Alles wegen Rioroute von Monkey-D-Suria ================================================================================ Kapitel 7: Das Fest ------------------- Es begann alles mit einem Nachmittag Anfang Oktober … „Helen, würdest du bitte noch kurz zu mir kommen? Ich möchte etwas mit dir besprechen!“ Neugierig schaute ich auf. Unsere Chorprobe war gerade zu Ende und ich war gerade dabei gewesen, meine Jacke anzuziehen, als mich Mrs. Whitton, unsere Musiklehrerin und gleichzeitig Chorleiterin angesprochen hatte. „Ja, okay, ich komme sofort“, antwortete ich. Was würde Mrs. Whitton wohl von mir wollen? War ich heute etwa so schlecht gewesen? Ich schaute aus dem Fenster. Es war ein wunderschöner Herbstnachmittag: die Sonne schien und die gelben und roten Blätter fielen von den Bäumen und – Na ja, lieber Leser, so wie ich Sie kenne, würden Sie sicher lieber lesen, was es in der Zwischenzeit Neues von Rioroute gab, oder? Nun, es waren gut drei Monate vergangen, seit ich ihn das erste Mal auf der Hochzeit meiner Cousine getroffen hatte. Und nach all diesen Monaten durfte ich endlich einen neuen Zustand genießen: nämlich den, dass mich dieser Kerl schon seit einer Woche nicht mehr gesprochen hatte. Als ich nach meiner „Krankheit“ wieder zur Schule zurückkehrte, zog Rioroute nämlich genau das durch, was er vorher versprochen hatte – er ignorierte mich wohlweislich! Richtig: keine dummen Anmachsprüche, keine sinnlosen Liebesbekundungen, kein Verfolgen mehr, gar nichts! Er verbrachte nicht mal mehr die Pausen mit Drake, weil auch Ritz und ich immer mit dabei waren. Stattdessen stand er entweder bei Shinichi herum oder er redete mit Saiki und Shampoo. Nun ja, er redete nicht nur mit den beiden. Er erzählte ihnen immer irgendwelche Geschichten, bei denen sich die beiden vor Lachen ausschütteten oder er flirtete mit ihnen. Shampoo war jetzt so selig, dass ihr Schwarm nun immer in ihrer Nähe war und sie anbaggerte. Ich, die es aber besser wusste, würde es anders formulieren: sie offenbar anbaggerte. Denn mir war trotzdem nicht entgangen, dass er mir bei seinen Flirts mit den Mädchen immer wieder Seitenblicke zuwarf – kurz und aus den Augenwinkeln zwar, aber immerhin. Wahrscheinlich wollte er abschätzen, wie ich darauf reagieren würde. Nun, wenn ich ehrlich war … ich war wütend. Dass er nun auf solche Maßnahmen zurückgreifen musste! Wie ein Kleinkind, das seine Freundin eifersüchtig machen will! (Sagte ich gerade Freundin? BÄH!) Was aber noch schlimmer war, dass Shampoo sich durch seine dummen Aktionen Hoffnungen machte und mir entsetzlich Leid tat. Außerdem ignorierte er mich nicht vollständig. Ab und an, wenn ich ihn aus den Augenwinkeln beobachtete, sah ich, wie er mich eindringlich anschaute, ernst und traurig. Wenn ich aber zu ihm schaute, sah er weg. Und was das Schlimmste daran war: ich fühlte mich schuldig. Klar wollte ich nicht, dass er für den Rest meines Lebens an mir haften blieb, wie ein Blutegel. Aber ihn verletzen wollte ich genauso wenig. Aber so viel dazu. Ich folgte Mrs. Whitton in einen kleinen Raum neben dem, in dem wir regelmäßig unsere Chorproben abhielten und fragte: „Sie wollten mich sprechen, Mrs Whitton?“ Die Chorlehrerin sagte: „Nun ja, Helen … ich habe nämlich einen Vorschlag … nein, vielmehr ist das eine Bitte. Also, wie du weißt, steht bald unser Schulfest vor der Tür.“ Ich nickte. Das Schulfest war eine Jubiläumsfeier zum 20jährigen Bestehen unserer Schule. Und das sollte an einem Samstag in drei Wochen mit allem Drum und Dran gefeiert werden. Die Sport-AG’s veranstalteten Spiele für die Kleinen, die Kunstclubs arbeiteten daran, die Wände der Schule besonders zu verschönern (Ritz roch in letzter Zeit nur noch nach Farbe und war wegen dem ganzen Stress so zickig, dass sie jeden anblaffte, wenn er oder sie sie falsch ansah) und es gab sogar ein kleines Festprogramm. Die Theater-AG hatte etwas einstudiert und nun vermutete ich, dass auch unser Chor natürlich nicht tatenlos bleiben würde. Wie erwartet, erzählte Mrs Whitton: „Ja, und ich habe mir auch gedacht, dass auch unser Chor einen kleinen Beitrag dazu leisten könnte. Ich habe mir nämlich überlegt, dass wir für das Fest einige moderne Lieder vortragen könnten. Jetzt habe ich mir vorab überlegt, wer welchen Part singen könnte. Und deshalb habe ich dich zu mir gerufen.“ Ich holte tief Luft. Jetzt käme sicher etwas von Souffleuse oder Requisiten oder so was. Na ja, was soll’s … wenn’s weiter nichts war … Wie falsch ich doch mit meinen Vermutungen lag! Die Lehrerin fuhr fort: „Ich habe mir schon überlegt, welche Lieder wir singen würden. Und einige davon können meiner Meinung nach nur dann ganz besonders gut gesungen werden, wenn diese in einem Solo interpretiert werden. Eins davon ist ‚Get here’ von Oleta Adams; ein Lied, das mir besonders am Herzen liegt. Ich denke, wir könnten das quasi als Abschluss unseres Beitrages sehen. Ich habe lange überlegt, wer von uns das Lied singen könnte. Und bin zu dem Schluss gekommen, dass nur eine Stimme wirklich dazu passt. “ Ich machte große Augen. Es kam doch jetzt nicht allen Ernstes das, was ich glaubte, was nun kommen würde! „Deshalb möchte ich dich fragen, ob du Interesse daran hättest, das Lied zu singen?“ BANG! Tatsächlich! Es kam genau das! Und trotzdem war ich wie erschlagen … Ich … in einem Solopart … und das auch noch während eines ganzen Liedes! Und dazu noch solch ein schweres Lied! Und obendrein als Letzte! Mir wurde leicht schummrig und ich musste mich an einem Stuhl festhalten. Ich kann das nicht. Es geht nicht. Ich bin doch nicht gut genug! Außerdem wollte ich da nicht die alleinige Aufmerksamkeit auf mich ziehen! Wieso konnte ich nicht einfach ganz hinten stehen und im Chor mit allen anderen singen? „Ich weiß nicht, ob ich die richtige Person dafür bin“, antwortete ich matt. „Und wieso nicht?“ Die Lehrerin war tatsächlich verwirrt. Das heißt also, dass sie ihren Vorschlag ernst gemeint hatte! Sie wollte mich nicht veräppeln! „Ich … ich meine … wieso kommen Sie auf mich?“, stammelte ich. „Es gibt in unserem Chor so viele gute Sängerinnen, viele davon sind weit besser, als ich! Ich … ich würde mich doch mit diesem Lied nur hoffnungslos überfordern! Außerdem … ich mag das nicht, wenn mich alle anstarren …“ Verlegen schaute ich zu Boden. Mrs Whitton wartete, bis ich zu Ende gestottert hatte und fragte: „Bist du jetzt fertig? Dann hör mir zu, was ich dir sagen will. Du singst hier schon so lange und dein Gesang hat sich stetig verbessert. Sicher, es ist nicht perfekt und du hast, wie ich schon oft angemerkt habe, eine Technik, die noch ausbaufähig ist, aber du hast etwas in deiner Stimme, was so kein anderes Chormitglied hat: viel Gefühl. Du legst mehr Gefühl in einen einzelnen Ton, als manche in ein gesamtes Lied. Und genau das ist das Wichtigste für ‚Get Here’!“ Und dann sagte sie mir etwas, was ich zum einen sehr ungeheuerlich fand und mich zum anderen stark zum Nachdenken brachte: „Helen, ich kenne dich schon so lange. Ich habe dich immer beobachtet. Du hast dich sowohl bei den Proben, als auch bei den Auftritten immer hinter den Rücken der anderen verschanzt und hast ungefähr so laut gesungen, wie eine Hundepfeife. Und das lag nie daran, dass du wirklich schlecht warst, nein, im Gegenteil! Es war vielmehr dein niedriges Selbstbewusstsein! Du wolltest einfach nicht auffallen! Und genau das ist der Grund, wieso du diesen Solopart nicht willst, oder? Warum versteckst du dich hinter den anderen?“ Ich öffnete den Mund, um zu antworten und schloss ihn wieder. Dann öffnete ich ihn wieder, nur um ihn wieder zu schließen. Mir fehlten die Worte. „Habe ich denn keinen Grund dazu“, hörte ich mich auf einmal wieder sprechen. „Ich … ich bin keine Meistersängerin. Und … auch sonst nichts, was man sich gerne anschaut. Ich … ich mag nicht ausgelacht werden …“ Die Lehrerin seufzte: „Und genau das meine ich mit ‚niedriges Selbstbewusstsein’. Du darfst nicht niemals schlechter sehen, als du bist. Denn dann werden dich alle auch so sehen. Wenn ich ehrlich sein soll, ich verstehe nicht, warum du dich so siehst. Du bist eine tolle Sängerin und ein hübsches Mädchen. Und niemand wird dich auslachen. Du musst einfach immer deinen Kopf hochhalten und dir sagen, dass du so, wie du bist, einfach perfekt bist.“ Ich wurde rot und gleichzeitig begannen meine Augen zu brennen. „Ich will ehrlich zu dir sein: ich akzeptiere kein ‚Nein’“, sagte die Lehrerin. „Ich bestehe darauf, dass du das Lied singst. Ansonsten werde ich es wieder aus dem Programm nehmen und auf ewig sauer auf dich sein. Ich werde fortan nur noch ‚Sie’ zu dir sagen und dir immer, wenn ich dich sehe, die Zunge rausstrecken!“ Sie zwinkerte mir schalkhaft zu und nun musste ich lachen. „Okay, ich singe das Lied! Aber nur unter einer Bedingung: wenn Sie mich bei den Vorbereitungen unterstützen!“, antwortete ich. „Was wäre ich denn für eine Chorleiterin, wenn ich das NICHT täte?“, fragte Mrs. Whitton. So steckte auch ich in der nächsten Zeit in emsigen Vorbereitungen für das Schulfest. Es galt, alle Lieder, außer, die, in denen ich keinen Gesangsbeitrag hatte, auswendig zu lernen und einzustudieren. Unser Chor traf sich fast jeden Nachmittag und auch am Wochenende, um zu üben. Der gesamte Druck, vor einer ganzen Schule, samt Besucher, teils sogar Fremden, zu singen und innerhalb von drei Wochen alle Parts perfekt zu können, ging nicht spurlos an uns vorbei. Stella Gallieri, ein wunderschönes, wenn auch eingebildetes Mädchen mit langen, schwarzen Locken, einer haselnussbraunen Haut und tiefblauen Augen, kriegte einen Heulkrampf, weil sie sich einen Fingernagel abgebrochen hatte. Joshua Charlton, ein Junge, der Prinz Andrea nicht unähnlich sah, nur dass er in seinen schulterlangen, blonden Haaren immer ein Haarband trug und normalerweise ein ruhiger und in sich gekehrter Junge war, der von allen Mädchen umschwärmt wurde, haute, weil er zum dritten Mal den Text seines Sololiedes „Here without you“ von Three Doors Down vergessen hatte, vor Wut seine geliebte Gitarre so stark auf die Bühne, dass eine Saite riss. Und auch ich war nervlich am Ende; ich zickte meine Mutter an, weil sie zu meinem Gemüse Kartoffeln anstelle von Reis gemacht hatte und mit Ritz hatte ich wegen einer Belanglosigkeit einen solchen Streit, dass ich ihr gerne die Haare rausgerissen hätte. Ich hasste Mrs. Whitton. Und ich hasste Oleta Adams. Wieso musste ich diesen Solopart machen? Wieso hatte ich dem überhaupt ZUGESTIMMT? Ich musste wahnsinnig gewesen sein. Ich konnte das doch gar nicht. Ich würde mich elendig versingen, für den Fall, wenn ich den Text überhaupt können würde. Und alle würden mich mit Salat und Tomaten bewerfen. Da hatte ich es wieder: meine Nerven gingen mit mir durch. Ich war so beschäftigt mit den Songs und den Proben, dass ich auf mein Umfeld nicht mehr achtete. Und folglich wusste ich nicht mehr, was Rioroute machte. Ob er die beiden Mädels immer noch anbaggerte oder mich heimlich beobachtete – ich sah es nicht. Wobei … na ja … in einer Pause stand er doch bei Drake, Ritz und mir. Ritz malte die ganze Zeit in der Luft und murmelte etwas von „Perspektive ändern … den Schatten in ein dunkleres Rot …“ und ich hatte mich in meine Notenzettel vertieft. Der arme Drake stand als tragische Figur zwischen seinen beiden Freundinnen und konnte mit keiner reden, aus Angst, angeblafft zu werden. Wahrscheinlich war Rioroute deshalb zu uns gestoßen, damit Drake nicht so dumm herumstand, wie ein Laternenpfahl. Ich war so gestresst, dass ich nicht einmal merkte, dass der Kerl auch mit mir sprach und auch nicht, dass ich ihm – dieses Mal sogar in einem ganz normalen Ton – antwortete. Und dann geschah DAS. Ungefähr eine Woche vor dem Fest war ich nach einer nachmittäglichen Chorprobe unterwegs zu meinem Fahrrad, bis ich Stimmen vernahm, die mir äußerst bekannt vorkamen. Eigentlich wollte ich weitergehen, aber dann erkannte ich die Stimmen und blieb wie versteinert hinter einem Busch stehen. Ich fühlte mich, als hätte ich Fieber. Es waren Michael Slater und Martin Ford. Michael Slater war mein erster Freund gewesen. Ich hatte seit der dritten Klasse für ihn geschwärmt; er war sehr gut aussehend mit seinem dunklen Bürstenschnitt und den schönen großen braunen Augen, außerdem war er offen und hatte Sinn für Humor. In der fünften Klasse hatte er spitz gekriegt, dass ich ihn mochte und hatte mich (o Wunder!) tatsächlich gefragt, ob ich mit ihm gehen wolle. Ich war so selig gewesen, bis ich ca. zwei Tage später herausfand, dass er mich nicht liebte und eigentlich nur deswegen mit mir zusammen war, damit ich von meiner Schwärmerei abließ. Er hatte mich also nur veräppeln wollen. Ich kann gar nicht beschreiben, wie tief mich das getroffen hatte, auch wenn ich nach außen hin die Starke und Optimistische war. Aber das war trotzdem nichts gegen das Erlebnis mit Martin Ford. Martin war damals in der siebten Klasse zu uns gekommen; er trug eine Basecap, Basketballshirts und breite Jeans und war mit seinen blonden Haaren und blauen Augen außerordentlich hübsch. Außerdem war er selbstbewusst und ließ sich von niemandem etwas sagen. Die Lehrer hatten alle ihre liebe Not mit ihm, aber wir, seine Kameraden, waren sofort von ihm fasziniert. Die Jungen rissen sich um seine Freundschaft und die Mädchen waren allesamt in ihn verliebt. Darunter – leider! – auch ich. Ich gehörte nie zu den Beliebten und hatte höchstens ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber zu der Zeit war eine große Party geplant, zu der ich auch geladen war und ich schwor mir, dass ich ihm dort meine Liebe gestehen würde. Ich weiß noch heute nicht, was ich mir jemals dabei gedacht hatte, es ihm zu offenbaren und erst Recht weiß ich nicht, wieso ich dachte, dass er mir eine Chance geben würde. Aber das tat nichts zu Sache, weil er nie davon erfuhr, vor allem deshalb, weil er die Party als Anlass wählte, um mich vor versammelter Mannschaft, inkl. zweier hübscher Mädchen in seinen Armen, lächerlich zu machen. Es war eine schreckliche Erfahrung für mich gewesen. Jedes Mal, wenn ich den Film „Ungeküsst“ mit Drew Barrymore sah, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, weil ich dort oft das Gefühl hatte, dass man meine eigenen Erfahrungen mit hereingenommen hatte. Ich hoffe, dass dies nun erklärt, wieso ich Jungen gegenüber nur noch schwer Vertrauen fassen konnte. Mir war rätselhaft, wieso sich die Beiden ausgerechnet hier und jetzt trafen (sie zündeten sich gerade ihre Zigaretten an und tranken aus Bierflaschen, daher nahm ich stark an, dass sie die Ruhe nach der Schule bzw. die versteckte Lage, die sie gewählt hatten, dazu nutzten, damit niemand sie erwischte). Ebenso wenig war mir klar, was sie Dringendes zu besprechen hatten, aber auch hier vermutete ich, dass es nichts Dringendes sein konnte, den Gesprächsfetzen, die zu mir durchdrangen, nach zu urteilen. Sie sprachen von irgendwelchen Partys, die gelaufen waren oder anstanden, was alles bisher passiert war, wer wie viel getrunken und wie viel Mädels angebaggert hatte, dann schwärmten sie über die Mädchen, die sie toll fanden, darunter auch Saiki Haneda, und schließlich kamen sie auf das Thema Schulfest und wie wenig Lust sie darauf hatten. Warum ich mir dieses Geschwätz antat, wusste ich nicht. Ich wollte mich gerade auf den Weg machen, als ich hörte, wie Michael und Martin zum Programm des Festes kamen, wer was geplant hatte und so gelang eine Überleitung zu unserem Chor. „Hast du gehört, was die vom Schulchor machen wollen? Die wollen tatsächlich irgendwelche bescheuerten Lieder nachsingen!“, lachte Martin Ford. „Sind wir hier auf einer Castingshow, oder was?“ „Krass peinlich!“, kommentierte Michael Slater. „Auf so was stehen doch nur alte Omis. Ich würde so was nie mitmachen, wenn ich in diesem blöden Chor wäre.“ „Und die wollen da auch noch Solonummern machen“, fuhr Martin fort. „Ist ja noch schlimmer! Damit alle Welt sieht, wie einer abloost!“ „Hast du übrigens gehört, dass die Helen Riley als Abschluss singen muss – und das auch noch allein?“, fragte Michael. „Das gibt dieser peinlichen Veranstaltung doch das nötige Niveau!“ Lachend zog Martin an seiner Zigarette. „Ich kapiere nicht, wieso die ausgerechnet die Riley dafür genommen haben! Wenn es doch wenigstens die Stella Gallieri gewesen wäre, die sieht ja geil aus! Aber die Riley … so wie die aussieht, sollte die am besten gar nicht auftreten und wenn, dann mit einer Papiertüte überm Kopf!“ Michael lachte. „Da sagst du mir was! Aber warst du nicht mal mit der zusammen?“ Martin brauste auf: „ICH? Sag mal: wofür hältst du mich? Ich habe doch kein Herz für bedrohte Tierarten! Aber du … DU warst doch mit der zusammen, oder?“ „Ja, aber doch nicht, weil ich in die verknallt war, um Gottes willen!“, rechtfertigte sich Michael. „Ich hatte es satt, wie die mich andauernd angeglotzt hat mit ihren doofen Kuhaugen und bin daher mit ihr gegangen, um die kurz darauf wieder fallen zu lassen, bloß damit die Alte endlich aufhört, mir hinterher zu sabbern!“ „Ach so ist das!“ Martin trank ein Schluck aus der Bierflasche. „Na, da hast du auch Recht. Ich hätte auch kein Bock drauf, dass mich SO EINE anschwärmt. Was hätte ich denn da noch für einen Ruf?“ Mir reichte es. Am liebsten wäre ich hervor gesprungen, hätte deren Zigaretten in deren Bierflaschen geschmissen und dann die Bierflaschen über den beiden ausgeleert. Schlimm genug, dass diese hohlköpfigen Esel darüber wett eiferten, wer wie viel Alkohol vertragen und wer wie viele Mädchen abschleppen konnte, sie machten auch noch eine Art Wettbewerb daraus, wer mir am ärgsten das Herz gebrochen hatte. Und das war bei Weitem nicht das Schlimmste. Wieso mussten sie so reden? Ich hatte den beiden doch nie etwas getan! Was stimmte nicht mit mir, dass man so über mich dachte? Ich wollte mich aufrichten und gehen, merkte aber, dass ich wie paralysiert war. Mein Gesicht war tränennass. „Ach so ist das also!“ Vor Schreck wäre ich beinahe aus meinem Versteck gefallen und dem Knall, der von einer zerbrochenen Flasche kam, nach zu urteilen, ging es Michael und Martin ähnlich. Denn eine dritte Stimme hatte sich zu denen der beiden Jungen gemischt; eine Stimme, die ich nicht identifizieren konnte und die mir trotzdem seltsam bekannt vorkam. Diese Stimme klang nach blanker Wut. „So ist das also“, knurrte die Stimme. „Jetzt weiß ich alles. Alles klar. Jetzt ist mir klar, wieso Helen so abweisend ist.“ Interessiert lugte ich zwischen zwei Buschzweigen hervor, um mir die Szene anzuschauen und herauszufinden, wer da sprach … und musste mich stark an den Zweigen festhalten, um nicht tatsächlich aus meinem Versteck zu fallen. Der Urheber der Stimme war Rioroute. Ich wusste zwar nicht, was ER hier, an diesem Ort machte und dann auch noch zu der Zeit, aber das erschien mir momentan nebensächlich. Aus meinem Versteck heraus sah ich ihn, wie er da stand, mit dem Ellbogen an einen neben stehenden Baum gelehnt, die personifizierte Wut in seinem Gesicht. Hatte ich damals, als er mich auf Shinichi ansprach, gedacht, dass er wütend schaute, so war das nichts im Vergleich zu DEM Gesichtsausdruck. Wenn ich ehrlich bin: dieser Gesichtsausdruck machte mir sogar Angst. Betont cool stand Martin auf, kickte die Glasscherben der Flasche weg und fragte: „Was willst du denn hier?“ Als Antwort kriegte er eine gepfefferte Ladung Flüche und Schimpfwörter von Rioroute. Dann sagte er: „Ist doch egal, was ich hier will! Die Frage ist: was habt ihr, Schwachköpfe für ein Recht, so über Helen zu reden? Was denkt ihr eigentlich wer ihr seid, dass ihr so über einen Menschen reden könnt und dann auch noch über Helen? Denkt ihr, ihr seid die Coolsten oder was? Und dann prahlt ihr auch noch damit, dass ihr sie nach Strich und Faden veräppelt habt? Ist ja kein Wunder, wieso Helen glaubt, dass sie jeder nur anlügt!“ Ich spürte, wie meine Paralyse wieder einsetzte, dieses Mal aber nicht vor Entsetzen, sondern eher vor Überraschung. Ich hatte Rioroute tatsächlich als einen Playboy abgestempelt, der sich wohl einen Spaß daraus machte, so viele Mädchen wie möglich anzubaggern – niemals hätte ich gedacht, dass er so reden und denken konnte. „Was geht dich das an?“, fragte Michael. „Kann dir doch egal sein, was wir über die Riley reden!“ „Was es mich angeht? WAS ES MICH ANGEHT?“ Rioroute schlug so hart auf den Baum neben ihm, dass einige Blätter von den Zweigen fielen. „Mir ist es verdammt noch mal nicht egal! Glaubt ihr, ich stehe hier rum und höre noch weiter zu, wie ihr über Helen redet?“ „Ach so, jetzt ist mir alles klar“, sagte Martin. „Du bist ihr Freund nicht wahr? Einen tollen Geschmack hast du, muss ich sagen! Oder bist du einfach nur blind?“ Rioroute ballte seine Hände zu Fäusten. Ich dachte schon, er würde Martin eine runterhauen. Aber er beschränkte sich darauf, zu antworten: „Ihr seid diejenigen, die keinen Geschmack haben! Und Ahnung habt ihr ebenfalls keine! Ihr wisst gar nicht, was gut ist! Es wird eine Zeit kommen, da werdet ihr euch um so eine wie Helen reißen.“ Daraufhin lachten die beiden Jungs laut auf. „Du hast Nerven, Junge“, sagte Michael. „Ich würde mich nicht mal um die reißen, wenn die die einzige Frau auf dem Planeten wäre.“ Rioroute lief vor Wut knallrot an und seine Fäuste zitterten. „So, das reicht! Ich werde mir das nicht mehr länger anhören.“ Ich hatte eine leise Vorahnung, was nun kommen würde. Aber ich hatte keine Lust, zuzuschauen, wie sich Rioroute alleine mit zwei Jungs prügelte – und dann auch noch wegen mir. Also kam ich aus meinem Versteck heraus und stellte mich zwischen Rioroute und den beiden Jungs. „Helen, was machst du denn hier?“, fragte er mich und Michael und Martin schauten mich mit einer Mischung zwischen Überraschung und Entsetzen an. Ich erwiderte ihre Blicke fest, sagte aber zu Rioroute: „Bitte hör auf. Ist schon gut. Du musst dich jetzt nicht mit denen wegen mir abgeben.“ „Helen, die beiden haben dich beleidigt und … hast du überhaupt gehört, was die über dich gesagt haben? Ich lasse mir doch so was nicht bieten!“, war Rioroutes ärgerliche Antwort. „Ja, ich habe alles gehört. Aber … mich stört das nicht, dass die Beiden so reden und es lässt mich auch völlig kalt. Außerdem … die beiden sind es doch nicht wert, dass du dich mit denen hier anlegst!“ Und ohne eine Antwort von irgendwem abzuwarten, zog ich Rioroute am Ärmel und vom Szenario weg. Ich hörte, wie Michael und Martin uns blöde Sprüche hinterher riefen, aber ich hörte nicht was. Wie ich schon zu Rioroute sagte: es war mir auch egal, was die sagten. Wieso das so war, wusste ich nicht, vor allem, weil ich noch vor einigen Minuten so tief getroffen war von ihren dummen Sprüchen. Lag es daran, dass sich Rioroute so für mich eingesetzt hatte? Ja, das mochte sein. Es war schön, zu sehen, wie jemand so für mich ein stand und vor allem diesen Beiden die Stirn bot, die dachten, sie wären die Coolsten der Schule und könnten sich alles erlauben und keiner würde sich trauen, gegen sie anzugehen. Dazu kam noch, dass Rioroute nicht gewusst hatte, dass ich die ganze Zeit über zugehört hatte – er hatte sich ernsthaft und vom Herzen für mich eingesetzt. Wahrscheinlich war es dieser Umstand, der dazu führte, dass ich von einem Moment auf den nächsten darauf pfiff, was Martin und Michael von mir dachten. Wenn es jemanden gab, der für einen kämpfte, war es einem egal, was solche Vollidioten über einen sagten. „Helen, wieso hast du mich von denen weg gezogen?“, fragte er mich. „Die beiden verdienen eine Lektion, so wie die über dich reden!“ „Nein, ist schon gut“, antwortete ich. „Es tangiert mich peripher, was die sagen!“ „Es – was?“ Er machte große Augen. Ich unterdrückte ein Lachen. „Es ist mir egal. Egal, ob du dich jetzt mit denen anlegst oder prügelst oder sonst was – die beiden werden ja doch nicht von ihrer Meinung ablassen. Und ändern werden die sich schon mal gar nicht. Also warum für die Beiden wertvolle Energie verschwenden?“ „Na ja, ich hätte denen gerne etwas auf die Glocke gegeben, aber wenn du das sagst …“ Er zuckte die Achseln. Daraufhin sagte ich ihm das, was ich ihm eigentlich schon vor längerer Zeit hätte sagen müssen: „Danke, dass du dich so für mich eingesetzt hast. Und … bitte entschuldige, dass ich … dass ich dir gegenüber immer so gemein gewesen bin!“ Ich wurde knallrot. Es war nicht leicht, einzusehen, dass man Unrecht gehabt hatte. Rioroute schaute mich mit Riesenaugen an und schließlich lächelte er breit und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ach, kein Thema“, antwortete er. „Kann ich sogar verstehen, nach all dem, was du mit diesen Trotteln durchgemacht hast. Ich habe mich ja auch nicht viel besser benommen, was? Wie ein Elefant im Porzellanladen! Nein, das war nicht mal mehr ein Elefant, das war ein Mammut!“ Ich musste lachen, ob ich nun wollte, oder nicht. Schließlich hielt ich ihm seine Hand hin und fragte „Frieden?“ Begeistert schlug er ein. Wie es nicht anders zu erwarten war (sowohl von mir, als auch – sicherlich - von Ihnen, lieber Leser, die wir Rioroute inzwischen kannten), brachte er mich daraufhin nach Hause. Ich musste mein Rad schieben und brauchte somit eine gute halbe Stunde für den Nach-Hause-Weg, aber … seltsamerweise war es mir egal. Es war auch schön, sich mit ihm zu unterhalten, jetzt wo er nicht mehr seine „Anmachsprücheplatte“ abspielte und auch ich jetzt erfahren hatte, dass er sich nie über mich lustig gemacht hatte. Und in den nächsten Tagen hingen wir – zum Erstaunen aller – immer zusammen. Er war in den Pausen immer bei Drake, Ritz und mir und wir gingen immer zu viert zu den Klassenräumen. Ritz konnte sich ein fieses Grinsen, gespickt mit einigen spitzen Bemerkungen nicht verkneifen, aber ich stand da drüber. Vor allem, weil ich tief im Inneren wusste, dass ich das verdient hatte. Und was die anderen dachten, machte mir nichts aus. Rioroute war wirklich sehr nett und er konnte einen sehr gut zum Lachen bringen. Ich vergaß sogar den ganzen Stress rund um die Proben und das Einstudieren der Lieder. Und dann stand das Schulfest vor der Tür. Ich hatte die Nacht vorher kaum geschlafen und konnte auch nichts essen. Ob man mir sagte, man sei sehr stolz auf mich, wie z. B. meine Mutter oder man mir sagte, die würden unseren Auftritt mit Freuden ansehen und warten, bis ich einen Patzer machte – ich hörte alles nur nebensächlich. Ich fühlte mich wie ein Zombie – unfähig, was zu sehen und zu denken und nichts anderes vor Augen, außer die eigene Nervosität. Das Fest war wirklich toll: die Kleinen erfreuten sich an den Spielen und Hindernisparcours, die man für sie entworfen hatte und es gab überall Kuchen, Würstchen, Salate und Getränke zu kaufen. An den Gängen standen Ritz und die anderen Künstler und strahlten über das Lob, das ihnen die Besucher gaben. In der Aula fanden Aufführungen des Orchesters und Theaterclubs statt, die allesamt gut ankamen. Ich sah auf den Weg zu unserem Chorraum, in dem wir uns für unseren Auftritt fertigmachen wollten, fast alle meine Klassenkameraden, nur Rioroute nicht. Er schwänzte doch nicht etwa, dachte ich mir und zog eine Schnute. Doch als ich an unserem Chorraum ankam, sprang Rioroute sofort aus meinen Gedanken. Mir klappte der Unterkiefer herunter. „Na, Helen, was sagst du zu meiner Überraschung für euch?“, fragte Mrs. Whitton lächelnd. Unsere Chorleiterin hatte anscheinend eine echte Stylistin engagiert, die von einem Chormitglied zum anderen eilte, dem einen ein schönes, passendes Kostüm verpasste, dem anderen hübsch frisierte und dem dritten eine Maske auftrug. Es stellte sich heraus, dass sie eine Freundin von Mrs. Whitton war, die mit Freuden zugesagt hatte, hier zu helfen. Ich musste grinsen. Wenn wir schon heute mit Pauken und Trompeten versagten, so würden wir wenigstens gut dabei aussehen. Kurz darauf hatte ich weniger Grund zum Grinsen. Mrs. Whitton stellte mich ihrer Freundin Bethany vor und diese beäugte mich kritisch. Ich dachte schon, dass von ihr so etwas kommen würde, wie ‚Es tut mir leid, HIER kann ich nicht helfen’ oder ‚Am besten, du stellst dich so hin, dass dich niemand sieht’, aber dann sagte sie: „Ich habe genau das Passende für dich. Ein langes, weißes Kleid! Und die Haare hinten hoch gesteckt, dazu Perlenschmuck … ja, das würde dir klasse stehen!“ Sie zog mich zur Garderobe und förderte das besagte weiße Kleid zutage, bei deren Anblick mir erneut die Kinnlade herunterfiel. Und dieses Mal so, dass ich befürchtete, mir würde der Kiefer brechen. Es war ein bodenlanges Kleid, mit langen, weiten Ärmeln, einem kleinen Ausschnitt, einer schön geschnittenen Taille und einem weiten Unterkleid – mit weißen Blumenstickereien um den Ärmel und der Spitze des Unterkleides herum. „Na, was sagst du dazu?“, fragte mich die Stylistin. Ich konnte nichts sagen. Ich war baff. Dieses Kleid sollte für MICH sein? „Ich … ich weiß nicht, ob … haben Sie was Schlichteres für mich?“, stotterte ich. „Gefällt es dir etwa nicht?“, wollte Bethany wissen. „Doch, klar!“, antwortete ich. „Es ist nur …“ Es ist nur, dass das Kleid viel zu gut für mich war. Es sollte jemand anders tragen, jede andere, nur nicht ich. Doch Bethany wollte nichts mehr hören. „Dann probier es doch drüben an.“ Seufzend begab ich mich in den Raum, in dem mir Mrs. Whitton damals wegen ihrer Pläne für das Fest gesprochen und mich in den Untergang geführt hatte. Es dauerte recht lange, das Kleid anzuziehen, weil ich an den engen Stoff nicht gewohnt war. Als ich aus dem Raum trat, schauten mich Mrs. Whitton und Bethany mit großen Augen an und übertrafen sich gegenseitig mit Komplimenten und Beschreibungen, wie toll es mir stand. Aber als ich mich auf den Weg zum großen Spiegel machte, um mich selbst zu betrachten, zog mich Bethany zu einem der Frisierstühle. „Du kannst dich später angucken, wenn du magst; jetzt müssen wir dich erst mal ganz schnell schminken und frisieren, sonst wird’s mit der Zeit noch knapp!“, sagte sie. Dann fing sie an, meine Haare hochzustecken, Make-Up auf mein Gesicht und Eye-Liner und Wimperntusche auf meine Augen aufzutragen. Als sie schließlich meine Lippen geschminkt hatte, sagte sie, sie sei fertig und ich durfte mich endlich im Spiegel betrachten. Ich sah auf mein Spiegelbild und mir klappte der Unterkiefer auf den Frisiertisch. Das war nicht ich. Nein, das konnte nicht sein! Ich wischte mit meinem Unterarm über das Spiegelbild, um mich zu vergewissern, dass das Bild weder aufgemalt noch aufgeklebt worden war. Aber dem war nicht so. Mein Spiegelbild tat es mir gleich und putzte über die Glasfläche. Und trotzdem konnte ich es nicht fassen, wer mich da anschaute. Ich hatte erwartet, mein ursprüngliches Spiegelbild wieder zu sehen. Aber das tat ich nicht. Stattdessen schaute eine wunderschöne Frau auf mich zurück, mit einem eleganten und glänzenden Haarknoten, einer Perlenhalskette, hübschen Augen mit geschwungenen Wimpern und einem schönen Mund. „Und, was sagst du?“, fragte Bethany. Aber ich konnte nichts sagen. Stattdessen zwickte ich mich in den Unterarm. Ich nahm an, dass ich eingeschlafen war, während Bethany mich geschminkt hatte. Es tat weh. Also schlief ich nicht. Also träumte ich nicht. Bethany verstand durch mein Verhalten offenbar auch so, was ich zu dem Ganzen sagte. Sie lachte und wies mich an, mich im riesigen Spiegel nebenan komplett zu betrachten. Da war die wunderschöne Frau wieder und sah mich aus dem Spiegel heraus an. Die schöne Frau mit dem schönen, weißen und langen Kleid. Und als ich langsam begriff, dass ICH die wunderschöne Frau war, geschah etwas Seltsames. Die wunderschöne Frau ergriff von mir Besitz. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Ich war nicht mehr ich. Ich war diese wunderschöne Frau. Eine, die quasi schrie: „Hier bin ich!“; eine, die gesehen werden musste, sonst wäre es doch schade! Ich war nicht die hässliche, unscheinbare, graue Helen. Ich war wunderschön. Und diese „Verwandlung“ ging weiter. Ich hatte das Gefühl, fliegen zu können. Ich hatte das Gefühl, alles schaffen zu können, was ich mir vornahm. Ich war auch nicht mehr nervös wegen dem anstehenden Auftritt, im Gegenteil: ich freute mich darauf. „Boah, Helen, du siehst einfach wunderschön aus!“, sagte Silvia, ein Chormitglied. „Wie eine griechische Göttin!“ Ich nahm es nur wie durch einen Schleier wahr. Ich war damit beschäftigt, mein neues Ich zu hinterfragen und willkommen zu heißen. Ich fühlte mich wie in einem Rausch. Es dauerte auch dann an, als wir uns alle für unseren Auftritt vorbereiteten und uns schließlich im Raum hinter der Bühne positionierten, woraus wir schreiten würden, wenn wir unseren jeweiligen Auftritt hatten. Ich stand neben Joshua, der mich mit so einem offenen Mund anstarrte, als hätte er versucht, einen Fußball zu schlucken und dann vergessen, den Mund zuzumachen und neben Stella, die mich mit todbringenden Blicken musterte. All dies registrierte ich nur vage. Ich dachte nur daran, dass ich gleich endlich auf die Bühne gehen und allen mein neues Ich präsentieren würde. Eine schöne Frau, ein Schwan, die endlich die Federn des hässlichen Entleins hinter sich lassen würde. Eins wusste ich: ich würde mir nie wieder dumme Kommentare über mein Aussehen anhören müssen. Und wenn - das war mich egal, denn ICH wusste, dass es anders war. Unsere Show hatte begonnen. Mrs. Whitton trat unter tosendem Applaus auf die Bühne, begrüßte alle Anwesenden und kündigte den ersten Auftritt von Chase an, einem farbigen Jungen, der der beste Sänger in unserem Chor war und vor Aufregung so blass war, dass man es trotz seiner Hautfarbe erkannte. Als er dann schließlich auftrat, hielt ich es nicht mehr aus und spähte durch den Vorhang auf die Bühne. Die gesamte Schule, inkl. deren Familien und Bekannten - so schien es mir zumindest - war anwesend. Vorne rechts sah ich meine Eltern, Drake und Ritz und etwas weiter hinten konnte ich Martin, Mike und Shinichi erkennen. Es war seltsam, aber nicht mal ihr Anblick brachte mich aus der Fassung. Ich hatte das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Rioroute dagegen konnte ich nirgendwo finden. Ich zog eine Schnute: er würde doch nicht etwa meinen Auftritt verpassen? Letzten Endes kam der Moment, wo ich auf die Bühne musste. Zwar mit der Hälfte des Chors zusammen, aber immerhin. Und als ich mich in die hintere Reihe auf die Bühne stellte, sah ich Rioroute. Er saß in der Mitte und direkt vor der Bühne – eine Stelle, die ich vom Vorhang hinter der Bühne aus nicht gesehen hatte. Und – er war nicht allein. Neben ihm saßen noch mehr Leute, die ich nicht kannte, aber sofort erriet, wer die Leute waren. Da waren ein hochgewachsener Mann mit einem freundlichen Gesicht und Rioroutes dunkelblonden Haaren und eine Frau, die eine Brille trug, lächelte und strahlte und Rios braune Augen hatte. Auch saßen da vier Jungs, die aufgrund der Ähnlichkeit nur Rios jüngere Brüder sein konnten. Das allein war schon eine Überraschung. Was noch dazu kam, war die Tatsache, dass er sich eine weiße Bluse angezogen und sich die Haare gekämmt hatte, etwas, was ich gar nicht von ihm kannte. Ich verpasste fast meinen Einsatz und hatte Glück, dass mir Sylvia, die neben mir stand, aus Versehen auf den Fuß trat, so dass ich aus meinen Gedanken gerissen wurde und singen konnte. Unsere Darbietung war ein voller Erfolg. Joshua kam mit seinem Solo so gut an, dass sämtliche Mädchen im Saal kreischten und ihm Blumen auf die Bühne warfen. Stella dagegen versang sich öfters, aber das schien den Meisten egal zu sein, weil sie bei ihr was zu gucken hatten. Die anderen Chormitglieder glänzten auch und Mrs. Whitton konnte ihren Stolz auf ihren Chor kaum verbergen. Und schließlich neigte sich die Vorstellung dem Ende entgegen. Und meinem Solo. Noch vor einem Tag hatte ich bei diesem Gedanken das Gefühl, als wären sämtliche meiner inneren Organe mit brasilianischen Feuerameisen gefüllt. Aber heute war es irgendwie anders. Als ich auf die Bühne ging und die Scheinwerfer auf mich schienen, hätte ich dem Publikum beinahe zugeschrien: „Seht mich an! Seht mein neues Ich an! Ich bin nicht mehr das Mauerblümchen von vorher!“ Und als die Musik ansetzte, war ich erstaunt darüber, dass meine Stimme nicht mehr wie sonst zitterte. Ich machte mir keine Sorgen mehr darüber, dass ich einen Ton nicht treffen könnte oder generell versagen würde. Stattdessen glaubte ich an mich und wusste, dass ich es schaffen würde. Und so wurde mein Solopart zum Symbol der Entstehung meines neuen Ich’s: federleicht, klar, kraftvoll. Als ich zu Ende gesungen hatte, war für einen Moment Stille im Raum. Dann brach der Tumult aus. Von allen Seiten kam kräftiger Applaus; nicht so eine Art „höfliches Klatschen“, sondern ein Trommelfell zerreißendes Klatschen inklusive Beinstampfen, Pfiffen und lauten Jubelrufen. Die einzigen, die sich nicht am Jubel beteiligten, waren Martin Fort und Michael Slater; aber ich sah, dass die beiden zu baff waren, um irgendetwas zu machen … wahrscheinlich deshalb, weil die – wie sagten sie es doch gleich? – hässliche Helen, die mit einer Papiertüte auf dem Kopf hätte auftreten sollen, auf einmal SO aussah. Ich sah die strahlenden Gesichter von Drake und Ritz, die „Zugabe“ verlangten; ich sah Shinichi, der mir grinsend zujubelte; ich sah meine Mutter, die sich ihre Tränen mit einem Taschentuch wegwischte und meinen Vater, der einen Arm um sie gelegt hatte und zeitgleich kräftig mitjubelte; ich sah, wie mir Jenny zupfiff … aber meine Aufmerksamkeit war auf einem Menschen gerichtet, der direkt vor der Bühne, inmitten seiner Familie saß, und der mir stehend zujubelte, mit einem Strahlen im Gesicht und einem Glänzen in den Augen … und ich muss zugeben, dass dieses Glänzen, vermischt mit dem Bühnenlicht, mit das Schönste war, was ich jemals gesehen hatte. Und mir war alles klar. Nun wusste ich, was ich tun sollte. Rioroute hatte sich von Anfang an ehrlich für mich interessiert. Er war immer lieb zu mir, auch wenn ich mich ihm gegenüber benommen hatte, wie eine Furie. Er hatte nie aufgegeben, auch wenn mit Sicherheit viele über ihn gelacht hatten, ja sogar gegen ihn gewesen sind. Und – er hatte sich für mich eingesetzt, wo andere mich verletzt und beleidigt hatten. Auch heute hatte er seine gesamte Familie zur Vorstellung unseres Chors mitgebracht, nur damit sie alle zusammen mich und die anderen bei unserem Auftritt sahen. Und jetzt jubelte er mir mit solchen Augen zu, Augen die alles, was er fühlte, aussagten – Stolz, Freude, Liebe … und vieles mehr. Ich begriff, dass es nur für mich nur eins gab. Ich würde ihm eine Chance geben. _________________________________________________________________________ Und wieder ein neues Kapitel! Zwar habe ich ihn viel später hochgeladen, als erwartet, muss aber zugeben, dass der innere Schweinehund Schuld daran war, dass ich nicht viel früher fertiggeworden bin. Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse -.-. Ich mag diesen Kapitel besonders, weil er Helens zurückhaltende Art erklärt, ebenso ihren Wendepunkt Rioroute gegenüber beschreibt. Ob jetzt für die beiden alles gut werden wird? Einfach weiterlesen^^!!! Ich danke allen meinen Lesern, denjenigen, die meine FF kommentieren uvm. Besonders hervorheben möchte ich hierbei Cherry, die mir in all der langen Zeit treu geblieben ist und sich die FF immer noch antut, obwohl ich immer Ewigkeiten brauche, um neue Kapitel hochzuladen *gomen*! Ebenfalls vielen Dank an den Bruder von Cherry, der die FF durch die Schwester mitverfolgt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)