oft tat. Sein Finger strich leicht über meine Lippen, dann entfernte er ihn, legte ihn stattdessen an meinen Hemdkragen. Mit ein paar kurzen Griffen hatte er mein Hemd bis zur Hälfte geöffnet. Fast panisch weiteten sich meine Augen. Was hatte er vor? Seine Hand strich sanft über mein Schlüsselbein, dann stand er auf. Während er um mich herumging, strich er mit der Hand in meinem Nacken. Nun schob er mein Hemd etwas von den Schultern, und begann dann, mich zu massieren. Erst da entspannte ich mich wieder. „Am besten du schließt deine Augen und denkst an gar nichts...“ Dies war zwar leichter gesagt als getan, trotzdem schaffte ich es, meine Gedanken, die eigentlich nur um ihn kreisten, abzustellen. Wie lange er mich an jenem Tag massierte, weiß ich nicht. Irgendwann ließ er ab und schloss seine Arme um meine Schultern, legte seinen Kopf an meinen. Sofort schlug mein Herz wieder schneller. „Lass das nächste Mal bitte die Drogen weg, wenn du Probleme hast... rede einfach mit mir, okay?“ Zögernd nickte ich. Ich wusste nicht, ob ich es halten könnte, doch ich wollte es versuchen. Danach genoss ich es Minutenlang einfach zu spüren, wie er mich festhielt und sanft an sich drückte. Warum er das tat, wusste ich nicht, ich hoffte nur, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Die Eifersucht verschwand in diesem Moment... und so wirklich kam sie nie wieder zurück. Ich verschloss meine Ohren einfach vor dem Gerücht und dachte nur noch das, was ich denken wollte. Dass ich mir all das vielleicht nur einbildete... darüber wollte ich nicht nachdenken. Die Nähe, die mir an diesem Tag so geholfen hatte, und seine Berührungen... Ich sollte sie nicht zum letzte Mal erleben. In den darauffolgenden Tagen kam es öfter vor, dass er mich in die Arme nahm und einfach festhielt. Wahrscheinlich hatte er gespürt, wie es mir half... dass ich mit jedem Tag nur noch mehr brauchte, da der Entzug höllische Schmerzen hervorrief und ich nur bei ihm das Gefühl hatte, sie seien etwas gelindert. Dafür waren die Stunden, in denen ich allein war, schrecklich. Oft kauerte ich einfach nur irgendwo und wiegte mich selbst hin und her. In solchen Augenblicken, die immer öfter vorkamen, vergaß ich alles um mich herum, konnte nur noch an die Schmerzen und an Drogen denken. Ich zittere vor Kälte und schwitzte gleichzeitig. Alles tat weh und auf den Beinen konnte ich mich nur schwer halten. Ich wollte wieder Drogen, mehr als alles andere, doch ich widerstand dem Drang. Und das nicht zuletzt wegen Nathan. Ich dachte an ihn und wusste, ich würde ihn enttäuschen, wenn ich wieder anfangen würde. Dabei wünschte ich mir wirklich, dass er eines Tages vielleicht stolz auf mich sein könnte. Dennoch war es schrecklich schwer... Ich hätte ihn so gebraucht, an jeder Minute des Tages, besonders Abends, wenn ich mich allein in meiner Zelle befand, mich auf meinem Bett krümmte. Es tat immer so gut, bei ihm zu sein und ihn zu spüren. Ich genoss es so sehr und umso mehr vermisste ich es in den einsamen Momenten. Mit jedem Tag, der verging, wurde es schlimmer, der Entzug unerträglicher. Ich weinte viel, einfach, weil ich meine Emotionen und Schmerzen nicht unter Kontrolle hatte... Und ich wurde wütend, auf ihn, auf mich, auf die ganze Welt... weil ich so gefoltert wurde, weil er nicht bei mir war, weil er mich hierzu zwang, weil ich überhaupt diesem ganzen Scheiß ausgesetzt war. Ich wollte nicht mehr! Teil 4 - Ende Kapitel 5: Endlich wir... ------------------------- Irgendwann, an einem Montag mehr als eine Woche nach Beginn meines zweiten Entzugsversuches wurde ich wie immer nach dem Frühstück zu Nathan gebracht... ein merkwürdiger Gefühlsausbruch empfing mich dort. Kaum war die Tür von außen geschlossen worden, kam er auf mich zu und zog mich in seine Arme, vergrub sein Gesicht in meinen verklebten Haaren. „Es tut mir leid...“, flüsterte er. Ich stand da wie angewurzelt. Nicht diese plötzliche Zärtlichkeit, sondern seine Worte verwirrten mich. Was war mit ihm los? Für einen Moment vergaß ich darüber sogar meine Schmerzen. In den letzten Tagen hatte ich immer mehr gespürt, wie viel er mir bedeutet. Ich sehnte mich nach seiner Nähe, und wenn er mir nah war, sehnte ich mich nach mehr. Ich wollte ihn küssen, berühren, spüren. Hatte er nicht gesagt, ich solle mir etwas suchen, was mich anstatt der Drogen glücklich macht? Ich hatte es gefunden: Ihn. Ich wollte nie wieder ohne ihn sein. Jede Minute, nein jede Sekunde ohne ihn, war eine Qual, fast so eine Qual wie mein Entzug, doch auf eine andre Art. Alles in allem liebte ich ihn mit jedem Haar, jeder Zelle meines Körpers. Ich liebte alles an ihn. Seine Haare, deren Geruch mir ziemlich bald so vertraut war, seine Lippen, nach denen es mich verlangte, seine Hände, die mich ab und zu zärtlich streichelten oder massierten, und besonders seine Augen. Das Glitzern in ihnen, wenn er mich ansah, werde ich niemals vergessen. Doch mehr als dies alles, liebte ich ihn selbst. Sein Körper war nur eine Hülle, aber sein Inneres war noch viel schöner. Seine Art, die von Anfang an so eine magische Wirkung auf mich gehabt hatte. Er schaffte es sogar, mich fröhlich zu stimmen, einfach nur, wenn er mich wieder einmal frech angrinste. Ja, ich liebte ihn, doch er wusste es nicht. Ich hatte mehr als einmal überlegt es ihm zu sagen, doch ich konnte nicht. Es war nicht nur die Liebe zu einem Mann, sondern auch durch seinen Beruf verboten... Was wenn er mich verstoßen würde? Ich wollte ihn nicht verlieren. Er war der einzige Mensch, den ich hatte, er war so wahnsinnig stark und bewundernswert... war mir so unglaublich wichtig. Und nun lag er in meinen Armen und entschuldigte sich für irgendwas... Es war das erste Mal, dass ich etwas für ihn hätte tun müssen, doch ich wusste nicht was. Ich war doch überhaupt nicht geübt im Umgang mit Menschen, ich war nicht so einfühlsam oder nett wie er... „Was?“ Ich flüsterte meine Frage und bekam keine Antwort. Ich fühlte mich so unnütz und hilflos. Lange standen wir nicht so da, denn bald löste er sich von mir, sah mich etwas erschrocken an – erschrocken über sich selbst? „Vergiss das jetzt bitte...“ Damit drehte er sich um und ging zu einem Stuhl, deutete mir, mich auf den anderen zu setzen. Ich ging dem nach, sah ihn an, wie er meinem Blick auswich. Ich wollte ihm doch so gerne helfen... doch wie sollte gerade ich dazu in der Lage sein? Ich fragte nicht mehr nach, auch wenn ich es gern getan hätte. Ich erfuhr nie, was damals mit ihm los war und fragte auch nie. Heute bereue ich es irgendwie, obwohl es die Zukunft wohl auch nicht sonderlich beeinflusst hätte. Zwei Wochen nach Entzugsbeginn... Von Tag zu Tag wurde es schwerer, nicht einfach wieder Drogen zu nehmen. Mein Körper schrie danach, hielt sich kaum noch aufrecht. Entweder lag ich auf der Liege bei Nathan oder im Bett in meiner Zelle. Alles verkrampfte sich. Ich sah und hörte nicht mehr viel, bekam alles nur noch wie aus weiter Ferne mit. Keiner kümmerte sich um mich – hier sorgt sich ja eh nur jeder um sich selbst – außer Nathan. Er half mir jeden einzelnen Tag durchzuhalten, einfach nur dadurch, dass er da war. Nach einer weiteren Woche sorgte Nathan dafür, dass ich endlich auf die Krankenstation verlegt wurde. Nun krümmte ich mich also dort. Gegessen hatte ich schon länger nichts mehr, da ich einfach nicht konnte, alles immer wieder nur herauswürgen würde. Nathan wusste es nicht, doch dann kam er mich während des Mittagessens auf meinem Krankenzimmer besuchen. Er war täglich hier, in den Therapiezeiten, aber nie außerhalb davon. An diesem Tag – ich glaube es war vier Tage her, dass ich das letzte Mal etwas festes angerührt hatte – setzte er sich wie immer an mein Bett, was ich erst dann realisierte, als er nach meiner Hand griff. Ich blinzelte ihn kurz an, wurde dann jedoch von der neuen Schmerzattacke zum Augenschließen gezwungen. Kurz darauf klopfte es an der Tür und eine der drei unfreundlichen Krankenschwestern trat ein. Sie stellte das Tablett mit dem Mittagessen ab und wandt sich zum Gehen. Ich betete dafür, dass sie heute nichts sagen würde, doch ich wurde nicht erhört. Sie blieb stehen und blickte zurück. „Sorgen Sie mal dafür, dass er etwas isst, sonst ist er früher hier weg, als es uns lieb ist...“ Damit verschwand sie. Hätte ich genug Kraft gehabt, hätte ich ihr den Teller mit dem Essen hinterhergeworfen. Stattdessen verfluchte ich sie im Stillen. Ich wollte gar nicht wissen, was Nathan jetzt machen würde... „Zach, hast du etwa nichts...“ Ich sah ihn nicht an, aber ich wusste genau, wie sein Blick zu deuten war. Ich hatte es an seinem Ton gehört. Da war kein Hauch von Wut, er machte sich Sorgen. Ich konnte auf seine Frage nicht antworten. Was denn auch? Ja, es war wahr, doch ich konnte es nicht einfach zugeben. „Zachery!“ Seine Stimme wurde ernster. Nun versuchte ich doch meine Augen zu öffnen, blinzelte ihn an. Im nächsten Moment drückte er mich die Kissen und er sah mir fest in die Augen. „Sag mal, willst du krepieren? Willst du das?“ Nun war doch ein wenig Wut in seiner Stimme... oder eher Verzweiflung? Kraftlos schüttelte ich den Kopf. „Und warum isst du dann nichts verdammt noch mal? Denkst du mir ist das gerade erst aufgefallen? Verdammt! Ich hab schon länger gesehen, dass du immer dünner wirst... du verhungerst, wenn das so weiter geht!“ Ich war unglaublich erschrocken in diesem Moment. Er hatte geschrieen und seine Augen zeigten, dass es ihm ernst war. Ich fühlte mich so klein und dumm, und doch bekam ich nur ein schüchternes, tonloses „Ich kann aber nicht“ heraus. Da beugte er sich noch näher zu mir herunter und flüsterte: „Verdammt noch mal... Tu es für mich!“ Alle Wut war mit einem Mal verschwunden und nur diese sanften Worte blieben zurück. Ich hielt seinem Blick nicht mehr stand, sah zur Seite und fühlte mich jämmerlich. Ich war so schwach ihm gegenüber... Langsam nickte ich. Er ließ mich los, setzte sich wieder richtig hin und nahm den Deckel vom Tablett. Mich interessierte nicht, was darauf lag, ich würdigte es keines Blickes. Nur einige Sekunden später schwebte ein Gabel vor meinem Gesicht herum. Darüber hinweg sah ich ihn an. Sein Blick war bittend... und so öffnete ich meine Lippen, nahm das Essen entgegen, von dessen Geruch allein mir schon schlecht wurde. Ich schmeckte nichts, hätte es am liebsten wieder ausgespuckt. Ich tat es nicht, kaute nur monoton und schluckte. Ein Bissen nach dem anderen und auch wenn mich höllische Schmerzen dabei durchzogen, so ertrug ich sie... für ihn. Als er die gegessene Menge für gut befand, legte er die Gabel beiseite, strich durch mein verschwitztes Haar. Seine Hand blieb an meinem Ohr liegen und er sah mich sanft an. Für einen Moment vergaß ich alles, sogar die Schmerzen, und sah nur noch sein wunderschönes Gesicht. Warum tat er das alles? Warum war er so führsorglich, so oft bei mir? Ich fühlte mich so wohl damit, fühlte mich nicht mehr allein. Doch langsam bekam ich auch Angst. Angst davor, dass er irgendwann nicht mehr bei mir sein würde, wenn ich ihn brauchte. Dass er mich wieder allein ließe, sich um jemanden mehr als um mich kümmerte. Ich hatte davor Angst, dass er dies alles nur tat, weil ich sein Patient war. Was wenn er nur wollte, dass ich von den Drogen runter kam? Was hätte ich dann gemacht? Allein der Gedanke war schrecklich. Ich schloss meine Augen und während seine Hand noch immer an meinem Kopf ruhte, spürte ich plötzlich etwas auf meiner Stirn. Nicht länger als eine Sekund verweilten seine Lippen dort, hinterließen nur einen winzigen Kuss, doch es war unglaublich. Ein wohliges Kribbeln durchzog mich von oben bis unten. „Ich kann heute Nachmittag nicht herkommen... aber heute Abend komme ich noch mal kurz vorbei“, sprach er und strich nochmals durch mein Haar, „Schlaf am besten ein wenig...“ Traurig nickte ich und sah ihm nach, wie er mein Zimmer verließ. Dabei wusste ich, dass von Schlaf keine Rede sein konnte. Stundenlang hielten die Schmerzen mich wach. Und so ging mein Entzug weiter. Es ist wahnsinnig schwer, sich noch daran zu erinnern, da ich entweder schlief oder so durcheinander war und von Schmerzen gequält wurde, dass ich nichts wirklich mitbekam. Mit jedem weiteren Tag verblassen die Erinnerungen daran wie ein Nebel... Ich weiß nur noch am Rande, dass Nathan nun immer länger blieb, sowohl Mittags als auch Abends wartete, bis ich etwas gegessen hatte. Ich glaube, er kümmerte sich wirklich liebevoll um mich und bald hatte ich das Gefühl, keine Sekunde mehr ohne ihn auszuhalten, selbst wenn ich die Berührungen, die er mir schenkte, kaum wahrnahm. Doch sobald ich wusste, dass er nicht mehr da war, hatte ich das Gefühl, nur noch mehr zu leiden. Es waren schreckliche Stunden, die ich durchlebte, egal ob mit oder ohne ihn... Es waren Tage der Qual, ich glaubte, sterben zu müssen... und manchmal wollte ich es auch. Doch während all das zunächst unerträglich war, so ging es doch schließlich bergauf. Ganz langsam zwar... doch irgendwann wurde mir bewusst, dass ich es fast geschafft hatte. In dieser Zeit war der Winter vorbeigegangen und es wurde Frühling. Es war der Frühling vor vier Jahren. Der schönste, den ich je erleben durfte. Unser kleiner verkrüppelter Baum blühte wieder. So gerne wäre ich raus gegangen, doch ich musste immer noch auf der Krankenstation bleiben. Die Aasgeier meinten, es wäre noch zu riskant mich zu den anderen zu lassen. In Wirklichkeit wollten sie sich wohl nur nicht den Stress antun, von dem sie dachten, der sich durch meine Anwesenheit auf Station verbreiten würde. Nathan kam weiterhin Tag für Tag, auch nachdem sein Arbeitsplan geändert wurde, da ich nicht mehr so viel Hilfe brauchte... Trotzdem war er jeden Abend bei mir, außerhalb der eigentlichen Therapiestunden. Es freute mich wahnsinnig, da so meine Angst, ihn zu verlieren, schrumpfte. Wir unterhielten uns viel und lange, auch wenn ich ihm nie etwa von mir erzählte... Eigentlich redete er die meiste Zeit und ich genoss es, ihm dabei zuzuhören. Manchmal brachte er mir Dinge mit, wie zum Beispiel Bücher. Die Langeweile würde mich sonst noch umbringen, lachte er. Dann aber eines Abends brachte er etwas mit, was mich ganz und gar nicht erfreute. Es war ein Handspiegel und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich gar nicht mehr wusste, wie ich aussah. Wie hatte ich es bloß all die Zeit geschafft, mir selbst aus dem Weg zu gehen? Nathan drückte mit den Griff des Spiegels in die Hand und sah mich auffordernd an. Doch ich weigerte mich, ließ ihn aufs Bett fallen. Wie lang war der letzte Blick in so ein Ding her? Ewigkeiten bestimmt. Es war ein Teil meines Lebens geworden, alles spiegelnde zu meiden. Ich dachte schon lange nicht mehr darüber nach, duckte mich unbewusst davor zurück und wenn ich tatsächlich etwas sehen hätte können, ignorierte ich es, nahm es nicht als meiniges wahr, drehte mich schnellstens wieder weg. Ich hatte Angst davor, mich selbst zu sehen, mein Gesicht, meine Augen... Nathan seufzte kurz, zeigte mir dann, ich solle etwas vorrücken. Ich tat es, setzte mich auf. Zu meinem Erstaunen setzte er sich hinter mich, zog mich an sich. Kurz zuckte ich zusammen, ließ es dann aber geschehen. Er legte die Arme um mich und den Kopf auf meine Schulter. „Wovor hast du Angst?“ Sein heißer Atem strich über meine Wange, kitzelte mich leicht. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu beruhigen und auf meine Angst zu lauschen. Ich hatte Angst vor der fremden Person, der ich begegnen könnte, vor dem Ungeheuer. Ein knappes „Vor mir“ verließ schließlich meine Lippen. Seine Hand griff nach meiner, drückte sie leicht. „Das brauchst du nicht... du hast dich verändert in den letzten Wochen...“ Konnte ich ihm glauben? Sollte ich es? Er gab mir den Spiegel erneut, umfasste meine Hand, in der ich das Ding hielt, dann hob er sie an, bis der Spiegel etwa auf Augenhöhe war. Ich blickte stur zur Seite, zitterte leicht und sah nur ein winziges Stück meiner Haare im Augenwinkel. Meine Angst wollte nicht verschwinden. „Ich bin bei dir“, flüsterte Nathan mir ins Ohr, was ein Kribbeln auslöste. Es vergingen noch ein paar weitere Minuten, bis ich meinen Kopf schließlich drehte, mich dabei innerlich auf das Schlimmste vorbereitete. Sobald ich das Spiegelbild sah, weiteten sich die Augen darin... der Ausdruck der Person im Spiegel wurde verwundert und nur schwer erkannte ich mich darin wieder. Ja, ich hatte mich verändert, sehr sogar. Die Haare waren zerzaust, aber sauber, reichten mir bis zum Kinn und umrahmte so ein schmales Gesicht. Dies war immer noch blass, doch lang nicht so erschreckend, wie ich es früher in Erinnerung hatte. Auch eingefallen war es nicht mehr so sehr. Außerdem sah die Person... sah ich älter aus, erwachsener. Kein Wunder. Am genaustes betrachtete ich meine Augen. Ich war wirklich erleichtert darüber, sie nicht von finsteren Ringe umrandet zu sehen... Nein, eigentlich sahen sie gar nicht mehr so hässlich aus, sondern strahlten mir überrascht entgegen. Nathan hatte mittlerweile meine Hände losgelassen, so dass ich mit meinen Fingern mein Gesicht berühren konnte. Sanft strich ich darüber, sah, wie dies auch im Spiegel geschah. Irgendwie fühlte es sich... schön an. „Du bist hübsch.“ Es bracht mich dazu, sein Spiegelbild anzusehen. Er lächelte sanft und ich erwiderte es, wurde dabei aber knallrot, was ich nun nicht nur spürte, sondern auch sah. Ich fühlte mich in diesem Moment als hätten wir etwas ganz Intimes geteilt... Dabei sollte es wohl eine der alltäglichsten Sachen auf der Welt sein. Er hatte sie mir zurückgegeben. „Danke...“, flüsterte ich und legte den Spiegel weg. Ich berührte stattdessen seine Hände und schloss die Augen, sah mich selbst vor ihnen... mich mit seinem Gesicht dahinter. Wann war ich das letzte mal einem Menschen so nah? Eigentlich doch noch nie. Es war dieser vollkommen vertraute Moment, indem ich zum ersten Mal wirklich bereit war, mich ihm voll und ganz zu öffnen, ihm wenigstens meine Geschichte zu erzählen, wenn er mir schon so viel gab. Ich drückte seine Hände ein wenig fester, schmiegte mich an ihn und fragte mich nur ganz kurz, ob ich überhaupt so fallen lassen durfte. „Ich bin ein Arschloch...“, sagte ich dann entschlossen und spürte, wie Nathan bei meinen Worten zusammenzuckte. „Quatsch, du-“ „Nein Nathan, wirklich... du weißt nicht, wie ich war...“ Er verfestigte seinen Griff. Zögernd öffnete ich meine Augen wieder, blickte nach hinten in seine. Einen Moment sagte niemand etwas. Dann: „Erzähl du mir... dein Leben?“ Es war eine sanft gesprochene Bitte und ich nickte zögernd. Ich wusste, dass es jetzt richtig sein würde... und dass ich es nun konnte. Ich vertraute ihm voll und ganz... Ich rückte etwas runter, so dass mein Kopf auf seiner Brust lag, schloss wieder die Augen und begann dann das erste Mal damit, über mein Leben zu sprechen... über all das, was seit meiner ersten Zigarette passiert war. Er hörte mir aufmerksam zu, unterbrach mich kein einziges Mal. Manchmal verstärkte er fast unmerklich den Druck seiner Arme um meinen Oberkörper oder streichelte vorsichtig darüber. Als ich bei dem Kapitel Prostitution ankam, zögerte ich. Sollte ich ihm auch das erzählen? Was würde er über mich denken? Würde er sich vielleicht vor mir ekeln, mich verabscheuen? Er schien mein Zögern zu bemerken. „Wenn du nicht willst, musst du nicht weiter erzählen...“ Das wohlige Kribbeln, das ich schon die ganze Zeit hatte, verstärkt sich bei seinen Worten. Diese liebe Person hatte es verdient, dass ich ihm alles erzählte... Ich schwieg nur noch einen Moment, erzählte dann langsam weiter. Meine Angst, dass er sich abwenden könnte, war unbegründet. Er sagte gar nichts dazu und auch sein Griff lockerte sich kein Stück, im Gegenteil... Als ich schließlich beim letzten Teil, bei Jenny ankam, musste ich schlucken. Zugegeben, ich hatte lange nicht mehr an sie gedacht, hatte es wohl eher verdrängt. Mir war auch klar, dass er aus meiner Akte bestimmt wusste, dass ich für ihren Tod verantwortlich war, doch ich wollte es ihm trotzdem erzählen. Wollte, dass er es von mir hört. Ich begann, brach aber oftmals ab. Ich versuchte die Tränen, die ich schon die ganze Zeit weinen wollte, noch einen Moment lang zu unterdrücken... schaffte es schließlich, meinen Bericht abzuschließen... und konnte mich dann kaum noch zurückhalten. Ich drehte mich um in seinen Armen, drängte mich an ihn und durchnässte sein Hemd. Sanft strich seine Hand über meinen Rücken, mehr nicht. Und genau das war es, was ich jetzt brauchte. Mir tat es gut, dass er nicht wie wild auf mich einredete... Ich hatte in den letzten Wochen von allein begriffen, wie sehr ich mein Leben zerstört hatte... Irgendwann schlief ich in seinen Armen ein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er fort. Natürlich, was hatte ich auch anderes erwartet?! Wenn uns irgendjemand so gesehen hätte... Es war gar nicht auszudenken. Sowieso wurde mir erst an diesem Morgen wirklich bewusst, in was für eine Gefahr er sich begab. Was, wenn jemand reinkommen würde, und sähe, wie zärtlich er mich behandelt? Dass er es dennoch tat, freute mich ungemein und ließ meine Vernunft eher im Hintergrund stehen. Ich träumte an diesem Tag vor mich hin... überlegte, wie es wäre, neben ihm aufzuwachen... dann von ihm geküsst zu werden. Ich sehnte mich so danach, es rauszufinden, auch wenn mir klar war, dass es wohl nie eintreffen würde... Doch zumindest einen Teil dieses Traums erfüllte er mir... Es war ein wunderschönen Apriltag, und er saß an meinem Bett und hielt meine Hand. Er erzählte mal wieder ein paar Kleinigkeiten und kam dadurch plötzlich auf diese eine Frage... „Was ist dein allergrößter Wunsch?“ Erschrocken sah ich ihn an und wurde wohl augenblicklich knallrot. Ich konnte ihm doch niemals die Wahrheit sagen, aber anlügen wollte ich ihn doch genauso wenig... Schüchtern blickte ich zur Decke und suchte nach richtigen Worten... sollte ich es ihm tatsächlich sagen? Und was wenn er... wenn... „Dich ein einziges Mal... küssen zu dürfen...“ Ich erwartete ein Lachen oder dass er meine Hand losließ, mich vielleicht anschreien oder angeekelt ansehen würde... doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen spürte ich plötzlich seinen heißen Atem an meiner Wange. Erschrocken drehte ich sofort den Kopf zu ihm, starrte in sein Gesicht, dass nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Er lächelte. Was hatte das zu bedeuten? Wollte er sich über mich lustig machen? „Wieso wünschen, wenn du es doch einfach tun kannst?!“ Mit geweiteten Augen wich ich zur Seite. Was hatte er da gesagt? Klar, es war eine Aufforderung, doch konnte ich... sie ernst nehmen? Das konnte er doch unmöglich so meinen... „Sagst du das zu all deinen Patienten?“ Die Frage war mir rausgerutscht und ich hätte sie so gerne wieder zurückgenommen. Ich wusste, auch ohne, dass er es je gesagt hatte, dass ich etwas besonderes für ihn war. Wieso also warf ich ihm nun das vor? Schutzmechanismus? Beschämt wollte ich wegsehen, doch seine Hand an meinem Kinn hielt mich auf. Er lächelte noch immer und schüttelte den Kopf. „Nein, so etwas peinliche sag ich nur zu dir.“ Erst da sah ich, dass auch seine Wangen rot leuchteten, merkte erst jetzt, dass seine Hand leicht zitterte... dass er ebenso nervös war wie ich. Es sollte unser erster Kuss werden, und als sich seine Lippen vorsichtig auf meine legten, durchfuhr mich ein Gefühl, das ich noch nie zuvor gespürt hatte. Es war wie schweben, doch ganz anders, als wenn ich auf Droge war. Viel schöner. Diese Lippen, sie waren so unglaublich weich. Zögernd küsste ich nach einigen Sekunden zurück, spürte, wie er seine Lippen einen Spalt breit öffnete und die Konturen meiner Lippen mit seiner Zunge nachstrich. Es ließ mich ein weiteres mal erschaudern. Seine Hände legten sich in meinen Nacken... und als sich irgendwann unsere Zungen trafen, hatte ich das Gefühl zu explodieren. Diese unglaubliche Zärtlichkeit Nathans machte mich schier wahnsinnig. Da schlang ich beide Arme um ihn, erwiderte den Kuss leidenschaftlicher. Es war schöner als in jedem meiner Träume. Noch heute erinnere ich mich an unseren ersten Kuss, als wäre er soeben erst passiert... als könnte ich ihn noch immer schmecken. Vorsichtig verlagerte er kurz darauf sein Gewicht, so dass er mich in die Kissen drückte. Er krabbelte über mich, führte den leidenschaftlicher werdenden Kuss fort... Erst nach einer halben Ewigkeit trennten wir uns keuchend voneinander. Er hatte mir wortwörtlich den Atem geraubt. Noch immer eng umschlungen sagte zunächst keiner ein Wort. Ich hielt weiterhin meine Augen geschlossen, ließ den Kuss auf mich wirken. Es war so unglaublich schön gewesen. Irgendwie schaffte ich es dann, meine Augen zu öffnen und ihn anzusehen. Ich erwidert das Lächeln, welches er mir schenkte... Seine Augen strahlen. „Bitte lass es nicht das letzte Mal gewesen sein...“, flüsterte ich schüchtern. „Kein Angst... wenn du willst, wird es nie ein letztes Mal geben...“, flüsterte er zärtlich und sah mich mit hochroten Wangen zärtlich an. Ich nickte, streckte mich, küsste ihn erneut und verlor mich darin. Nie hätte ich geglaubt, dass es so wunderschön sein könnte, einen Menschen zu küssen... Alles was ich bisher erlebt hatte, war grob gewesen... alles was er mir schenkte, war eine zärtliche Leidenschaft. Als wir uns wieder voneinander trennten, erkannte ich zum ersten Mal, dass auch auf seinem Gesicht wirkliche Schüchternheit liegen konnte... und dies machte ihn nur noch schöner. Zögernd hob Nathan seine Hand, strich mir über die Wange. Mit dem andren Arm zog er mich näher zu sich, küsste mir die Träne weg, die meine Freude verriet. „Ich lasse dich nie wieder los...“, flüsterte er. ~ * ~ Auch jetzt laufen Tränen meine Wangen hinunter. Es sind andere Tränen und es ist niemand mehr da, um sie aufzufangen. Ich küsse das Bild an meiner Wand. „Ich liebe dich so sehr...“ Die selben Worte wie ich sie ihm schon in jener Nacht sagte... und noch heute sind sie genauso wahr wie damals... heute, fast vier Jahre später. Wenn ich daran zurückdenke, meine Augen schließe, sehe ich ihn genau vor mir, wie er dort neben mir lag, in diesem kleinen, sterilen Krankenbett. Damals, für diesen Augenblick dachte ich wirklich, für immer glücklich werden zu können, und dennoch prägte sich mir dieses Bild tief in mein Gedächtnis, als wolle es sicher gehen, nie vergessen zu werden... Teil 5 - Ende Epilog: Am andren Ende des Regenbogens -------------------------------------- Ich weiß nicht, womit wir gerechnet haben, als wir uns an jenem Abend unsere Liebe gestanden... als wir an jenem Abend zum ersten Mal miteinander schliefen... als ich zum ersten Mal spürte, wie schön Sex sein kann, wie schön es ist, einer anderen Person auf diese Weise nahe zu sein. Ich habe keine Ahnung, wie wir uns damals die Zukunft vorstellten... Denn... selbst wenn wir uns liebten, so waren wir noch immer hier, so saß ich noch immer in dieser Anstalt fest, so war er noch immer ein Mitarbeiter dieser. ... So durften wir uns nicht lieben. Das Ganze ging lange gut, und doch viel zu kurz. Drei Monate hatten wir zusammen, danach war alles vorbei. Drei Monate, in denen wir uns nicht besonders oft sahen, da ich wieder auf Station kam und mir nur noch zwei Termine pro Woche zugeteilt wurden... und dennoch waren es drei wunderschöne Monate, an die ich gerne, viel zu gerne zurückdenke. Drei Monate... die viel zu schnell zuende waren. Ich weiß bis heute nicht, wie es aufgeflogen ist, wie die Leitung davon erfuhr... wie es dazu kam, dass es plötzlich alle wussten. Und als ich erfuhr, dass es kein Geheimnis mehr war, war er schon weg. Verschwunden aus meinem Leben. Und ich habe mich noch nicht mal verabschieden können. Ehe ich mich versah, saß ich bei einem anderen Therapeuten auf dem Stuhl, einem alten Mann, der mich grimmig empfing und mich sogleich versuchte auszuquetschen... Ehe ich mich versah, schwieg ich wieder die meiste Zeit... Ehe ich mich versah, war ich wieder der, der ich noch ein paar Monate zuvor gewesen war... Und ehe ich mich versah, hielt ich wieder eine Spritze in der Hand, drückte sie gegen meine Haut. Doch ich stach nicht zu. Ich wollte es, ich wollte es wirklich, doch ich tat es nicht. Ich sah ihn vor mir, wie er zärtlich lächelnd sagte, er sei so froh, dass ich weg von dem Zeug war... Ja... ich war doch weg von dem Zeug... Ich feuerte die Spritze weg und sie zersprang, verspritze das abhängigmachende Gift an der Wand. Dann brach ich in Tränen aus. Zum ersten Mal seit zwei Wochen... Zum ersten Mal seit ich wieder alleine war. Zum ersten Mal seit er... weg war. Ich weinte stundenlang, weinte mich in den Schlaf, tauchte tränenüberströmt wieder aus diesem hervor. Ich konnte einfach nicht aufhören, weinte noch am Morgen, als die Zelle aufgeschlossen wurde... und als sie die Splitter der Spritze bemerkten. Daraufhin wurde meine ganzer Körper nach Einstichspuren abgesucht und Blut entnahmen sie mir... Ich ließ es alles über mich ergehen. Es war mir egal, so wie mir seit zwei Wochen alles egal war. Alles außer er... Nur er... Die folgenden Nächte schlief ich kaum und ich weinte viel. Ich zerriss das einzige Foto, das ich von ihm habe, und klebte es sofort wieder zusammen... verlagerte es von meinem Versteck an meine Wand... an die Stelle, wo es noch immer hängt. Vier Jahre später. Ich habe nichts von ihm gehört, in diesen vier Jahren. Man könnte sagen, ich weiß noch nicht einmal, ob er noch lebt. Und ich weiß nicht, ob er mich noch liebt. Ich tue es noch, auch nach all dieser Zeit. Ich kann einfach nicht damit aufhören, egal wie sehr ich ihn dafür hasse, dass er sich nicht meldet. Ich sehne mich nach ihm, nach seinen Berührungen, seinen Augen, seinem Lächeln, seiner Stimme, seiner Haut... nach allem von ihm. Ich kann einfach nicht damit aufhören, mich nach ihm zu verzehren. Aber vielleicht ist es gut so... Denn er ist der einzige Grund, weshalb ich noch lebe... Er ist der einzige Grund, weshalb ich nicht wieder auf Drogen bin... Der einzige Grund, weshalb ich Tag für Tag weiter lebe in diesem Grau... Weshalb ich mich mehr als alles andere nach dem Tag sehne, an dem ich endlich wieder frei bin. Dann, in zwei Jahre, werde ich ihn suchen gehen. Ich werde ihn finden... Ich werde ihn wieder küssen und berühren... Und ich werde darum betteln, dass er sein Versprechen einhält, das er mir damals gab... „Ich lasse dich nie wieder los...“ ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ Er schließt das Buch und schließt die Augen. Tränen rinnen seine Wangen hinab. Sein Herz schmerzt, seine Kehle brennt... alles tut weh, wie immer wieder seit jenem Tag. Seit jenem Tag, als er gehen musste... als er keinen Abschied nehmen durfte. Er öffnet die Augen wieder. Sanft streicht er über den schlichten roten Einband, auf dem nur ein Zellentor abgebildet ist... zusammen mit den Worten in Schwarz: Tage der Erinnerungen ~ Zachery Black Vor mehr als fünf Monaten erschien dieses Buch... jetzt erst hat er es entdeckt, in dieser kleinen Buchhandlung an der Ecke. Schon als er den Namen las, hätte er in Tränen ausbrechen können. Es ist seine Geschichte, und die der Person, die er liebt. Der Person, auf die er seit vier Jahren wartet... Auf die er warten wird, bis zu jenem Tag, wenn die Tore ihm geöffnet werden. Dann wird er davorstehen, wird die Arme ausbreiten, wird ihn anlächeln... Er wird ihm sagen, dass er ihn nicht eine Sekunde vergessen hat... dass er ihn noch immer liebt... Dass sie jetzt nie wieder etwas trennen kann.... Dass er ihn nie wieder loslassen wird. ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ THE END (14. Mai 2006) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)