Tage der Erinnerungen von Stiffy ================================================================================ Kapitel 5: Endlich wir... ------------------------- Irgendwann, an einem Montag mehr als eine Woche nach Beginn meines zweiten Entzugsversuches wurde ich wie immer nach dem Frühstück zu Nathan gebracht... ein merkwürdiger Gefühlsausbruch empfing mich dort. Kaum war die Tür von außen geschlossen worden, kam er auf mich zu und zog mich in seine Arme, vergrub sein Gesicht in meinen verklebten Haaren. „Es tut mir leid...“, flüsterte er. Ich stand da wie angewurzelt. Nicht diese plötzliche Zärtlichkeit, sondern seine Worte verwirrten mich. Was war mit ihm los? Für einen Moment vergaß ich darüber sogar meine Schmerzen. In den letzten Tagen hatte ich immer mehr gespürt, wie viel er mir bedeutet. Ich sehnte mich nach seiner Nähe, und wenn er mir nah war, sehnte ich mich nach mehr. Ich wollte ihn küssen, berühren, spüren. Hatte er nicht gesagt, ich solle mir etwas suchen, was mich anstatt der Drogen glücklich macht? Ich hatte es gefunden: Ihn. Ich wollte nie wieder ohne ihn sein. Jede Minute, nein jede Sekunde ohne ihn, war eine Qual, fast so eine Qual wie mein Entzug, doch auf eine andre Art. Alles in allem liebte ich ihn mit jedem Haar, jeder Zelle meines Körpers. Ich liebte alles an ihn. Seine Haare, deren Geruch mir ziemlich bald so vertraut war, seine Lippen, nach denen es mich verlangte, seine Hände, die mich ab und zu zärtlich streichelten oder massierten, und besonders seine Augen. Das Glitzern in ihnen, wenn er mich ansah, werde ich niemals vergessen. Doch mehr als dies alles, liebte ich ihn selbst. Sein Körper war nur eine Hülle, aber sein Inneres war noch viel schöner. Seine Art, die von Anfang an so eine magische Wirkung auf mich gehabt hatte. Er schaffte es sogar, mich fröhlich zu stimmen, einfach nur, wenn er mich wieder einmal frech angrinste. Ja, ich liebte ihn, doch er wusste es nicht. Ich hatte mehr als einmal überlegt es ihm zu sagen, doch ich konnte nicht. Es war nicht nur die Liebe zu einem Mann, sondern auch durch seinen Beruf verboten... Was wenn er mich verstoßen würde? Ich wollte ihn nicht verlieren. Er war der einzige Mensch, den ich hatte, er war so wahnsinnig stark und bewundernswert... war mir so unglaublich wichtig. Und nun lag er in meinen Armen und entschuldigte sich für irgendwas... Es war das erste Mal, dass ich etwas für ihn hätte tun müssen, doch ich wusste nicht was. Ich war doch überhaupt nicht geübt im Umgang mit Menschen, ich war nicht so einfühlsam oder nett wie er... „Was?“ Ich flüsterte meine Frage und bekam keine Antwort. Ich fühlte mich so unnütz und hilflos. Lange standen wir nicht so da, denn bald löste er sich von mir, sah mich etwas erschrocken an – erschrocken über sich selbst? „Vergiss das jetzt bitte...“ Damit drehte er sich um und ging zu einem Stuhl, deutete mir, mich auf den anderen zu setzen. Ich ging dem nach, sah ihn an, wie er meinem Blick auswich. Ich wollte ihm doch so gerne helfen... doch wie sollte gerade ich dazu in der Lage sein? Ich fragte nicht mehr nach, auch wenn ich es gern getan hätte. Ich erfuhr nie, was damals mit ihm los war und fragte auch nie. Heute bereue ich es irgendwie, obwohl es die Zukunft wohl auch nicht sonderlich beeinflusst hätte. Zwei Wochen nach Entzugsbeginn... Von Tag zu Tag wurde es schwerer, nicht einfach wieder Drogen zu nehmen. Mein Körper schrie danach, hielt sich kaum noch aufrecht. Entweder lag ich auf der Liege bei Nathan oder im Bett in meiner Zelle. Alles verkrampfte sich. Ich sah und hörte nicht mehr viel, bekam alles nur noch wie aus weiter Ferne mit. Keiner kümmerte sich um mich – hier sorgt sich ja eh nur jeder um sich selbst – außer Nathan. Er half mir jeden einzelnen Tag durchzuhalten, einfach nur dadurch, dass er da war. Nach einer weiteren Woche sorgte Nathan dafür, dass ich endlich auf die Krankenstation verlegt wurde. Nun krümmte ich mich also dort. Gegessen hatte ich schon länger nichts mehr, da ich einfach nicht konnte, alles immer wieder nur herauswürgen würde. Nathan wusste es nicht, doch dann kam er mich während des Mittagessens auf meinem Krankenzimmer besuchen. Er war täglich hier, in den Therapiezeiten, aber nie außerhalb davon. An diesem Tag – ich glaube es war vier Tage her, dass ich das letzte Mal etwas festes angerührt hatte – setzte er sich wie immer an mein Bett, was ich erst dann realisierte, als er nach meiner Hand griff. Ich blinzelte ihn kurz an, wurde dann jedoch von der neuen Schmerzattacke zum Augenschließen gezwungen. Kurz darauf klopfte es an der Tür und eine der drei unfreundlichen Krankenschwestern trat ein. Sie stellte das Tablett mit dem Mittagessen ab und wandt sich zum Gehen. Ich betete dafür, dass sie heute nichts sagen würde, doch ich wurde nicht erhört. Sie blieb stehen und blickte zurück. „Sorgen Sie mal dafür, dass er etwas isst, sonst ist er früher hier weg, als es uns lieb ist...“ Damit verschwand sie. Hätte ich genug Kraft gehabt, hätte ich ihr den Teller mit dem Essen hinterhergeworfen. Stattdessen verfluchte ich sie im Stillen. Ich wollte gar nicht wissen, was Nathan jetzt machen würde... „Zach, hast du etwa nichts...“ Ich sah ihn nicht an, aber ich wusste genau, wie sein Blick zu deuten war. Ich hatte es an seinem Ton gehört. Da war kein Hauch von Wut, er machte sich Sorgen. Ich konnte auf seine Frage nicht antworten. Was denn auch? Ja, es war wahr, doch ich konnte es nicht einfach zugeben. „Zachery!“ Seine Stimme wurde ernster. Nun versuchte ich doch meine Augen zu öffnen, blinzelte ihn an. Im nächsten Moment drückte er mich die Kissen und er sah mir fest in die Augen. „Sag mal, willst du krepieren? Willst du das?“ Nun war doch ein wenig Wut in seiner Stimme... oder eher Verzweiflung? Kraftlos schüttelte ich den Kopf. „Und warum isst du dann nichts verdammt noch mal? Denkst du mir ist das gerade erst aufgefallen? Verdammt! Ich hab schon länger gesehen, dass du immer dünner wirst... du verhungerst, wenn das so weiter geht!“ Ich war unglaublich erschrocken in diesem Moment. Er hatte geschrieen und seine Augen zeigten, dass es ihm ernst war. Ich fühlte mich so klein und dumm, und doch bekam ich nur ein schüchternes, tonloses „Ich kann aber nicht“ heraus. Da beugte er sich noch näher zu mir herunter und flüsterte: „Verdammt noch mal... Tu es für mich!“ Alle Wut war mit einem Mal verschwunden und nur diese sanften Worte blieben zurück. Ich hielt seinem Blick nicht mehr stand, sah zur Seite und fühlte mich jämmerlich. Ich war so schwach ihm gegenüber... Langsam nickte ich. Er ließ mich los, setzte sich wieder richtig hin und nahm den Deckel vom Tablett. Mich interessierte nicht, was darauf lag, ich würdigte es keines Blickes. Nur einige Sekunden später schwebte ein Gabel vor meinem Gesicht herum. Darüber hinweg sah ich ihn an. Sein Blick war bittend... und so öffnete ich meine Lippen, nahm das Essen entgegen, von dessen Geruch allein mir schon schlecht wurde. Ich schmeckte nichts, hätte es am liebsten wieder ausgespuckt. Ich tat es nicht, kaute nur monoton und schluckte. Ein Bissen nach dem anderen und auch wenn mich höllische Schmerzen dabei durchzogen, so ertrug ich sie... für ihn. Als er die gegessene Menge für gut befand, legte er die Gabel beiseite, strich durch mein verschwitztes Haar. Seine Hand blieb an meinem Ohr liegen und er sah mich sanft an. Für einen Moment vergaß ich alles, sogar die Schmerzen, und sah nur noch sein wunderschönes Gesicht. Warum tat er das alles? Warum war er so führsorglich, so oft bei mir? Ich fühlte mich so wohl damit, fühlte mich nicht mehr allein. Doch langsam bekam ich auch Angst. Angst davor, dass er irgendwann nicht mehr bei mir sein würde, wenn ich ihn brauchte. Dass er mich wieder allein ließe, sich um jemanden mehr als um mich kümmerte. Ich hatte davor Angst, dass er dies alles nur tat, weil ich sein Patient war. Was wenn er nur wollte, dass ich von den Drogen runter kam? Was hätte ich dann gemacht? Allein der Gedanke war schrecklich. Ich schloss meine Augen und während seine Hand noch immer an meinem Kopf ruhte, spürte ich plötzlich etwas auf meiner Stirn. Nicht länger als eine Sekund verweilten seine Lippen dort, hinterließen nur einen winzigen Kuss, doch es war unglaublich. Ein wohliges Kribbeln durchzog mich von oben bis unten. „Ich kann heute Nachmittag nicht herkommen... aber heute Abend komme ich noch mal kurz vorbei“, sprach er und strich nochmals durch mein Haar, „Schlaf am besten ein wenig...“ Traurig nickte ich und sah ihm nach, wie er mein Zimmer verließ. Dabei wusste ich, dass von Schlaf keine Rede sein konnte. Stundenlang hielten die Schmerzen mich wach. Und so ging mein Entzug weiter. Es ist wahnsinnig schwer, sich noch daran zu erinnern, da ich entweder schlief oder so durcheinander war und von Schmerzen gequält wurde, dass ich nichts wirklich mitbekam. Mit jedem weiteren Tag verblassen die Erinnerungen daran wie ein Nebel... Ich weiß nur noch am Rande, dass Nathan nun immer länger blieb, sowohl Mittags als auch Abends wartete, bis ich etwas gegessen hatte. Ich glaube, er kümmerte sich wirklich liebevoll um mich und bald hatte ich das Gefühl, keine Sekunde mehr ohne ihn auszuhalten, selbst wenn ich die Berührungen, die er mir schenkte, kaum wahrnahm. Doch sobald ich wusste, dass er nicht mehr da war, hatte ich das Gefühl, nur noch mehr zu leiden. Es waren schreckliche Stunden, die ich durchlebte, egal ob mit oder ohne ihn... Es waren Tage der Qual, ich glaubte, sterben zu müssen... und manchmal wollte ich es auch. Doch während all das zunächst unerträglich war, so ging es doch schließlich bergauf. Ganz langsam zwar... doch irgendwann wurde mir bewusst, dass ich es fast geschafft hatte. In dieser Zeit war der Winter vorbeigegangen und es wurde Frühling. Es war der Frühling vor vier Jahren. Der schönste, den ich je erleben durfte. Unser kleiner verkrüppelter Baum blühte wieder. So gerne wäre ich raus gegangen, doch ich musste immer noch auf der Krankenstation bleiben. Die Aasgeier meinten, es wäre noch zu riskant mich zu den anderen zu lassen. In Wirklichkeit wollten sie sich wohl nur nicht den Stress antun, von dem sie dachten, der sich durch meine Anwesenheit auf Station verbreiten würde. Nathan kam weiterhin Tag für Tag, auch nachdem sein Arbeitsplan geändert wurde, da ich nicht mehr so viel Hilfe brauchte... Trotzdem war er jeden Abend bei mir, außerhalb der eigentlichen Therapiestunden. Es freute mich wahnsinnig, da so meine Angst, ihn zu verlieren, schrumpfte. Wir unterhielten uns viel und lange, auch wenn ich ihm nie etwa von mir erzählte... Eigentlich redete er die meiste Zeit und ich genoss es, ihm dabei zuzuhören. Manchmal brachte er mir Dinge mit, wie zum Beispiel Bücher. Die Langeweile würde mich sonst noch umbringen, lachte er. Dann aber eines Abends brachte er etwas mit, was mich ganz und gar nicht erfreute. Es war ein Handspiegel und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich gar nicht mehr wusste, wie ich aussah. Wie hatte ich es bloß all die Zeit geschafft, mir selbst aus dem Weg zu gehen? Nathan drückte mit den Griff des Spiegels in die Hand und sah mich auffordernd an. Doch ich weigerte mich, ließ ihn aufs Bett fallen. Wie lang war der letzte Blick in so ein Ding her? Ewigkeiten bestimmt. Es war ein Teil meines Lebens geworden, alles spiegelnde zu meiden. Ich dachte schon lange nicht mehr darüber nach, duckte mich unbewusst davor zurück und wenn ich tatsächlich etwas sehen hätte können, ignorierte ich es, nahm es nicht als meiniges wahr, drehte mich schnellstens wieder weg. Ich hatte Angst davor, mich selbst zu sehen, mein Gesicht, meine Augen... Nathan seufzte kurz, zeigte mir dann, ich solle etwas vorrücken. Ich tat es, setzte mich auf. Zu meinem Erstaunen setzte er sich hinter mich, zog mich an sich. Kurz zuckte ich zusammen, ließ es dann aber geschehen. Er legte die Arme um mich und den Kopf auf meine Schulter. „Wovor hast du Angst?“ Sein heißer Atem strich über meine Wange, kitzelte mich leicht. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu beruhigen und auf meine Angst zu lauschen. Ich hatte Angst vor der fremden Person, der ich begegnen könnte, vor dem Ungeheuer. Ein knappes „Vor mir“ verließ schließlich meine Lippen. Seine Hand griff nach meiner, drückte sie leicht. „Das brauchst du nicht... du hast dich verändert in den letzten Wochen...“ Konnte ich ihm glauben? Sollte ich es? Er gab mir den Spiegel erneut, umfasste meine Hand, in der ich das Ding hielt, dann hob er sie an, bis der Spiegel etwa auf Augenhöhe war. Ich blickte stur zur Seite, zitterte leicht und sah nur ein winziges Stück meiner Haare im Augenwinkel. Meine Angst wollte nicht verschwinden. „Ich bin bei dir“, flüsterte Nathan mir ins Ohr, was ein Kribbeln auslöste. Es vergingen noch ein paar weitere Minuten, bis ich meinen Kopf schließlich drehte, mich dabei innerlich auf das Schlimmste vorbereitete. Sobald ich das Spiegelbild sah, weiteten sich die Augen darin... der Ausdruck der Person im Spiegel wurde verwundert und nur schwer erkannte ich mich darin wieder. Ja, ich hatte mich verändert, sehr sogar. Die Haare waren zerzaust, aber sauber, reichten mir bis zum Kinn und umrahmte so ein schmales Gesicht. Dies war immer noch blass, doch lang nicht so erschreckend, wie ich es früher in Erinnerung hatte. Auch eingefallen war es nicht mehr so sehr. Außerdem sah die Person... sah ich älter aus, erwachsener. Kein Wunder. Am genaustes betrachtete ich meine Augen. Ich war wirklich erleichtert darüber, sie nicht von finsteren Ringe umrandet zu sehen... Nein, eigentlich sahen sie gar nicht mehr so hässlich aus, sondern strahlten mir überrascht entgegen. Nathan hatte mittlerweile meine Hände losgelassen, so dass ich mit meinen Fingern mein Gesicht berühren konnte. Sanft strich ich darüber, sah, wie dies auch im Spiegel geschah. Irgendwie fühlte es sich... schön an. „Du bist hübsch.“ Es bracht mich dazu, sein Spiegelbild anzusehen. Er lächelte sanft und ich erwiderte es, wurde dabei aber knallrot, was ich nun nicht nur spürte, sondern auch sah. Ich fühlte mich in diesem Moment als hätten wir etwas ganz Intimes geteilt... Dabei sollte es wohl eine der alltäglichsten Sachen auf der Welt sein. Er hatte sie mir zurückgegeben. „Danke...“, flüsterte ich und legte den Spiegel weg. Ich berührte stattdessen seine Hände und schloss die Augen, sah mich selbst vor ihnen... mich mit seinem Gesicht dahinter. Wann war ich das letzte mal einem Menschen so nah? Eigentlich doch noch nie. Es war dieser vollkommen vertraute Moment, indem ich zum ersten Mal wirklich bereit war, mich ihm voll und ganz zu öffnen, ihm wenigstens meine Geschichte zu erzählen, wenn er mir schon so viel gab. Ich drückte seine Hände ein wenig fester, schmiegte mich an ihn und fragte mich nur ganz kurz, ob ich überhaupt so fallen lassen durfte. „Ich bin ein Arschloch...“, sagte ich dann entschlossen und spürte, wie Nathan bei meinen Worten zusammenzuckte. „Quatsch, du-“ „Nein Nathan, wirklich... du weißt nicht, wie ich war...“ Er verfestigte seinen Griff. Zögernd öffnete ich meine Augen wieder, blickte nach hinten in seine. Einen Moment sagte niemand etwas. Dann: „Erzähl du mir... dein Leben?“ Es war eine sanft gesprochene Bitte und ich nickte zögernd. Ich wusste, dass es jetzt richtig sein würde... und dass ich es nun konnte. Ich vertraute ihm voll und ganz... Ich rückte etwas runter, so dass mein Kopf auf seiner Brust lag, schloss wieder die Augen und begann dann das erste Mal damit, über mein Leben zu sprechen... über all das, was seit meiner ersten Zigarette passiert war. Er hörte mir aufmerksam zu, unterbrach mich kein einziges Mal. Manchmal verstärkte er fast unmerklich den Druck seiner Arme um meinen Oberkörper oder streichelte vorsichtig darüber. Als ich bei dem Kapitel Prostitution ankam, zögerte ich. Sollte ich ihm auch das erzählen? Was würde er über mich denken? Würde er sich vielleicht vor mir ekeln, mich verabscheuen? Er schien mein Zögern zu bemerken. „Wenn du nicht willst, musst du nicht weiter erzählen...“ Das wohlige Kribbeln, das ich schon die ganze Zeit hatte, verstärkt sich bei seinen Worten. Diese liebe Person hatte es verdient, dass ich ihm alles erzählte... Ich schwieg nur noch einen Moment, erzählte dann langsam weiter. Meine Angst, dass er sich abwenden könnte, war unbegründet. Er sagte gar nichts dazu und auch sein Griff lockerte sich kein Stück, im Gegenteil... Als ich schließlich beim letzten Teil, bei Jenny ankam, musste ich schlucken. Zugegeben, ich hatte lange nicht mehr an sie gedacht, hatte es wohl eher verdrängt. Mir war auch klar, dass er aus meiner Akte bestimmt wusste, dass ich für ihren Tod verantwortlich war, doch ich wollte es ihm trotzdem erzählen. Wollte, dass er es von mir hört. Ich begann, brach aber oftmals ab. Ich versuchte die Tränen, die ich schon die ganze Zeit weinen wollte, noch einen Moment lang zu unterdrücken... schaffte es schließlich, meinen Bericht abzuschließen... und konnte mich dann kaum noch zurückhalten. Ich drehte mich um in seinen Armen, drängte mich an ihn und durchnässte sein Hemd. Sanft strich seine Hand über meinen Rücken, mehr nicht. Und genau das war es, was ich jetzt brauchte. Mir tat es gut, dass er nicht wie wild auf mich einredete... Ich hatte in den letzten Wochen von allein begriffen, wie sehr ich mein Leben zerstört hatte... Irgendwann schlief ich in seinen Armen ein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er fort. Natürlich, was hatte ich auch anderes erwartet?! Wenn uns irgendjemand so gesehen hätte... Es war gar nicht auszudenken. Sowieso wurde mir erst an diesem Morgen wirklich bewusst, in was für eine Gefahr er sich begab. Was, wenn jemand reinkommen würde, und sähe, wie zärtlich er mich behandelt? Dass er es dennoch tat, freute mich ungemein und ließ meine Vernunft eher im Hintergrund stehen. Ich träumte an diesem Tag vor mich hin... überlegte, wie es wäre, neben ihm aufzuwachen... dann von ihm geküsst zu werden. Ich sehnte mich so danach, es rauszufinden, auch wenn mir klar war, dass es wohl nie eintreffen würde... Doch zumindest einen Teil dieses Traums erfüllte er mir... Es war ein wunderschönen Apriltag, und er saß an meinem Bett und hielt meine Hand. Er erzählte mal wieder ein paar Kleinigkeiten und kam dadurch plötzlich auf diese eine Frage... „Was ist dein allergrößter Wunsch?“ Erschrocken sah ich ihn an und wurde wohl augenblicklich knallrot. Ich konnte ihm doch niemals die Wahrheit sagen, aber anlügen wollte ich ihn doch genauso wenig... Schüchtern blickte ich zur Decke und suchte nach richtigen Worten... sollte ich es ihm tatsächlich sagen? Und was wenn er... wenn... „Dich ein einziges Mal... küssen zu dürfen...“ Ich erwartete ein Lachen oder dass er meine Hand losließ, mich vielleicht anschreien oder angeekelt ansehen würde... doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen spürte ich plötzlich seinen heißen Atem an meiner Wange. Erschrocken drehte ich sofort den Kopf zu ihm, starrte in sein Gesicht, dass nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Er lächelte. Was hatte das zu bedeuten? Wollte er sich über mich lustig machen? „Wieso wünschen, wenn du es doch einfach tun kannst?!“ Mit geweiteten Augen wich ich zur Seite. Was hatte er da gesagt? Klar, es war eine Aufforderung, doch konnte ich... sie ernst nehmen? Das konnte er doch unmöglich so meinen... „Sagst du das zu all deinen Patienten?“ Die Frage war mir rausgerutscht und ich hätte sie so gerne wieder zurückgenommen. Ich wusste, auch ohne, dass er es je gesagt hatte, dass ich etwas besonderes für ihn war. Wieso also warf ich ihm nun das vor? Schutzmechanismus? Beschämt wollte ich wegsehen, doch seine Hand an meinem Kinn hielt mich auf. Er lächelte noch immer und schüttelte den Kopf. „Nein, so etwas peinliche sag ich nur zu dir.“ Erst da sah ich, dass auch seine Wangen rot leuchteten, merkte erst jetzt, dass seine Hand leicht zitterte... dass er ebenso nervös war wie ich. Es sollte unser erster Kuss werden, und als sich seine Lippen vorsichtig auf meine legten, durchfuhr mich ein Gefühl, das ich noch nie zuvor gespürt hatte. Es war wie schweben, doch ganz anders, als wenn ich auf Droge war. Viel schöner. Diese Lippen, sie waren so unglaublich weich. Zögernd küsste ich nach einigen Sekunden zurück, spürte, wie er seine Lippen einen Spalt breit öffnete und die Konturen meiner Lippen mit seiner Zunge nachstrich. Es ließ mich ein weiteres mal erschaudern. Seine Hände legten sich in meinen Nacken... und als sich irgendwann unsere Zungen trafen, hatte ich das Gefühl zu explodieren. Diese unglaubliche Zärtlichkeit Nathans machte mich schier wahnsinnig. Da schlang ich beide Arme um ihn, erwiderte den Kuss leidenschaftlicher. Es war schöner als in jedem meiner Träume. Noch heute erinnere ich mich an unseren ersten Kuss, als wäre er soeben erst passiert... als könnte ich ihn noch immer schmecken. Vorsichtig verlagerte er kurz darauf sein Gewicht, so dass er mich in die Kissen drückte. Er krabbelte über mich, führte den leidenschaftlicher werdenden Kuss fort... Erst nach einer halben Ewigkeit trennten wir uns keuchend voneinander. Er hatte mir wortwörtlich den Atem geraubt. Noch immer eng umschlungen sagte zunächst keiner ein Wort. Ich hielt weiterhin meine Augen geschlossen, ließ den Kuss auf mich wirken. Es war so unglaublich schön gewesen. Irgendwie schaffte ich es dann, meine Augen zu öffnen und ihn anzusehen. Ich erwidert das Lächeln, welches er mir schenkte... Seine Augen strahlen. „Bitte lass es nicht das letzte Mal gewesen sein...“, flüsterte ich schüchtern. „Kein Angst... wenn du willst, wird es nie ein letztes Mal geben...“, flüsterte er zärtlich und sah mich mit hochroten Wangen zärtlich an. Ich nickte, streckte mich, küsste ihn erneut und verlor mich darin. Nie hätte ich geglaubt, dass es so wunderschön sein könnte, einen Menschen zu küssen... Alles was ich bisher erlebt hatte, war grob gewesen... alles was er mir schenkte, war eine zärtliche Leidenschaft. Als wir uns wieder voneinander trennten, erkannte ich zum ersten Mal, dass auch auf seinem Gesicht wirkliche Schüchternheit liegen konnte... und dies machte ihn nur noch schöner. Zögernd hob Nathan seine Hand, strich mir über die Wange. Mit dem andren Arm zog er mich näher zu sich, küsste mir die Träne weg, die meine Freude verriet. „Ich lasse dich nie wieder los...“, flüsterte er. ~ * ~ Auch jetzt laufen Tränen meine Wangen hinunter. Es sind andere Tränen und es ist niemand mehr da, um sie aufzufangen. Ich küsse das Bild an meiner Wand. „Ich liebe dich so sehr...“ Die selben Worte wie ich sie ihm schon in jener Nacht sagte... und noch heute sind sie genauso wahr wie damals... heute, fast vier Jahre später. Wenn ich daran zurückdenke, meine Augen schließe, sehe ich ihn genau vor mir, wie er dort neben mir lag, in diesem kleinen, sterilen Krankenbett. Damals, für diesen Augenblick dachte ich wirklich, für immer glücklich werden zu können, und dennoch prägte sich mir dieses Bild tief in mein Gedächtnis, als wolle es sicher gehen, nie vergessen zu werden... Teil 5 - Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)