Nichts in der Welt von abgemeldet (...wird es je wieder gut machen können) ================================================================================ Kapitel 1: Allein ----------------- Er sah auf ihn hinab. Die Augen waren geschlossen, doch er konnte sich das tiefe, weiche grün hinter den Lidern vorstellen. Die Lippen waren locker geschlossen, die schwarzen Haare in ihrem typischen Chaos. Die Arme lagen unbeweglich neben dem bleichen Körper. Er versuchte seine Wut und seine Tränen zu unterdrücken. Er biss sich auf die Lippen, bis ihnen alle Farbe wich. Keine Schwäche zeigen, keine Tränen. Seine Vernunft sagte ihm, dass das schwachsinnig war: Er sieht dich nicht. Doch das machte ihn nur wieder wütend. Auch hier widersprach ihm die Vernunft, doch er reagierte nicht. Er wollte ihn anschreien, schlagen, ihn verletzten, dafür, dass er ihm das angetan hatte: Er hatte ihn allein gelassen. Allein, vor den Scherben der Welt. Allein auf dem Schrottplatz, den manche Leben zu nennen pflegen. Er hatte ihm alles genommen, was ihm je etwas bedeutet hatte. Wie es geschehen war, war unwichtig. Wer ihm seinem Leben den Inhalt gestohlen hatte, spielte keine Rolle. Zurück blieb nur die erdrückende Leere in ihm. Das Gefühl, nichts fühlen zu können. Nichts, was irgendwie begründet war, nichts, was ein Ziel hatte oder einen Sinn. Er wäre Grund und Sinn zugleich gewesen. Er hätte diese Leere füllen können, die drohte ihn von innen heraus aufzufressen. Nur ein Augenaufschlag, ein Anzeichen eines Lächelns, seine Stimme, es hätte genügt um ihm das Innenleben wieder ein zuhauchen. Doch er lag einfach nur da. Ließ ihn zurück. Allein, sinnlos, leer. Nie wieder würde er seine Stimme hören. Die Stimme, die er fast besser kannte als seine eigene. Nie wieder in die Augen schauen, die alles sagten, ohne Worte. Nichts, nie wieder, niemals. Er war leer, für immer. Die Wut schwand. Der Verlust wog schwerer, als jede Abwehr. Er konnte sich nicht rühren. Er glaubte, für immer hier sein zu müssen. Für immer so zu verbleiben. Ohne Kraft für irgendeine Bewegung. Als stünde die Zeit still, als würde die Sonne nie mehr aufgehen. Als drehe sich die Welt nicht mehr. Er hasste sich. Hasste sich für seine bemitleidenswerte Feigheit, für seine Verlogenheit, für seine endlose Angst vor dem Alleinsein. Und was hat es dir gebracht? , fragte die Vernunft. Jetzt bist du allein. Du hast es ihm nie gesagt. Es schnürte ihm die Kehle zu. Er bekam keine Luft mehr. Er hatte es ihm nie gesagt. In keinem Moment den Mut aufgebracht. Niemals war er das Risiko eingegangen seine Sicherheit aufs Spiel zu setzten. Nicht einmal hatte er es ernsthaft versucht. Die selbst zerstörerische Trauer drohte ihn zu überwältigen. Langsam und zitternd hob er die Hand. Schob sie langsam auf die leblose vor ihm zu. Seine Hand war eiskalt. Sie erwiderte nichts. Und doch erfüllte sie ihn für einen winzigen Moment mit Wärme, Hoffnung. Eine Träne, die es geschafft hatte seinen Wachen zu entkommen, floss langsam über die Wange, tropfte hinab und verlor sich in der tiefroten Blutlache. Vampir, schoss es ihm in den Kopf; doch er vermochte nicht über die Ironie des Schicksals zu lächeln, sein Mund zuckte nur erschrocken. Entschlossen umfasste er die Hand. Es ist zu spät, brüllte die Vernunft. Doch er hörte nicht hin. Es ist viel zu spät, du hast es versaut! Es ist für immer zu spät! Er ignorierte sich. Als er den Mund öffnen wollte, um endlich alles preiszugeben, um zwanzig Jahre Versteckspiel wieder gut zu machen, fühlte er etwas nasses, hartes in der Hand des anderen. Ein Zettel. Sein bester Freund hatte es immer verleugnet sich in seinem chaotischen Leben, Nicht-Vergessen-Zettel zu machen, doch er hatte es gewusst. Ein Anflug eines Lächelns. Uninteressiert strich er das zerknautschte Papier glatt. >Diane anrufen<, stand da. Und >Auto von der Werkstatt holen<. Sein Herz stand still. Die letzte von drei Bemerkungen war verschnörkelt geschrieben und der Schriftzug mit schwarzem Kugelschreiber mehrmals nachgefahren. Als ob sich jemand den Satz immer wieder durch den Kopf hatte gehen lassen. Als ob er lange darüber nachgedacht und letztlich mit einem Ausrufezeichen seine Entscheidung getroffen hatte. Er brach über der Leiche zusammen. Das konnte unmöglich wahr sein. Das Leben selbst musste ihn töten wollen, wenn das wahr war. Er warf einen letzten Blick auf den im Blut schwimmenden Zettel. >Jan sagen, dass ich ihn liebe. < Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)